Theodor, Geschenk der Götter - Helene Hammerer - E-Book

Theodor, Geschenk der Götter E-Book

Helene Hammerer

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Beschreibung

Nach einer knisternden Sommerromanze mit der bezaubernden Julie befindet sich Junggeselle Theodor in Hochstimmung. Ganz und gar ungelegen kommen ihm dabei seine neue Arbeitskollegin, die zurückhaltende Doro, und ihr aufmüpfiger kleiner Sohn, die seinen geregelten Alltag ordentlich durcheinander bringen. Doro beweist ihm jedoch bald, dass sich hinter der Fassade des schüchternen Mäuschens eine willensstarke Frau verbirgt und Theo muss sich nach und nach eingestehen, dass der erste Eindruck täuschen kann... "Theodor, Geschenk der Götter" ist der dritte Teil der Bregenzerwald-Romane von Helene Hammerer.

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Seitenzahl: 142

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Helene Hammerer

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1.

Pfeifend schob Theo sein Fahrrad aus dem Schuppen und schwang sich auf den Sattel. Nach einer Woche Urlaub bei seiner Freundin Julie im Tessin fühlte er sich rundherum wohl und zufrieden. Sie hatten die Romanze,die bei einem Sommerkurs in der Kunsthandwerkerschule begonnen hatte, wieder aufgefrischt und herrliche, sorglose Tage verbracht, waren in Bellinzona auf den Burghügel gewandert und mit dem Boot auf dem Luganosee herumgedümpelt, hatten in Lugano Eis gegessen und in den schicken Straßencafés Espresso getrunken. Ihm zuliebe hatte Julie die teuren Boutiquen links liegen gelassen. Zum Abschied hatte er ihr dann einen Seidenschal von Chanel gekauft und sie hatte versprochen, ihn im Herbst zu besuchen. Theo nahm das Versprechen nicht allzu ernst. Frauen wie Julie waren wie Schmetterlinge. Jeder freute sich, wenn sie sich kurz bei ihm niederließen und bewunderte ihre Schönheit. Wenn sie bald weiterflatterten, so lag dies in ihrer Natur und man durfte sich nicht allzu sehr darüber grämen.

So in angenehme Gedanken versunken, kam erkurze Zeit später auf dem Parkplatz der Schule in Tiefenbach an. Als Schulwart musste er auch im Sommer regelmäßig auf dem Sportplatz und rund um die Gebäude den Rasen mähen. Mit dem Traktorrasenmäher, den sein Vorgänger noch erkämpft hatte, war dies keine große Sache. Theo stellte sein Fahrrad vor dem Schultor ab, als hinter ihm eine Kinderstimme ertönte: „Hände hoch, oder ich schieße!“ Verblüfft drehte sich Theo um und blickte in das grimmig entschlossene Gesicht eines kleinen Buben, der einen Wikingerhelm aus Plastik auf dem Kopf trug und Pfeil und Bogen auf ihn gerichtet hatte. Bevor er dem Befehl nachkommen und die Hände hochnehmen konnte, traf ihn der spitze Pfeil am Bauch. Theo stieß einen Schmerzenslaut aus und bückte sich, um den Pfeil aufzuheben. „Wer bist du und was machst du hier?“, herrschte er den Bengel an. Keineswegs eingeschüchtert,verkündete der Knirps: „Ich bin Wickie, der tapfere Wikinger und ich besiege alle Feinde.“ „Woher weißt du, dass ich ein Feind bin?“, wollte Theo wissen. Statt einer Antwort griff der tapfere Kämpfer in ein Kartonrohr, das er an einer Schnur über der Schulter trug, um einen neuen Pfeil heraus zu holen. Theo, der sich davon überzeugt hatte, dass der erste Pfeil angespitzt war, wollte kein weiteres Risiko eingehen und nahm ihm kurzerhand alle Pfeile weg. Unter lautem Gebrüll ging das Kind nun mit dem Bogen auf ihn los, also entwand er ihm auch diesen. Wickie schien wirklich ein tapferer Krieger zu sein, denn er hörte schnell auf zu schreien und umklammerte Theos Bein, um an Pfeil und Bogen zu kommen. „Wo ist deine Mama?“, fragte Theo. „Hinten“, grunzte der Kleine und setzte seine Bemühungen fort. Theo ging zur Rückseite des Gebäudes und sah einen aufgeschossenen, dunkelhaarigen Jugendlichen in einer abgeschnittenen Jeans und einem verwaschenen karierten Hemd vor der Himbeerhecke stehen, die der ganze Stolz seines Vorgängers gewesen war. „He du, pass gefälligst besser auf deinen kleinen Bruder auf und lass Edwinas Himbeeren in Ruhe!“, dröhnte Theos befehlsgewohnte Stimme. Als Schulwart hatte er gelernt, sich Respekt zu beschaffen. Dies fiel ihm bei seiner Größe von 1,90 m und seinem kräftigen Bass normalerweise nicht schwer. Auch diesmal drehte sich der Beerendieb blitzschnell um und entpuppte sich als Mädchen. Mit den großen dunklen Augen, der kleinen Nase und den feingeschwungenen Lippen sah es dem kleinen Wikinger sehr ähnlich und bei beiden hätte das dunkle, glatte Haar einen ordentlichen Schnitt vertragen.

Theo blieb verblüfft stehen und starrte das große, dünne Mädchen an. „Du solltest auf deinen Bruder aufpassen, anstatt Edwinas Himbeeren zu stehlen“, tadelte er. „Außerdem sind die Pfeile angespitzt. Das könnte wirklich gefährlich werden.“ „Ich stehle keine Himbeeren, ich wohne hier“, verteidigte sich das Mädchen. „Dann bist du also die Tochter der neuen Putzfrau?“, kombinierte Theo. Inzwischen wurde Wickie ungeduldig, da er nicht die geringste Chance hatte, seine Waffen zurückzugewinnen. „Mama, sag ihm, er soll mir meine Pfeile und meinen Bogen wiedergeben!“, heulte er zornig auf. Theo stutzte beim Wort „Mama“. Das magere, junge Ding war die Mutter des kleinen Bengels? Was hatte ihm der Bürgermeister nun wieder aufgehalst? Er übergab der jungen Mutter Pfeile und Bogen. „Hier auf dem Schulhof läuft er aber nicht mit angespitzten Pfeilen herum, das ist zu gefährlich“, warnte er nochmals streng. Ich klinge schon genau wie mein Vater, schoss es ihm durch den Kopf und er bemühte sich um einen freundlicheren Tonfall. Wickie hatte seiner Mutter die Waffen inzwischen abgenommen und sich davongemacht, während sie immer noch dastand und zu Boden schaute. „Dann bist du also die neue Putzfrau? Ich bin Theo, der Schulwart“, stellte er sich vor. „Der Bürgermeister hat mir erlaubt, dass ich jetzt schon einziehe, weil mein Bruder vor der Hochzeit das Haus renoviert und da musste ich unser Zimmer räumen.“ Theo nickte, obwohl er die Zusammenhänge nicht ganz durchschaute. Auch das war typisch für seinen Chef, den Bürgermeister, alle möglichen Versprechungen zu machen, und ihn nicht zu informieren. Er beschloss, auf dem Heimweg bei Melitta, der zweiten Putzfrau, vorbeizufahren. Sie wusste via „Dorftelefon“ bestimmt längst über die Sache Bescheid. Heißt dein Sohn wirklich Wickie?“, entfuhr es Theo. Die junge Frau schüttelte den Kopf. „Er heißt Viktor aber ich nenne ihn immer Viki.“ Theo nickte. „Und du?“, hakte er nach. „Ich heiße Doro“, murmelte sie und verstummte wieder. Theo, der keine Lust mehr hatte, die einseitige Unterhaltung fortzusetzen, verabschiedete sich und ging Richtung Schultor. Seine gute Laune war längst verflogen. So ein einsilbiges, junges Ding und dazu noch der verzogene Bengel, dachte er missmutig. Dass er Doro mit seinem Auftritt erschreckt haben könnte, kam ihm gar nicht in den Sinn. Er zog Arbeitskleidung an und mähte den Rasen auf dem ganzen Schulgelände. Dann duschte er in der Umkleidekabine der Lehrer und machte sich auf den Weg zu seiner Kollegin Melitta.

Diese wohnte in einem gepflegten Einfamilienhaus, das sie mit ihrem Mann Adelhelm, einem Mitarbeiter der Bankfiliale bewohnte. Der gemeinsame Sohn Mathias, ihr ganzer Stolz, studierte in Innsbruck Medizin und kam nur in den Ferien nach Hause. Theo stellte sein Fahrrad vor dem Haus ab und bevor er klingeln konnte, öffnete sich die Haustür. „Tag Theo, bist du aus dem Urlaub zurück?“, begrüßte ihn die rundliche Melitta freundlich. „Gut siehst du aus. Magst du einen Kaffee und ein Stück Kuchen?“ „Da kann ich wohl nicht nein sagen“, grinste Theo. Er folgte seiner Mitarbeiterin in die Küche und setzte sich an den Tisch. Mit der grauen Dauerwelle, der Schürze über dem Sommerkleid und den Gesundheitsschuhen sah sie aus wie die perfekte Hausfrau. Flink füllte sie die Kaffeemaschine, stellte Teller und Tassen auf den Tisch und holte dann aus der angrenzenden Speisekammer einen Apfelkuchen. Ein Kännchen mit Milch und den Sahneboy entnahm sie dem Kühlschrank. Nebenbei horchte sie Theo über seinen Urlaub im Tessin aus. Dieser erzählte bereitwillig von der Burg, dem See und dass er eine alte Bekannte wiedergesehen habe. Über die heißen Nächte sagte er wohlweislich nichts, denn einen solchen Lebenswandel hätte die streng katholische Melitta aufs Schärfste missbilligt. Als Theo auf die neue Putzfrau zu sprechen kam, erfuhr er gleich deren ganze Lebensgeschichte.„Theodora ist mit unserem Mathias in die Klasse gegangen“, fing Melitta an. „Theodora?“, grinste Theo. „Zu mir hat sie gesagt, sie heißt Doro.“ „Ja, so nennt sie sich jetzt wohl, aber sie heißt Theodora, nach der Schwester ihres Vaters, die ins Kloster gegangen ist.“ Theo nickte. „Nach der Hauptschule hat sie eine Gärtnerlehre gemacht und mit 18 hat sie das Kind bekommen. Man hat gemunkelt, dass es von ihrem Chef ist, aber Genaueres hat man nie erfahren. Dann hat sie zu Hause bei ihrer Mutter und ihrem Bruder auf der Landwirtschaft geholfen.“ „Und ihr Vater?“, erkundigte sich Theo. „Der ist gestorben, als Doro noch in die Lehre ging“, seufzte Melitta. „Er hat im Krieg eine Kopfverletzung erlitten und immer furchtbare Kopfschmerzen und Migräne gehabt. Alwin, der älteste Sohn, hat den Hof übernommen. Er ist sehr fleißig und tüchtig. Vor drei Jahren hat er den Stall vergrößert und jetzt renoviert er das Haus, weil er im Herbst heiraten wird.“ „Und deshalb hat der Bürgermeister Doro erlaubt, jetzt schon in Edwinas Wohnung einzuziehen“, rundete Theo die Geschichte ab. Er schüttelte den Kopf. Franz, der Gemeindearbeiter, und er selbst hätten die Wohnung ausmalen sollen. Edwinas Mann Guido, der frühere Schulwart, war Kettenraucher gewesen und vor zweieinhalb Jahren an Lungenkrebs gestorben. Theo hatte gleich einspringen können und deshalb die Stelle bekommen, obwohl er aus dem Nachbarort Auenfeld stammte und jetzt auch dort lebte. Als er Melitta davon erzählte, zuckte diese die Achseln. Jetzt wohnt Doro schon dort. Sie kommt sicher zurecht. Edwina sagte, sie überlässt ihr die ganzen Möbel. „Wirklich großzügig, ihr den alten, verrauchten Kram zu überlassen“, bemerkte Theo. „Es ist besser als nichts“, verteidigte Melitta ihre alte Kollegin. „Edwina lässt dich übrigens schön grüßen. Es gefällt ihr bei ihrer Tochter und sie genießt die Pension.“ „Darauf wette ich, jetzt kann sie den ganzen Tag rauchen und fernsehen“, grinste Theo. Da er nebenbei zwei große Stücke Kuchen gegessen und drei Schalen Kaffee getrunken hatte, bedankte er sich höflich und verabschiedete sich. Sie würden sich spätestens beim Generalputz Anfang August wiedersehen, falls Theo nicht vorher Lust auf Kaffee und Kuchen hatte, bekräftigte Melitta, als sie ihn zur Tür brachte. Wieder weitaus besser gelaunt fuhr Theo heim. Dort musste er auch den Rasen mähen, nur leider ohne Traktor.

2.

Doro war immer noch wütend, während sie die restlichen Beeren abnahm und dann Marmelade daraus kochte. Wütend auf den herrischen Kerl, der ihr neuer Chef war, weil er sie beschimpft und beschuldigt hatte. Wütend auf den Bürgermeister, der Theo nicht informiert hatte. Wütend auf ihren Bruder Luis, der Viki die spitzen Pfeile und den Bogen gemacht hatte und schließlich wütend auf sich selbst, weil sie dagestanden war, wie ein dummes Schulmädchen, ohne sich zu wehren. Wie er so plötzlich vor ihr aufgetaucht war, groß und aufgebracht, die hellbraunen Haare vom Wind zerzaust und sie mit seinen bernsteinfarbenen Augen anfunkelte, war er ihr selbst wie ein nordischer Krieger erschienen. „Er ist nur ein Mann und er hat kein Recht mich zu beschimpfen“, murmelte sie mehrmals wie eine Beschwörungsformelvor sich hin. Gerade, als müsste sie sich selbst davon überzeugen. Als die Marmelade in Gläser abgefüllt war, die sie auch von ihrer Vorgängerin geerbt hatte, ging Doro ins Wohnzimmer. Dort saß Viki auf dem alten braunen Spannteppich und wickelte mit Hingabe Klebeband um die Pfeile, deren Spitzen sie vorher mit der Baumschere abgeschnitten hatte. Damit sollte der große Boss zufrieden sein. „Ja, so ist es gut“, lobte Doro ihren Sohn. „Nimmt mir der große Mann die Pfeile jetzt nicht mehr weg?“, fragte der Kleine zweifelnd. „ Du darfst nicht mehr auf ihn schießen, sonst sind sie weg“, ermahnte ihn seine Mutter, „und auf andere Menschen auch nicht.“ Viki nickte. „Komm, wir gehen zu Oma und holen unsere restlichen Sachen.“ Das klang in Vikis Ohren gut. „Darf ich dann mit dem Traktor mitfahren?“, fragte er eifrig. „Bestimmt“, versprach Doro. Bis zu ihrem Elternhaus war es nicht weit. Sie war in einem der Bauernhöfe mitten im Dorf aufgewachsen. Einst war es ein stattliches Haus gewesen, aber inzwischen wirkte es heruntergekommen. Ihre Mutter schämte sich schon lange dafür, aber durch die angeschlagene Gesundheit des Vaters hatte das Geld nie für zusätzliche Ausgaben gereicht. Jetzt wollte ihr Bruder das ganze Haus isolieren und mit neuen Holzschindeln anschlagen. Dann würde es in neuem Glanz erstrahlen. Ihre Mutter freute sich sehr darüber und auch Doro fand es gut. Bis zur Hochzeit im Herbst gab es noch viel zu tun und die ganze Familie musste zusammenhelfen. Luis, der Tischler, machte schon seit Wochen Fenster und Läden. Sein Chef erlaubte ihm, nach Feierabend noch in der Werkstatt zu arbeiten. Gerd, der Elektriker würde sich um den Strom kümmern. Hedwig, ihre älteste Schwester nähte die vielen neuen Vorhänge, für die ihre Mutter schon den ganzen Winter über wunderschöne Spitzen nach den alten Mustern der Familie gehäkelt hatte. Sie selbst würde beim Kochen, Putzen und in der Landwirtschaft helfen. Nur Annabell, die Jüngste der sechs Geschwister, war fein heraus. Sie arbeitete im Moment in der Filiale im Nobeltourismusort Lech als Frisörin. Sie würde erst zur Hochzeit kommen. Hoffentlich zertrampelten die Männer nicht alle Blumen, die sie vor dem Haus gepflanzt hatte, ging es Doro durch den Kopf. Wie immer galt ihre Fürsorge ganz besonders den Pflanzen.

Als sie beim elterlichen Hof ankamen, fuhr Alwin den Traktor mit Anhänger vor die Haustür an der Seite des Hauses. Die meisten ihrer Habseligkeiten hatte Doro schon in Schachteln verpackt und im „Schopf“, der Veranda an der Seite des Hauses, gestapelt. Nachdem sie die Einzige in der Familie war, die alte Möbel mochte, bekam sie die alten Betten, zwei Kleiderschränke, Tische, Stühle und Kommoden. Damit konnte sie die Schulwartwohnung fertig einrichten, nachdem die Küche und das Wohnzimmer bereits möbliert waren. Doro freute sich riesig darauf und konnte es kaum noch erwarten. Das erste Mal in ihrem Leben hatte sie mehr als ein Zimmer für sich und Viki. Mit vereinten Kräften luden Alwin und Doro die kleineren Möbel auf den Anhänger. Alles über die steile Treppe nach unten zu tragen war Schwerarbeit. Alwin wischte sich den Schweiß von der Stirn und grinste seine Schwester an: „Für so eine dürre Bohnenstange bist du ziemlich stark.“ „Du auch“, gab sie zurück, denn auch ihr Bruder war groß und hager. Wie versprochen durfte Viki bei seinem Onkel auf dem Traktor sitzen, von wo aus er Doro strahlend zuwinkte. Sie selbst verabschiedete sich noch von ihrer Mutter, die ihr ein großes Stück Bergkäse einpackte. Im Tal war es nicht üblich, sich beim Abschied zu umarmen, man gab sich höchstens die Hand. Oft hing neben der Tür auch ein Weihwasserkessel und die Mütter machten ihren Kindern ein Kreuzzeichen auf die Stirn. Das tat Martha, Doros Mutter, jetzt auch. „Ich wünsche dir viel Glück und Segen in deinem neuen Heim“, sagte sie leicht gerührt. „Danke Mama“, lächelte Doro. Dann lief sie ums Haus, holte ihr Fahrrad und sauste Richtung Schule. Alwin war schon dabei, die Schachteln in die Wohnung zu tragen. Wie sie es von zu Hause gewohnt war, hatte Doro die Haustür nicht zugesperrt. „Versprich mir, dass du in der Nacht die Tür zusperrst, Doro“, mahnte Alwin, „die Schule steht doch etwas abseits.“„Ja, ja“, versicherte sie leichtfertig, „uns wird schon niemand stehlen und unsere wertvollen Möbel auch nicht.“ Alwin schaute schmunzelnd auf das Sammelsurium aus alten Sachen. „Mit den Möbeln könntest du Recht haben.“

Die Schulwartwohnung bestand aus einem kleinen Vorraum, von dem aus man direkt ins Wohnzimmer kam. Rechts führten drei Türen in ein größeres und zwei sehr kleine Schlafzimmer, auf der anderen Seite befanden sich die Küche, das Badezimmer und ein Abstellraum. Über das eigene Badezimmer freute sich Doro am meisten. Endlich konnte sie heißes Wasser verbrauchen, so viel sie wollte, und sich am Abend ein heißes Bad gönnen, wenn ihr von der schweren Arbeit alles wehtat. „Warum nimmst du das große Zimmer nicht für dich?“, riss Alwin seine Schwester aus ihrem Traum vom heißen Bad. „Ich möchte, dass Viki es hell und freundlich hat und im Zimmer auch spielen kann. Für mich ist das kleine Zimmer groß genug und das dritte nehme ich als Arbeitszimmer zum Bügeln und zum Malen. „Dass du ein Arbeitszimmer hast, finde ich gut“, stimmte ihr Bruder zu, „aber du solltest Viki nicht so verwöhnen. Immer steckst du selbst zurück.“ Doro schob trotzig ihr Kinn vor: „Ich will, dass er alles hat, was er braucht.“ „Das hat er bestimmt“, lenkte Alwin gutmütig ein. Nur einen Vater, der ihm Grenzen setzt und ihm Halt gibt, hat er nicht, dachte er und spürte den alten Zorn hochkommen, der ihn jedes Mal überkam, wenn er an den Mann dachte, der seine kleine Schwester verführt und dann sitzen gelassen hatte. Mit Doro konnte man über den „tollen Richard“, ihren früheren Chef, nicht reden. In ihren Augen war er noch immer ein Held. Dass er sie nicht heiraten konnte, war allein die Schuld seiner tyrannischen Ehefrau. So ein Schwachsinn! „Was machst du, wenn du einen Verehrer hast, wo soll der dann schlafen?“, stichelte Alwin. „Jedenfalls nicht bei mir“, konterte Doro wie aus der Pistole geschossen. Ihr Bruder lachte und zwinkerte ihr zu: „Sag niemals nie!“ Worauf sie nur verächtlich schnaubte. „Wir stellen die Möbel einfach in die Mitte der Zimmer“, schlug Doro vor. „Der Bürgermeister hat versprochen, dass Franz die Wohnung noch ausmalt. Dann kann er die Möbel zudecken und ich schiebe sie einfach an die Wand, wenn er fertig ist. Alwin runzelte sie Stirn. „Du hättest wohl noch ein paar Tage daheim wohnen können, bis hier alles fertig ist. Jetzt sieht es so aus, als würde ich dich hinauswerfen.“ „Nein, es ist besser so. Dann muss ich nicht immer hin und herlaufen und Viki kann hier spielen.“ Alwin seufzte. Wenn sich Doro etwas in den Kopf setzte, konnte man sie kaum davon abbringen.