Proleten, Pöbel, Parasiten - Christian Baron - E-Book

Proleten, Pöbel, Parasiten E-Book

Christian Baron

5,0

Beschreibung

Die Unterschicht ist ungebildet, faul und schuld an ihrer prekären ökonomischen Situation – so lautet ein verbreitetes Vorurteil. Christian Baron, selbst Arbeiterkind, erlebte, dass diese Meinung auch in der linken Bewegung existiert. Entlang seiner eigenen Biografie untersucht er die gesellschaftlichen Konsequenzen einer scheinbar fortschrittlichen Politik, die sich von ihrer ursprünglichen Klientel – der Arbeiterschaft – weit entfernt hat. Warum gibt es in linken Gruppen so wenig Mitglieder ohne akademischen Hintergrund? Wieso gewinnt ausgerechnet die AfD die Stimmen der Arbeiter? Und wieso glauben Menschen, die Welt mittels veganer Ernährung verbessern zu können? Das Buch ist keine Abrechnung mit den Linken, sondern plädiert für ein Überdenken politischer Zielsetzungen und fordert vor allem eins: die Interessen und Nöte der Arbeiterinnen und Arbeiter dringlicher in aktuelle Debatten und Kämpfe einzuschreiben.

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ISBN eBook 978-3-360-50137-0

ISBN Print 978-3-360-01311-8

© 2016 Verlag Das Neue Berlin, Berlin

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Die Bücher des Verlags Das Neue Berlin erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

www.eulenspiegel.com

Über das Buch

Die linke Bewegung in Deutschland hat ein Problem: die große Frage, wie die Welt zu einer besseren wird, soll vorrangig über individuelles Verhalten gelöst werden. Selbstoptimierung verdrängt den Klassenkampf. Christian Baron untersucht das Verhältnis der Deutschen zur sogenannten Unterschicht und analysiert dabei das breite Spektrum der linken Bewegungen hinsichtlich sozialdarwinistischer Einstellungen. Er warnt vor der Gefahr, dass die Arbeiter, die für linke Gruppen irrelevant geworden sind, sich noch zahlreicher rechten Parteien wie AfD und Co. anschließen könnten.

Über den Autor

Christian Baron, geboren 1985 in Kaiserslautern, studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Germanistik. 2012 erschien von ihm und Britta Steinwachs das Buch »Faul, frech, dreist: Die Diskriminierung von Erwerbslosigkeit durch Bild-Leser*innen«. Baron lebt in Berlin und ist Feuilleton-Redakteur für Theater und bildende Kunst bei der Tageszeitung »Neues Deutschland«.

Alle Menschen, die in diesem Buch auftauchen, gibt es wirklich. Wenn es sich nicht um Personen der Zeitgeschichte oder um Leute handelt, die bereits aus eigenem Antrieb in der Öffentlichkeit stehen, wurden die Namen geändert, um Privatsphäre und Persönlichkeitsrechte zu schützen. Wenn es zur Verfremdung notwendig erschien, wurden bei manchen auch weitere biografische oder geografische Daten verändert.

Inhaltsverzeichnis

Auftakt

Klassenhass ist überall

1. Einmal arm, immer arm

Der Hass auf die Unterschicht

»Warum hast du nicht nein gesagt?«

Abgehängte in einer abgehängten Stadt

Atemlos am Asternweg

»Leitkultur der Unterschicht«

Hymnen auf die edle Mitte

Leistung, Leistung über alles

Gibt es denn keine Armut mehr?

Stereotype, so weit das Auge blickt

Grauen ohne Ende

Eine Gesellschaft der Drohungen

2. Studierende bleiben lieber unter sich

Die Akademisierung des Protests

Bloß nicht auffallen!

Der tendenzielle Verfall des Lebensstandards

Zu hoch für dich

Die Jünger des Heiligen Marx

Geschichte ohne Parteibewusstsein

Schmerzhafter Klassenverrat

Redelisten, Redelisten!

Bildungspolitik nach Art der Mittelschicht

»Natüüürlich sprricht drr Länz zu miirr«

Junge Leute in Trainingsjacken

3. Update für den Sozialstaat

Wenn die gute Arbeit verloren geht

In den Mühlen des Systems

Ratten fangen oder Organe spenden?

Auf eine Zigarette mit Inge Hannemann

Bei ’s Herrn Paffe

Der elitäre Blick auf soziale Probleme

Wichtig ist, was hinten herauskommt

Der Arbeiter als linke Projektion

Wir schuften uns zu Tode

Ich möchte lieber nicht

Für ein Leben ohne Angst

4. Hau den Nazi-Proll

Über die Furcht vor dem Fremden

Nicht labern, sondern anpacken!

Der Nazi-Ork von Hellersdorf

Argumentieren statt dämonisieren

Reaktiver Nationalismus und Flüchtlingsaktivismus

Kokos-Tofu-Suppe im Schnellrestaurant

Ist Multikulti gescheitert?

Keine Religionskritik, nirgends

Von der Freiheit des Kindes

Der Ball ist rund, nicht böse

Der aufhaltsame Aufstieg der AfD

5. Mit der Kreditkarte die Welt retten

Das gute Leben der Bessermenschen

Der gute und der böse Kapitalismus

Das richtige Leben im Falschen

An der Spitze der Bedürfnispyramide

Politisch korrekter Konsum

Zu Gast im autoritären Bio-Haus

Neukölln hat Schaum vorm Mund

Eure Armut kotzt uns an

Neoliberalismus jenseits des Wachstums

Ethnographie der Rucksackreisenden

Ab in die Gesundheitsdiktatur!

6. Alle wollen Opfer sein

Am Abgrund der postmodernen Subkultur

Normale Privilegien reflektieren

Genderqueerpostcolonial

Keine Macht der Zärtlichkeit

Weiße mit Dreadlocks sind Nazis

In der Kaste der Eingeweihten

Süßes von der Kerwe

»Verzicht ist Genuss«

Pflege des guten Gewissens statt der guten Sache

Das Elend der Moral

Ohne Heu kann auch das beste Pferd nicht furzen

7. Schantall, heul’ leiser!

Wie die Medien nach unten treten

Was Unternehmer unter Satire verstehen

Antreten zum Anpassen

Feuer frei für die Kalauerkanone!

Für die da unten ist hier oben kein Platz

Wer Journalist sein will, muss Geld mitbringen

Schmoren im Saft der Selbstvergewisserung

Die Angst des Bürgers vor den Armen

Im Sog des Lügenpresse-Chors

Dialog am digitalen Stammtisch

»Deutschlands frechster Arbeitsloser«

8. Kein Herz für Arbeiter

Im Dünkel der Hochkultur

Sport ist das »Crack des Volkes«

Arbeiter vergraulen und Adorno rezitieren

Das Besäufnis und die Ästhetik des Widerstands

Von der Proleten-Plörre zum linken Lifestyle

Studentische Geschmacksstudien

Befriedung durch Beteiligung

Schweiger, Schweighöfer, Stromberg

Alles so schön kompliziert hier

Zum ersten Mal im Theater

Unterwerfung als Rettung

9. Schlusspunkt

Für einen linken Populismus

Dank

Auftakt

Klassenhass ist überall

Schwungvoll kracht mein kleiner Kinderkörper gegen die Wohnzimmerwand. Auf allen vieren krieche ich zum Stahlofen in der hinteren Ecke des Raums. Ich spüre Tränen auf meiner Wange und wische sie weg. Während ich aufstehe, sehe ich den Behälter mit dem zum Verfeuern zurechtgeschnittenen Holz. Blitzartig reift ein Entschluss in mir. Ich packe mir eines der Stücke. Noch immer der Wand zugeneigt, stemme ich es mit beiden Händen weit über meinen Kopf. Langsam drehe ich mich um. Auf der Couch sitzt der Mann, der mich gerade gegen den Gips geklatscht hat, weil ich einem seiner Befehle nicht folgen wollte. Mit aufgedunsenem Gesicht sieht er mich teilnahmslos an. Ich gehe einen Schritt auf ihn zu. Ich bleibe stehen. Ich gehe noch einen Schritt auf ihn zu. Als ich direkt vor ihm stehe, ziehen sich seine Augenbrauen zusammen. Er duckt sich, löst aber nicht die Umklammerung seiner Bierflasche. Er hat wirklich Angst vor mir. Angst. Vor mir. Der Möbelpacker mit den mächtigen Muskeln fürchtet sich vor seinem achtjährigen, asthmakranken Sohn. Mein Blick muss schrecklich anmuten: entstellt, irre und hässlich. Jetzt entscheiden Bruchteile von Sekunden über Selbstbeherrschung oder Irrenanstalt.

17 Jahre später, im März 2010, sitze ich in einem großen Büro zwei Männern gegenüber, einer mit und einer ohne Bart. Gemeinsam stellen sie mir unablässig Fragen. Mit manchen meiner Antworten scheinen sie zufrieden. Ich bin aufgeregt wie am ersten Schultag und denke an den Schweiß auf meiner Stirn. Ich hoffe, die Herren Professoren sehen ihn nicht, und weiß, wie vergeblich diese Hoffnung ist. Ich sehe die strengen Blicke der Männer und wünschte, ich wäre irgendwo ganz weit weg. Als die beiden endlich genug haben, werde ich nach draußen geschickt. Dort sitzen mir zwei Frauen in meinem Alter gegenüber. Sie starren an mir vorbei. Sie wirken verkrampft und versuchen, das Zittern ihrer Hände zu verbergen. Minutenlang lausche ich der Stille. Dann werde ich wieder hereingerufen. Wie ich es denn gefunden hätte, das Gespräch, fragt der Mann mit Bart. Hätte besser laufen können, sage ich, aber sicher auch schlechter. Typische Fußballerantwort, bellt der Mann ohne Bart und verzieht dabei keine Miene. War ein guter Auftritt, säuselt der Mann mit Bart, und der ohne Bart fängt plötzlich an zu grinsen. Es dauert einige Sekunden, bis bei mir der Groschen fällt: Ich habe es tatsächlich geschafft. Von diesem Tag an bin ich Akademiker. Ich. Akademiker. Mein sozialwissenschaftliches Studium ist abgeschlossen. Endlich. Und: Erfolgreich.

Meinem Vater habe ich damals nicht das Holzscheit über den Schädel gezogen. Manchmal denke ich darüber nach, was heute anders wäre, wenn ich es doch getan hätte. Wahrscheinlich wäre ich nicht an der Universität, sondern dauerhaft in der Psychiatrie gelandet. Dafür würde meine Mutter vielleicht noch leben. Als der Krebs begann, sie zu zerfressen, hatte die Aggressivität meines Vaters ihren Höhepunkt erreicht. Er trägt einen immensen Anteil daran, dass sie kaum Kraft in ihre Genesung investieren konnte. Das wenige Geld, das er verdiente, ging zuverlässig für Alkohol und Zockerei drauf. Wenn er denn mal zu Hause war, setzte es häufig Schläge. Meine Mutter hatte frühzeitig die Schule geschmissen und keinen Beruf erlernt. Jetzt saß sie mit Anfang 30 schwer depressiv und todkrank in einer verwahrlosten Wohnung mit ihren vier Kindern und einem unberechenbaren Typen, von dem sie abhängig war und glaubte, sich nicht lösen zu können. Als ich neun Jahre alt war, erfuhr sie, dass es bald mit ihr zu Ende gehen würde. Viel zu spät warf sie ihn schließlich doch noch raus.

Natürlich gab er keine Ruhe. Eines Nachts trat er unsere Tür ein, randalierte, legte sich auf die Couch und schlief seinen Rausch aus, bis die Polizei ihn mitnahm. Es war tiefster Winter, aber für eine Reparatur der Haustür fehlten uns die Mittel. Den meisten unserer Nachbarn, die selbst nicht eben wohlhabend waren, galten wir nur als »die Asozialen«. Ein halbes Jahr lang kämpfte meine Mutter noch gegen ihr ärztlich angekündigtes Ableben an. Sie reichte die Scheidung ein, musste die Pflege ihres langsam sterbenden Körpers und die Erziehung der schnell reifenden Kinder ihrer jüngeren Schwester überlassen.

Ich ahne, welche Gedanken einem beim Lesen dieser Geschichte in den Sinn kommen können. Warum hat meine Mutter diesen Kerl nicht viel früher verlassen? Weshalb hat sie keine Berufsausbildung abgeschlossen? Wir leben doch in einer liberalen Demokratie! Wer es wirklich will, kann sich nach oben kämpfen! Bin nicht ich mit meinem Uni-Abschluss das beste Beispiel dafür? Auch wenn auf den ersten Blick alles dafür spricht: Das bin ich nicht. Im deutschen Bildungssystem gibt es soziale Klassenschranken. Nur denjenigen, deren Eltern studiert haben oder zumindest eine solide bürgerliche Existenz führen, öffnet diese Gesellschaft den Schlagbaum. Wenn zu Hause nicht nur das Geld für Nachhilfestunden fehlt, sondern auch die Erziehungsberechtigten schon ab der achten Klasse außerstande sind, bei Hausaufgaben zu helfen, dann schmeißt man schnell demotiviert die Flinte ins Korn, sobald es in der Schule mal nicht mehr so gut läuft. Es entwickelt sich ein Teufelskreis, aus dem es aus eigener Kraft kein Entrinnen gibt.

Wer in die Mittelschicht hineingeboren wurde, mag sich die Dimension einer Herkunft von ganz unten schwer vorstellen können. Genau daran will dieses Buch etwas ändern. Es geht nicht darum, Mitleid mit mir, meiner Familie oder dem Rest der drolligen Unterschichtenbande einzuheimsen. Denn, das dürfte jedem einleuchten, die Armen wünschen sich vieles in ihrem Leben, aber ganz sicher nicht Mitleid durch die, denen es besser geht. Weil die Mittel- und die Unterschicht, diese beiden objektiven Teile der Arbeiterklasse, sich in den vergangenen Jahrzehnten so weit voneinander entfernt haben, braucht es Vermittler, die den »einfachen Leuten« zeigen, dass sie gar nicht so schlimm sind, diese Akademiker; und die vor allem den Studierten klar machen, wie viel ihnen mehr Verständnis für »die da unten« einbringen kann.

Durch ein Buch allein, da mache ich mir gar nichts vor, kann idealerweise nur der zweite Weg gelingen. Und das funktioniert am besten, indem ein Eindringling in die Welt der Bücher auch von seiner eigenen Lebensgeschichte erzählt. Das »Ich« dient dabei als plastisches Beispiel, über das die ausgeschlossenen Armen, die perspektivlos Zurückgelassenen, eben »meine Leute«, endlich Gehör finden können bei denen, die eigentlich wissen müssten, welch ein Skandal die zunehmende soziale Ungleichheit ist; die sich aber bislang selbst nicht als Teil des Problems verstanden haben.

Wie und warum Linke dazu beitragen, dass der gesellschaftliche Klassenhass gegen materielle Arme und von bürgerlicher Bildung fern Gehaltene sich reproduziert, das will ich in diesem Buch zeigen. Natürlich kann ich hier nur über die linke Bewegung in Deutschland und speziell über Westdeutschland sprechen. Eine Analyse der Situation und geschichtlichen Entwicklung Ostdeutschlands bzw. der DDR wird dieses Buch nicht leisten können, weil das dem bewusst subjektiven Ansatz zuwiderlaufen würde. Dafür versuche ich aber, Eindrücke vieler Strömungen zu verarbeiten – vom anarchistischen Hausbesetzer bis zum staatstragenden Sozialdemokraten.

Warum sollte ich, so habe ich mich gefragt, weiterhin allein den Linken aus der Mittelschicht das Feld überlassen? Hauptberuflich arbeite ich seit einigen Jahren als Journalist. Kaum ein anderer Job ist in Deutschland für Leute mit einem Arbeiterhintergrund so schwer zugänglich. Ich möchte nicht mehr einfach hinnehmen, dass die saturierten Medienmacher zurückhaltende Menschen aus nicht-akademischem Umfeld mit ihrer Eloquenz und ihrer Überheblichkeit still halten.

Darum ist dieses Buch keine wissenschaftliche Abhandlung. Es formuliert keine »Wahrheiten« mit stilistisch angezogener Handbremse und penibler Begriffsstrenge, sondern will Gewissheiten hinterfragen, zur Diskussion anregen und Menschen zu Wort kommen lassen, die in der gesellschaftlichen Linken sonst stumm bleiben müssen – und zwar auf drei Ebenen: Mein eigenes (Er-)Leben setzt sich in Bezug zur gesellschaftlichen Produktion von sozialer Verachtung und fragt nach dem Anteil der Linken an der Stabilität dieses Klassenhasses. Deshalb kommen hier nicht nur sozial aufgestiegene Wirtschaftsbosse, Wissenschaftler oder hochrangige Politiker zu Wort, sondern überwiegend diejenigen, denen Spott und Hass von allen Seiten gilt.

Das Buch konfrontiert die Leserin und den Leser mit verzweifelten Menschen, die nicht wissen, wie sie mitten in diesem schwerreichen Land ihre Kinder sattkriegen sollen; deren letzter Stolz aber darauf gründet, dass sie sich dennoch selbst zur Mittelschicht zählen (Kapitel 1). Es vermittelt die Perspektive des Hilfsarbeiterkindes, das es an die Universität schafft und dort mit dem elitären Gehabe der Bürgerskinder fremdelt (Kapitel 2). Es wird um Leute gehen, die noch vor wenigen Jahren glaubten, bis zur Rente eine sichere Arbeitsstelle zu haben und nach einer Entlassung binnen kürzester Zeit von Wohnung, Auto und Familie bis hin zu Gesundheit und Selbstachtung alles verloren haben – und sich dafür von dieser Gesellschaft auch noch anhören müssen, selbst schuld zu sein an ihrer Lage (Kapitel 3). Das Buch handelt auch von Menschen, deren Ohnmacht in diffuser Fremdenfeindlichkeit mündet und deren real empfundene Ängste eine in Selbstgewissheit lebende Bildungselite einfach nicht zur Kenntnis nehmen will (Kapitel 4). Es ergründet, warum gerade linke Strömungen wie die Grün-Alternativen (Kapitel 5) und die postmodernen Moralisten (Kapitel 6) jegliche Solidarität mit den Deklassierten aufgegeben haben. Und das Buch zeigt, wie linksliberale Medienmacher (Kapitel 7) sowie Künstlerinnen und Kulturschaffende (Kapitel 8) ihr Scherflein zum florierenden Klassenhass beitragen.

Keine Frage: Mich hat es richtig gut getroffen. Als Erster und bislang Einziger in meiner Familie habe ich, dank der Unterstützung an vielen Weggabelungen meines jungen Lebens, mehr als den Hauptschulabschluss erreicht. Nach dem Tod meiner Mutter wandte sich mein Vater von uns ab. Er versank im Drogensumpf und starb kurz vor meinem Abitur. Wenige Tage vor seinem Tod im Jahr 2003 hatte ich erfahren, wie es um ihn stand. Im Gegensatz zu meinem Bruder besuchte ich ihn nicht am Sterbebett. Es wäre mir unaufrichtig vorgekommen. Außerdem erschien es mir nicht wichtig, denn sein Tod ließ mich seltsam kalt.

Weil er sich acht Jahre zuvor nicht für uns interessiert hatte, kamen meine drei Geschwister und ich bei unserer Lieblingstante Karin unter. Wir konnten aus der verschimmelten und viel zu kleinen Wohnung ausziehen und hatten mehr Platz. Zwar sind wir auch bei meiner Tante in bescheidenen und »bildungsfernen« Verhältnissen erwachsen geworden, aber immerhin ohne häusliche Gewalt und ohne Alkoholmissbrauch. Einer bestimmten Gefahr versuche ich angesichts dieser Biografie seit jeher zu widerstehen: Wer – wie ich – einen sozialen Aufstieg erleben darf, wird gern ideologisch vereinnahmt und muss als leuchtendes Beispiel dafür herhalten, dass in diesem Land jeder bei entsprechender Leistung absolut alles erreichen kann. Jedes Jahr erscheinen Studien, die das Gegenteil beweisen, und trotzdem hält sich dieses »Vom Tellerwäscher zum Millionär«-Bild bis heute.

In Wahrheit werden Arme immer ärmer und Reiche immer reicher. Wäre mir durch den frühen Tod meiner Mutter nicht eine besondere Aufmerksamkeit durch das Jugendamt und durch sehr gute Grundschullehrerinnen zuteil geworden, ich hätte es wahrscheinlich nur zum Hilfsarbeiter gebracht wie mein Vater. Denn selbst mit der staatlichen Unterstützung und in der Obhut meiner Tante ist mein Bildungsaufstieg weder allein auf Begabung noch nur auf Leistung zurückzuführen, sondern vor allem darauf, dass ich in manchen Situationen mehr Glück hatte als mein Bruder und meine beiden Schwestern. Eine Berufsausbildung kann niemand von ihnen vorweisen. Sie sind die meiste Zeit auf Hartz IV angewiesen und werden es schwer haben, da jemals herauszukommen.

Viele der Menschen, mit denen ich täglich zu tun habe, sehen in meiner wunderbaren Hartz-IV-Familie nur den strunzdummen Unterschichtspöbel. Dabei handelt es sich bei meinem Umfeld nicht etwa um Manager-, Rechtsanwalts- oder Gymnasiallehrertypen, die sich schon immer gerne über die ach so verkommenen Asozialen vom Bodensatz der Gesellschaft mokiert haben. Nein, ich bewege mich in einem linksliberalen und teilweise sogar linksradikalen Umfeld, in dem diese Verachtung für die Bildungsbürgerfernen mittlerweile stark ausgeprägt ist. Gerade diese reflektierten Personen müssten eigentlich wissen, dass das deutsche Bildungssystem viele Menschen in jungen Jahren eliminiert – und sie dann auch noch glauben lässt, sie wären allein verantwortlich für ihr schulisches Scheitern. Das Treten nach unten ist dennoch leider auch in linken Milieus auf dem Vormarsch. In Zeiten allseitiger Prekarität, in denen fast jeder binnen kurzer Zeit vom unbefristeten Job in die sichere Armut rutschen kann, richtet sich von allen Seiten ein massiver Klassenhass gegen jene, die noch schwächer sind als man selbst.

Heutzutage zählt sich kaum noch jemand zur Arbeiterklasse. Es ist üblich, außer den Superreichen und den Ärmsten alle Menschen in Deutschland zu einer ominösen Mittelschicht zusammenzufassen und diese Gruppe zwischen Ober- und Unterschicht einzuordnen. Weil sie in der gesellschaftlichen Debatte leider fest verankert sind, verwende ich für die eigentlich allesamt objektiv zur Arbeiterklasse zählenden Leute, von denen ich hier schreibe, die Begriffe »Mittelschicht« und »Unterschicht« – obwohl ich sie analytisch für falsch halte. Denn es sind Kategorien, die Sozialwissenschaftler nach dem Zweiten Weltkrieg erfanden, um in der großen Systemkonkurrenz mit der Sowjetunion fälschlich zu unterstellen, dass in der Bundesrepublik Deutschland jeder alles erreichen kann, was er oder sie will.

Deutschland lässt sich dennoch nur als Klassengesellschaft beschreiben. Auch wenn die Quote der Studienberechtigten eines Jahrgangs im Jahr 2012 bei sagenhaft sozialdemokratisch anmutenden 59,6 Prozent stand und die Zahl der Studierenden mit 2,8 Millionen absolut gesehen so hoch wie niemals zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland liegt, offenbart ein genauerer Blick eine sich vertiefende soziale Ungleichheit im Bildungssystem: Von 100 Kindern aus Nicht-Akademiker-Haushalten studieren 23, bei Kindern aus Akademiker-Haushalten sind es 77.

Noch niemals in der Geschichte befanden sich so viele Menschen in abhängiger Erwerbsarbeit wie heute. Nur weil in unseren Tagen frühmorgens in der Bahn immer weniger Blaumann tragende Fabrikarbeiter zu sehen sind, hat sich die Sozialstruktur der Gesellschaft nicht grundlegend verändert. Objektiv können die allermeisten Menschen auch nach dem Ende des Industriezeitalters noch immer nur dann überleben, wenn sie ihre Arbeitskraft an die Eigentümer von Produktionsmitteln – zu denkbar ungünstigen Bedingungen – verkaufen. Sie haben nichts zu bieten als jene Arbeitskraft, während die Kapitalisten die Bezahlung und die Bedingungen der Arbeit beinahe beliebig niedrig ansetzen können, weil da draußen eine Masse von Erwerbslosen wartet, die diesen angebotenen Job sehr gerne annehmen würde. Nicht nur der Kfz-Mechaniker oder die Friseurin sind lohnabhängig, sondern auch Grafikdesigner, Freelancer, ja, sogar fast alle Journalisten und Künstler sind es. Die Arbeiterklasse besteht aus allen, denen jahrzehntelang abtrainiert worden ist, sich als Teil der Arbeiterklasse zu verstehen.

Das darf aber nicht bedeuten, jene feinen Unterschiede zu ignorieren, die es innerhalb der Arbeiterklasse gibt, weil sie dieses komplexe System des Klassenhasses überhaupt erst ermöglichen. Natürlich ist ein Lehrer nicht in gleicher Weise ein Arbeiter, wie es eine Altenpflegehelferin ist. Beide mögen keine Kapitalisten sein, lebensweltlich aber trennt sie viel: Je weiter jemand im Ranking des sozialen und kulturellen Kapitals oben steht, umso mehr Wert wird er darauf legen, sich nach unten abzugrenzen. Das kann der Konsum von Bio-Produkten ebenso sein wie der regelmäßige Gang ins Theater oder die exklusive Rucksackreise nach Südamerika.

Das hat zu einer Entfremdung geführt, zu einem wachsenden Misstrauen, zu subjektiven Interessengegensätzen zwischen Menschen, die im Kern vor allem ein einziges objektives Interesse vereint: die Überwindung der Ungleichverteilung des Reichtums, um die Armut in diesem Land und jenseits seiner Grenzen zu beenden. Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) aus dem Jahr 2015 belegen, dass das reichste Prozent der deutschen Bevölkerung insgesamt 33 Prozent des gesamten Vermögens besitzt, während die ärmsten 50 Prozent sich 2,5 Prozent des Gesamtvermögens teilen müssen. Es liegt also auf der Hand: Anstatt sich gegenseitig für den eigenen Schlamassel verantwortlich zu machen, müsste besonders der lohnabhängige Großteil der Bevölkerung eisern zusammenhalten.

1. Einmal arm, immer arm Der Hass auf die Unterschicht

Schon wieder hat der 1. FC Kaiserslautern eine Spielzeit in der zweiten Fußball-Bundesliga in den Sand gesetzt. Jetzt gibt es hier nur noch eine Lösung: Bier. Wie so oft, denn das gepflegte Besäufnis ist am Asternweg in Kaiserslautern nicht etwa eine studentische Möchtegernmachomasche. In der Kneipe »Zum Ilona« treffen sich die, denen nichts anderes bleibt, als Tag für Tag in diesem sozialen Brennpunkt ihrem Elend trinkend zu entrinnen. Zum Beispiel Dibbes: Häufig sitzt der 55-Jährige allein in der hinteren Ecke gleich neben dem Billardtisch. Heute schnippt er den verbrannten Überschuss seiner Zigarette ständig neben den Aschenbecher. Seit einer halben Stunde murmelt er Unverständliches vor sich hin. Besonders laut wird er, wenn er eingängige pfälzische Kraftausdrücke mit »FCK« kombiniert. Er schreit dann förmlich. Dibbes ist stinksauer. Sein Verein hat an diesem Dienstagabend zu Hause 0:1 verloren. Gegen 1860 München und damit gegen einen direkten Konkurrenten im Kampf um den Ligaverbleib. »Ich war 1991 gegen Barcelona drobbe«, sagt Dibbes, nachdem ich mich ungefragt zu ihm gesetzt und mein Glas abgestellt habe.

»Warum hast du nicht nein gesagt?«

»Drobbe«, das steht in Kaiserslautern synonym für das Fritz-Walter-Stadion auf einem Hügel namens Betzenberg, den die Fans vor jedem Heimspiel erklimmen müssen. Und 1991 gegen Barcelona, da wurde der schwerreiche spanische Meister von dem mittellosen kleinen Pfälzer Verein mit 3:1 abgefertigt. Das Hinspiel im Pokal der Landesmeister (so hieß die Champions League damals) war auswärts noch 0:2 verloren gegangen. Bis kurz vor Schluss lagen die Helden vom »Betze« dann im Rückspiel 3:0 in Führung und waren drauf und dran, das von Johan Cruyff trainierte und mit Spielern wie Pep Guardiola, Hristo Stoitchkov und Michael Laudrup gespickte Starensemble aus dem Wettbewerb zu kegeln. Bis zum Gegentor in der letzten Minute.

Noch bevor wir uns mit Namen kennen, erzählt mir Dibbes von dieser magischen Nacht, so wie er zuvor sicher schon so vielen Bekannten und Unbekannten von ihr erzählt hat: »De Ball is in unserm Strafraum ewisch unnerwegs. Urplötzlisch steht do so e Schwarzkopp in de Luft.« Man sieht vor lauter Qualm die Hand vor Augen kaum, aber wie Dibbes mit beiden Armen wedelt, das ist nicht zu übersehen. »Bakero. Mit was für nem Schwung der de Balle über unsern Tormann Gerry Ehrmann ins Tor köppt, so was hab ich vorher noch nie gesieh.« Er fingert seine halb verdampfte Zigarette aus dem Aschenbecher. Der Brandrückstand fällt von ihr ab wie Schnee von einem unter der Last ächzenden Ast. Dibbes blickt mich immer noch nicht an. Dafür schüttelt er jetzt den Kopf. Nicht weil der FCK damals durch dieses Kopfballtor von Bakero aufgrund der Auswärtstorregel doch noch ausgeschieden war. Vielmehr weil sein Verein mittlerweile sogar aus der zweiten Liga abzusteigen droht.

Als der Niedergang dieses so stolzen Traditionsvereins FCK begann, da geriet auch Dibbes’ Leben aus dem Tritt. Nach dem zweiten Bier stellen wir einander endlich vor, nach dem vierten traue ich mich, ihn nach seiner Vergangenheit zu fragen. Früher hatte der stoppelbärtige Pfälzer bei der Nähmaschinenfirma Pfaff inmitten von Kaiserslautern ein geregeltes Erwerbsleben. Er fuhr sogar einen BMW, wie er mir mit kreisenden Handbewegungen erzählt, bei denen er plötzlich so enthusiastisch wirkt, als säße er gerade tatsächlich am Lenkrad seines Autos.

Ein Jobverlust zum falschen Zeitpunkt und ein Schuldenproblem ließen ihn in den Alkoholismus driften. Im Suff wurde er immer wieder handgreiflich gegen Frau und Kinder. »Die wolle nix mehr von mir wisse, un ich kanns auch verstehe«, murmelt Dibbes in seine mittlerweile nicht mehr in der Luft umherwirbelnde, sondern nur noch als Kinnstütze fungierende Hand, kaum hörbar inmitten der Schlagertechnoklänge von Roland Kaiser. Während der Schnulzenbarde aus den Lautsprechern sein »Warum hast du nicht nein gesagt?« knödelt, stellt sich Dibbes genau diese Frage auch. Warum widerstand er nicht dem Charme der Schnapsflasche? Weshalb gibt er sich keinen Ruck und macht einen Entzug? Und wann war der Zeitpunkt erreicht, da er kein Zurück ins alte Leben mehr zu erblicken glaubte, keinen Ausweg aus der Sauferei sah, keinen günstigen Zeitpunkt für ein »Sorry« gegenüber der Familie fand? Gerade setzt Dibbes zum nächsten Schluck aus der Pulle an, da zwickt mich Heinz in die Seite.

Abgehängte in einer abgehängten Stadt

»Wart mol ab, de Betze geht runner in die dritt Liga!«, brüllt er mich aus seinen großen, wachen Augen an. Mein müdes Lächeln übergeht er und setzt noch einmal neu an: »Mit dem Trainer konn des jo nur schiefgehe!« Ich lade ihn auf eine Fanta ein, und er kämpft sich freudig zum Stuhl neben mir durch. Bis vor ein paar Jahren hat Heinz als Möbelpacker gearbeitet – genau wie mein Vater. Sie waren lange Arbeitskollegen. Ich kenne ihn also schon ewig. Seit ihm eine Waschmaschine aus der Hand rutschte und er mit dem Ding die Treppe herunterfiel ist, ist Heinz frühverrentet und humpelt mehr schlecht denn recht durchs Leben. Immerhin, seine Alkoholsucht hat der 57-Jährige überwunden – dank zweier Leidenschaften: dem 1. FC Kaiserslautern und seiner Frau Emma, die gerade ihren Plausch mit der Wirtin beendet und vom Tresen zu uns herüberkommt. Mit 16 Jahren lernte die heute 52-Jährige ihren Heinz kennen; seitdem sind die beiden unzertrennlich.

Da sitzen wir also zu viert und schimpfen auf unseren FCK, schwärmen von früher und muntern uns gegenseitig mit Roland Kaiser auf, während die Kneipe sich zur Rushhour füllt. Es ist Anfang des Monats, das frische Hartz-IV-Geld ist da, und Ilona kommt kaum nach mit dem Bierzapfen. Man könnte meinen, in ihrer Kneipe träfen sich alle Stereotype der Unterschicht: Vom mit Tattoos übersäten Ex-Knacki über den notorischen Arbeitslosen mit den fettigen Haaren und die fünffache Mutter Anfang 30 bis hin zum jugendlichen Schulabbrecher sind hier am Asternweg allerlei Leute versammelt, die in den USA als »white trash« (weißer Abfall) gelten würden und in Deutschland wahlweise »Asoziale«, »Hartzer«, »Alkis« oder »Prolls« heißen. Was der gesellschaftliche Mainstream nicht wissen will: Hinter jedem da gerade zu »Sieben Fässer Wein« bierbetankt umhertanzenden Menschen steht ein kompliziertes Schicksal.

Sie alle sind Abgehängte in einer abgehängten Stadt. Kaiserslautern zählt knapp 100.000 Einwohner und ist beim Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft grandios gescheitert. Nach und nach haben die arbeitsplatzträchtigsten Unternehmen diesem Ort den Rücken gekehrt. Geblieben sind Menschen, die einen Job verloren haben, von dem sie zu hoffen wagten, er würde ihnen ein Leben lang erhalten bleiben. Die Arbeitslosigkeit liegt rund vier Prozent über dem Bundeswert und sogar fünf Prozent über dem Landeswert für Rheinland-Pfalz. Anstatt mit den Nachbarn Baden-Württemberg und Hessen auf Augenhöhe zu agieren, steht Kaiserslautern bei der Arbeitslosenquote auf einer Stufe mit Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern.

Die Kaufkraft ist im Vergleich zu benachbarten Großstädten wie Saarbrücken, Trier oder Mannheim dementsprechend gering, so dass man sich werktags in der Fußgängerzone eher in einer heruntergekommenen britischen Industriestadt wähnt als im ansonsten prosperierenden Südwestdeutschland. In meiner Familie hat sich der Begriff »Window Shopping« etabliert, was vor allem meinen Schwestern mangels finanzieller Mittel zum »richtigen« Shopping eine behagliche Freizeitbeschäftigung geworden ist – allerdings nur sonntags, um nicht mit ansehen zu müssen, wie andere sich Klamotten kaufen können. Nur die Technische Universität bietet einer die Armut ignorierenden Politik noch Gelegenheit, Kaiserslautern zum unverzichtbaren Wissenschaftsstandort zu überhöhen und davon abzulenken, dass diese Stadt fast nur noch den wenigen technisch und naturwissenschaftlich Hochqualifizierten etwas bieten kann. Wer in einer der vielen Eigenheimsiedlungen der ländlichen Vororte aufwächst, zieht nach dem Abitur weg und kommt später hin und wieder zu Besuch ins kuschelige Kinderzimmer. Alle anderen müssen und wollen für immer in der Westpfalz bleiben. Wen es am härtesten trifft, der landet hier im Asternweg.

Vor 15 Jahren zog Dibbes in den berüchtigten »Texasblock«, dem der Ruf vorauseilt, besonders brutale Zeitgenossen zu beherbergen. Bei alteingesessenen Kaiserslauterern firmiert die Gegend unter der alten Bezeichnung »Kalkofen«, den die Stadt vor gut zehn Jahren in Astern- und Geranienweg umbenannt hat. Umgeben vom dicht bewachsenen Pfälzer Wald, lässt sich das Gespenst des sozialen Brennpunkts von hier nicht einfach sprachlich vertreiben: Kalkofen ist stadtweit mehr als ein Name oder ein Ort, er ist vor allem Warnung und Vorurteil. Was auch mich traf, obwohl ich zwei Kilometer von dort entfernt aufgewachsen bin.

Wer einmal hier strandet, kommt nicht mehr weg. In den zehn baufälligen Wohnblöcken leben 350 Menschen in sogenannten Schlichtwohnungen unterhalb des Existenzminimums. Wenn das Wetter gut ist, spielt sich das soziale Leben überwiegend draußen in den mit stinkendem Schutt beladenen Höfen ab. Drinnen gibt es in den meisten Badezimmern weder Dusche noch Badewanne, auch sucht man in den gedrungenen Räumen vergeblich nach einem Warmwasseranschluss oder einer Heizung. Die Fenster sind nur einfach verglast und die Wände nicht wärmegedämmt. Häufig schließt sogar die Haustür nicht richtig. Um eine Reparatur kümmert sich niemand, weil in diesen Baracken der Besitzlosen das Stehlen ohnehin sinnlos wäre. 75 Euro zahlen die Bewohner monatlich an die Stadt als Nutzungsentgelt. Weil sie keinen Mietvertrag haben, sind ihre Anrechte auf eine menschenwürdige Wohnsituation stark eingeschränkt.

In Ilonas Kneipe finden viele von ihnen Zuflucht in der Gemeinschaft. Der Abend zeigt mir, dass es bei ihr trotz aller Not fröhlich zugeht, wenn auch selten politisch korrekt. Als eine Frau am Nachbartisch kurz vor Feierabend morgens um drei gebeten wird, ein weiteres Bier zu bringen und dabei die Ansprache »süße Thekenschlampe« hört, schiebt sie dem jungen und für März auffallend braun gebrannten Mann grinsend sein Glas hin und sagt: »Hier, aber spar dir noch ein paar Kröten für die Sonnenbank, du Elektroneger!« Da die Stadt in den leerstehenden Schlichtwohnungen neuerdings Flüchtlinge einquartiert, sind bei Ilona häufig auch sie zu Gast. Mit Vorbehalten vonseiten der Alteingesessenen, versichern mir mehrere Stammgäste, wurden sie hier bislang noch nicht konfrontiert. Aber hin und wieder fallen Ausdrücke wie »Kameltreiber« oder »Kümmeltürke«.

Vielen Menschen aus behüteten Verhältnissen ist das ein gern genutzter Vorwand, um sich nicht mit »denen da unten« auseinandersetzen zu müssen. Sie messen das Leben der Unterschicht an ihren eigenen Maßstäben und sehen deren miserable Lage als Resultat falscher Lebensentscheidungen und mangelnder Leistungsbereitschaft, sie betrachten die Armut der Leute also vor allem als freiwillige Bildungsverweigerung. In Wahrheit besteht der Unterschied darin, dass den Mittelschichtskindern ihre Jugendsünden und Fehlentscheidungen verziehen und sie durch Eltern oder andere Verwandte materiell und seelisch aufgefangen werden, während die Mittellosen einfach ins Bodenlose fallen und gar nicht erst die Chance erhalten, ein Sensorium für diskriminierungsfreie Sprache zu entwickeln.

Atemlos am Asternweg

Sind diese Leute abgerutscht, avancieren sie auch noch zur Zielscheibe grenzenloser Verachtung, die in den Medien spätestens seit der Einführung von Hartz IV in den Jahren 2003 bis 2005 dauerpräsent ist. Nicht nur Bild, Stern oder andere Boulevardblätter, auch selbsternannte Qualitätsmedien mischen dabei kräftig mit. Im Frühjahr 2005 erschien eine Ausgabe der Zeitschrift Geo Wissen mit dem Schwerpunktthema »Sünde und Moral«. Eingerahmt wird das mit christlicher Mystik aufgeladene Heft durch eine Illustration der »klassischen Tugenden« zu Beginn des Magazins und der »modernen Todsünden« an dessen Ende. Im hinteren Teil findet sich als doppelseitige Illustration der Todsünde Gleichgültigkeit das Foto eines älteren Mannes und einer beleibten Frau.

In offensichtlich ungewaschener Kleidung sitzen sie nebeneinander auf einem abgenutzten grauen Sofa und verfolgen teilnahmslos das Fernsehprogramm. Beide stochern auf ihren Tellern herum, in denen große Kartoffelstücke und eine nicht definierbare Masse in fetter Bratensoße schwimmen. Hinter dem Sofa zeichnet sich eine zwar bunte, aber erkennbar verblasste Tapete ab. Auf beiden Körpern prangen Tattoos, die das ungepflegte Äußere des Duos stimmig abzurunden scheinen. Unter dem Bild steht der Text: »Soziale Verwahrlosung – diese Trägheit des Herzens – gibt es in allen Gesellschaftsschichten. Auffällig wird sie aber nur dort, wo sich innere Lieblosigkeit und äußere Wurstigkeit vereinen. Im sogenannten white trash, der heruntergekommenen Lebensart eines Teils der Unterschicht, ergeben sie eine unansehnliche Melange: Menschen, die seelisch erkalten und unempfänglich werden für Signale jeglicher Art.«1

Damit hat die Redaktion einer sich populärwissenschaftlich gebärdenden Zeitschrift auf nur zwei Seiten alle Ebenen des Hasses auf die Unterschicht abgehandelt: Das Foto verhöhnt eine Bevölkerungsgruppe durch die Akzentuierung optischer Klischees; in Kombination mit dem herablassenden Text entsteht das Bild einer Unterschicht, die selbst schuld ist an ihrer Lage, weil sie »gleichgültig« erscheint – ihre Armut soll deswegen gerechtfertigt sein. Die Einschränkung, es handele sich nur um einen Teil der Unterschicht, dient als Absicherung gegen die Kritik an einer Pauschalisierung, die durch die Produktion der Doppelseite als Prototyp einer Todsünde natürlich trotzdem billigend in Kauf genommen wird, wenn sie nicht sogar beabsichtigt ist.

Auf den ersten Blick sieht tatsächlich alles nach Gleichgültigkeit aus, als ich wenige Stunden, nachdem Ilona ihren Laden dichtgemacht hat, zum Asternweg zurückkehre. Mit Heinz und Emma bin ich vor deren Häuserblock verabredet. Im Hof toben Kinder mit Hunden umher. Während aus einem offenen Fenster laut aufgedreht Helene Fischers »Atemlos durch die Nacht« dröhnt, denke ich, dass auch hier am Asternweg alle atemlos sind. Ruhe scheint an diesem Ort nie wirklich einzukehren: die Straße, die niemals schläft. Vor der Front des ockerfarbenen Hauses sitzt Dibbes auf einem sperrmüllreifen Holzstuhl vor einer versifften Bierbank; er klopft sich eine Zigarette aus der Schachtel und nimmt einen kräftigen Schluck aus seiner Parkbräu-Flasche.

Sein verschlissener FCK-Fanschal trägt den Aufdruck »Deutscher Meister 1991«, nicht jedoch den vom letzten Titelgewinn vor dem tragischen Absturz des Vereins. Das war 1998. Damals interessierte sich Dibbes nicht sonderlich für den FCK. Es war das Jahr seiner Entlassung bei dem Nähmaschinenhersteller Pfaff, der ihm 20 Jahre lang einen sicheren Arbeitsplatz geboten hatte. Seine Erkenntnis nach all den Jahren in der Perspektivlosigkeit bringt er bei unserem Smalltalk schnell auf den Punkt: »Ob mit Arbeit oder ohne: Verarscht wern wir doch eh alle.« Er ist stolz auf diesen Satz, denn mit dem Anschein eines Lächelns hebt er seine Bierflasche und prostet, ins Leere blickend, dem vor zersprungenen Fenstern wimmelnden Block gegenüber entgegen. Vom Himmel nieselt der Regen herab, es riecht nach Kellerkälte, Geröll und Brandrückständen.

»Schunn wieder am Saufe?«, schallt es von der anderen Seite zu uns herüber. Heinz sitzt lachend im Unterhemd am Fenster und sagt, er komme gleich zu uns. Ein paar Minuten später kämpft sich der nicht sonderlich hochgewachsene Mann mit schwankend-breitbeinigem Gang aus dem Hausflur und steuert, seine um einen Kopf größere Emma im Arm, direkt auf uns zu. Als er Dibbes’ Schal sieht, deutet Heinz auf das FCK-Wappen an seiner Jacke und lästert erst einmal minutenlang über die »Versager do drobbe«. Während er einen großen Schluck Wasser aus seiner Plastikflasche trinkt, nutze ich die Gelegenheit und lenke das Gespräch auf unser eigentliches Thema: Was denken sie, wenn sie den Begriff »Unterschicht« hören? Die Frage enthält ein Reizwort, und darum möchten die drei offenbar sehr gerne darüber sprechen. Mit »Unterschicht« verbindet Heinz nicht etwa sich selbst. Ihm fällt da jemand ganz anderes ein: »De Florida-Rolf!«

Welch gutes Gedächtnis! Denn die Geschichte um Florida-Rolf liegt einige Jahre zurück. Im Sommer 2003 und damit inmitten der Werbephase für das rot-grüne Sozialabbau-Programm Agenda 2010 berichtete die Bild-Zeitung über den damals 64-jährigen Frührentner Rolf J., der im US-amerikanischen Miami lebte und monatlich Sozialhilfe aus Deutschland erhielt, womit er seine Wohnung finanzierte. Das Springer-Blatt bezeichnete den Mann in einer wochenlangen Kampagne als »Florida-Rolf«.Es schlagzeilte zuerst mit dem Ausspruch »Er lacht uns alle aus« und danach mit einer auf das Grundsätzliche abzielenden rhetorischen Frage: »Leben wir eigentlich im Sozial-Schlaraffenland?« Die damalige Bundessozialministerin Ulla Schmidt (SPD) reagierte erstaunlich schnell und änderte das Gesetz, denn – so sagte sie – »Sozialhilfe unter Palmen« solle es ab sofort nicht mehr geben.

»Des war doch rischdisch so«, findet Emma. Sie hat nach ihrem Volksschulabschluss eine Lehre als Hauswirtschafterin gemacht. Als sie Mutter von Zwillingen wurde, hängte sie den Job an den Nagel und kümmerte sich um die Erziehung ihrer Kinder. Fortan war nur noch Heinz für den Lebensunterhalt der Familie zuständig. Er hatte immer gut zu tun, in Kaiserslautern leben viele betuchte US-amerikanische Soldaten, die ständig die eigenen vier Wände wechseln und sich teure Umzugsfirmen leisten können. Manchmal kloppte er wochenlang Zehn-Stunden-Schichten, sechs Tage die Woche. »Wie so’n Managertyp, nur wirklich anstrengend«, kichert Heinz. Weil er nach Stunden bezahlt wurde und seinen Lohn am Ende des Monats immer in bar ausgehändigt bekam, glaubt er, die Bedeutung von im Schweiße seines Angesichts selbst verdienten Geldes noch buchstäblich zu kennen. Typen wie dieser Florida-Rolf bringen Heinz und Emma auf die Palme, denn – so schrieb es die Bild-Zeitung und so sieht es auch das Pärchen vom Asternweg – es gebe in Deutschland viel zu viele Schmarotzer. Das sei nicht gerecht. Seinesgleichen müsse »nach harten Jahrzehnten mit ner Mini-Rente klar kumme, un do liegt jemand uf unsre Koste in de Sonne«.

»Leitkultur der Unterschicht«

Es ist genau die Reaktion der Stammleserschaft, auf die emotionalisierende Boulevardblätter wie Bild mit ihrer durch den Springer-Konzern vorgegebenen politischen Mission hoffen. Unerwähnt geblieben sind in der breit rezipierten Diskussion damals die amtsärztlich diagnostizierten Krankheiten von Rolf J. ebenso wie die Tatsache, dass es sich bei dem Gesetz nicht um einen Ausdruck sozialstaatlicher Dekadenz, sondern um eine Ausnahmeregelung gehandelt hatte, die ursprünglich für im NS-Regime aus politischen Gründen ausgewanderte Deutsche eingeführt worden war, um ihnen die Rückkehr in das Land der Täter zu ersparen. Weniger als 1000 Menschen nahmen dieses Gesetz zwischen 1949 und der Abschaffung im Sommer 2003 in Anspruch. Was nichts daran zu ändern vermochte, dass die Medien kurz vor der Einführung der sogenannten Hartz-Gesetze eine Diskussion entfachten, die den bestehenden Sozialstaat als Hängematte denunzierte.

Dibbes pflichtet mir bei, als ich meine Haltung ausspreche, und variiert seinen vorhin so stolz ausgesprochenen Satz: »Egal, wer grad an de Macht is: Die verarschen uns doch eh alle. Do bringt’s nix, wenn wir gegeseitig ufeinander losgehn.« Natürlich gehöre er selbst zur Unterschicht, sagt er mit fester Stimme und sieht dabei Emma und Heinz mit einem klaren Blick an, den ich bis dahin weder tags zuvor noch an diesem Nachmittag bei ihm wahrgenommen hatte: »Un ihr beide gehört auch dazu. Macht euch doch nix vor, wir Kalköfler wern behandelt wie de letzte Dreck.« Wie recht er doch hat: Dass Menschen im reichen Deutschland allen Ernstes heute noch in solchen Verhältnissen leben müssen – ohne warmes Wasser, ohne Heizung, ohne Dusche –, das wollen viele aus der Mittelschicht nicht wahrhaben.

Selbst die Eigenheimbesitzer, die hier ganz in der Nähe leben und jeden Kontakt zu ihren Nachbarn meiden wie der Teufel das Weihwasser, denken nichts Gutes über diese Menschen. Sie sehen in ihnen kaum mehr als Kleinkriminelle, Brutalos und Asoziale, die aus reiner Bequemlichkeit dem Alkohol verfallen sind und nicht mehr in ein bürgerliches Leben zurück wollen. Hätte der Privatsender VOX nicht im April 2015 und ein Jahr später jeweils einen abendfüllenden Fernsehdokumentarfilm über den Asternweg gesendet, viele von ihnen wüssten noch immer nichts von den Zuständen in den Schlichtwohnungen.

Mittlerweile hat sich ein Verein namens »Asternweg – Eine Straße mit Ausweg« gegründet, der die Wohn- und Lebenssituation der Bewohner verbessern und ihnen zu einer neuen Chance verhelfen will. Das erste Projekt besteht darin, die Schlichtwohnungen mit dem Nötigsten zu versorgen: Duschen und Warmwasserleitungen. Die Politik hat dafür bislang nicht gesorgt, obwohl der Kalkofen einer der ältesten sozialen Brennpunkte Deutschlands ist, der direkt nach dem Ersten Weltkrieg entstanden ist. Alle paar Jahre gerät das Thema Kalkofen / Asternweg in den Fokus der Lokalpresse. Dann äußern sich politisch Verantwortliche aller Parteien betroffen, schieben sich gegenseitig den Schwarzen Peter zu und schauen nach dem Abebben der Debatte wieder genauso weg wie zuvor, denn Wahlen lassen sich mit diesem Sujet nicht gewinnen. Genau darum ist der Verein so wichtig für die Leute hier. Denn er möchte auch aufräumen mit Vorurteilen über die Unterschicht: Er arbeitet gegen das dominante Bild, das die Wohlstandsgesellschaft von den Leuten hier kultiviert, um jede Empathie auszuschalten. Und wenn – so will es die herrschende Erzählung – dann leben im Astern- und Geranienweg bestenfalls Ausnahmen, der Rest der Republik gilt als frei von materieller Armut.

Einer der Wortführer dieser Bewegung ist der Historiker Paul Nolte, der schon 2003 in der Wochenzeitung Die Zeit einen Gastbeitrag mit dem Titel »Das große Fressen«2 veröffentlicht hat, in dem er behauptet: »Nicht Armut ist das Hauptproblem der Unterschicht. Sondern der massenhafte Konsum von Fast Food und TV.« Ohne empirische Basis spricht er von den »kulturellen Wurzeln der Verwahrlosung«, die er in einer Abkehr vom Erwerbsarbeitsideal sieht. So kann man die Wahrheit natürlich verdrehen: Nicht die fehlende Bereitstellung überlebenssichernd bezahlter Arbeitsplätze und einer angemessenen Grundsicherung durch Wirtschaft und Politik sind demnach verantwortlich für die Entstehung der neuen Unterschicht, sondern das bewusste Fehlverhalten der Armen. Nirgends, so Nolte, sei hier mehr der rechtschaffen-sozialdemokratische Aufstiegswille sichtbar; Werte wie »Disziplin, Bildung und Benehmen, Höflichkeit und Toleranz« seien Relikte längst vergangener Tage, während sich diese Menschen lieber dem »klassenspezifischen Konsumdreieck aus Tabak, Alkohol und Lottospiel« hingäben.

Nolte macht eine aus seiner Sicht ablehnenswerte Diskrepanz aus, denn der »hohen materiellen Fürsorge der Unterschicht steht eine Vernachlässigung in sozialer und kultureller Hinsicht gegenüber«. Hohe materielle Fürsorge? Ein alleinstehender Hartz-IV-Empfänger hat (Stand: 2016) kaum mehr als 400 Euro zur Verfügung, um außer Miete und Heizung alle Fixkosten, den Strom und seinen Lebensunterhalt zu finanzieren. Das erscheint einem auf Lebenszeit verbeamteten Professor mit hohem vierstelligen Nettomonatsverdienst und privater Krankenversicherung also zu üppig? Als ich Noltes Hasstiraden gegen die schwächsten Glieder der Gesellschaft an der Bierbank am Asternweg Dibbes, Emma und Heinz vorlese, schnauben sie alle drei einträchtig: »Was weiß denn der schon von unserm Lebbe?« In diesem Moment, in dem Heinz seine Wasserflasche auf Ex kippt wie früher seine Bierpulle, da weiß ich, dass die drei gleich noch zorniger sein werden.

Denn ich lese weiter vor. Paul Nolte fordert in seinem später zum Buch ausgearteten Artikel eine »neue Politik der Unterschichten«3, die er so skizziert: »Wenn wir bestimmte Kulturformen auszeichnen und auch in Milieus jenseits der bürgerlichen Mittelschichten fördern wollen, kommen wir kaum an der Einsicht vorbei, dass es sich dabei um so etwas wie ›Leitkultur‹ handelt.« Leitkultur. Ein Begriff, den man in Süddeutschland gut kennt. In Baden-Württemberg und Bayern reden Politiker von CDU und CSU gerne von einer christlichen Leitkultur in Deutschland, wenn ihnen inhaltlich nichts mehr einfällt, um die nationalistischen Tendenzen mancher Wähler zu aktivieren. Lange nutzten sie die Wendung in ihren Bierzeltreden zur Abgrenzung gegenüber Migranten, auf die konservative Parteien ihre Klientel am liebsten hetzen. Auf das weiße Proletariat gemünzt, haben die Kalköfler in Kaiserslautern noch nie von Leitkultur gehört. Sich für etwas Besseres zu halten und in überteuerten Apartments teuren Wein schlürfen, das soll Leitkultur sein? »Warum«, echauffiert sich Dibbes, »denke die Studierte immer, dass wir nix geleistet han? Die würde doch zusammenbreche, wenn sie nur drei Tag die Arbeit mache müsste, die wir johrelong mache musste!«

Hymnen auf die edle Mitte

Wie die Tonangebenden den Leistungsbegriff definieren, das entscheiden sie immer so, wie es ihnen gerade in ihren ideologischen Kram passt. Den endgültigen Durchbruch schaffte die These von der Umdeutung der sozialen Ungleichheitsfrage in ein Mentalitätsproblem unkultivierter »Hartzer« im Jahr 2006, als die Studie »Gesellschaft im Reformprozess«der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung erschien. Großes Aufsehen erregte die Behauptung, ein zunehmender Bevölkerungsteil gehöre dem sogenannten »abgehängten Prekariat«an. Dieses akademische Wortungetüm haben Dibbes, Emma und Heinz noch nie gehört. Sie lachen aber laut auf, als ich ein Foto aus der Tasche ziehe, das einen Mann zeigt, der sich nachher immer wieder auf diese Studie bezogen hat. »Des is doch de Beck mit de Homschderbacke«, gackert Heinz. Genau, es ist Kurt Beck. 2006, als er noch SPD-Bundesvorsitzender und rheinland-pfälzischer Ministerpräsident war, äußerte sich der Politiker in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung besorgt ob der Existenz einer neuen Unterschicht, in der kaum noch Aufstiegsbestrebungen zu finden seien. Er definierte seine Diagnose als »Unterschichtenproblem«4.

Heinz drückt seine Flasche zusammen. Während er seine FCK-Jacke zurechtzieht, verengt sich seine Miene. »Also«, beginnt er mit zittriger Stimme, »ich find jo trotzdem, dass wir Mittelschicht sind. Des, was de Beck do gesagt hat, des trefft doch gar net uf uns zu.« Emma widerspricht ihm sofort: »Babbel doch net so dumm. Es geht net darum, wie wir uns sehn, sondern wie die Politiker uf uns scheiße. Also sind wir ebe doch Unterschicht!« An der abwinkenden Geste von Heinz lässt sich ablesen, welches Versprechen die alte Bundesrepublik aus den Trümmern der faschistischen Katastrophe auferstehen und so lange stabil hat durchhalten lassen: Wir alle sind Mitte, es gibt kein Oben und kein Unten, sondern nur eine Gesellschaft aus Menschen mit den gleichen Lebenschancen. In der Unterschichtendebatte setzen Politik, Wirtschaft und Medien auf die Reste dieses Versprechens im kollektiven Bewusstsein der Leute. Sie ließen die Mittelschicht hochleben und prangerten eine angeblich verkommene Moral bei Superreichen und kulturell Armen an.

Ab 2007 erschienen binnen weniger Jahre vier auflagenstarke Bücher, die den Gestus als Sprachrohr der angeblichen Leistungsträger aus der Mittelschicht einnehmen. Michael Sauga machte den Anfang mit seinem Buch »Wer arbeitet, ist der Dumme. Die Ausbeutung der Mittelschicht«5.Darin stellt der Spiegel-Redakteur eine Gerechtigkeitslücke fest: Die deutsche Mittelschicht sei »Abgaben-Weltmeister«, während sich die »wahre Unterschicht« im »Schattenreich des Arbeitsmarktes« mit Schwarzarbeit und Sozialleistungen ein angenehmes Leben mache. Marc Beise von der Süddeutschen Zeitung schlägt in seinem Buch »Die Ausplünderung der Mittelschicht«6 von 2009 in die gleiche Kerbe: »In dieser Gesellschaft wird Politik an die Ränder gedacht: Gebt den Armen, nehmt den Reichen! In Wirklichkeit geht es gegen uns, gegen die in der Mitte. Lange schon leiden wir unter einer Politik der Ausplünderung.« Die Mittelschicht sei die »Melkkuh der Nation«, stattdessen müssten soziale Unterschiede »als Chance und Leistungsanreiz« verstanden werden. Auch das im gleichen Jahr durch den Ökonomen Clemens Wemhoff publizierte Werk »Melkvieh Mittelschicht. Wie die Politik die Bürger plündert«7 geht inhaltlich in diese Richtung und wendet sich gegen einen »immer gieriger werdenden Griff des Staates nach den Arbeitseinkommen der abhängig Beschäftigten«. Die Mittelschicht erscheint auch hier als »beliebig belastbarer Geldautomat der Republik« und »die Entlastung der Mittelschicht« als unumgänglich, um »eine enorme Dynamik in der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung« auszulösen. Im September 2012 wiederum erschien ein Buch des Stern-Journalisten Walter Wüllenweber mit dem Titel »Die Asozialen. Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren – und wer davon profitiert«8, das den bisherigen Höhepunkt im journalistischen Hass auf die Unterschicht bildet.

Leistung, Leistung über alles

Für das, was ich jetzt zusammenfassen werde, zeichneten die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege Walter Wüllenweber mit dem Deutschen Sozialpreis aus. Ein Grund dafür dürften die ersten 60 Seiten seines Buches sein. Darin stellt der Mittfünfziger seinen Tiraden gegen die Marginalisierten ein Kapitel voran, in dem er »die Flucht in die Parallelgesellschaft« durch die »kleine, reiche Minderheit« anprangert, deren Anteil er auf etwa ein Prozent der Gesamtgesellschaft beziffert.

Hierzu zählt für ihn nur, wer über ein großes Vermögen verfügt. Exorbitant hohe Einkommen wie Boni und Vorstandsbezüge gehören explizit nicht dazu, und zwar aus einem einfachen Grund: »Für das Einkommen muss man zuerst etwas leisten, bevor man es bekommt.« Ihm scheint nicht nur völlig egal zu sein, dass sich Einkommen aus Erwerbsarbeit in Deutschland noch nie nach einem objektiven gerechten Kriterium bemessen haben; es ist ihm sogar bewusst, denn – so seine Auffassung – »Einkommensungleichheit ist für das Funktionieren der Leistungsgesellschaft unverzichtbar und Treibstoff der Marktwirtschaft.«

Spätestens hier wird klar, woher der Wüllenweber-Wind weht: Er ist ein Nostalgiker, der sich in bester ordoliberaler Tradition nach echtem marktwirtschaftlichen Wettbewerb, nach einer sozialdarwinistischen Leistungsgerechtigkeit sehnt, und er verkündet dies im jammernden Ton eines Kleinkindes, dessen Lolli am harten Steinboden zerborsten ist. Dass dieser Lolli namens Leistungsgerechtigkeit aber auf Nimmerwiedersehen entschwunden ist, weil sein süßes Versprechen einer Konfrontation mit der kapitalistischen Realität mit ihrer Monopoltendenz nicht standhalten kann, kommt ihm nicht in seinen den marktwirtschaftlichen Wettbewerb zum Naturgesetz erhebenden Sinn. Wüllenweber will eine Rückkehr in die Zeit, »als die Banken noch Diener waren und keine Herren«. Der Traum immerwährender Prosperität war kurz, aber offenbar so berauschend, dass der Publizist noch immer ernsthaft an den guten Kapitalismus glaubt: »Leistung garantiert Wohlstand und damit die Existenz des Sozialstaates. Doch sie ist noch mehr: einer der Stützpfeiler im Wertegebäude der Deutschen.«

Und von diesem haben sich für Wüllenweber vor allem »Unterschichtsfamilien« verabschiedet. Ihnen kreidet er ihre vermeintliche »Unterschichtskultur« an, die der Autor anhand weniger Extremfälle beschreibt, welche er in seiner Reportertätigkeit kennengelernt hat oder die ihm in den gescripteten Trash-Formaten der privaten Fernsehsender präsentiert worden sind. So besitzen »Lebensformen, die sich in der Unterschicht entwickelt haben«, angeblich allesamt skandalöserweise »Mikrowellenherde, Spielkonsolen, Smartphones, Computer und natürlich Flachbildfernseher«. Seine durch und durch diskriminierende Darstellung gipfelt in einem umfassenden Rassenprofil der deutschen Unterschicht. In Schlagworten charakterisiert er seinen typischen Sozialschmarotzer.

Das erste lautet: »Du bist, was du arbeitest«. So »entstand eine ganze Lebensform, der das Geld so selbstverständlich vom Amt kommt wie der Strom aus der Steckdose. In der trickreiches Taktieren in den Versorgungsämtern weitaus lohnender ist als ein Job.« Verdrängt hat er, dass im Kapitalismus systematisch wirtschaftliche Verlierer produziert werden, wie sie auch am Kalkofen leben. Das wirkt sich konkret etwa in zahllosen Sanktionen gegen Leistungsberechtigte aus, welche Sozialgerichte für rechtswidrig erklärt haben, in den täglichen skandalösen Stromabschaltungen in verschuldeten Haushalten, weil für Elektrizität kein Posten im ALG-II-Regelsatz enthalten ist, oder auch in den vielen menschenunwürdigen Niedriglohnjobs, zu denen psychisch angeschlagene Menschen gezwungen werden.

Gibt es denn keine Armut mehr?

Mit den Überzeichnungen geht es bei Wüllenweber munter weiter. In »Du bist, was du isst« stellt er ökonomisch Benachteiligte als träge Fresssäcke dar, deren sündiges Verhalten sich in »Rauchen, übermäßigem Alkoholkonsum, ungesundem Essen, Bewegungsmangel« äußere. An dieser Stelle verschweigt er, dass viele in Burnout-Kliniken versackende Leistungsgesellschaftsfanatiker aus den von Wüllenweber als »Elite Deutschlands« gefeierten Managementetagen meist noch ungesünderen Fraß in sich hineinstopfen und dass sie in ihrem von Achtzig-Stunden-Wochen überfrachteten Alltag oftmals reichlich rauchen, saufen und koksen. Die weiteren Teile sind schnell abgehandelt: Unter dem Stichwort »Du bist, was du übst« moniert Wüllenweber, der Unterschicht fehle »Disziplin, Zuverlässigkeit, Leistungsbereitschaft, Pflichtbewusstsein« und »Anstand«.