Turbulenzen im Paradies - Helene Hammerer - E-Book

Turbulenzen im Paradies E-Book

Helene Hammerer

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Beschreibung

Die junge Lehrerin Felicia lässt sich zu Beginn der 1980er Jahre in den malerischen Wintersportort Auenfeld versetzen. Sie hofft, dort ideale Bedingungen für ihre Arbeit vorzufinden. Doch weit gefehlt! Carina, die Tochter des verwitweten Hotelbesitzers Alexander Felder macht ihr das Leben zur Hölle. Kein Wunder, dass Lehrerin und Vater nicht gut auf einander zu sprechen sind. Das ändert sich jedoch schlagartig, als Alexanders temperamentvolle italienische Schwiegermutter Luisa in Auenfeld eintrifft und die Dinge in die Hand nimmt.

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Seitenzahl: 187

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Inhaltsverzeichnis

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Impressum neobooks

1

»Fertig?« Josef schloss die Seitentüre des kleinen Lieferwagens mit einem leisen Scheppern und schaute seine Schwester fragend an. »Ja, geschafft«, grinste Felicia, »ich verabschiede mich noch schnell von Mama und Papa.« Damit lief sie ins Haus zurück. Gemeinsam mit ihren Eltern kam sie kurze Zeit später wieder und nahm neben ihrem Bruder auf dem Beifahrersitz Platz. »Es kann losgehen!«, rief sie aufgeregt und winkte ihren Eltern einen letzten Abschiedsgruß zu. »Du freust dich wirklich darauf, dich in diesem Kaff zu begraben«, meinte Joe belustigt. »Es ist kein Kaff. Es ist ein bekannter Wintersportort und auch im Sommer bei Wanderern und Bergsteigern sehr beliebt.« »Hast du den Werbeprospekt auswendig gelernt?« Felicia schnitt ihm eine Grimasse und setzte wieder zur Verteidigung ihres zukünftigen Wohnortes an. »Es ist wirklich schön dort. Alles ist noch so urtümlich und unverdorben. Die Menschen kennen einander und die Kinder sind in der Dorfgemeinschaft richtig aufgehoben.« »Wenn du dich da bloß nicht täuschst«, warnte Joe. Er wollte seiner Schwester ihre Begeisterung ja nicht nehmen, aber so ganz glaubte er nicht an die Idylle.

Nach gut einer Stunde Fahrzeit hatten sie die Autobahn und die größeren Orte hinter sich gelassen. Die Straße wurde zunehmend schmaler, die Kurven enger. Josef, der von Natur aus eher schweigsam war, konzentrierte sich aufs Fahren und Felicia schaute aus dem Fenster. Sie nahm begierig all das Neue in sich auf. Vor zwei Wochen war sie schon einmal in Auenfeld gewesen, ihrem neuen Dienstort, wo sie in zwei Tagen die erste Klasse übernehmen würde. 18 Kinder, eine gute Zahl, nicht allzu viele und hoffentlich nicht allzu schwierige Kinder. Der Direktor, Markus Aberer, hatte ihr die Schule gezeigt. Ein altes Gebäude aus Holz mit vier Klassenräumen und einem Werkraum im Dachgeschoss. Im Parterre war der Kindergarten untergebracht. Alles war alt und viel gebraucht und Felicia fand es herrlich heimelig. Ihre Klasse befand sich im ersten Stock. Ein großer, heller Raum mit hohen alten Fenstern, die Wände mit Holz getäfelt. »Hier kannst du schalten und walten, wie du willst«, hatte ihr neuer Chef versichert und Felicia sah den Raum mit Pflanzen und bunten Bildern an den Wänden. An der Rückwand würde sie ein Regal aus Apfelkisten bauen, in dem sie ihre vielen Lernspiele unterbringen konnte. Anschließend waren sie zum Gemeindehaus gegangen. Im Dachgeschoss befand sich die Lehrerwohnung, ein geräumiges Zimmer mit Dusche. Man hatte versprochen, ihr in Kürze ein Telefon zu installieren, und damit war es ganz passabel. Außerdem war es sehr preiswert, was bei ihrem kleinen Lehrerinnengehalt kein Nachteil war. Das Tal mit seinen malerischen Dörfern zog an ihnen vorüber. Es gab noch viele alte Bauernhäuser hier mit steilen Dächern, die Wände mit verwitterten Holzschindeln angeschlagen. An den zahlreichen kleinen Fenstern hingen die traditionellen Vorhänge mit den gehäkelten Spitzen und überall waren Blumen an den Fenstern, den Balkonen und in den Gärten. Umrahmt wurde das Ganze von grünen Wiesen, Wäldern und Bergen. Nicht umsonst kamen so viele Menschen hierher, um sich zu erholen. Das Tal wurde enger und die Berge ringsum höher, fast schon bedrückend, und dann lag Auenfeld vor ihnen. Friedlich, an einem Samstagnachmittag im September in mildem Sonnenlicht. »Wir sind da! Willkommen in Auenfeld!«, rief Felicia und Joe hielt vor dem Gemeindeamt. »Was heißt hier willkommen? Wo sind der rote Teppich und die Blasmusik?«, neckte er sie und erntete dafür einen strengen Blick. »Fahr am besten da vorne rechts, mein Eingang ist auf der Seite«, wies sie ihn an und kramte in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel, drehte sie um und suchte weiter. »Hast du den Schlüssel vergessen? Dann muss ich dich leider hier aussetzen.« »Natürlich nicht!« Felicia hielt ihm den Schlüssel triumphierend unter die Nase. »Bringst du die Schachtel mit dem Geschirr? Ich nehme den Proviantkorb, dann können wir uns erst einmal stärken. Mama hat mir Essen für die nächsten drei Wochen mitgegeben, sie meint, ich wohne auf der Alpe.« Ihr Bruder nickte: »Sie ist eben ein wenig besorgt um dich.«

Nach ziemlich vielen Stufen betraten sie die Lehrerwohnung. Warmes Herbstlicht fiel durch die Gaubenfenster und machte den Raum heimelig, zeigte aber auch die Flecken an den weißen Wänden und den Staubfilm, der auf den leicht abgewetzten Möbeln lag. Joe sah sich um. »Na ja, ein Luxus-Apartment ist es nicht, aber es geht.« »Bis ich es geputzt habe und mit meinen Sachen darin, wird es ganz gemütlich. Du wirst sehen«, versicherte ihm seine Schwester und hielt bereits einen Putzlappen unter den Wasserhahn. Sie wischte den Tisch ab, füllte einen kleinen Kochtopf mit Wasser und stellte ihn auf die Kochplatte. »Setz dich doch, Kaffee gibt es in fünf Minuten «, sagte sie fröhlich und stellte Teller und Tassen auf den Tisch. Dem großen Korb entnahm sie eine Dose mit Kuchen, ein Glas löslichen Kaffee, Milch und eine Packung Schwarztee. Dann kramte sie in der Geschirrschachtel nach Besteck und schwenkte siegreich eine Thermoskanne. »Alles da!«, grinste sie. Ihr Bruder beobachtete sie lächelnd. Äußerlich waren sie sich ähnlich, beide waren schlank, hatten dunkles, lockiges Haar und große braune Augen. Mit ihren 24 Jahren war sie ein Jahr jünger als er und eindeutig die Lebhaftere von ihnen. Während er Techniker bei einem internationalen Konzern war, hatte sie immer schon davon geträumt, Lehrerin zu werden. Dies war nun ihre dritte Stelle. Nach dem Studium hatte sie ein Jahr in England als Sprachassistentin verbracht und dann an einer großen Schule im Arbeiterviertel ihrer kleinen Stadt unterrichtet. Die autoritäre Art des Direktors und die vielen sozialen Probleme hatten sie bedrückt und so hatte sie beschlossen, sich in diesen kleinen Wintersportort versetzen zu lassen. Wahrscheinlich würde sie sich hier wohlfühlen. Sie mochte die Menschen und setzte sich voll für ihre Kinder ein.

Felicia schenkte ihrem Bruder Kaffee ein, sich selbst Schwarztee, darin war sie den Engländern treu geblieben, und legte ihm ein großes Stück Kuchen auf den Teller. Auch das war typisch für sie. In einem verstaubten, noch nicht eingerichteten Zimmer einen Kaffeetisch zu decken und gemütlich mit ihm zusammenzusitzen. Sie schaffte sich hier bereits ein Zuhause. Frisch gestärkt machten sie sich daran, die Schachteln mit Büchern, Spielen und Kleidung, einen kleinen Kühlschrank und zwei Lampen die vielen Stufen hinaufzutragen. »Du wirst sehen, hier werde ich noch richtig sportlich«, keuchte Felicia, die zwar schlank und zierlich gebaut, aber ein ziemlicher Sportmuffel war. »Es bleibt dir wohl nichts anderes übrig, wenn du nicht versauern willst«, grinste Joe, »ein kulturelles Zentrum ist das hier bestimmt nicht.« »Ach, sag das nicht, der Schuldirektor leitet den Chor. Er soll ziemlich gut sein und ich darf mitsingen, wenn ich will. Außerdem gibt es eine Blasmusikkapelle und eine Volkstanzgruppe.« »Oh je, dann wirst du sicher gleich Solo singen und wir müssen zu jeder Aufführung kommen. Papa leidet eh schon, wenn er ständig zu Miriams Orchesterkonzerten gehen muss.« Seine Schwester schnitt ihm eine Grimasse und beruhigte ihn »Müsst ihr nicht! Ich weiß ja, dass es euch keinen Spaß macht. Außerdem ist es nach Auenfeld doch ziemlich weit, nur um mich zwei Minuten singen zu hören.« Damit war für sie das Thema abgeschlossen. »Wenn du mir jetzt noch die Lampen aufhängst, bist du ein echter Schatz. Irgendwo ist ein kleiner Werkzeugkasten, den Papa mir zusammengestellt hat. Dort müsstest du alles finden.« Nach einigen Minuten brannte das Licht und Joe verabschiedete sich von seiner Schwester. Sie würde gut zurechtkommen, davon war er überzeugt.

»So!« Felicia hatte die Möbel abgestaubt, die Dusche und das Abwaschbecken gründlich geputzt und den Boden feucht aufgewischt. Jetzt nur noch alles einräumen und schon war sie fertig. Sie stellte das Radio auf den großen, alten Schreibtisch und stellte den Klassik-Sender ein. So ganz allein war es doch ein wenig still. Als eine Arie aus Mozarts Zauberflöte ertönte, arbeitete Felicia beschwingt weiter. Zu Hause hatte sie sich oft nach Stille gesehnt, wenn ihre Schwester stundenlang Geige geübt hatte und ständig Verkehrslärm zu hören gewesen war. Auch in Manchester war es nie still gewesen. Dort hatte sie mit drei anderen Mädchen zusammen ein kleines, ehemaliges Arbeiterhaus bewohnt, in dem jedes Geräusch zu hören gewesen war. Zum ersten Mal konnte sie selbst entscheiden, ob sie Stille oder Lärm wollte – gut!

Am Sonntagmorgen wurde sie vom Läuten der Kirchenglocken geweckt. Als Lehrerin in einem kleinen, katholischen Dorf sollte sie wohl zur Messe gehen, das würde einen guten Eindruck machen.Anschließend wollte sie noch in die Schule gehen, um alles für den ersten Schultag herzurichten. Die Namenskärtchen, die Buchstabenbilder, die sie in den Ferien gebastelt hatte, und das große Willkommensplakat für die Erstklässler. Auch die Schulbücher müssten schon da sein. Schnell zog sie dünne Strumpfhosen und ein Kleid an, darüber ihren dunkelblauen Sommermantel. Sie schlüpfte in ihre schwarzen Ballerinas, nahm den Korb, den sie unterwegs bei der Schule einstellen wollte, und machte sich auf den Weg zur Kirche. Die Leute grüßten sie freundlich und musterten sie neugierig. Auf dem Kirchplatz traf sie auf Markus, den Schuldirektor, und seine Frau Marianne. Er hatte ihr erklärt, dass sich hier im Tal alle Menschen mit »du« und dem Vornamen anreden würden. »Sie und Herr sagt man nur zu Fremden oder Leuten, die man lieber auf Abstand hält«, hatte er augenzwinkernd gemeint. Die Lehrersgattin nahm Felicia gleich mit auf die »Frauenseite«, denn in der Kirche herrschte hier noch die alte Ordnung. Ein wenig so, als käme man in eine frühere Zeit. Nach der Messe gingen die Frauen nach Hause, um das Sonntagsessen zu kochen, und die Männer trafen sich im Gasthaus zum Frühschoppen.

Felicia ging in die Schule, lief die knarrende Holztreppe hinauf und machte sich daran, die mitgebrachten Bilder und Plakate mit Reißzwecken an den Wänden zu befestigen. Sie verschob Bänke und Stühle, bis die Sitzordnung ihren Vorstellungen entsprach, und verteilte die Namensschildchen. Im Lehrerzimmer, einem gemütlichen Raum mit einem großen, alten Holztisch in der Mitte, fand sie die neuen Bücher und Hefte. Der Anblick des kleinen Kopiergeräts erfüllte sie mit Freude. Gott sei Dank musste sie nicht mehr jeden Morgen Abzüge mit einer Spiritusmatritze machen, die dann sicher undeutlich und verschwommen waren. Das alte Ding stand noch in einer Ecke, wurde jedoch nicht mehr benutzt. Schnell brachte sie die Bücher und Hefte in die Klasse und machte sich daran, alles zu beschriften. Das konnte sie von den Erstklässlern ja noch nicht erwarten und es war in den nächsten Tagen auch so noch genug zu tun. Als sie endlich fertig war, merkte sie, dass ihr Magen knurrte. Die Kirchturmuhr zeigte bereits drei Uhr nachmittags und sie hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Ihr Vater hätte sie geneckt: »Typisch Felicia, wenn es um die Schule geht, hört und sieht sie sonst nichts mehr.« Sie lächelte beim Gedanken an ihren Vater. Später würde sie anrufen, bestimmt wollten ihre Eltern wissen, wie es ihr ging, und noch war sie in Auenfeld telefonisch ja nicht zu erreichen.

In der Wohnung angekommen aß sie einen Teller Suppe und machte es sich mit einem Stück Kuchen und einer Tasse Tee gemütlich. Später nähte sie noch an ihren neuen Vorhängen. Die Säume hatte ihre Mutter nicht fertigmachen können, da sie das genaue Maß nicht wusste, aber das schaffte sie auch selbst. Die hässlichen, braunen Dinger mussten auf jeden Fall so schnell wie möglich durch die frischen rot-weiß karierten Vorhänge ersetzt werden.

2

In der Nacht schlief Felicia unruhig und wachte gegen Morgen ständig auf in der Angst zu verschlafen. Um sechs Uhr stand sie auf, duschte und nahm ihr grau-blaues Strickkleid mit dem schmalen Rock und den halblangen Ärmeln aus dem Schrank. Das war formell genug und trotzdem angenehm zu tragen. Gut, dass ihre Mutter Schneiderin war und ihrem früheren Beruf nun zu Hause als leidenschaftlichem Hobby frönte. So hatte sie nie die Kleidersorgen ihrer Freundinnen. Nach dem Frühstück, bestehend aus einer Tasse Tee und einem Stück Kuchen, schaute sie sich ihre Vorbereitungen noch einmal durch, damit sie ja nichts vergaß, und schon war es Zeit zu gehen. Die Lehrpersonen trafen sich um viertel vor acht bei der Schule. Dann würde man gemeinsam zur Kirche gehen. Anja und Fred, ihre ebenfalls noch jungen Kollegen, und der Direktor begrüßten sie freundlich. Die Schüler der zweiten bis vierten Klasse stellten sich in Reihen an und gemeinsam gingen alle zum Eröffnungsgottesdienst, dem Auftakt zum neuen Schuljahr. Die Kleinen waren mit ihren Müttern oder Großmüttern in den vordersten Bänken. Die Messe dauerte recht lange und die Kinder waren in Felicias Augen sehr brav. Nur ein kleines Mädchen mit schwarzen Locken konnte nicht still sitzen und drehte sich immer wieder um. Wenn Felicia ihm zulächelte, schaute es schnell wieder nach vorne. Der elegant gekleideten Frau neben dem kleinen Wildfang war dies sichtlich peinlich, doch ihre Ermahnungen nützten nichts. »Das ist die kleine Carina mit ihrer Oma«, sagte Anja leise. Auf Felicias fragenden Blick hin flüsterte sie: »Später«, denn das Kind schaute schon wieder her. Endlich gab der alte Pfarrer seinen Segen und alle liefen zur Schule. Diesmal nicht mehr in geordneten Reihen. Vor der Schultüre wurden die Klassen zugeteilt. Die erste Klasse bekam die neue Lehrerin Fräulein Felicia Huber. Oh Gott, hier wurde man noch »Fräulein« genannt. Ein Relikt aus der Zeit, als Lehrerinnen unverheiratet oder Nonnen zu sein hatten. Bestimmt erwarten sie immer noch, dass man als Lehrerin zölibatär lebt, schoss es Felicia durch den Kopf. Sie wurde von allen Anwesenden neugierig gemustert und bat die Erstklässler mit ihren Müttern oder Großmüttern, ihr zu folgen. An der Garderobe wurden Turnbeutel aufgehängt und Hausschuhe angezogen und ein wenig schüchtern suchten die Kinder ihre Plätze. Felicia schrieb ihren Namen an die Tafel und stellte sich kurz vor. Dann bat sie die Mütter zu gehen, las den Kindern eine Geschichte zum Schulanfang vor und machte ein Kennenlernspiel, bei dem die Kinder eifrig mitmachten. Bald wurden sie wieder entlassen mit einem leeren Blatt Papier, auf das bis zum nächsten Tag jeder sich selbst zeichnen sollte.

Nach der Konferenz lud Markus die Lehrer auf einen Kaffee ins Café Wilma ein. Dass die Besitzerin Wilma Feuerstein hieß, erheiterte Felicia, aber die anderen waren daran gewöhnt. Feuerstein war ein häufiger Name im Tal. Anja und Fred kamen aus den Nachbarorten und der neuen Kollegin wurde gleich der neueste Dorfklatsch erzählt. »Wie ist das nun mit Carina?«, fragte sie Anja ein wenig später und diese erzählte bereitwillig: »Ach ja, Carina. Das ist eine tragische Geschichte. Ihrer Familie gehört das Sporthotel Alpenrose, das große, gleich neben dem Gemeindehaus.« Felicia war die »Alpenrose« positiv aufgefallen. Es war ein großes Holzhaus im Stil der alten Bauernhäuser. Den ehemaligen Stall hatte man geschickt umgebaut und dort ein Hallenbad, die Wohnung der Besitzer und Gästezimmer untergebracht. »Das Haus ist denkmalgeschützt, aber die jungen Architekten hier im Tal sind sehr erfinderisch«, hatte ihr Markus bei ihrem ersten Besuch nicht ohne Stolz erklärt. »Alexander, ihr Vater, ist der einzige Sohn. Er war ein paar Jahre Manager in einem großen Hotel in Mailand und natürlich hat er die Tochter der Besitzer geheiratet, die schöne Viola. Sie war eine verwöhnte Modepuppe.« Anja verzog das Gesicht. Offensichtlich hielt sie nicht viel von der schönen Viola und fuhr fort: »Als der alte Wirt gestorben ist, sind sie hergekommen, weil Alexander den Betrieb übernehmen musste, aber sie hat sich hier nicht wohl gefühlt. Sie fuhr mit ihrem Sportwagen immer zum Einkaufen nach Bregenz und Lindau und sogar nach München. Einmal war sie wieder viel zu schnell unterwegs, da hat es stark geregnet. Im Auwald, bei den vielen Kurven, ist sie ins Schleudern geraten. Das Auto hat sich mehrmals überschlagen und ist im Bach gelandet. Sie war gleich tot.« »Wie schrecklich!«, rief Felicia mitfühlend aus. »Und was war mit Carina?« »Carina ließ sie immer bei ihrem Au-pair, die war nicht dabei«, beruhigte Anja, »und seither hat sie jedes Jahr ein neues Kindermädchen aus Italien gehabt, damit sie auch Italienisch lernt. Ihre italienische Großmutter kauft ihr immer teure Sachen in Mailand. Im Jänner kommt sie jedes Jahr her mit ihrem Mann. Mir tun sie echt leid, die alten Leute, obwohl sie so reich sind.« Felicia runzelte nachdenklich die Stirn. »Was ist mit dem Vater, diesem Alexander?«, wollte sie wissen. »Na ja, der ist eben auch nur ein Mann. Er hat viel Arbeit in dem großen Hotel und Vizebürgermeister ist er auch.« »Ah, dann kenne ich ihn«, rief Felicia aus. »Er war gerade beim Bürgermeister, als Markus mit mir hingegangen ist, damit ich mich vorstellen kann. Ein großer Schlanker mit dunklen Haaren.« »Ja, ein richtiger Schönling«, grinste Anja, »man sagt, die Frauen laufen ihm scharenweise nach und dass er immer wieder neue Freundinnen hat.« »Ich habe mir gleich gedacht, dass er etwas mit Tourismus zu tun haben muss, er hatte so eine geschliffene, weltgewandte Art.« »Ja, zu mir ist er auch immer sehr höflich und korrekt. Seine Tochter ist jedenfalls sehr verwöhnt und schwierig. Birgit, die Kindergärtnerin kann ein Lied davon singen«, schloss Anja ihren Bericht. Automatisch schlug sich Felicia auf Carinas Seite. Das mutterlose Kind tat ihr leid und sie beschloss, sich selbst ein Bild zu machen. In der tragischen Geschichte steckte auch jede Menge Sensationslust.

Den ganzen Nachmittag verbrachte sie mit Vorbereitungen für die Schule, die Kinder mussten beschäftigt werden und jetzt waren sie noch voll motiviert. Am Abend ging sie zur Telefonzelle, der Anschluss in ihrer Wohnung ließ noch auf sich warten. »Hallo Felix, wie war dein erster Schultag?«, wollte ihr Vater wissen. »Ach, die Schüler sind richtig herzig, mit roten Bäckchen und zwei sogar mit langen Zöpfen«, schwärmte Felicia. »Nur eines ist dabei, das schon als Baby seine Mutter verloren hat.« »Na, dann hast du ja wieder jemanden, den du unter deine Fittiche nehmen kannst«, meinte ihr Vater und man hörte, dass er schmunzelte. Sie wechselte auch mit ihrer Mutter noch ein paar Worte und dann war ihr Kleingeld verbraucht.

3

Nun fing der Schulalltag richtig an. Die Kinder brachten ihre Selbstporträts mit, die dann von Felicia auf ein großes Plakat mit einem Haus geklebt wurden, während die Kinder im Kreis am Boden saßen. Carina hatte sie vorsorglich gleich neben sich platziert, damit sie das Kind gut im Auge hatte. Der Reihe nach wurden die Zeichnungen aufgeklebt und die Kinder erzählten, wenn sie wollten, von ihren Ferienerlebnissen. Bei Carinas Bild fingen die Kinder an zu kichern. Sie hatte eine Prinzessin ganz in Pink gemalt. »Du solltest dich selber zeichnen, nicht eine Prinzessin«, meinte die kleine Anna mit den blonden Zöpfen altklug. Carinas Gesichtchen verfinsterte sich und sie funkelte Anna böse an. Beruhigend legte ihr Felicia eine Hand auf die Schulter. »Erklärst du uns dein Bild?«, fragte sie freundlich. »Das bin ich, weil ich eine Prinzessin bin. Mein Nonno sagt immer principessa zu mir!«, rief das Kind laut und trotzig. Wieder wollten die anderen Kinder lachen, aber jetzt schaute die Lehrerin streng in die Runde. »Gut, Carina«, meinte sie, »wenn dein Großvater Prinzessin zu dir sagt, darfst du dich auch als Prinzessin zeichnen.« »Dann will ich mich auch als Rennfahrer zeichnen! Mein Papa sagt immer Rennfahrer zu mir«, schrie Rudi nun aufgeregt und plötzlich wollten viele Kinder erzählen. Felicia hob eine Hand und wartete, bis sich alle beruhigt hatten. »Gut, ihr dürft noch eine zweite Zeichnung machen und euch so zeichnen, wie ihr wollt. Geht leise an eure Plätze, dann fangen wir gleich an.« Nun malten alle Kinder mit Feuereifer, nur Carina hatte keine Lust mehr. »Ich hab mich schon gemalt«, verkündete sie, »ich will jetzt was anderes machen.« Damit stand sie auf und ging in der Klasse umher. Etwas erstaunt schaute Felicia ihr einen Moment lang zu. »Setz dich wieder an deinen Platz, Carina«, sagt sie in bestimmtem Ton. »Nein, ich hab keine Lust zum Malen«, meinte die Kleine und ging weiter. Mit einem Mal war Felicia klar, was Anja mit »schwierig« gemeint hatte. »Wenn du dich ganz schnell hinsetzt, darfst du ein Bild von mir zeichnen, das kommt dann ganz oben ins Schulhaus.« Damit war das Kind einverstanden und für kurze Zeit herrschten Ruhe und Frieden, bis Luzia, Carinas Banknachbarin, zu weinen anfing. »Sie hat gesagt, mein Bild ist blöd und dass niemand eine Sonne sein kann. Aber meine Oma sagt immer, dass ich ihr Sonnenschein bin.« Felicia tröstete das Mädchen und versicherte ihr, dass ihr Bild sehr schön sei. Bald darauf war Pause und alle gingen auf den Pausenplatz, wo die Kinder nach Herzenslust spielen und toben durften, während die vier Lehrpersonen beisammenstanden und sich unterhielten. Bald kam ein Bub heulend zu Markus gelaufen und zeigte ihm seine Hand. »Carina hat mich gebissen, nur weil ich sie beim Spielen gefangen habe.« Anja ging mit dem Verwundeten ins Schulhaus, um die Hand in kaltes Wasser zu tauchen, und Markus brachte die Missetäterin in die Garderobe. Dort sollte sie während der Pause sitzen bleiben und über das Geschehene nachdenken. Doch nach der Pause war Carina verschwunden und wurde erst nach längerem Suchen im Handarbeitsraum gefunden, wo sie in aller Ruhe Bücher anschaute. Markus redete ihr ernst ins Gewissen und brachte sie zurück in die Klasse. Im Rechenunterricht wurde die Ziffer Eins gelernt. Felicia ließ die Kinder an der Tafel mit Kreide probieren und dann sollten alle einige Zeilen in ihre Hefte schreiben, während die Lehrerin rundherum ging, um da und dort zu helfen. Carina schrieb einige windschiefe Zahlen, radierte, schrieb wieder und warf schließlich ihr Heft zu Boden. »Ich kann das nicht und ich will nicht mehr«, rief sie trotzig und nur mit Mühe gelang es der Lehrerin, einige Zeilen aufs Papier zu bringen, indem sie dem Kind die Hand führte.

Felicia war erleichtert, als die Schule endlich aus war. »Muss ich jeden Tag mit solchen Dingen rechnen?«, wollte sie von ihrem Chef wissen. Der nickte ernst. »Im Kindergarten war es sehr schwierig, aber wenn du Hilfe brauchst, kannst du jederzeit auf mich und die anderen zählen.« Felicia spürte Zweifel aufkommen. Wie sollte sie unterrichten, wenn dieses Kind keine Regeln kannte, geschweige denn sich daran hielt? »Was sagt ihre Familie dazu?«, fragte sie, nach einer Lösung suchend. Markus zuckte die Achseln. »Therese, ihre Großmutter, tut, was sie kann, und der Vater hat sehr wenig Zeit.« »Wohl eher kein Interesse. Bei uns in der Stadt die Arbeiterfrauen haben nach einer schweren Schicht auch für ihre Kinder gesorgt und den Haushalt erledigt. Es kommt darauf an, was einem wichtig ist.« Markus nickte. »Da hast du Recht, aber ich weiß nicht, wie wir die Situation ändern können.« »Womit könnte ich sie motivieren?« Auch darauf wusste der Direktor keine Antwort.

Mit schwerem Herzen ging die junge Lehrerin nach Hause. Am Abend las sie noch in ihren schlauen Erziehungsratgebern. Viel Zuwendung und Konsequenz wurden empfohlen und genaue Regeln, an die sich alle halten mussten. Also vereinbarte sie am nächsten Tag mit den Kindern einfache Regeln, fertigte ein Plakat an und ließ alle unterschreiben. Ernsthaft setzten die Kleinen ihre in ungelenken Blockbuchstaben geschriebenen Namen auf das Plakat und in der Klasse herrschte eine fast feierliche Stimmung, bis Carina mit ihrem Filzstift auch die Hände und Gesichter ihrer Nachbarn bemalte. So sollte es die nächsten Tage ständig sein und Felicia hatte das Gefühl, gerade nur den Kopf über Wasser halten zu können. Ihre Kollegen standen ihr zum Glück wirklich zur Seite und munterten sie auf, sodass sie nicht das Gefühl hatte, völlig zu versagen.

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