Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Abgebrannt und ernüchtert kehrt Thekla nach einem Jahr Kunststudium in Wien zurück ins Tal. Dort übernimmt sie im Ferienheim ihrer Tante Marie die Kinderbetreuung während des Sommers. Im dritten Turnus lernt sie den verwitweten Polizisten Gerhard Sommer und seine beiden Kinder kennen. Bald ist es um Theklas Herz geschehen und sie sagt dem jungen Vater zu, ein Jahr lang seine Kinder zu betreuen. Als sie in Tiefenbach eintrifft, findet sie ein verwahrlostes, halbfertiges Haus vor und zwei Kinder, die dringend Zuwendung brauchen. Gerhard selbst scheint ständig im Dienst zu sein aber zum Glück bekommt die junge Frau von vielen Menschen Unterstützung. Eine weise alte Frau sagt ihr eine Zeit der Fülle voraus und daran glaubt Thekla fest, auch wenn sie zwischendurch fast verzweifelt.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 205
Veröffentlichungsjahr: 2018
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
Impressum neobooks
Es war ein sonniger Samstag Anfang August. Die Familien des zweiten Ferienturnus waren nach dem Frühstück fröhlich und erholt abgefahren, nachdem sie alle versprochen hatten, im nächsten Jahr wiederzukommen. In der Ruhe nach dem Sturm bereiteten Thekla, Käthe und Marie das Ferienheim Waldesruh für die nächste Gruppe am Montagmorgen vor. Käthe saugte Staub und putzte die Böden, Thekla und ihre Tante Marie zogen die Betten frisch an, wischten mit einem feuchten Lappen über die Tische in den Zimmern und die alten Nachtkästchen aus den Fünfzigerjahren und kontrollierten, ob in den Schränken nichts liegen geblieben war.
Das Ferienheim war ursprünglich ein Gasthof, den Maries Mann Josef von seinem Onkel geerbt hatte. Josef und Marie funktionierten ihn jedoch in ein Ferienheim um, boten im Sommer zweiwöchige Familienferien an und beherbergten im Winter Schulklassen, die in Sonnleiten ihre Schulschikurse abhielten.
Marie strich sorgfältig die Kissen glatt und legte einen Glückskäfer aus Schokolade als Willkommensgruß darauf. Auf ihrer Liste hakte sie Zimmer zwölf ab. „Gerhard Sommer kommt auch wieder“, erzählte sie ihrer Nichte. „Du weißt schon, der nette Witwer mit den beiden Kindern.“ Thekla schüttelte den Kopf: „Der Name sagt mir nichts. Ich war letztes Jahr nicht hier.“ Sie verzog selbstironisch das Gesicht. „Da war ich in Indien und träumte von meiner tollen Künstlerlaufbahn.“ „Mach dir keine Vorwürfe, jeder kann sich einmal irren“, tröstete Marie die junge Frau.
Thekla war Ende Mai zu ihr gekommen, nachdem ihr Jahr in einer Künstler-WG in Wien mit der Räumung des Hauses durch die Polizei geendet hatte. Mit ihren Träumen ging auch Theklas Beziehung zu „Angelo“, ihrem langjährigen Freund in die Brüche. Und anstatt sie aufzunehmen, wie es sich für liebende Eltern gehört hätte, machte Theklas Mutter ihr nur Vorwürfe und ihr Vater, Maries Bruder Engelbert, half ihr auch nicht. Das nahm ihm seine Schwester wirklich übel. Wenn sie und Josef Kinder hätten, würden sie ihnen in der Not beistehen, dessen war sie sich sicher. Auf der anderen Seite war Thekla fast wie eine Tochter für sie beide und dass sie bei ihnen Zuflucht suchte, freute Marie aufrichtig. Blass und verzweifelt war sie aus Wien zurückgekommen, aber inzwischen sah sie gesund und braungebrannt aus und hatte ein wenig Fleisch auf den Rippen. Thekla selbst sah das völlig anders. Sie behauptete, es sei Frustspeck, den sie so schnell wie möglich wieder loswerden müsse. In ihrem Jahr in der Künstler-WG habe sie gesehen, dass viele der selbsternannten Künstler sich ihr überragendes Können nur einbildeten. Zu diesen Möchtegern-Genies wolle sie nicht gehören, betonte sie. Es sei besser, mit ehrlicher Arbeit sein Geld zu verdienen, als auf einen Dummen zu hoffen, der für ein Pseudokunstwerk einen Haufen Geld bezahlte.
Um ihre Tante von sich selbst abzulenken und auf ihr ursprüngliches Thema zurückzukommen, hakte Thekla nach: „Was ist mit diesem Sommer und seinen Kindern?“ „Ach, das ist eine tragische Geschichte“, seufzte Marie. „Seine Frau ist vor drei Jahren vom Balkon gestürzt. Sie war psychisch krank.“ „Bist du sicher, dass er nicht nachgeholfen hat, bei dem Sturz?“, zog Thekla ihre Tante auf. „So etwas würde er nie machen“, rief diese entrüstet, „er ist doch Polizist!“ „Na, dann ist er natürlich über jeden Zweifel erhaben“, spottete die junge Frau. Seit ihrer jüngsten Erfahrung in Wien war sie auf die Ordnungshüter nicht gut zu sprechen. „Ich bin nicht interessiert“, erklärte sie Marie dann entschlossen, da diese ständig versuchte, einen „netten Mann“ für ihre Nichte zu finden. In Maries Augen waren ein netter Mann und ein paar Kinder der Schlüssel zum Glück für jede Frau. Ihr selbst waren die Kinder versagt geblieben, ihren Josef aber liebte sie nach mehr als dreißig Jahren immer noch innig. Ein Polizist mit zwei Kindern ist bestimmt mein Traummann, dachte Thekla und verdrehte die Augen. Das musste sie Bea erzählen, nahm sie sich vor. Mit ihrer besten Freundin lästerte sie immer über die wohlgemeinten Versuche ihrer Tante, sie zu verkuppeln.
Als die Zimmer fertig waren, ging Marie in die Waschküche, um die Waschmaschine zu füllen, während Thekla Käthe beim Putzen half. Käthe war ein richtiger „Putzteufel“ und arbeitete seit mehr als 20 Jahren bei Marie und Josef. Als junge Frau hatte sie bei ihnen Zuflucht vor ihrem gewalttätigen Ehemann gefunden. Ihre Tochter Monika, ihr ganzer Stolz, arbeitete inzwischen als Lehrerin in Bregenz. Auch sie war eines der Kinder, dem Marie eine zweite Mutter war. Käthe hatte wohl das Gespräch zwischen Marie und Thekla gehört, denn sie warnte die junge Frau sogleich: „Lass die Finger von diesem Sommer. Er selbst ist ein sympathischer Mann, aber seine Kinder sind schrecklich. Das Mädchen stopft den ganzen Tag Essen in sich hinein und der Bub ist völlig verzogen. Letztes Jahr hat er mir den halben Sandhaufen ins Haus getragen.“ Gegen ihren Willen weckte Käthes Kritik an Familie Sommer Theklas Interesse und der kleine Bub tat ihr automatisch leid.
Unweigerlich stand sie auf der Seite der vom Leben und von der Gesellschaft Benachteiligten, genau wie ihr Vater. Dieser war seit vielen Jahren Lehrer an der Sonderschule, wo er die schwachen und schwierigen Kinder unterrichtete. Thekla hatte nach ihrer Ausbildung als Erzieherin mit behinderten Menschen gearbeitet, bevor sie auf die Idee gekommen war, Kunst zu studieren. Marie rief ihre Mitarbeiterinnen zum Kaffee und beendete damit das Gespräch der beiden. Sie gingen in den Garten neben dem Haus, wo drei lange Tische mit Bänken an beiden Seiten standen. Josef hatte sie gezimmert, wie fast alles im und rund ums Haus.
Der Tisch war für vier Personen gedeckt, aber die Menge an Essen hätte leicht für acht Leute gereicht. Es gab Kipferln vom Frühstück, Marmelade und Schlagsahne und Maries berühmten Apfelkuchen. Josef wusch sich am Brunnen die Hände und das Gesicht. Er hatte gerade den Rasen gemäht, damit die Kinder barfuß laufen konnten, ohne von einer Biene gestochen zu werden. Käthe und Thekla setzten sich an den Tisch und Marie kam mit einer großen Kanne Kaffee. Sie goss jedem eine Tasse ein und setzte sich neben Thekla auf die Bank. Diese nahm einen Schluck Kaffee, aß ein Kipferl mit Sahne und Maries köstlicher Erdbeermarmelade und genoss den Blick über Sonnleiten auf die hohen Berge am Ende des Tals.
Ach, ich wünschte, es könnte immer so sein, dachte sie in einem Anflug von Wehmut. Sie wusste, dass Marie und Josef sie nicht wegschicken würden. Marie würde sie im Ferienheim mitarbeiten lassen, mit der Begründung, dass es immer genug Arbeit gab für ein Paar flinke Hände, aber nach den Familienferien wurde sie eigentlich nicht mehr gebraucht. Marie, die die Gedanken ihrer Nichte zu erahnen schien, drückte zärtlich ihre Hand und lächelte sie an. „Es ist so schön, dass du da bist“, meinte sie und Thekla fragte sich zum hundertsten Mal, warum ihre Mutter nicht so sein konnte, wie ihre Tante, liebevoll, umgänglich und zufrieden mit dem, was sie hatte.
Wie als Antwort auf ihre Frage kamen ihr Vater und ihre Großmutter aus dem Haus. Diese war Marie ähnlich, eine gütige Frau, die sieben Kinder großgezogen und sich nie über ihr arbeitsreiches Leben als Bergbäuerin beklagt hatte. Sie war nicht zu vergleichen mit der herrischen Thekla, geborene von Falkenberg, ihrer Großmutter mütterlicherseits. Ein strahlendes Lächeln erhellte das runzelige Gesicht der alten Frau und ihre warmen braunen Augen funkelten schelmisch. „Siehst du, Engelbert, ich hab dir gesagt, wir kommen gerade recht zum Kaffee“, wandte sie sich an ihren Sohn und grüßte dann die ganze Runde. Marie eilte bereits in die Küche, um zwei weitere Gedecke zu holen und Großdam, wie sie von allen genannt wurde, ließ sich neben Thekla auf der Bank nieder. Diese unterhielt sich gleich mit der alten Frau und vermied es, ihren Vater anzusehen. Seit ihrer Rückkehr aus Wien sprachen sie kaum miteinander. Er hatte sie zwar nicht beschimpft und weggeschickt, wie ihre Mutter, seine Missbilligung aber ebenfalls deutlich gezeigt.
So fand Thekla dann auch bald einen Grund, wieder an ihre Arbeit zu gehen, und wie sie befürchtet hatte, dauerte es nicht lange, bis Engelbert auftauchte. Er schaute ihr eine Weile schweigend zu und sagte dann in seiner ruhigen Art: „Komm, Tete, es ist Zeit, dass wir uns wieder vertragen.“ Damit breitete er seine Arme aus und die vertraute Geste, verbunden mit dem Kosenamen aus ihrer Kindheit, tat verlässlich ihre Wirkung. Thekla ließ den Lappen fallen, mit dem sie so eifrig die großen Waschbecken im Waschraum geschrubbt hatte und ging auf ihren Vater zu. Dieser hielt sie so lange in den Armen, bis alle Unstimmigkeiten zwischen ihnen geklärt waren. Thekla schlang die Arme um seinen Hals, wie sie es schon als kleines Mädchen getan hatte und sagte: „Friede.“ „Friede“, gab ihr Vater schmunzelnd zur Antwort, „du kannst ja nichts dafür, dass du mir ähnlich bist.“ Dann erzählte er seiner Tochter, dass ihre Mutter und die Buben, wie er die Zwillinge immer im Doppelpack nannte, für drei Wochen nach Hamburg fahren wollten.
Friederike verbrachte seit ihrer Heirat nach Österreich jedes Jahr den Sommer bei ihrer Mutter in Hamburg. Nach drei Wochen hatten die beiden Frauen dann stets so genug von einander, dass es mindestens Weihnachten wurde, bis sie sich wieder nacheinander sehnten. Diese verbrachte Omi dann immer in Dornbirn. Und inzwischen waren es wohl eher ihre Enkelsöhne, die Omi sehen wollte, als ihre Tochter. Die achtzehnjährigen Zwillinge, hoch aufgeschossen, blond und blauäugig, wie es sich für echte „von Falkenbergs“ gehörte, waren der ganze Stolz der alten Dame. Das einzige, was sie an ihnen störte, war, dass sie „Eber“ hießen. Aber sie selbst hatte ja auch den Fehler gemacht, einen Mann zu heiraten, der den gewöhnlichen Namen „Müller“ trug. Ihr junger Ehemann war im Krieg gefallen und sie blieb mit der kleinen Friederike und diesem schrecklichen Namen zurück. „Wenn man jung ist, weiß man nicht, worauf es ankommt“, pflegte Omi zu sagen. Theklas Vater blieb nie mehr als drei Tage in Hamburg. Als die Kinder noch klein waren, führte er seine Familie mit dem vielen Gepäck im Auto hin und holte sie wieder ab. Später brachte er sie nur noch zum Zug. Er respektierte den alten Drachen und redete nie schlecht über seine Schwiegermutter und sie akzeptierte ihn, weil er sich nie für sie verbogen hatte. Dass er 1,85 Meter groß und kräftig gebaut war, erwies sich dabei als Vorteil.
Wenn seine Frau in Hamburg Urlaub machte, verbrachte Engelbert viel Zeit bei Josef und Marie. Er arbeitete in Josefs Werkstatt oder half diesem bei seinen verschiedenen Projekten im und ums Haus. Im Gegenzug half Josef ihm, das alte Rheintalhaus zu renovieren, das er als junger Lehrer gekauft hatte. Jetzt war es ein stattliches Haus mit einem großen Garten, um das seine Frau von ihren Freundinnen im Tennisclub oft beneidet wurde. Thekla blieb schon mit fünf Jahren lieber bei ihrem Vater, als nach Hamburg zu fahren. Sie brieten sich dann Spiegeleier und Speck und aßen „Stopfer“, den beliebten Grießschmarren, aus der Pfanne. Bevor Friederike zurückkam, putzten sie mit Maries und Käthes Hilfe das Haus und zum Dank lud Engelbert die Damen in Dornbirns bestes Café ein. Nicht zuletzt deshalb waren Vater und Tochter so ein eingeschworenes Team. Während Thekla weiterputzte, dachte sie an diese Sommerwochen, in denen endlos die Sonne schien und ihr Vater sie noch vor allem Unheil beschützen konnte. Bis zum Abendessen war das Ferienheim sauber und bereit für die neuen Familien. Thekla ließ das Essen ausfallen, nachdem sie vorhatte, sich mit ihrer Freundin Bea zu treffen.
Thekla fuhr mit Josefs VW-Bus in den Hof der alten Stickerei, die Beas Eltern gehörte. Diese bewohnten das große, etwas heruntergekommene Haus, während Bea sich in dem alten Betriebsgebäude eine Wohnung ausgebaut hatte. Die Wände waren weiß ausgemalt, die gusseisernen Säulen und die hohen Fenster in einem dezenten Grau gestrichen. Mit einem Kredit von der Bank leistete sie sich ein neues Bad und eine Fußbodenheizung. An den Wänden hingen große, von Thekla gemalte Ölbilder. „Echte Eber“, wie Bea zu sagen pflegte. Im Wohnzimmer hatte sie Feuerfarben gewählt, im Schlafzimmer beruhigende Grüntöne, die einen verwilderten Garten darstellten und das in blau-weiß gehaltene Badezimmer schmückte die „Schneekönigin“, die Theklas Mutter erstaunlich ähnlich sah.
Thekla klopfte an die Haustür und trat in den Vorraum, den Bea mit den Holzkisten abgetrennt hatte, die in der Stickerei für Stoffabfälle und anderes verwendet wurden. Jetzt sah es aus wie ein riesiger Setzkasten, in den Bea Schuhe, Mäntel und Jacken legte, aber auch Handtaschen und Hüte, eine edle Vase aus Glas, eine schwarze Holzfigur aus Afrika und andere Reiseandenken stellte. Thekla war immer wieder fasziniert von den Ideen ihrer Freundin. In der „Textilschule“, die sie gemeinsam besucht hatten, konnte Thekla zwar viel besser nähen, Beas Kreationen waren jedoch so stilvoll und originell, dass sie immer die besten Beurteilungen bekam.
„Bea, wo bist du?“, rief Thekla. „Komme gleich“, tönte es aus dem hinteren Teil der Wohnung, wo sich Bade- und Schlafzimmer befanden. Wenig später kam Bea in einem schwarz-weiß gemusterten Kleid mit einem breiten roten Hüftgürtel ins Wohnzimmer. Sie trug rote Sandaletten mit hohen Absätzen und die dunklen Locken hochgesteckt. Ihr Gesicht war perfekt geschminkt und der Lippenstift passte genau zu Gürtel und Schuhen. „Thekla, schön, dass du da bist. Ich bin gleich...“, fing sie an und starrte ihre Freundin dann ungläubig an. „He, wir wollten doch in die Stadt oder nicht?“, fragte sie und zog die Augenbrauen hoch. Thekla schaute an sich hinunter. Sie trug weiße Bermudas und die weißen Römersandalen, die sie so gerne mochte. Dazu ein blaues T-Shirt in Batik-Technik, das schon ziemlich ausgebleicht war. „Tut mir leid, ich bin im Moment so fett, dass mir nichts mehr passt“, sagt sie dann mit einem Achselzucken. „Außerdem habe ich meine gewagteren Klamotten gar nicht mehr mitgenommen. „Du bist nicht fett, deine Figur ist nur etwas kurviger!“, stellte Bea mit Autorität klar. „Lange Beine, schmale Hüften und ein deutlich erkennbarer Busen sind ideal. Dazu bist du noch blond und blauäugig. Was willst du mehr?“ „Blauäugig kannst du laut sagen“, bemerkte Thekla trocken und ihre Freundin lachte. „Komm mit! In den Tiefen meines Kleiderschranks finden wir sicher etwas für dich“, meinte sie und zog Thekla mit sich.
Eine halbe Stunde später trug sie einen eisblauen Seidenkimono mit stilisierten Kirschblüten in Schwarz und Grau. Ihr Gesicht war dezent geschminkt und in ihren Ohren baumelten große, handgearbeitete Silberscheiben. Ein passendes Armband schmückte ihr Handgelenk. An den blonden Stoppelhaaren konnte auch Bea nichts ändern. „Es ist ein Schande, dass du dir deine schönen Haare abgeschnitten hast“, schimpfte sie. „Ich wollte einen kompletten Neuanfang nach Angelo und die roten Haare waren plötzlich unerträglich“, seufzte Thekla. „Du hättest sie nur bleichen müssen. Einem Mann wie Michael Angerer deine Haare zu opfern, war echt doof“, meinte Bea kopfschüttelnd. „Und dass du ihn immer noch 'Angelo' nennst, wo es doch von Michelangelo kommt, ist auch unerträglich. Der Typ heißt 'Michi' und so malt er auch.“ „Ja, ja, ist schon gut“, beruhigte Thekla ihre aufgebrachte Freundin. „Nein, gar nichts ist gut!“, rief diese. „Und dass ich dich diesem Versager vorgestellt habe, ist das Schlimmste von allem!“ „Gehen wir“, unterbrach Thekla Beas Selbstvorwürfe, „ich hab wegen Ange... ähm, Michi schon genug Zeit versäumt.“ Damit gingen sie zu Beas rotem VW-Käfer, denn mit ihren hohen Absätzen konnte diese nicht bis in die Stadt laufen.
Die beiden Freundinnen setzten sich in die schicke Pizzeria am Marktplatz und ließen sich von Tonio, dem charmanten italienischen Kellner verwöhnen. „Glaubst du, sie heißen wirklich alle Tonio, Pepe oder Francesco?“, fragte Thekla die Freundin. „Natürlich, genauso wie alle Schilehrer Toni, Sepp oder Franz heißen“, lachte diese. Die jungen Frauen ließen sich den Salat, die köstliche Holzofenpizza und anschließend Espresso und Amaretto schmecken. Thekla erzählte von Gerhard Sommer, mit dem Marie sie verkuppeln wollte. Doch, anstatt sich zu amüsieren, wie Thekla erwartet hatte, warnte Bea sie ernsthaft. „Lass bloß die Finger von einem Witwer“, meinte sie. „Du weißt, wie es mir mit Stefanos Kindern ergangen ist.“ Offensichtlich hatten sie beide eine Schwäche für Männer mit italienischen Spitznamen, fiel Thekla auf. „Stefan war geschieden und seine Tochter nur acht Jahre jünger als du“, warf sie ein und spielte damit auf eine kurze Affäre an, die Bea mit 23 gehabt hatte. „Stimmt“, gab diese zu, „trotzdem ist es schwierig, wenn er schon Kinder hat.“ Wieder weckte die Warnung in Thekla den Wunsch, die Kinder zu verteidigen, aber Bea erzählte gerade eine Anekdote von ihrer besten Kundin, die in allen Lebenslagen zu ihr kam. Anschließend flanierten die Freundinnen über den Marktplatz und tranken in „Brunos Bar“ noch einen Cocktail. Gegen zwei Uhr fuhr Thekla nach Hause. Marie, Josef und Käthe gingen am Sonntagvormittag immer in die Kirche, aber sie selbst hatte vor, gründlich auszuschlafen.
Am Montagmorgen war es kalt und regnerisch, also legte Thekla im Spielzimmer Bastelmaterial bereit, um die Kinder gleich nach ihrer Ankunft zu beschäftigen. Dieser Sommer stand unter dem Motto „Indianer“. Jedes Kind bastelte sich einen Federschmuck und suchte sich einen Indianernamen aus. Thekla war im ersten Turnus von den Kindern „Windblume“ getauft worden, weil diese meinten, mit ihren blonden Stoppelhaaren sehe sie aus wie eine Pusteblume. Andrea, die angehende Kindergärtnerin aus Sonnleiten, die Thekla bei der Kinderbetreuung half und sich zeitweise um die ganz Kleinen kümmerte, kannte einige der Familien schon vom Vorjahr.
Kurz nach neun erschien die erste Familie. Die Mutter stellte sich als „Trixi“ vor und brachte ihre Töchter Angi und Susi zur Kinderbetreuung. Die Mädchen waren sieben und neun Jahre alt und fingen gleich mit Feuereifer an zu basteln. Das Band für den Federschmuck wurde bemalt und Thekla erklärte den Kindern, dass die Namen etwas mit dem Aussehen der Person zu tun haben konnten oder mit deren Fähigkeiten. Angi wollte sich „Kleine Amsel“ nennen, weil sie so gerne sang, ihre Schwester nannte sich „Bunte Hand“, mit der Begründung, dass sie gerne male und sich immer die Hände vollkleckse. Andrea, die „Rote Feder“ hieß, weil ihr Kopfschmuck aus einer roten Feder bestand, malte mit den Kindern ein Plakat, auf das sie alle Indianernamen schrieben und Thekla half ihnen, den Federschmuck zu basteln. Nach und nach trafen „Scheues Reh“, ein schüchternes Mädchen mit großen braunen Augen, „Schnelle Zunge“, ihre geschwätzige Schwester und „Starker Büffel“, der elfjährige Bruder der beiden ein. Nachdem „Goldene Wolke“, ein Mädchen mit blonden Locken und „Schlauer Fuchs“, ein Bub, der gern Rätsel löste, ihre Namen gefunden hatten, gesellten sich die Sommers dazu.
Der Vater stellte sich kurz mit „Gerhard“ vor und seine beiden Kinder hießen Jenny und Robert. Das kleine Mädchen war wirklich sehr dick und klammerte sich an die Hand ihres Vaters, während es die Lage sondierte. Robert, ein hübscher Junge mit dunklen Haaren und braunen Augen schnappte sich gleich eine grüne Feder vom Tisch. „Ich will diese“, verkündete er. „He, das ist meine“ ereiferte sich „Springender Frosch“, „gib sie wieder her!“ Doch Robert dachte nicht daran. Ehe Thekla einschreiten konnte, war sein Vater bei ihm und nahm dem Bub die Feder aus der Hand. „Sie gehört nicht dir, Robi“, sagte er bestimmt. „Komm wir suchen eine für dich und Jenny.“ Thekla fiel auf, wie erschöpft der Mann wirkte, obwohl er gut in Form zu sein schien. „Es muss schwer sein mit seinem Beruf und den beiden Kindern“, ging es ihr durch den Kopf. Jenny suchte sich eine rosarote Feder aus und Robert nahm schließlich eine schwarz-weiße. Als es um passende Namen ging, schlug Starker Büffel vor, Jenny „Schweinchen dick“ zu nennen und Schlauer Fuchs rief: „Nein, wir nennen sie 'Rosa Elefant'!“ „Unfaire Indianer werden aus dem Stamm ausgeschlossen“, erklärte Thekla streng und schämte sich gleichzeitig für das Verhalten der Buben. Gerhard Sommer schaute die beiden prüfend an und sprach dann leise mit seiner Tochter. „Jenny möchte 'Schlafende Katze' heißen“, sagte er dann. „Und ich bin Winnetou“, schrie Robert aufgeregt. „Du kannst nicht Winnetou sein, der ist ein Häuptling“, widersprach Starker Büffel und tippte sich an die Stirn. „Dein Papa könnte Winnetou sein“, gestand er dem kleineren Buben dann zu. Alle schauten Gerhard gespannt an. Mit dunkelbraunen, etwas zu langen Haaren, gerader Nase, einem markanten Kinn und braunen Augen sah er Pierre Brice zwar nicht ähnlich, konnte aber durchaus als Indianerhäuptling durchgehen. Jetzt nickte er Starker Büffel zu. „Danke für die Ehre, Starker Büffel, aber mein Name ist 'Grauer Falke'“, sprach er feierlich in die Runde. Als sein Blick Thekla streifte, huschte ein jungenhaftes Grinsen über sein Gesicht, das gleich wieder verschwand. Theklas Herz setzte einen Schlag aus und fing dann an zu rasen. Sie hatte sich soeben in einen verwitweten Polizisten mit zwei Kindern verliebt. Ihr Herz hatte gesprochen, hugh.
Andrea, alias Rote Feder, brachte das Plakat mit den Namen in den Kreis, dann durfte jedes Kind seine Hand mit Fingerfarben anmalen und seinen Handabdruck auf das Plakat setzen. Häuptling Grauer Falke druckte seine Hand neben die von Windblume und wieder machte ihr Herz einen Salto und ihre Wangen färbten sich rosa, während Gerhard völlig unbewegt blieb, wie das bei Indianern eben so üblich ist. Danach zogen alle Regenjacken und Gummistiefel an, um im nahe gelegenen Wald Ruten für Pfeile und Bogen zu schneiden. Josef, der seinen Indianernamen „Brauner Widder“ notgedrungen ertrug, begleitete den Stamm mit einer kleinen Sichel. „Ich kenne selbst am besten, was weg muss und was bleiben sollte“, meinte er. Als sie zurückkamen, gab es Mittagessen und den Nachmittag verbrachten sie damit, die Ruten zu schälen und daraus Pfeile und Bogen zu schnitzen. Thekla schärfte den jungen Kriegern ein, nur auf die Zielscheibe zu schießen, die Josef in einer Ecke des Spielplatzes an zwei Pfählen befestigt hatte. Grauer Falke, bald der Mittelpunkt der Bogenschützen, zeigte den Kindern, wie sie sich richtig hinstellen, den Pfeil einspannen und zielen mussten. Er selbst traf fast jedes Mal in die Mitte der Scheibe, was immer mit Jubel quittiert wurde. Um vier Uhr brachte Marie ein Tablett mit Saft und Kuchen hinters Haus und die ganze Mannschaft stärkte sich.
Nach dem Abendessen spielten die Kinder Brettspiele und um halb acht las Thekla den größeren Kindern aus dem Buch „Pablito“, die Geschichte eines Indianerbuben, vor. Damit war ihre Arbeit beendet. Grauer Falke blieb den ganzen Tag bei seinen Kindern und wünschte ihr nun einen schönen Abend. „Du musst nicht ständig bei den Kindern bleiben“, sagte Thekla freundlich, „Ich denke, sie kommen jetzt schon zurecht.“ „Ich weiß“, meinte er achselzuckend, „aber nachdem ich sonst so wenig Zeit für sie habe, können wir wenigstens den Urlaub miteinander verbringen.“ „Natürlich“, lächelte Thekla, „unser Stamm kann einen Häuptling gut gebrauchen.“ Die Kinder, die schon voraus gelaufen waren, kamen zurück, mit der Frage, wo ihr Vater so lange bleibe. „Ich komme“, versprach er und wandte sich an Thekla. „Also dann, gute Nacht, Windblume. Möge Mutter Erde dir einen sanften Schlummer schenken.“ Dabei erhellte wieder dieses unwiderstehliche Grinsen sein Gesicht und Thekla fühlte sich reichlich entschädigt für die Mühen des Tages.
Als sie eine Stunde später in ihre Dachkammer gehen wollte, um noch zu lesen, kam ihr Gerhard mit einem großen Koffer entgegen. „Kannst du mir sagen, wo ich hier Wäsche waschen kann?“, fragte er. „Joyce, unser Au-pair, hat gesagt, dass die Waschmaschine rinnt und jetzt sind alle Sachen der Kinder schmutzig. „Marie wäscht sie für dich, kein Problem“, erklärte Thekla und nahm ihm den Koffer ab. Dann brachte sie ihn selbst in die Waschküche und verteilte die Wäsche nach Farben sortiert auf die beiden Waschmaschinen. Es waren hauptsächlich T-Shirts und Jogginganzüge der Kinder. Ein paar Herrenhemden waren auch dabei. Thekla konnte dem Drang nicht widerstehen, eines an ihre Nase zu halten. Es roch gut und sehr männlich, fand sie. Dann schalt sie sich eine Närrin und steckte es resolut zu den anderen Sachen in die Waschmaschine. Gut eine Stunde später ging sie noch einmal in die Waschküche, um die „Sommer'sche Wäsche“ aufzuhängen. Jetzt roch alles sauber und nach Maries Waschpulver.
Die nächsten Tage blieben regnerisch, sodass die Kinder und ihre Betreuerinnen viel Zeit im Spielzimmer verbrachten. Sie bastelten mit Hilfe von Kartonrollen, Papier und Kleister, Köcher für ihre Pfeile, Regenmacher und kleine Trommeln. Die Mädchen formten aus Salzteig Perlen für Halsketten und bemalten sie dann mit bunten Farben. Aus den alten Vorhängen des Speisesaals entstanden Indianerhemden, die ebenfalls mit Hingabe bemalt wurden, und auf dem Spielplatz übten sich die jungen Krieger im Bogenschießen. Sissi, das alte Shetlandpony, wurde in „Iltschi“ umbenannt und alle, die wollten, durften eine Runde auf ihr reiten. Während die meisten Eltern sich ausschließlich ihrer Erholung widmeten, blieb Gerhard bei seinen Kindern und schien sich dabei auch zu entspannen und zu erholen. Robert und die anderen Buben wichen ihm kaum von der Seite und scheinbar mühelos hatte er alles unter Kontrolle. Thekla war froh um die unerwartete Hilfe, mehrere Regentage hintereinander konnten nämlich sehr lange und anstrengend werden.
Am Freitagmorgen war es endlich sonnig und klar, also wollte die Gruppe auf die Alpe „Fahl“ wandern, die von Maries ältestem Bruder Konrad bewirtschaftet wurde. Während alle frühstückten, verteilte Marie massenhaft Proviant auf die Rucksäcke und um neun Uhr marschierten die Wanderer, geführt von Josef, endlich los. Jenny ging an Theklas Hand und erzählte vom Kindergartenausflug mit Schwester Tusnelda und Tante Brigitte. Doch bald hatte die Kleine einen hochroten Kopf und fing an zu jammern. Thekla zog Jenny die warme Jacke aus, gab ihr zu trinken und band ihr die Haare, die ihr feucht an der Stirn klebten, zu einem Pferdeschwanz zusammen. Mit Blumenpflücken und Auszählreimen lenkte sie das Kind so gut es ging ab und zog es hinter sich her. Von den anderen war weit und breit nichts mehr zu sehen. Als sich ein Traktor näherte, hielt Thekla ihn auf und bat den Bauern um eine Mitfahrgelegenheit. Eine hübsche junge Dame mit einem Elefantenbaby könne er natürlich nicht stehen lassen, grinste dieser. Thekla verkniff sich eine bissige Antwort und die beiden nahmen auf dem seitlichen Sitz Platz. Als sie an den Wanderern vorbeifuhren, die am Wegrand eine kurze Rast eingelegt hatten, winkten sie fröhlich und lösten damit Buhrufe und Protestgeschrei bei den anderen Kindern aus. Zum Glück war die Alpe des „Taxibauern“ nicht weit von ihrem Ziel entfernt und so erreichten sie die Alphütte nach einem letzten, steilen Aufstieg.
