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Seit der Weltwirtschaftskrise von 2008 arbeiten fanatisch-neoliberale (›proprietaristische‹) Netzwerke an der Entwicklung von Privatstädten, in denen private Unternehmen als unumschränkte Eigentümer jegliche Demokratie ersetzen sollen. Dabei werden bewusst Regionen in armen Staaten ausgesucht, wie beispielsweise in Honduras, wo nach dem Putsch von 2009 die politischen und juristischen Weichen für drei solcher Investorenstädte gestellt wurden, die zurzeit als Pilotprojekte errichtet werden. Als ausgewiesene Sonderwirtschaftszonen, denen weitgehende Autonomie in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung zugesprochen wird, hebeln diese Privatstädte nicht nur die Souveränität des Staates aus, sondern enteignen auch die lokale Bevölkerung und stellen sie vor die Wahl, sich ihren neuen Herren zu unterwerfen und für sie zu arbeiten oder ihre angestammte Heimat zu verlassen. Vor allem gebürtige Deutsche wie der Investor Peter Thiel (Paypal), der Architekt Patrik Schumacher (Zaha Hadid Architects) oder der Privatstadtunternehmer Titus Gebel treiben diese Entdemokratisierungsprojekte voran und setzen dabei auf Blockchain-Technologien, um Anteile an ihren Unternehmungen zu verkaufen. Die AfD forderte unlängst die Ausrichtung der deutschen Entwicklungspolitik auf die Förderung solcher Modellstädte. Diese Privatstädte mit eigenen Gesetzen, eigener Gerichtsbarkeit und Polizei dienen als Labore für einen neuen Manchesterkapitalismus in einer postfordistischen Brave New World, wo Demokratie auf »Abstimmung mit dem Geldbeutel« zurückgefahren wird. Doch die Netzwerke dieser selbsternannten ›Libertarians‹ mit ihren konspirativen Privatstadt-Bestrebungen stoßen allmählich auch auf Widerstand …
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Seitenzahl: 278
Veröffentlichungsjahr: 2022
Andreas Kemper
Privatstädte
Labore für einen neuenManchesterkapitalismus
Für meine Mutter.
Und für die Rechte aller Arbeiter*innen
und deren demokratische Gestaltungsmacht.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
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Diese Publikation wurde ermöglicht durch das
Stipendienprogramm Neustart Kultur 2021 von VG Wort.
Andreas Kemper: Privatstädte
1. Auflage, Mai 2022
eBook UNRAST Verlag, Juni 2022
ISBN 978-3-95405-122-9
© UNRAST-Verlag, Münster
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Umschlag: UNRAST-Verlag, Münster
Satz: UNRAST-Verlag, Münster
Einleitung
Die Ideologie des Proprietarismus
Gesellschaft als Markt
Kampf gegen Demokratie
Proprietarismus – eine rassenbiologische »Faschismus-Pipeline«
Chicago Boys und ›Anarcho-Kapitalismus‹
Die Wiederkehr des Proprietarismus als Enklaven-Proprietarismus
Proprietaristische Thinktanks, Akademien und Hochschulen
Atlas Network, Cato Institute und Mises Institute
Unternehmer-Unis und Students of Liberty
August von Finck, Degussa Goldhandel und das deutsche Mises Institut
Unternehmer-Städte
Die Privatstädte in Honduras und São Tomé e Principe
Phase I: RED – vom Putsch zur Privatisierung
Zeittafel zu relevanten Ereignissen zur Entstehung #honduranischer Sonderentwicklungszonen (Regiones Especiales para el Desarrollo, RED)
Vom Privatisierungswahn unter Pinochet zur Privatstadtideologie
Paul Romers Charter Cities
The Seastanding Institute
Universidad Francisco Marroquín
MGK Group
Zwischenspiel: Lazika, gescheiterte Privatstadt am Schwarzen Meer
Phase II: ZEDE
Zeittafel zu relevanten Ereignissen zur Entstehung der ZEDEs
CAMP – ein proprietaristisches Privatstadtgremium
Shanker Singham und das Babson College
Titus Gebel und Free Private Cities
TU München, Tucher Group und die Elite-Cluster
Zaha Hadid Architects als Privatstadt-Inkubator
Honduras Próspera
Privarisierung – die Strategie der standardisierten Umzonung
Ständedemokratie und E-Residenzschaft
Weitere ZEDEs / Privatstädte
Ciudad Morazán
Qrquidea
Mariposa
Guanaja Hills
São Tomé e Principe
Refugee-Cities im Netzwerk der Privatstadtbewegung
Privatstädte: ›Exzellenz‹-Cluster eines neuen Manchesterkapitalismus?
Glossar
Literatur
Als ich noch ein Kind war, kam ich bereits mit einer Art »Privatstadt« in Kontakt. Ich wuchs in einer Arbeiter*innensiedlung auf, die dem Fabrikunternehmen gehörte, in dem meine Eltern arbeiteten. Sie hatten anfangs zu wenig Geld für ein gemeinsame Wohnung, bis das Unternehmen bekannt gab, diese Siedlung zu bauen. Diese Siedlung war jung Verheirateten vorbehalten.
Diese Arbeiter*innensiedlung war natürlich keine Privatstadt, denn es galten selbstverständlich vollumfänglich die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland und auch Stadtrat und Bürgermeister wurden in unserer Textilstadt ›normal‹ gewählt. Und dennoch prägte das Unternehmen die Art, wie wir lebten. Alle Erwachsenen – oder fast alle – aus der Siedlung arbeiteten in der Fabrik. Und nebenan gab es eine weitere Arbeiter*innensiedlung, die zu einem anderen Unternehmen, einer anderen Textilfabrik gehörte. Vielleicht haben andere unsere Siedlung und die Tatsache, dass alle dort beim gleichen Unternehmen arbeiteten als merkwürdig empfunden, für mich war es völlig normal, denn ich bin dort geboren und aufgewachsen.
Etwas weniger normal fühlte es sich an, als ich als Jugendlicher etwas für meine Mutter erledigen sollte und so das erste Mal den wenige Kilometer entfernten Fabrikkomplex betrat. Ich hatte mir eigentlich immer eine große Fabrikhalle vorgestellt und war schließlich sehr verblüfft, dass das Gelände aus zahlreichen großen Gebäuden bestand, 20 Hektar umfasste, und hinzu kam ja noch das Hochhaus der Firmenzentrale. »Das ist ja eine eigene Stadt«, hatte ich gedacht.
Stellen wir uns dieses Fabrikgelände noch viel größer vor und packen dort die Arbeiter*innensiedlungen rein und die Wohngebäude der Weißkittel und Chefs; zudem noch Gebäude der Grundversorgung, Kitas, Schulen, medizinische Versorgung, Security …; und stellen wir uns vor, dort hätte der Staat nichts mehr zu sagen, sondern der Unternehmenschef würde die Gesetze machen und die Security würde ihm direkt unterstehen, um seine Gesetze durchzusetzen … Dann kämen wir dem nahe, worüber dieses Buch informieren möchte: Privatstädte.
In dieser Publikation geht es im Folgenden um eine bestimmte Form von Privatstädten, der eine sozial- und demokratiefeindliche Ideologie zugrunde liegt. Gemeint sind hier also nicht nur Stadtviertel von Reichen mit eigenem Schutz (›Guarded Communities‹) oder gar umgeben von einem eigenem Schutzwall (›Gated Communities‹). Und gemeint sind auch nicht viele Hektar große Industrieterritorien, die einem einzigen Unternehmen gehören. Den hier behandelten Privatstädten kämen konstitutionell-monarchistisch oder absolut-monarchistisch regierte Stadtstaaten wie Monaco, → Liechtenstein oder → Dubai schon näher. Sollte Liechtenstein tatsächlich nach dem Plan seines Fürsten → Hans-Adam II. zu einem »Dienstleistungsunternehmen« umgebaut werden (Liechtenstein 2010), wären wir schon fast bei einer Privatstadt angelangt – vorausgesetzt, die Einwohner*innen hätten tatsächlich keine ernstzunehmenden demokratischen Befugnisse mehr.
Ich werde daher in diesem Buch nicht auf Gated Communities eingehen, nicht auf die großen Vorbilder der hier behandelten Privatstädte wie Dubai, Hongkong, Shenzen, Singapur. Thema werden auch nicht die Sonderwirtschaftszonen sein, in denen ›nur‹ Sonderregeln für die Wirtschaft gelten. Auch Fabrikstädte von Fordlândia bis Woven-City werden hier nur kurz angesprochen.
Thematisiert wird hier eine Bewegung, die sich nach der Weltwirtschaftskrise von 2008 zusammenfand und auf einer demokratiefeindlichen Ideologie beruht. Casey R. Lynch nennt diese Bewegung »Enclave Libertarism« (Casey 2008), Enklaven-Libertarismus. Ich schließe mich dem an, würde aber zunächst eher von ›Enklaven-Proprietarismus‹ sprechen, da der Begriff ›Libertarismus‹ ursprünglich für sozial-anarchistische Ideen stand (Bookchin 1986). Wie Murray Bookchin vorschlägt, bezeichne ich diese Ideologie daher als → Properitarismus, abgeleitet von »proprius«, Eigentum. Die proprietaristische Strategie, Privatstädte zu errichten, nenne ich → Privarismus (von lat. privare: rauben). Es geht dabei darum, Menschen innerhalb dieser Städte ihrer Rechte zu berauben, das heißt, ihnen die Mitbestimmung und die demokratische Verfügungsgewalt über bestimmte Bereiche des Staates zu entziehen.
Diese Begriffsentwirrung ist notwendig, da mit der Ideologie des Proprietarismus eine »Diskurspiraterie« (vgl. Kellershohn / Dietzsch / Wamper 2010) einhergeht. Es liegt eine Aneignung herrschaftskritischer Begrifflichkeiten und damit auch herrschaftskritisch-rebellischen Auftretens vor, die für Verwirrung sorgt. Ähnlich verhält es sich mit dem von Teilen der Proprietarist*innen verwendeten Begriff des Anarcho-Kapitalismus.
Diese Begriffsaneingungen konnten sich wahrscheinlich verhältnismäßig einfach durchsetzen, weil es bis heute eine mediale und politische Fehlinterpretation des Begriffs ›Anarchismus‹ gibt. Anarchismus wird mit Chaos, Gewalt und Terror assoziiert. Ein wenig wohlmeinender sind Positionen, die unter Anarchismus die Abwesenheit des Staates verstehen (und mit dieser Abwesenheit des vermeintlichen Garanten der Ordnung, dann indirekt doch wieder Chaos mutmaßen). Tatsächlich meint aber Anarchismus eine herrschaftsfreie Gesellschaft, an-archos, gegen Herrschaft. Eine Gesellschaft ohne Herrschaft ist nicht zwangsläufig chaotisch, gewalttätig oder terroristisch.
Es ist eher das Gegenteil der Fall: Tatsächlich sind Gesellschaften, in denen fanatisch die Institutionalisierung von Macht vorangetrieben wird, wie beispielsweise faschistische Gesellschaften, besonders chaotisch, gewalttätig und terroristisch.
Falsch ist auch die Gleichsetzung von Anarchismus mit der Abwesenheit des Staates. Herrschaft und Staat sind nicht unbedingt identisch oder gesellschaftlich deckungsgleich. Zwar steht der Staat heute für institutionalisierte Macht, also für Herrschaft, doch theoretisch denkbar wäre auch eine komplexe Gesellschaftsform mit basis- oder rätedemokratischen Entscheidungsstrukturen, also ohne diese institutionalisierten Befehlsketten, in denen Wenige zu sagen haben, was Viele zu machen haben. Ob man eine solche komplexe herrschaftsfreie Gesellschaft noch ›Staat‹ nennen kann oder ob ›Staat‹ immer nur für Gesellschaften auf der Basis autoritärer Herrschaftsverhältnisse steht, möchte ich hier nicht ausdiskutieren. Wichtiger ist an dieser Stelle der Hinweis darauf, dass Herrschaftsstrukturen nicht nur in staatlichen Organisationen vorkommen, sondern sich gerade auch in Wirtschaftsunternehmen wiederfinden. Das Sprichwort »Lehrjahre sind keine Herrenjahre« weist auf autoritäre Herrschaftsstrukturen schon in kleinen Handwerksbetrieben hin. Für Konzerne gelten innerbetrieblich derartige Herrschaftsstrukturen erst recht. Der Kapitalismus ist zwangsläufig eine Herrschaftsform, da er durch das Privateigentum an Produktionsmitteln definiert ist. Und die mit dem Eigentum an Produktionsmitteln einhergehende institutionalisierte Macht ist per Definition Herrschaft.
›Anarcho-Kapitalismus‹ ist daher ein in sich widersprüchlicher Ausdruck. Es kann so etwas wie ›Anarcho-Kapitalismus‹ genau genommen gar nicht geben. Entweder ist eine Gesellschaft kapitalistisch, dann ist sie herrschaftlich organisiert, oder sie ist anarchistisch, also herrschaftsfrei, und deshalb ganz bestimmt nicht kapitalistisch organisiert. ›Anarcho-Kapitalismus‹ oder die sich darauf beziehende Kurzform ›AnKap‹ ist hingegen eine Ideologie, die geeignet ist, die Verwirrung im Themenfeld des Anarchismus noch weiter zu verstärken.
Ähnliches gilt für die Ausdrücke ›Libertarismus‹, ›libertär‹, ›Libertäre‹. Der Begriff ›Libertarismus‹ stammt aus dem 19. Jahrhundert und ist eigentlich nur ein alternativer Begriff für ›Anarchismus‹. Genau genommen betont ›Libertarismus‹ in seinem ursprünglichen Kontext die soziale und (pro)feministische Ausrichtung von Anarchismus. Um so mehr also verbieten sich die Aneignungsversuche der sogenannten ›Anarcho-Kapitalist*innen‹, sich ›libertär‹ zu nennen.
So viel zu den Begriffen.
Das Buch folgt dem Begriff des Enklaven-Proprietarismus. Im ersten Teil gehe ich zunächst auf die Ideologie und Netzwerke des Proprietarismus ein, im zweiten Teil zeige ich die konkrete Entwicklung der enklavenartigen Privatstadtprojekte auf, die um das Jahr 2008 einsetzte.
Im Anhang befindet sich ein umfangreiches Glossar, das den gesamten Themenkomplex und darin involvierte Personen abdeckt. Mit einem Pfeil wird im Buch bei erstmaliger Nennung auf einen im Glossar ausführlicher erklärten Begriff hingewiesen.
Eine wirkmächtige Erzählung lautet, dass es in kapitalistischen Gesellschaften allen immer besser gehen werde. Gab es vor zweihundert Jahren noch den Manchester-Kapitalismus mit extremer Ausbeutung und tödlichem sozialem Gefälle, vor einhundert Jahren noch den ständischen Kapitalismus mit kaiserlicher Untertanenmentalität, könnten heute selbst Arbeiter*innenkinder studieren und die Karriereleiter erklimmen. Aber seit Ende der 1970er-Jahre ist die relative Zahl von studierenden Arbeiter*innenkindern nicht größer geworden. Die Vermögensunterschiede hingegen sind rasant gewachsen. Die neoliberalen Wirtschafts›reformen‹ unter Pinochet, Thatcher und Reagan der 1980er-Jahre zeigen zudem, dass der Fortschritt keineswegs linear ist, sondern dass ein modernisierter Manchester-Kapitalismus mit einer entsprechenden Ideologie durchaus wieder denkbar ist.
Der französische Wirtschaftsforscher Thomas Piketty beschreibt in seinem Buch Kapital und Ideologie (Piketty 2020), wie nach dem feudalen Wirtschaftssystem die sogenannten ›Eigentumsgesellschaften‹ entstanden sind. In dieser kapitalistischen Phase hatten Arbeiter*innen kaum Rechte, es gab kein Sozialsystem und auch kein gleiches, geheimes, allgemeines Wahlrecht für Arbeiter*innen. Jede Gesellschaftsform hat eine eigene Rechtfertigungsideologie. Die Ideologie der Eigentumsgesellschaften argumentiert mit Stabilität und Emanzipation:
»Von Anfang an beruht die proprietaristische Ideologie auf einem Versprechen von sozialer und politischer Stabilität, aber auch von individueller Emanzipation durch das Eigentumsrecht, das angeblich allen offenstehe, oder wenigstens allen Erwachsenen männlichen Geschlechts, denn die proprietaristischen Gesellschaften des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts sind mit der ganzen Macht und Gründlichkeit eines modernen zentralisierten Rechtssystems patriarchalisch.« (Piketty 2020: 164).
Diese Bezugnahme auf das Eigentum kann also nach Piketty auch genutzt werden, um Emanzipationsprozesse voranzubringen. Er sieht in der Sozialdemokratie eine kritische Erscheinungsform des Proprietarismus. Allerdings könne dieser auch das Eigentum sakralisieren: »Vom 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg setzten sich vor allem der übersteigerte Proprietarismus und die Quasi-Sakralisierung des Privateigentums durch.« (ebd.: 167). Hierbei sei ein zentrales Argument des sakralen Proprietarismus, dass der Begriff der sozialen Gerechtigkeit »unausweichlich immer unvollkommen definiert und akzeptiert sei« (ebd.) und dass daher ein Hinterfragen der Eigentumsverteilung zu einem unendlichen Sog ins Chaos würde, was letztlich auch den Armen schade. Dieses Argument der Stabilität nahm nach Piketty religiöse Züge an und bestimmte auch die Ablehnung des allgemeinen Wahlrechts. Die ›weichere‹ und kritischere Form des Proprietarismus, wie sie sich in sozialdemokratischen und neoliberalen Positionen darstellt, argumentiert hingegen mit der Emanzipation und daher meritokratisch: Alleine die erbrachte Leistung zählt. Eigentum soll erhalten, wer etwas leistet. Für die heutigen kapitalistischen Gesellschaften wird (noch) der meritokratische Proprietarismus herangezogen: »Den Ungleichheiten Sinn zu verleihen und die Position der Gewinner zu rechtfertigen, ist eine überlebenswichtige Frage. Die Ungleichheit ist in erster Linie ideologischer Natur. Der heutige Neoproprietarismus versteht sich gerade deshalb als meritokratisch, weil er nicht mehr explizit ein Zensussystem [z.B. Dreiklassenwahlrecht; A.K.] vertreten kann, anders als der klassische Proprietarismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts.« (ebd.: 890).
Doch Thomas Piketty hat auch deutlich gemacht, dass die Schere in den Vermögen immer größer wird: Die Reichen werden immer reicher und die Armen bleiben arm. Das meritokratische Versprechen, jede*r könne es vom Tellerwaschen zum Aufsichtsratsposten bringen, sei zudem nur eine besondere Legitimationsstrategie des Kapitalismus. Im Manchester-Kapitalismus habe der Meritokratismus kaum eine legitimierende Wirkung entfaltetet. Und inzwischen verabschieden sich bestimmte Ideologen, die eine fanatische Form von Kapitalismus anstreben, wieder von dieser mit »individueller Leistung« argumentierenden Legitimations-Strategie. Die Proprietist*innen (sogenannte »Libertarians« oder »Anarcho-Kapitalist*innen«) beziehen sich stattdessen auf eine angebliche Apokalypse, die drohe, würde das Eigentum an Produktionsmitteln weiterhin durch Demokratie und soziale Gerechtigkeit beschnitten. Sie argumentieren mit der Stabilität reiner → Privatrechtsgesellschaften und nicht mehr mit Gleichheitsversprechen.
Die Gesellschaft erscheint in dieser Ideologie nur als Markt, deren Bürger*innen Kund*innen sind. Demokratie ist in dieser Gesellschaft als Markt nicht vorgesehen. Vor allem das Wahlrecht der sogenannten ›Nicht-Leistungsträger‹ bzw. »Parasiten« (Hoppe) ist ihnen ein Dorn im Auge.
Wir leben in einer Gesellschaft, die wesentlich durch das kapitalistische Wirtschaftssystem geprägt ist. Die Einkommens- und Vermögensverteilung ist äußerst ungerecht, ebenso das Bildungssystem. An anderer Stelle habe ich die klassistischen Strukturen und Institutionen ausgeführt (vgl. Kemper / Weinbach 2006). Dennoch ist es der Anspruch dieser Gesellschaft, dass nicht alles vom Markt alleine bestimmt wird. Im Grundgesetz der BRD wird die Verfasstheit unserer Gesellschaft in Deutschland mit den Worten »Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.« (Artikel 20 Absatz 1 GG) definiert. Der Artikel 20 ist maßgeblich für die Verfassung, daher findet sich auch im vierten Absatz des Artikels 20 der Satz: »Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.« Das sogenannte Widerstandsrecht befindet sich im Artikel 20, weil dort die Grundordnung definiert ist. Obschon also unsere Gesellschaft geprägt ist von einer sich sehr ungerecht auswirkenden kapitalistischen Ordnung, besteht zumindest verfassungsmäßig der Anspruch auf eine demokratisch-soziale Grundordnung.
Vermögens- und Einkommensunterschiede wirken einer demokratischen und sozialen Gesellschaft entgegen. Sie können daher nicht als Selbstverständlichkeit hingenommen werden, sondern müssen sich gegenüber dem Anspruch unserer gesellschaftlichen Verfasstheit legitimieren. Dies geschieht durch die sogenannte Leistungsideologie, auch ›meritokratische Ideologie‹ genannt. Meritokratie leitet sich vom lateinischen ›Meritum‹, Verdienst, ab. Im Zentrum dieser Ideologie steht die Auffassung, dass einer Person dann, und nur dann, mehr zusteht als einer anderen Person, wenn sie entsprechend mehr leistet als die andere Person. Theoretisch müssten also in dieser Ideologie Schenkungen und Erbschaften verboten sein, da diese das Leistungsprinzip der Meritokratie unterlaufen. Theoretisch müsste jede Person ›bei Null‹ anfangen. Es gab mit der Entstehung der → Mont Pelerin Society tatsächlich die Forderung von Alexander Rüstow nach einer individuellen »Startgerechtigkeit«, z.B. einer umfassenden progressiven Erbschaftssteuer, diese wurde aber von den anderen Ordoliberalen und insbesondere von → Friedrich-August Hayek abgelehnt. (Haarmann 2015: 96)
Der Meritokratismus ist aber keineswegs die einzige Ideologie, mit der der Kapitalismus gerechtfertigt wird. Mit dem Proprietismus ist inzwischen eine Ideologie auf dem Vormarsch, die sich offen von unserer Verfassung, von Artikel 20 Absatz 1 verabschiedet, und zwar sowohl von der Demokratie als auch vom Sozialstaat. Eigentum, vor allem das Eigentum an Produktionsmitteln wird von den Vertreter*innen dieser Ideologie absolut gesetzt und die Gesellschaft soll nicht mehr in einem demokratischen Sozialstaat organisiert werden, sondern wird in ihrer Gänze als Markt verstanden.
Auf dem der politischen Rechten nahestehenden Blog Achse des Guten äußert sich der deutsche Unternehmer und Proprietist → Titus Gebel sehr deutlich:
»Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks wurde gar prognostiziert, das Ende der Geschichte sei eingetreten. Liberale, rechtsstaatliche Demokratien seien die Quintessenz der Entwicklung, ein weiterer Fortschritt nicht mehr möglich und letztlich würden weltweit alle Systeme darauf hinauslaufen. Das ist allerdings ein Irrtum, unter anderem deshalb, weil auch unsere freiheitlich-demokratischen Verfassungen etwas sind, das nach dem Zivilrecht aller Staaten unzulässig wäre: nämlich Verträge zu Lasten Dritter. […] auch unser Zusammenleben ist ein Markt, ob wir das nun gut finden oder nicht. Jeder Markt ist gekennzeichnet durch das Zusammenführen von Angebot und Nachfrage an Waren, Dienstleistungen und Rechten. Staaten existieren, weil eine Nachfrage nach ihnen besteht. […] Wenn jeder jeden Tag mit seinen Kaufentscheidungen darüber mitbestimmen kann, welche Produkte weiter bestehen und welche nicht, ist das nicht viel eher eine Demokratie im Sinne einer Herrschaft aller? Jedenfalls verglichen mit dem Abgeben der Stimme aller paar Jahre für Politiker, deren Absichten man nicht genau kennt und deren Umsetzung ungewiss ist.« (Gebel 2018)
Um einen Wettbewerb herzustellen, sei der Aufbau von Alternativen notwendig, verkündete Gebel im März 2019 in einer Botschaft an alle Liberalen und Libertären:
»Meine klassisch-liberalen/libertären Überzeugungen, wonach Freiheit, Selbstbestimmung aber eben auch Eigenverantwortung die Werte sind, die ein Leben in Wohlstand und Zufriedenheit ermöglichen, werden von der Mehrheit nicht geteilt. Nirgends, in keinem System, auch nicht in den USA oder in der Schweiz. […] Ich stand also vor der Alternative, die nächsten 30 Jahre meines Lebens zu versuchen, die Menschen weiterhin vom ›Wert der besseren Ideen‹ (Mises) zu überzeugen, mit dem zu erwartenden Ergebnis. Oder ich konnte etwas völlig Neues versuchen. Da wurde mir klar, dass auch unser Zusammenleben ein Markt ist und politische Systeme nichts anderes sind als Produkte.« (Gebel 2019b)
Ein weiteres Wesensmerkmal des Proprietarismus ist der Kampf gegen die Demokratie. Insbesondere die Besteuerung der Reichen und die Grundversorgung der Armen mit diesen Steuereinnahmen wird als Problem betrachtet. Reiche sehen sich als die Unschuldslämmer, deren Freiheit in einer Demokratie einer Mehrheit von Armen zum Fraß vorgeworfen wird, getreu dem Benjamin Franklin nachgesagten Ausspruch: »Demokratie, das ist, wenn zwei Wölfe und ein Schaf über die nächste Mahlzeit abstimmen. Freiheit, das ist, wenn das Schaf bewaffnet ist und die Abstimmung anficht.«
Die Debatte ist allerdings nicht neu. Bereits im 19. Jahrhundert wurden Fragen einer gerechten Besteuerung diskutiert, u.a. vom schwedischen Ökonomen Knut Wicksell.
Wicksell befasst sich in seinem Buch Finanztheoretische Untersuchungen. Nebst Darstellung und Kritik des Steuerwesens Schweden mit dem Problem, dass Regierungen »mehr oder weniger einseitig ihre dynastischen Interessen und privatwirtschaftlichen Vorteile« verfolgten (Wicksell 1896: 108). Er warnt unter Verweis auf eine Untersuchung von Erwin Nasse, dass diese Gefahr in konstitutionellen Staaten wahrscheinlich noch größer sei als in absolutistischen:
»Wenn die ganze moralische Verantwortung für das Gedeihen des gesamten Staatskörpers der Regierung obliegt, ist wenigstens eine Wahrscheinlichkeit vorhanden, dass ein wohlwollender Monarch, von tüchtigen Ratgebern umgeben, das Wohl der Gesamtheit zum Leitstern seiner Handlungen machen wird. Wenn hingegen die vollziehende Gewalt beinahe jede Verantwortlichkeit auf die Legislative abzuwälzen vermag, ist jene Wahrscheinlichkeit eben nicht vorhanden, sondern die Hauptaufgabe der Regierung wird nunmehr sein, die Majorität der Volksvertretung auf ihre Seite, d. h. für ihre eigenen Interessen zu gewinnen und zu behaupten.« (Wicksell 1896: 108f.)
Allerdings sah Wicksell die Demokratie als einen Prozess, der zu befürworten und nicht aufzuhalten sei:
»Jene Bewegung nun, welche der politischen Geschichte unseres Jahrhunderts mit wenigen Ausnahmen ihr Gepräge aufgedrückt hat, ist das stetige Fortschreiten zu parlamentarischen und demokratischen Formen des öffentlichen Lebens … Das Ziel dieser Bewegung ist die rechtliche Gleichstellung, die größtmögliche Freiheit sowie das ökonomische Gedeihen und friedliche Zusammenwirken aller; sie hat nicht zum Zweck, und sie käme mit dem Geiste, der sie von Anfang an beseelte, in Widerspruch, wenn sie es versuchte, das Joch freiheitsfeindlicher und lichtscheuer Oligarchien, welches sie ganz oder teilweise abzuschütteln wusste, durch eine kaum weniger drückende Tyrannei der zufälligen Majorität einer Volksversammlung zu ersetzen.« (ebd.: 110f.)
Diese »Tyrannei der zufälligen Majorität« oder auch »Tyrannei der Mehrheit«, vor der die heutigen Proprietarist*innen gerne warnen, bezieht sich insbesondere auf die Steuergesetzgebung. Wicksell greift die Angst der Mächtigen vor den Ohnmächtigen auf, die Angst davor, dass die Ohnmächtigen mit den Mächtigen so umgehen könnten, wie die Mächtigen heute mit den Ohnmächtigen umgehen:
»Wenn einmal die unteren Klassen definitiv in Besitz der gesetzgebenden und steuerbewilligenden Gewalt gelangt sind, wird allerdings die Gefahr vorliegen, dass sie ebensowenig uneigennützig verfahren werden wie die Klassen, welche bisher die Macht in den Händen hatten, dass sie m. a. W. die Hauptmasse der Steuern den besitzenden Klassen auflegen und dabei vielleicht in der Bewilligung der Ausgaben, zu deren Bestreitung sie selbst nunmehr nur wenig beitragen, so sorglos und verschwenderisch verfahren, dass das bewegliche Kapital des Landes bald nutzlos vergeudet und damit die Hebel des Fortschritts zerbrochen sein werden …« (ebd.: 122f.)
Wicksell kommt zum Schluss, dass Steuern daher dem Mehrheitsprinzip entzogen und stattdessen nach einem Konsensprinzip entschieden werden sollten: »Gegen Missbräuche der erwähnten Art liegt aber zweifellos die beste, ja die einzig sichere Garantie im Prinzip der Einstimmigkeit und Freiwilligkeit der Steuerbewilligung.« (ebd.)
Allerdings sollte dieses Prinzip dann auch schon vor der Einführung der Demokratie gelten und die Reichen sollten kraft ihrer Entscheidungsmacht nicht hauptsächlich den Ärmeren die Steuerlast aufbürden: »Eben deshalb sollten andererseits die, welche nur widerstrebend und mit bösen Ahnungen sich den immer lauter werdenden Forderungen der Demokratie unterwerfen, um so eifriger bemüht sein, jenes Prinzip schon in der heutigen Steuergesetzgebung zur Geltung zu bringen.« (ebd.)
Die Demokratieskepsis bzw. -feindschaft richtet sich also vorrangig gegen das Mitbestimmungsrecht der Armen.
Wie die Feindschaft gegen Sozialstaat und Demokratie mit der proprietaristischen Ideologie der Privatstadtprojekte zusammenhängen, kann man an der Entwicklung des Privatstadtunternehmers Titus Gebel und seinen Äußerungen erkennen.
Gebel arbeitete nach seinem Studium zunächst für eine Vermögensverwaltungsagentur. Seine Aufgabe bestand also darin, das Vermögen der Reichen zu sichern und zu vermehren. Er war bereits als Studierender FDP-Mitglied und sein Point of View war sehr wahrscheinlich eher der Blick der Vermögenden auf die Welt als der von abhängig Arbeitenden oder Arbeitslosen.
Später machte sich Titus Gebel selbstständig, baute ein Rohstoff-Unternehmen auf und stieß auf Grenzen aufgrund von Umweltgesetzen, die das Resultat des demokratischen Mehrheitsprinzip waren. Da in Deutschland Fracking verboten ist, musste seine Deutsche Rohstoff AG
Gebel gründete zudem 2016 die → Free Private Cities Incorporation zusammen mit dem Niederländer → Frank Karsten. Karsten hatte wenige Jahre zuvor mit der Herausgabe des Buches Beyond Democracy (Karsten / Beckmann 2012) eine Kampfschrift gegen die Demokratie verfasst. Bereist im Vorwort machte Karsten seine Einstellung deutlich:
»Viele Kritiker der Demokratie sind davon überzeugt, dass diese repariert werden müsse, haben aber kein Problem mit den grundlegenden demokratischen Prinzipien selbst. Unser Buch widerlegt diese Behauptungen. Demokratie ist das Gegenteil von Freiheit - es ist dem demokratischen Prozess geradezu inhärent, dass er zu weniger Freiheit tendiert, anstatt zu mehr - und Demokratie ist nichts, was repariert werden muss. Die Demokratie ist ein kollektivistisches System und ist von Natur aus kaputt, genau wie der Sozialismus.« (Karsten 2012)
Auch → Patri Friedman, der mit dem von ihm mitbegründeten → Seasteading Institute die Idee von Privatstadt-Projekten auf hoher See, außerhalb der Hoheitsgebiete nationaler Regierungen, vorantrieb, kritisiert die Demokratie dafür, dass sie aus Staaten Wohlfahrtsstaaten mache. Demokratische Gesellschaften könnten die Macht des Staates nicht begrenzen, teilte er in einem Interview mit der Zeitschrift Schweizer Monat 2010 mit:
»Die Macht des Staates muss begrenzt werden, aber bislang haben wir keine geeigneten Mittel dafür. Die Geschichte der USA beweist, dass eine Verfassung nicht genügt – die USA sind heute ein ausufernder Wohlfahrts- und Erziehungsstaat wie die anderen westlichen Länder auch. Die Schweiz hatte die glorreiche Idee, die Macht zu dezentralisieren und auf lokaler Ebene zu belassen. Aber auch die Schweiz nähert sich immer mehr dem unbegrenzten Mainstreamwohlfahrtsstaat an. Ich glaube, dass sich in einer Demokratie die Begrenzung des Staates nicht durchhalten lässt.« (Scheu/Rittmeyer/Friedman 2010)
Der Proprietarismus strebt nicht nur keine Gleichheit unter Menschen an, er bezieht sich auch direkt auf rassenbiologische bzw. klassenbiologische Ideologien der Ungleichheit. Die Debatte um Rassenbiologie wurde in Deutschland vor zehn Jahren in der sogenannten ›Sarrazin-Debatte‹ geführt. Thilo Sarrazin hatte mit seinem Buch Deutschland schafft sich ab (Sarrazin 2010) die entsprechende US-amerikanische Debatte (vor allem über Richards Herrnsteins und Charles Murrays Buch The Bell Curve (Herrnstein/Murray 1994)) aus den 1990er Jahren nach Deutschland geholt. Seine Quellen zur IQ-Verteilung stammten letztlich aus dem rassenbiologischen Netzwerk von → Mankind Quarterly und dem → Pioneer Fund (vgl. (Kemper 2012; Sesin 2012; Kemper 2014).
Entsprechend finden sich auch in dem Buch Freie Privatstädte von Titus Gebel Bezüge zur Rassenbiologie. Zwar gesteht Gebel »Schwarzafrika« zu, dass positive Entwicklungen »durchaus möglich« seien, aber das brauche dann Zeit. »Kulturelle Prägung, Klima, Geografie, Religion, genetische und sogar epigenetische Faktoren« stünden dem entgegen. Welche »genetischen Faktoren« er meint, wird ersichtlich, wenn man den Fußnoten folgt. Hier zitiert er direkt den umstrittenen Entwicklungspsychologen Heiner Rindermann und indirekt die Studie IQ and the Wealth of the Nation von Richard Lynn und Tatu Vanhanen (vgl. Kemper 2012).
Richard Lynn leitet seit dem Tod von → J. Philippe Rushton den Pioneer Fund, der zu den finanziellen Unterstützern von Mankind Quarterly und → American Renaissance gehört (Southern Poverty Law Center o.J.). Rushton unterstellt der »afrikanischen Großrasse« gegenüber der europäischen und asiatischen »Großrasse« eine relative Kulturunfähigkeit aufgrund unterschiedlicher Arterhaltungsstrategien. (Rushton 2005)
Tatu Vanhanen sagte in einem Interview, dass die Evolution Europäer*innen und Nordamerikaner*innen intelligenter gemacht habe als Schwarze. Die geringere Intelligenz sei der Hauptfaktor für deren Armut. Möglichst viele Europäer*innen, Amerikaner*innen und Asiat*innen sollten daher führende Posten in der afrikanischen Ökonomie übernehmen, da nur sie fähig seien, Wohlstand herzustellen. (Helsingin Sanomat 2008)
Entsprechend konstatiert Titus Gebel in seinem Buch »Freie Privatstädte« der Zentralafrikanischen Republik: »[M]it einem IQ um die 70 dürfte es bereits schwerfallen, eine Eisenbahnlinie zu betreiben.« (Gebel 2019c, Anm. 160) Vanhanen hat den Durchschnitts-IQ der Einwohner*innen von São Tomé e Príncipe, wo Gebel seine Privatstadt bauen möchte, mit 67 angegeben (Gebel 2021). Gebel nimmt also mit Vanhanen anscheinend an, die Menschen auf São Tomé e Príncipe seien im Durchschnitt ›debil‹.
Auch → Hans-Hermann Hoppe, der aktuelle Vordenker des Proprietarismus, berief sich 1997 in einem Papier (Hoppe 1997), in dem er monarchistische Systeme gegenüber demokratischen verteidigte, auf Rushtons ›Race, Evolution, and Behavior‹ von 1995. Monarchien schnitten gegenüber Demokratien vor allem deswegen schlechter ab, weil sich die Demokratien heute eher bei den »Caucasians« befänden und Monarchien eher bei den »Negroids«. Und diese rassistischen Unterteilungen (das Wort ›Rasse‹ vermeidet Hoppe in seinem Text) hätten laut Rushton unterschiedliche Zeitpräferenzen (was mit genetisch bedingten unterschiedlichen ›Arterhaltungsstrategien‹ zu tun habe).(ebd.: 5, Anm. 4)
Dass dieser Verweis kein Ausrutscher war, zeigt sich in weiteren Texten von Hoppe. So zitiert er noch einmal explizit zwei rassenbiologische Publikationen von Rushton, nämlich Gene-Culture, Co-Evolution, and Genetic Similarity Theory: Implications for Ideology, Ethnic Nepotism, and Geopolitics von 1986 und das bereits erwähnte Race, Evolution, and Behavior von 1995, sowie Michael Levins Why Race Matters von 1997, um »die Bedeutung von Rasse und ethnischer Zugehörigkeit, insbesondere über ›genetische Ähnlichkeit und Unähnlichkeit‹ als Quelle von Anziehung und Abstoßung« zu belegen.(Hoppe 2002: 76f.; Anm. 4)
Hoppe verweist also neben Rushton zusätzlich noch auf die Publikation Why Race Matters des US-amerikanischen Rassisten Michael Levin. Levins »fanatisch rassistisches« (Kamin 1998: 126) Buch wurde vom Pioneer Fund finanziell unterstützt (ebd.). Der Folterbefürworter Michael Levin ist nicht wie sein bekannter Namensvetter ein Biologe, sondern ›Philosoph‹ und konnte sich vielleicht gerade deshalb der Rassenbiologie widmen. Levin behauptet nicht nur eine genetisch bedingte geringere Intelligenz und Moral der ›Negroids‹ gegenüber der ›Caukasians‹, sondern er bezeichnete auch Homosexualität als »abnormal« und Feminismus als »totalitär«. Auf der Plattform von Hoppes → Mises Institute in Alabama publizierte Levin eine proprietaristische Verteidigung der kaltherzigen Einstellungen der literarische Figur ›Scrooge‹ aus Charles Dickens Eine Weihnachtsgeschichte (Levin 2000). Diese Positionen wurden beim Mises Institute mit eigenen Artikeln (zu Feminismus: Block 1991) verteidigt.
Das Vorwort zum rassistischen Buch Why Race Matters erschien 1996 im Journal for Libertarian Studies und es ist beim Mises Institut Alabama abrufbar (Levin 1996). Zwei Jahre später, veröffentlichte David Gordon dazu ebenfalls beim Mises Institute Alabama, eine Verteidigungsschrift (Gordon 1998). Hier wurde zunächst gefragt, ob die Behauptung von unüberbrückbaren »Rassenunterschieden« nicht der Kernforderung des ›Libertarismus‹ widerspreche, wo jeder nur nach seinen individuellen Verdiensten gemessen werden solle. Dies wurde jedoch von Gordon schnell verneint:
»Trifft nicht gerade der Versuch, zu suggerieren, dass Rassenunterschiede politisch relevant sein können, den Kern des Libertarismus? Sollte nicht jedes Individuum nach seinen eigenen Verdiensten beurteilt werden? Levin selbst ist ein durch und durch libertärer Mensch; und so wie er die Dinge sieht, unterstützen seine Schlussfolgerungen über die Rasse eher seine Politik als dass sie ihr widersprechen. Die Amerikaner sehen sich heute mit allen möglichen Programmen zur Förderung von Minderheiten konfrontiert. Es wird behauptet, dass Schwarze besondere Vorteile in den Bereichen Bildung, Beschäftigung und Wohnen erhalten müssen, um sie für die bösartigen Auswirkungen der vergangenen Unterdrückung zu entschädigen.« (Gordon 1998; Übersetzung A.K.)
Und da Ausgleich von Ungerechtigkeiten und Unterdrückungen Eingriffe ins Marktgeschehen seien, müssten diese Ungerechtigkeiten bestritten werden, indem die Unterschiede rassenbiologisch erklärt würden. Daher brauche der sogenannte Libertarismus die Rassenbiologie, gibt David Gordon offen zu:
»Diese Programme greifen auf drastische Weise in den freien Markt ein; aber was soll ein klassischer Liberaler angesichts der Forderung nach Gerechtigkeit tun? Er kann diese Programme nur bekämpfen, wenn er ihre Grundannahme in Frage stellt – die Ansicht, dass die sozialen Probleme der Schwarzen auf die ungerechte Behandlung zurückzuführen sind, die ihnen zuteil wurde. Solange diese Prämisse nicht umgestoßen wird, muss ein klassischer Liberaler aus Gründen der Gerechtigkeit Eingriffe in die von ihm favorisierte Gesellschaftsordnung zulassen. […]
Man könnte hier einwenden, dass selbst die Notwendigkeit, Affirmative Action zu bekämpfen, Levins Rückgriff auf die Rasse nicht rechtfertigt. Ist es nicht möglich, den Behauptungen ihrer Befürworter auf eine weniger kontroverse Weise zu begegnen? In einer für die Argumentation des Buches entscheidenden Passage verneint Levin dies: ›[W]arum wird die umstrittene genetische Frage überhaupt aufgeworfen? Sie muss aufgeworfen werden, weil weithin und vernünftigerweise angenommen wird, dass von den Umweltfaktoren nur die Unterdrückung ein so großes Leistungsgefälle hervorrufen kann wie das zwischen den Rassen … Sobald der Umweltaspekt akzeptiert wird, kehrt das Kompensationsargument mit einem Schlag zurück: Überlegene Fähigkeiten mögen den Weißen einen Vorteil verschaffen, aber die Ursache der Überlegenheit war ein Unrecht, ein Unrecht, das aufgehoben werden muss‹ (S. 271-72).« (ebd.; Übersetzung A.K.)
Wenn man also keine Kompensation eines Unrechts zulassen möchte, weil dies ein inakzeptabler Eingriff in das Marktgeschehen sei, müsse man dieses Unrecht leugnen und dies geht nur durch eine Naturalisierung der Unterschiede. Der Proprietarismus braucht also die Rassen- (und Klassen)biologie zu seiner eigenen Rechtfertigung.
Das Southern Poverty Law Center bemerkt kritisch zu Levin:
»Er schreibt sowohl in akademischen Zeitschriften als auch in politischen Newslettern und lehnt die Idee der Gleichberechtigung ab, indem er behauptet, dass schwarze, weibliche, homosexuelle oder behinderte Menschen bestenfalls minderwertig und schlimmstenfalls Parasiten von heterosexuellen, weißen, gesunden Männern sind. Levins Ansichten sind so extrem, dass die CUNY [City University of New York] im Jahr 1991 den ungewöhnlichen Schritt unternahm, den Studierenden alternative Abschnitte seiner Kurse anzubieten. Levin reagierte sogar noch ungewöhnlicher, indem er seine Universität verklagte, um weitere Untersuchungen oder Disziplinarmaßnahmen als Reaktion auf seine rassistischen Schriften zu verhindern. […]
In den 1970er Jahren bestand sein einziges Ziel darin, die Vorstellung zu bekämpfen, dass heterosexuelle weiße Männer jemals ungerechte Vorteile genossen hätten. Levin lehnte die Vorstellung ab, dass die Ungleichheiten zwischen den Gruppen etwas mit einer langen Geschichte ungleicher und ungerechter Politik zu tun hätten, und erklärte, dass soziale Ungleichheit das natürliche Produkt biologischer Unterschiede im Rahmen der Funktionsweise des freien Marktes sei.« (Southern Poverty Law Center o.J.; Übersetzung A.K.)
Levin arbeitet nicht nur mit rassenbiologischen Zuschreibungen, sondern empfiehlt auch die Abschaffung sozialer Standards wie öffentliche Schulen und Mindestlöhne. Leon J. Kamin weist in seiner kritischen Buchbesprechung auf zwei diesbezügliche Äußerungen Levins hin:
»Vielleicht sind bestimmte Einrichtungen, wie z. B. öffentliche Schulen, in einer weißen Bevölkerung lebensfähig, nicht aber in einer schwarzen oder gemischten Bevölkerung. […] Ich plädiere für die Abschaffung des Mindestlohns. Ein Schwarzer, der mit seinen Fähigkeiten keine 5 Euro pro Stunde verdienen kann, kann immer noch jemanden finden, der bereit ist, ihm 1 Euro pro Stunde zu zahlen.« (Kamin 1998: 126; Übersetzung A.K.)
Diese aus seinen rassen- und klassenbiologischen Annahmen resultierenden Forderungen wie Abschaffung der öffentlichen Schulen und des Mindestlohns sind proprietaristisch. In Deutschland sind wir es gewohnt, die Rassenbiologie ausschließlich einem faschistischen Milieu zuzuschreiben. Tatsächlich ist die Rassenbiologie aber auch mit dem Proprietarismus verbunden – und zwar nicht nur auf der Theorie-Ebene, sondern ebenfalls in der Vernetzungsarbeit.
Zu nennen wäre hier die → Property and Freedom Society (PFS) von Hans-Hermann Hoppe mit Sitz in der Türkei. Hoppe, hat die PFS bewusst als Alternative zur → Mont Pelerin Society gegründet, die ihm die Mitgliedschaft verweigert hatte. Er schrieb 2010 in einem Rückblick:
»Auf libertärer Seite war die Zusammenarbeit mit den Konservativen durch die Einsicht motiviert, dass der Libertarismus zwar logisch mit vielen Kulturen vereinbar sein mag, aber soziologisch eine konservative, bürgerliche Kernkultur voraussetzt. Die Entscheidung, ein intellektuelles Bündnis mit den Konservativen einzugehen, bedeutete für die Libertären also einen doppelten Bruch mit dem ›Establishment Libertarianism‹, wie er beispielsweise vom Washington DC ›free market‹ Cato-Institute vertreten wird. Dieser ›Establishment Libertarianism‹ war nicht nur theoretisch im Irrtum, mit seinem Engagement für das unmögliche Ziel einer begrenzten Regierung (und noch dazu einer zentralisierten Regierung): er war auch soziologisch fehlerhaft, mit seiner antibürgerlichen - ja, pubertären - so genannten ›kosmopolitischen‹ kulturellen Botschaft: von Multikulturalismus und Egalitarismus, von ›Respekt vor keiner Autorität‹, von ›leben und leben lassen‹, von Hedonismus und Libertinismus. […] Für die Paläo-Konservativen war die Abspaltung von einem Zentralstaat kein Tabu, und für die Austro-Libertären hatte die Abspaltung den Status eines natürlichen Menschenrechts (während sie von den etablierten Libertären typischerweise als Tabuthema behandelt wird); daher war eine Zusammenarbeit möglich. Darüber hinaus sollte die Zusammenarbeit mit den Austro-Libertären den Konservativen die Möglichkeit bieten, eine solide (österreichische) Wirtschaftswissenschaft zu erlernen, die eine anerkannte Lücke und Schwäche in ihrem intellektuellen Rüstzeug darstellte, insbesondere gegenüber ihren neokonservativen Gegnern.« (Hoppe 2010)
Zu den Teilnehmer*innen der seit 2006 stattfindenden Konferenzen in Bodrum gehören u.a. »rechtsextreme Denker« (Hermansson 2019) wie Peter Brimelowof, John Derbyshire, Tomislav Sunic, Jared Taylor, Richard Spencer und Paul Gottfried. Und auch Titus Gebel hat übrigens dort im September 2017 einen seiner ersten Vorträge zu seiner Privatstadt-Idee gehalten. Janusz Korwin-Mikke, der im Europa-Parlament die Einkommensdifferenz von Männern und Frauen (Gender-Gap) damit rechtfertigte, dass Männer Frauen körperlich und geistig überlegen seien und 2015 aufgrund eines Nazi-Grußes des EU-Parlamentes verwiesen wurde, war 2017 ebenfalls Vortragender bei der PFS.(Hermansson 2019)
Innerhalb des ideologischen Spektrums der Österreichischen Schule gab es deutliche Kritik an der proprietaristischen Ideologie Hoppes. Einige Kritiker*innen schlossen sich informell zu den BleedingHeart Libertarians zusammen. Ein Vertreter dieser Richtung, der im Juni 2021 verstorbene Steve Horwitz, kritisierte die »paläo-libertäre Saat« und deren Ernte mit folgenden Worten: