Prinz gesucht - Helene Hammerer - E-Book

Prinz gesucht E-Book

Helene Hammerer

0,0

Beschreibung

Für Romy hat das Leben grad nur Zitronen bereit. Eine hartnäckige Bauchgrippe stellt sich als Konsequenz eines One-Night-Stands mit ihrem Studienkamerad Benni heraus, der kurz zuvor bei einem Unfall ums Leben gekommen ist. Und zu allem Überfluss setzt ihr cholerischer Chef sie auch noch vor die Tür, als er von ihrer Schwangerschaft erfährt. Mittellos und verzweifelt entscheidet sich Romy gegen das Baby und steigt mangels Alternativen schließlich in den Zug Richtung Tiefenbach, um Bennis großen Bruder um einen finanziellen Zuschuss zu bitten. Mit diesem Plan ist Harald jedoch ganz und gar nicht einverstanden und schlägt ihr einen Handel vor, den sie wohl oder übel annimmt. Und so kommt es, dass Romy nur wenige Tage später in das kleine Bergdorf zieht und einen neuen Lebensabschnitt beginnt…

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 152

Veröffentlichungsjahr: 2018

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



UUID: d8c54874-ca0e-11e8-9a13-17532927e555
Dieses eBook wurde mit StreetLib Write (http://write.streetlib.com) erstellt.

Inhaltsverzeichnis

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

Impressum neobooks

1

Romy erwachte mit furchtbarem Durst und ihr Kopf schmerzte bei jeder Bewegung. Nach und nach kamen die Erinnerungen an den Vortag und den Grund für ihren derzeitigen Zustand zurück. Sie hatte die mündliche Matura bestanden und anschließend mit ihren Kurskollegen gefeiert. Eigentlich wollte sie früh nach Hause gehen, weil sie sich in letzter Zeit nicht gut fühlte, hatte sich dann aber doch überreden lassen, mit den ganz Ausdauernden zu Anton in die Wohnung zu gehen. Dort hatten sie weiter gefeiert und sie hatte ihm schlussendlich beim Aufräumen geholfen. Romy hielt sich den Kopf und stöhnte. Na ja, wenigstens war sie nicht mit ihm im Bett gelandet, wie das letzte Mal mit Benni. Aber an Benni würde sie jetzt nicht denken, sonst finge sie gleich wieder an zu heulen. Mühsam kletterte sie aus dem Bett und wankte ins Badezimmer. Dort schluckte sie zwei Paracetamol und putzte sich die Zähne. Eine Dusche würde ihr auch nicht schaden, entschied sie. Diese fiel jedoch recht kurz aus. In ihrer Vierer-WG war das heiße Wasser Mangelware.

Auf der Suche nach einer Tasse Kaffee ging sie in die Küche, wo ihre Freundin Bille am Tisch saß, rauchend und in eine Zeitschrift vertieft. Wie Romy ihre Freundin kannte, war es die Gewerkschaftszeitung und gleich würde sie sich über irgendeinen Missstand aufregen. Die kleine, mollige Sybille ließ ihr dichtes, schwarzes Haar regelmäßig einige Millimeter kurz schneiden. An ihren Ohren baumelten große Sterne, die einer ihrer arbeitslosen Freunde anfertigte. Ihre braunen Augen funkelten Romy durch die runden Brillengläser empört an. „Hör dir das an“, legte sie los, „die Mietervereinigung hat zugestimmt, dass die Mieten heuer wieder um 2,5% steigen. Ich frage mich, auf wessen Seite die stehen?“ „Mhm“, murmelte Romy und sank auf einen der wackeligen Küchenstühle. „Gibt’s noch Kaffee?“ Bille stand auf, spülte für die Freundin einen Becher aus und goss ihr Kaffee ein. „Deinem Zustand nach hast du bestanden“, grinste sie. „Herzlichen Glückwunsch!“ „Danke“, lächelte Romy matt. „Kann ich eine Zigarette haben?“ Bille schob ihr die Zigaretten und den Aschenbecher hin. „Magst du etwas essen? Ich hätte noch Brot und Käse übrig.“ Beim Gedanken an Essen verzog Romy das Gesicht. „Nein, danke, wenn ich nur ans Essen denke, wird mir schlecht. Mir graut schon vor dem Nachmittag im Café.“ „Geht es dir immer noch nicht besser?“, wollte Bille wissen und blickte die Freundin forschend an. „Du schleppst den Virus jetzt schon lange mit dir herum. Willst du nicht einmal zum Arzt gehen?“ „Ach, das wird schon wieder“, versuchte Romy zu beschwichtigen. „Es ist mir in letzter Zeit auch sonst nicht gut gegangen, mit den Prüfungen und Bennis Unfall.“ Sobald sie seinen Namen aussprach, hatte sie einen Kloß im Hals und Bille nickte mitfühlend. „Sein Tod hat dich schlimm getroffen. Ich dachte immer, ihr wart nur Kumpel.“ „Das waren wir auch bis zu seinem Geburtstag. Aber da sind wir nach dem Aufräumen miteinander im Bett gelandet und in dem Moment hab ich geglaubt, dass es mehr werden könnte.“ Sie wischte sich mit dem Ärmel die Tränen weg und schniefte: „Und am nächsten Tag war er… hatte er den Unfall.“ Das Wort „tot“ konnte sie nicht aussprechen. Bille seufzte und schüttelte traurig den Kopf. Eine Weile saßen sie schweigend am Küchentisch. Bille zündete sich auch eine Zigarette an und legte ihre Hand auf Romys. Plötzlich stutzte sie und schaute die Freundin mit großen Augen an. „Am Ende ist es gar kein Virus sondern du bist schwanger!“ Romy wischte sich noch einmal über die Augen. „Ach komm, von einem Mal gleich schwanger zu werden, das passiert nur in kitschigen Heimatromanen“, wies sie den Gedanken weit von sich. „Ich besorg dir einen Test, wenn ich nachher ins Büro gehe“, beschloss Bille.

Sie war eine überzeugte Verfechterin der Rechte der arbeitenden Massen und verbrachte viel Zeit im Gewerkschaftsbüro, wo sie ehrenamtlich mitarbeitete. Diese Tätigkeit passte gut zu ihrem Selbstbild als intellektuelle Linke. Sie war wie Romy gelernte Serviererin, besuchte aber zurzeit die Sozialakademie. Es war Billes Idee gewesen, sich weiterzubilden, und so waren sie gemeinsam in die Stadt gezogen und hatten sich dort ein Zimmer gesucht. Bille, die schon sieben Jahre gearbeitet hatte, bekam ein Stipendium, während sich die 22-jährige Romy mit einem Aushilfsjob im „Gaudeamus“, einem bei Studenten sehr beliebten Café, und der Kinderbeihilfe über Wasser hielt. Bille fing an das schmutzige Geschirr zu spülen, das sich in und um das Waschbecken türmte. Romy nahm mechanisch ein Geschirrtuch, um abzutrocknen. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Fünf Wochen, hatte Bille gesagt, das musste stimmen. Damals, Anfang Mai, war sie ganz euphorisch gewesen, die schriftliche Matura hinter sich zu haben und jetzt war bereits Mitte Juni. Ihre Periode hatte sich auch verspätet, was sie der „Bauchgrippe“ zugeschrieben hatte. Na ja, inzwischen war sie wohl schon drei Wochen über die Zeit. Nein, sie konnte nicht schwanger sein, wies sie die Schlussfolgerung von sich. Sie schaute auf die alte Küchenuhr und warf das Geschirrtuch erschrocken auf den Tisch. „Auweia, schon so spät! Ich muss los“, rief sie und hastete zur Tür hinaus.

Im „Gaudeamus“ ging es rund, als Romy ankam und Pepino, der Chef, der sich mit dem Namen gern einen italienischen Touch geben wollte, obwohl er ein waschechter Innsbrucker war, schaute demonstrativ auf die Uhr. „Du bist zu spät“, schnauzte er die junge Frau an. „Tut mir leid“, rief Romy mit einem forschen Grinsen, nach dem ihr eigentlich gar nicht zumute war. „Ich bleibe dafür fünf Minuten länger.“ „Fünfzehn!“, rief ihr Pepino hinterher. Romy band sich schon die lange rote Schürze um und hastete an den ersten Tisch, der bedient werden wollte. Im Café gab es neben Getränken und Kuchen auch eine kleine Karte mit einfachen Speisen, wie Toast, Würstchen und Pommes Frites. Hoffentlich wollen sie keinen Toast, sonst wird mir schlecht, dachte Romy, als sie die Bestellung aufnahm, denn vom Käsegeruch wurde ihr in letzter Zeit immer übel. Schon mehrmals hatte sie sich übergeben müssen und war dann früher nach Hause gegangen, was heute nicht ratsam war, nachdem ihr der Möchtegern-Italiener schon böse Blicke zuwarf. Er gab sich gerne jung und sportlich, kämmte sein dunkles Haar glatt zurück und trug eine schwere Goldkette um den Hals. Gut sichtbar, nachdem er die oberen Hemdknöpfe immer offen ließ. Über seiner Schürze wölbte sich inzwischen ein beachtlicher Bierbauch, den er immer einzog, wenn sich eine attraktive junge Frau der Theke näherte. Romy mochte ihn nicht, aber sie brauchte den Job und die anderen Kolleginnen und Kollegen waren nett. Auch das Publikum, das vorwiegend aus Studenten bestand, lag ihr gut. Die jungen Mädchen und Burschen waren meist fröhlich und unkompliziert. Viele davon kannte Romy beim Namen und einige, wie Benni und sein Cousin Reinhard, waren zu Freunden geworden.

Sie nahm Bestellungen auf, schleppte Speisen und Getränke an die Tische, räumte ab und leerte zwischendurch die Aschenbecher. Sie würde heute bis zum Ende ihrer Schicht durchhalten, nahm sie sich vor, als sie das erste Mal auf die Toilette stürzte. Aber mit fortgeschrittener Stunde wurde der Qualm immer dichter und die Essensgerüche immer unerträglicher. Nachdem sie sich erneut übergeben hatte, fühlte sie sich hundeelend und blieb eine Weile erschöpft hinter der Theke stehen. Pepino musterte sie scharf. „Ist dir schon wieder schlecht?“, fragte er herablassend. „Wenn du schwanger bist, sag es gleich, dann brauchst du gar nicht mehr zu kommen.“ „Ich bin nicht schwanger“, murmelte Romy und schleppte sich weiter durch das Lokal. Zu Hause putzte sie sich die Zähne und sank erschöpft ins Bett. Den Schwangerschaftstest, den ihr Bille demonstrativ aufs Kopfkissen gelegt hatte, ignorierte sie, so gut sie konnte.

Am Morgen zwang ihre Freundin sie jedoch, den Test zu machen und das Ergebnis war positiv. „Siehst du, ich hab es gleich gesagt“, triumphierte Bille im ersten Moment. Als sie Romys entsetztes Gesicht sah, wurde sie jedoch gleich wieder ernst und nahm die Freundin in den Arm. „Ach, Bille, ich bin so furchtbar dumm. Dabei hab ich mir geschworen, es nicht so zu machen wie meine Mutter“, schluchzte Romy. „Sie war erst 17 und du bist schon fast 22, versuchte Bille ihr Trost zu spenden. „Was soll ich denn jetzt machen?“, jammerte Romy. „Wir denken uns etwas aus. Wir werden schon eine Lösung finden“, gab Bille sich zuversichtlich. „Am Abend, wenn du von der Arbeit kommst, reden wir weiter.“ Romy machte sich auf den Weg ins Café, um diesmal wenigstens pünktlich zu sein. Sie durfte den Job nicht verlieren. Jetzt im Sommer fand sie nämlich bestimmt keinen anderen, bei den vielen Studentinnen, die einen Ferialjob suchten. Aber natürlich wurde ihr wieder schlecht und Pepino setzte sie kurzerhand vor die Tür, nachdem er ihr eine Szene gemacht und sie als Lügnerin beschimpft hatte. Für die vergangenen Tage zahlte er ihr nur den halben Lohn, da sie auch nur die halbe Zeit gearbeitet hätte, wie er ihr erklärte. Romy hatte keine Kraft mehr zum Kämpfen und ging heim.

„Was ist passiert?“, wollte Bille wissen, sobald sie die erschöpfte Freundin sah, die viel zu früh zurückkam. „Pepino hat mich hinausgeschmissen“, sagte Romy mutlos. „Das kann er nicht machen, dieses Schwein!“, begehrte Bille auf. „Er kann“, seufzte Romy, „ich hab bei ihm nur schwarz gearbeitet.“ „Du hast was? Romy, wie konntest du dich von dem Blutsauger derart ausnützen lassen?“ Bille war laut geworden in ihrer Empörung. Romy hielt sich den dröhnenden Kopf. „Bitte, hör auf zu schreien“, flehte sie. „Ich weiß, dass es blöd war aber ich bin bei meiner Mutter mitversichert und so habe ich mehr Geld bekommen. Sonst hätte es nicht gereicht.“ Bille war aufgesprungen und lief nun in der Küche auf und ab wie eine Tigerin im Käfig. Lange Zeit sagte niemand ein Wort, dann setzte sich Bille zu Romy an den Tisch und nahm die Hand der Freundin. „Hör zu, Romy“, sagte sie leise und eindringlich, „die einzige Lösung ist, dass du das Ding loswirst.“ Als Romy nicht reagierte, sprach sie schnell weiter: „Jetzt ist es erst ein kleiner Zellhaufen, so groß wie ein Stecknadelkopf und es braucht nur einen kleinen Eingriff.“ Romy schaute die Freundin mit leeren, hoffnungslosen Augen an. „Ich habe nicht genug Geld für die Privatklinik“, flüsterte sie und legte schützend die Hände auf ihren Bauch. Bille wiederholte die Argumente mit dem Zellhaufen und dass die ganze Mühe bisher umsonst gewesen sei, wenn Romy jetzt nicht entschlossen handelte. „Dein Bauch gehört dir, du kannst damit machen, was du willst“, versuchte sie die Freundin zu bestärken.

Romy wollte das ganze Schlamassel nur noch vergessen und legte sich aufs Bett, um zu schlafen. Doch der erlösende Schlaf stellte sich nicht ein und ihre Gedanken kreisten unablässig um ihre missliche Lage, ohne jedoch eine Lösung zu finden. Später aß sie einen Teller Nudelsuppe, die Bille für sie gekocht hatte. Auch die Freundin hatte offensichtlich nachgedacht und riet Romy, zu Bennis Familie zu gehen, damit sie ihr das Geld für eine Abtreibung gaben. „Die Sutters haben doch Geld“ argumentierte sie, „und ihr Sprössling ist schließlich verantwortlich für deine Lage.“ „Verantwortlich bin ich wohl selbst“, seufzte Romy und fing wieder an zu weinen, weil ein Teil von ihr das Baby unbedingt behalten wollte und der andere Teil schreckliche Angst vor der Zukunft hatte. Später schauten sie einen James-Bond-Film auf dem alten Fernseher in der Küche an und gingen dann schlafen. Es war ein unruhiger Schlaf mit wirren Träumen von Benni, Pepino und Bille, die immer wieder sagte: „Du musst das Ding loswerden.“

2

Nachdem sie eine Woche lang erfolglos versucht hatte, einen neuen Job zu finden, entschied sich Romy schließlich dafür, nach Tiefenbach zu fahren, um mit Bennis Bruder zu reden. Benni hatte öfter über seinen Bruder gejammert, der ihn an der kurzen Leine halte und kein Verständnis für ihn habe. Aber was konnte man schon erwarten von jemandem, der über dreißig war. Romy graute vor dem Treffen, doch sie hatte keine Wahl angesichts ihrer rapide schwindenden Geldreserven. Die Fahrt dauerte lange, musste sie doch zuerst mit dem Schnellzug nach Dornbirn fahren und dann mit dem Bus mehr als eine Stunde fast bis ans Ende des Tals, in dem Tiefenbach lag. Romy sah im Vorbeifahren auf die sanften grünen Hügel, den Wald und die alten Holzhäuser, an deren Fenster üppige Blumen blühten. Je weiter sie fuhren, desto höher wurden die Berge und ragten inzwischen steil auf beiden Seiten des immer enger werdenden Tales auf. Normalerweise hätte sich Romy an der wunderschönen Landschaft im strahlenden Sonnenschein erfreut, doch heute wuchs nur ihre Beklemmung, je näher sie dem Ziel kam.

In Tiefenbach sagte ihr der freundliche Busfahrer, an welcher Haltestelle sie aussteigen musste und erklärte ihr den Weg zum Sägewerk der Familie Sutter. Romy fand, dass die schmale Straße sich endlos dahinzog, vorbei an Bauernhöfen und saftigen grünen Wiesen. Schließlich ging es ein Stück durch den Wald und als sie schon befürchtete, den falschen Weg genommen zu haben, tat sich vor ihr eine malerische Ebene auf. Da dort nur ein großer Bauernhof, ein modernes Wohnhaus und das Sägewerk standen, musste sie richtig sein. Erleichtert ging sie Richtung Sägewerk, einem munteren Bach entlang, mit dessen Wasser die Säge wohl ursprünglich betrieben worden war. Sie fand das Bürogebäude und trat ein. Eine junge Frau saß an einem großen Schreibtisch und grüßte sie freundlich. Als Romy ihr mitteilte, dass sie zu Herrn Sutter wolle, meinte sie bedauernd, er sei im Moment nicht da, komme aber in etwa einer Stunde zurück. Sie bot Romy Kaffee an, den diese dankend annahm. Romy setzte sich auf den angebotenen Stuhl und ging noch einmal in Gedanken ihre Argumente durch. Eine Welle der Übelkeit durchfuhr sie und sie suchte schnell die Toilette auf, wo sie sich auch ein wenig frischmachte. Anschließend ging sie vor die Tür, um eine Zigarette zu rauchen und setzte sich dann wieder zu der jungen Frau ins Büro. Diese meinte, der Chef müsse jetzt bald kommen und wie auf Kommando trat Harald Sutter ein.

Er bat Romy höflich in sein Büro und bot ihr einen Stuhl vor seinem Schreibtisch an. Er selbst setzte sich in seinen massiven schwarzen Drehsessel. Romy blickte sich um. Das Zimmer war groß, mit Einbauschränken aus dunklem Holz. Hinter dem Schreibtisch hing ein großes gerahmtes Foto eines schlanken älteren Herrn mit vollem grauem Haar in Jagdkleidung. Er schien sie mit seinen strahlend blauen Augen kühl zu mustern. „Mein Vater“, sagte Harald Sutter und Romy blickte leicht verlegen in ein anderes Paar blaue Augen, das sie kühl musterte. Sofort fühlte sie sich noch unwohler in Billes schwarzem Trevirakostüm. Es war ihr viel zu weit, aber ihr einziges Kostüm hatte unter der Maturafeier gelitten und musste erst in die Reinigung gebracht werden. „Was führt Sie zu mir, Fräulein Pfeifer?“, fragte Bennis Bruder nun. Ihm war gleich klar gewesen, dass die blasse junge Frau etwas von ihm wollte. Romy schluckte. „Ich war mit Benni befreundet“, sagte sie leise. Der Mann nickte, er konnte sich daran erinnern, sie bei Benjamins Beerdigung gesehen zu haben. Sie war mit Reinhard und ein paar anderen jungen Leuten gekommen. „Ja, ich weiß“, sagte er, als sie nicht weitersprach. Romy war erleichtert, dass er sich an sie erinnerte und platzte mit ihrer Forderung heraus, bevor sie der Mut verließ: „Ich bin schwanger und jetzt wollte ich Sie bitten, dass Sie mir das Geld geben, damit ich es wegmachen lassen kann.“

Der Ankündigung folgte eine unangenehme Stille, in der Romy es nicht wagte, Bennis Bruder anzuschauen. „Sie erwarten Benjamins Kind und wollen von mir Geld, um es zu töten?“, fragte er nun und in seiner Stimme lag so viel Empörung, dass Romy gleich wieder mit den Tränen kämpfte. Gleichzeitig wurde sie zornig bei seiner Anschuldigung. Aufgewühlt rief sie: „Es ist noch kein Kind, es sind nur ein paar Zellen. Außerdem gehört mein Bauch mir!“ Diese Argumente wischte er mit einer ungeduldigen Handbewegung vom Tisch. „Verschonen Sie mich mit diesem Schwachsinn.“ Dann musterte er sie eindringlich. „Mein Bruder war sieben Jahre jünger als ich“, sagte er nun wieder ruhiger, „und in dieser Zeit hat meine Mutter drei Babys verloren. An zwei davon kann ich mich erinnern, an ihre Hoffnung und ihre Trauer, als sie wieder Blutungen bekam und das neue Leben erlosch. Glauben Sie mir, ich werde alles tun, damit ihr erstes Enkelkind überlebt.“ Inzwischen liefen Romy die Tränen über die Wangen und sie suchte in ihrer Handtasche verzweifelt nach einem Taschentuch. Bevor sie eines fand, öffnete Harald eine Schreibtischschublade und schob ihr ein Päckchen Papiertaschentücher zu. Romy wischte sich die Augen und putzte die Nase. Er wartete, bis sie sich gefasst hatte. „Wenn du bei Verhandlungen nicht mehr weiterkommst, leg eine Pause ein“, hatte ihm sein Vater öfter geraten. „Geh mit deinem Gegenüber etwas essen, trinken oder mach einen Rundgang durch den Betrieb. In der Zeit ordnest du deine Gedanken und überlegst dir, was du unbedingt herausholen musst und dann kommst du dem anderen so weit wie möglich entgegen.“ Diesen Rat wollte Harald auch jetzt beherzigen. Er schaute demonstrativ auf die Uhr und stand auf. „Ich habe noch einen wichtigen Termin“, teilte er Romy mit. „Wie wäre es, wenn Sie einen kleinen Spaziergang machen und wir dann um sechs Uhr zum Abendessen gehen? Kommen Sie einfach wieder hierher.“ Damit brachte er Romy zur Tür, bevor sie sich weigern konnte. „Bis später, Fräulein Pfeifer“, sagte er, wieder ganz der höfliche Geschäftsmann.

Romy ging einen schmalen Fußweg Richtung Wald und setzte sich auf eine rot angemalte Bank, die dort für Wanderer aufgestellt worden war. Sie ließ sich die warme Nachmittagssonne ins Gesicht scheinen und legte sich schließlich auf die Bank, wobei sie die Jacke als Kopfkissen benutzte. Als sie Stimmen hörte, schreckte sie hoch, zog schnell ihren Rock nach unten und setzte sich gerade hin. Es war nur ein älteres Ehepaar, das sie freundlich grüßte. Romy zog einen kleinen Spiegel aus der Tasche. „Mein Gott, ich sehe ja schrecklich aus“, murmelte sie. Am Morgen hatte sie sich nicht die Mühe gemacht, sich zu schminken, aber jetzt tuschte sie sich die Wimpern, zog einen Lidstrich und trug rosaroten Lippenstift auf. Nachdem ihre Wangen so blass waren, tupfte sie ein wenig Puder darauf und verwendete den Lippenstift wie Rouge, nachdem sie kein solches besaß. Sie fuhr sich mit dem Kamm durch die Haare, sprühte Deo unter die Achseln und feilte sich die Fingernägel. Wie gut, dass sie das Nötigste immer dabei hatte. Dann aß sie zwei Scheiben Zwieback und erlaubte sich die Hoffnung, dass Bennis Bruder ihr oder wohl eher ihrem Baby helfen würde, da ihm so viel an dem Sutter-Sprössling zu liegen schien. Natürlich, das Kind war ja auch von besonderer Abstammung, während sie nur eine dahergelaufene Kellnerin war, dachte sie bitter. Der Boss hatte sich für sie überhaupt nicht interessiert, fiel ihr erst jetzt auf. Sie würde ihm zeigen, dass mit ihr durchaus zu rechnen war, nahm sie sich fest vor.

Kurz vor sechs spazierte sie zurück zum Bürogebäude. Inzwischen waren die Arbeiter nach Hause gegangen und die kleine Ebene lag still und friedlich in der Abendsonne. Natürlich, die Reichen wohnten auch an schöneren Plätzen als die Armen, schoss es Romy durch den Kopf. Harald hatte inzwischen mit dem Anwalt der Firma telefoniert und mit ihm ein Angebot ausgearbeitet, das sie Romy unterbreiten wollten. Die Feinheiten würde er ihm morgen früh noch durchgeben und dann am frühen Nachmittag mit Romy den Vertrag unterzeichnen. Seiner Mutter hatte er Bescheid gegeben, dass er auswärts essen würde und einen Tisch im Löwen in Kaltenberg reserviert. Wieder einmal, so war ihm bewusst geworden, badete er den Leichtsinn und die Verantwortungslosigkeit seines Bruders aus. Diesmal würde daraus hoffentlich etwas Gutes für seine Mutter und ihn entstehen. Ein Kind ihres verstorbenen Sohnes würde sie mehr trösten, als irgendetwas anderes es vermocht hätte.