Prüfungsangst - Lydia Fehm - E-Book

Prüfungsangst E-Book

Lydia Fehm

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Beschreibung

Prüfungsängste sind weit verbreitet und ziehen in der Mehrzahl der Fälle keine weitreichenden Beeinträchtigungen oder Belastungen nach sich. Manchmal sind Prüfungsängste jedoch so stark ausgeprägt und anhaltend vorhanden, dass sie im Rahmen einer psychotherapeutischen Behandlung thematisiert werden müssen – sei es als primäres Anliegen oder als zusätzliches Problem bei einem anderen Behandlungsanliegen. Die Neubearbeitung des Bandes stellt Informationen zur Symptomatik und Häufigkeit von Prüfungsangst bereit und berichtet den aktuellen Stand der Forschung zu Entstehungsbedingungen und Erklärungsmodellen. Weiterhin finden sich ausführliche Hinweise zur Diagnostik sowie vielfältige Anregungen zur praktischen Arbeit mit betroffenen Personen. Das therapeutische Vorgehen orientiert sich an verschiedenen möglichen Aspekten der Symptomatik und kann durch das modularisierte Vorgehen an die heterogenen Problembilder der betroffenen Personen angepasst werden. Alle Module sind der kognitiven Verhaltenstherapie zuzuordnen. Entsprechend finden sich neben verschiedenen Strategien zum Lernen, zum Zeitmanagement und zur Vorbereitung einer Prüfung auch kognitive Techniken zum Umgang mit hinderlichen Gedanken, Entspannungstechniken sowie das Verfahren der systematischen Desensibilisierung. Die Neuauflage des Bandes informiert über aktuelle Entwicklungen bei der Behandlung von Prüfungsängsten und geht hierbei auch auf neuere therapeutische Ansätze, z.B. imaginative und achtsamkeitsbasierte Interventionen, ein.

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Lydia Fehm

Thomas Fydrich

Klara Sommer

Prüfungsangst

2., überarbeitete Auflage

Fortschritte der Psychotherapie

Band 44

Prüfungsangst

Prof. Dr. Lydia Fehm, Prof. Dr. em. Thomas Fydrich, M.Sc. Klara Sommer

Die Reihe wird herausgegeben von:

Prof. Dr. Martin Hautzinger, Prof. Dr. Tania Lincoln, Prof. Dr. Jürgen Margraf, Prof. Dr. Winfried Rief, Prof. Dr. Brunna Tuschen-Caffier

Die Reihe wurde begründet von:

Dietmar Schulte, Klaus Grawe, Kurt Hahlweg, Dieter Vaitl

Prof. Dr. Lydia Fehm, geb. 1966. Seit 2008 Ambulanzleitung am Zentrum für Psychotherapie der Humboldt-Universität (ZPHU) zu Berlin. 2016 Ernennung zur außerplanmäßigen Professorin an der Humboldt-Universität.

Prof. Dr. Thomas Fydrich, geb. 1953. 2004–2018 Professor für Psychotherapie und Somatopsychologie am Institut für Psychologie der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2006 Leitung des Zentrums für Psychotherapie der Humboldt-Universität (ZPHU) zu Berlin.

M. Sc. Klara Sommer, geb. 1991. Seit 2020 Promotionsstudium an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2021 Approbation als Psychologische Psychotherapeutin. Seit 2021 Promotionsstipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung.

Die erste Auflage des Buches ist 2011 unter der Autorenschaft von Lydia Fehm und Thomas Fydrich erschienen.

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autor:innen bzw. den Herausgeber:innen große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autor:innen bzw. Herausgeber:innen und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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Satz: ARThür Grafik-Design & Kunst, Weimar

Format: EPUB

2., überarbeitete Auflage

© 2011 und 2022 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-3151-2; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-3151-3)

ISBN 978-3-8017-3151-9

https://doi.org/10.1026/03151-000

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Zitierfähigkeit: Dieses EPUB beinhaltet Seitenzahlen zwischen senkrechten Strichen (Beispiel: |1|), die den Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe und des E-Books im PDF-Format entsprechen.

Inhaltsverzeichnis

Einführung

1 Beschreibung des Problembilds

1.1 Bezeichnung

1.2 Definition und Symptomatik

1.2.1 Emotionale Ebene

1.2.2 Kognitive Ebene

1.2.3 Physiologische Ebene

1.2.4 Verhaltensebene

1.2.5 Korrelate von Prüfungsangst

1.2.6 Subtypen von Prüfungsängstlichen

1.3 Häufigkeit von Prüfungsängsten

1.4 Verlauf und Prognose

1.5 Diagnostische und differenzialdiagnostische Einordnung

1.6 Komorbidität

1.7 Diagnostische Verfahren

2 Störungstheorien und -modelle

2.1 Funktionsmodelle

2.2 Arbeitsmodell für die Behandlung von Prüfungsängsten

3 Diagnostik und Indikation

3.1 Fragebogendiagnostik

3.2 Erfassung von Symptomatik, Beeinträchtigung, Konsequenzen und Bewältigungsstrategien

3.2.1 Symptomatik und mögliche zusätzliche Problembereiche

3.2.2 Beeinträchtigung/Belastung

3.2.3 Problembewältigung

3.3 Indikation

4 Behandlung

4.1 Kurzfristige Beratung oder therapeutische Betreuung

4.2 Ablauf einer modulorientierten psychotherapeutischen Intervention

4.2.1 Modul 1: Gründe für Lernen – Motivationsstrategien

4.2.2 Modul 2: Lernen planen – Zeitmanagement und Arbeitspläne

4.2.3 Modul 3: Wie lernen? – Lernstrategien und Gedächtnistechniken

4.2.4 Modul 4: Für Ausgleich sorgen – Entspannungstechniken und individuelle Verstärker

4.2.5 Modul 5: Knoten im Kopf auflösen – Kognitive Techniken zum Umgang mit hinderlichen Gedanken

4.2.6 Modul 6: Ganz entspannt in der Prüfung – Systematische Desensibilisierung als Technik der Spannungsreduktion

4.2.7 Modul 7: Übung ist alles – Konkrete Vorbereitung auf die Prüfungssituation

4.3 Wirkmechanismen der Interventionen

4.4 Effektivität und Prognose

4.5 Probleme bei der Durchführung

5 Weiterführende Literatur

6 Literatur

7 Kompetenzziele und Lernkontrollfragen

8 Anhang

Karten

Checkliste zur Diagnostik von Prüfungsängsten

Zeitplan für eine optimale Prüfungsvorbereitung

Hinweise zu den Karten

|1|Einführung

Fallbeispiel

Wegen „schrecklicher Prüfungsängste“ stellt sich Frau W. in der psychotherapeutischen Ambulanz vor. Sie absolviert eine Ausbildung als medizinisch-technische Assistentin. Nach ihren eigenen Angaben hat sie prinzipiell viel Spaß an der Ausbildung und der Arbeit und freut sich auf ihren Beruf. Je näher jedoch die Abschlussprüfung rückte, umso unruhiger und nervöser sei sie geworden. Sie habe eine immer stärker werdende Anspannung verspürt, konnte sich nicht mehr auf den Lernstoff konzentrieren und habe sich immer weniger zugetraut, die Prüfung zu absolvieren. Seit einiger Zeit schlafe sie unruhig und habe bereits morgens Bauchschmerzen und starke Anspannungsgefühle. Auch während des Unterrichts könne sie sich kaum noch auf die Inhalte und die Präsentationen der Lehrkräfte konzentrieren.

Zum ersten Prüfungstag sei sie einfach nicht hingegangen und habe sich in den darauffolgenden Tagen ebenfalls nicht in die Schule getraut, da sie Nachfragen befürchtet habe. Auch zum nächsten Prüfungstermin sei sie nicht erschienen und habe mit Ausflüchten und Ausreden ihre Abwesenheit begründet. Als ein mit der Familie befreundeter Dozent bei einer Lehrveranstaltung ihr Fehlen bemerkte und die Eltern darauf ansprach, sei bei ihr „alles zusammengebrochen“. Sie habe sich dann mit ihren Ängsten erstmals anderen Personen offenbart. Nach Absprache mit der Schulleiterin habe sie die Ausbildung jetzt unterbrochen, um im nächsten Ausbildungsjahrgang nach einer Behandlung ihrer Ängste wieder neu einzusteigen und dann den Abschluss zu machen.

Prüfungen oder akute Leistungsanforderungen in der Schule, im Studium, im Rahmen der beruflichen Ausbildung und im Bereich künstlerischer Darstellungen oder sportlicher Leistungen gehören zu Erfahrungen fast jedes Menschen. In den meisten Fällen lösen Prüfungen sowohl in der Vorbereitungszeit als auch direkt vor der Prüfung ein ängstlich-nervöses Spannungsgefühl aus, was teilweise auch während der Prüfungen anhält. Solche Anspannungen und Befürchtungen sind hinsichtlich der Intensität, aber auch hinsichtlich der Inhalte und Art deutlich unterschiedlich ausgeprägt: Während manche nur leichte Formen der Anspannung erleben und sie sich dadurch angespornt fühlen, beginnt für andere schon Wochen vor dem Prüfungstermin eine Zeit massiver Unruhe und Ängste, die mit Konzentrationsproblemen, Schwierigkeiten |2|mit den Prüfungsvorbereitungen bis hin zu somatischen Beschwerden und Schlafproblemen einhergehen.

Prüfungen sind meist formal festgelegte Situationen, um einen bisherigen Ausbildungsabschnitt zu beenden, um damit einen neuen Status zu erhalten, z. B.

eine Zwischenprüfung, um den Zugang zu einem weiteren Ausbildungsabschnitt zu erreichen,

ein Vorspiel mit einem Instrument, um den Zugang zu einem musisch orientierten Gymnasium zu bekommen,

das Abitur mit dem Erreichen der allgemeinen Hochschulreife,

Modulabschlussprüfungen und Prüfungen im Studium, um akademische Grade zu erhalten (z. B. Bachelor- oder Masterabschluss),

theoretische und praktische Prüfungen in einem Lehrberuf,

Rigorosum oder Verteidigung der Arbeit als letzter Schritt einer Doktorprüfung,

eine staatliche Prüfung für den Zugang zum Lehrberuf,

Bewerbungsgespräche oder

die Teilnahme an einem „Assessment Center“, um eine begehrte Arbeitsstelle zu erhalten.

Prüfungen werden mündlich oder schriftlich abgehalten oder enthalten praktische bzw. anwendungsorientierte Aufgaben. In entsprechenden Kontexten ist der Prüfungsgegenstand auch eine künstlerische Leistung, beispielsweise das Vortanzen für eine Ballettschule oder das musikalische Vorspiel für die Aufnahme in ein Konservatorium. Prüfungen sind in der Regel auf wenige Stunden Dauer begrenzt, sie können in Einzelfällen jedoch auch einen oder mehrere Tage andauern, wie z. B. bei Assessment Centern. Prüfungen sind meist Einzelleistungen, die manchmal jedoch in einer Gruppensituation erbracht werden.

Mit dem Abschluss einer Prüfung oder einer Prüfungssequenz ist oft der Beginn eines neuen (schulischen oder beruflichen) Lebensabschnitts verbunden. Damit geht nicht selten die Unsicherheit einher, wie genau und wie erfolgreich der weitere Weg sein wird, ob und wann man welche Arbeitsstelle erhalten wird und ob diese den persönlichen Vorstellungen entspricht. Zudem ist mit entsprechenden neuen Lebensabschnitten die Übernahme neuer Rollen verbunden, die meist auch mit der Übernahme zunehmender Verantwortung verbunden ist.

Als einer der Pionier:innen der Prüfungsangstforschung kann ein deutscher Arzt gelten. Bereits im Jahr 1933 hatte Johannes Neumann in Deutschland eine erste wissenschaftliche Buchpublikation mit dem Titel „Angst und Krankheit vor dem Examen: Wesen, Ursachen, Behebung“ veröffentlicht (Neumann, 1933), die als weltweit erste Monografie zum Thema Prüfungsangst gilt. Neumann hatte sich z. B. mit einer Einführung in die Psychotherapie für Pfarrer |3|befasst, sein theoretischer Rahmen war die Individualpsychologie Alfred Adlers. Da sein Werk zur Prüfungsangst jedoch nie ins Englische übersetzt wurde, fand dieser frühe Wegbereiter der Prüfungsangstforschung keinen Eingang in die internationale Entwicklung dieses Forschungszweigs.

Weitere Arbeiten aus den ersten drei bis vier Dekaden des 20. Jahrhunderts (u. a. auch von Walter B. Cannon, 1929) befassten sich mit der Änderung physiologischer Parameter (v. a. der Erhöhung der Glukosekonzentration im Urin) im Vergleich vor und während einer Prüfungszeit. Physiologische Reaktionen unter Prüfungsanforderungen wurden als Indikatoren für selbstwertbedrohliche Belastungen und damit als Korrelate von Prüfungsangst betrachtet.

In die sechziger Jahre fallen zwei weitere wichtige Entwicklungen: Sie wurden zunächst für andere Angstbereiche formuliert und dann auf den Bereich der Prüfungsängste übertragen: Zum einen wurden State- und Trait-Angst unterschieden. Dabei wurde Prüfungsangst von verschiedenen Autoren als „situationsspezifische Trait-Angst“ konzeptualisiert (vgl. Spielberger, Anton & Bedell, 1976). Entsprechend beschreibt Prüfungsangst die Angst in der spezifischen Situation der Prüfung, die durch eine grundsätzliche Neigung zu Angstreaktionen immer wieder in diesen Situationen auftritt. Zum anderen wurden mit „worry“ und „emotionality“ zwei Reaktionskomponenten bei Prüfungsangst unterschieden (Liebert & Morris, 1967; vgl. Darstellung in den Kapiteln 2.1 und 3.1): „worry“ bezeichnet dabei die kognitive Komponente der Prüfungsangst, „emotionality“ die affektiv-physiologische.

|4|1 Beschreibung des Problembilds

Im Folgenden wird ein Überblick über die Definition und Phänomenologie der Prüfungsangst sowie über deren Erfassung und Verbreitung gegeben.

1.1 Bezeichnung

Nach den Kriterien der wichtigen Klassifikationssysteme für psychische Störungen DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders der American Psychiatric Association; dt. Version: APA/Falkai et al., 2015) und der von der Weltgesundheitsorganisation (Dilling & Freyberger, 2006) herausgegebenen „Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10, Kapitel V)“ gehören Prüfungsängste nicht explizit zu den dort definierten „Störungen mit Krankheitswert“. Dies führt dazu, dass eine allgemein akzeptierte und damit verbindliche operationale Definition in der wissenschaftlichen Literatur nicht vorliegt. Der Begriff Prüfungsangst wird von unterschiedlichen Autor:innen und Arbeitsgruppen nicht einheitlich verwendet. Von manchen Autor:innen wird Prüfungsangst auch als „Leistungsangst“ bezeichnet (z. B. Schwarzer, 2000), oder es wird in Anlehnung an die englische Terminologie von Testangst gesprochen. Im englischen Sprachraum wird fast ausschließlich der Begriff „test anxiety“ genutzt, seltener findet man auch die Begriffe „exam anxiety“ oder im Zusammenhang mit Ängsten vor vielfältigen evaluativen Leistungssituationen den Terminus „performance anxiety“. Letzterer wird – wie angedeutet – auch in verschiedenen Abwandlungen von Prüfungen über klassische akademische Prüfungssituationen hinaus auf Leistungsängste, z. B. bei den darstellenden Künsten, bezogen („musical performance anxiety“). Wir werden im Folgenden durchgängig den Begriff „Prüfungsangst“ verwenden.

Merke

Prüfungsangst bezeichnet als Begriff keine definierte Störungskategorie und wird in der Literatur nicht einheitlich verwendet.

|5|1.2 Definition und Symptomatik

Eine der prägenden Figuren der Prüfungsangstforschung, Charles Spielberger (1972a, S. 14), beschreibt Prüfungsangst folgendermaßen:

Personen mit starker Prüfungsangst lassen sich im Wesentlichen durch erlernte Gewohnheiten und Einstellungen beschreiben, die auch negative Selbstwahrnehmungen und Erwartungen einschließen. Diese Gewohnheiten und selbstabwertenden Haltungen begünstigen, dass prüfungsängstliche Personen Ängste und körperliche Reaktionen in Prüfungen und Bewertungssituationen erleben, und beeinflussen die Art und Weise, wie diese Ereignisse interpretiert werden und wie die Personen darauf reagieren. (eigene Übersetzung)

Während in dieser Definition die verschiedenen psychologischen Ebenen des Erlebens und Verhaltens (erlernte Verhaltensweisen, Gefühle, physiologische Reaktionen und interpretierende Kognitionen) nur indirekt angesprochen werden, nehmen diese z. B. in der Definition von Hong (1998, S. 51) eine zentrale Stellung ein: „Prüfungsangst ist ein komplexes, multidimensionales Konstrukt, welches kognitive, affektive, physiologische und Verhaltenskomponenten in Situationen umfasst, in denen jemand beurteilt wird“ (eigene Übersetzung).

Andere Autor:innen betonen jeweils einzelne Ebenen bzw. Faktoren stärker. So findet sich in der Definition von Schwarzer (2000) eine Betonung der individuellen Beurteilung der Leistungsanforderung durch eine Prüfung: „Leistungsangst ist die Besorgtheit und Aufgeregtheit angesichts von Leistungsanforderungen, die als selbstwertbedrohlich eingeschätzt werden.“ (S. 105). Ähnlich führt Küpfer (1997) aus, dass „… Prüfungsangst sich vor allem angesichts von Leistungsanforderungen ein[stellt], die als selbstwertbedrohlich eingeschätzt werden. […] Ein zentrales Kennzeichen von Hochängstlichen ist, dass sie bestimmte Ereignisse in der Prüfung befürchten, die ihren Selbstwert herabsetzen oder schädigen könnten.“ (S. 18). Eine Besonderheit einiger Definitionen liegt darin, dass sie in unterschiedlich explizitem Ausmaß Aussagen zur Ätiologie der Ängste machen, wie z. B. die Definitionen von Spielberger oder Schwarzer. Nachteil von bisherigen Definitionen ist, dass sie keine Hinweise darauf enthalten, wann oder ob Prüfungsängste unter klinisch-psychologischen Aspekten bedeutsam sind.

Die von uns vorgeschlagene Definition, die Grundlage dieses Textes ist, ist vornehmlich deskriptiv und enthält daher keine Annahmen zur Ätiologie der Problematik. Wir erachten jedoch die klinische Relevanz vorliegender Prüfungsängste als bedeutsam und schlagen daher vor, diesen Aspekt in der Definition zu berücksichtigen.

|6|Definition: Prüfungsangst

In Anlehnung an die Definition von Salmon (1990) für Bühnenangst bei Musiker:innen verstehen wir Prüfungsangst als „anhaltende und deutlich spürbare Angst in Prüfungssituationen und/oder während der Zeit der Prüfungsvorbereitung, die den Bedingungen der Prüfungsvorbereitung und der Prüfung selbst nicht angemessen ist. Die Angst äußert sich auf den Ebenen Verhalten, Emotion, Kognition und Physiologie. Klinisch relevante Prüfungsängste liegen vor, wenn die Ängste das alltägliche Leben und/oder den Ausbildungsverlauf bzw. das berufliche Weiterkommen deutlich beeinträchtigen“.

Der in der Definition genannte Aspekt der Angemessenheit für die Interaktion zwischen Angst und Prüfungsbedingungen erscheint zunächst nicht klar genug. Durch die Abschätzung der Angemessenheit ermöglicht die Definition jedoch, dem möglichen Einfluss situativer Bedingungen der Prüfung und der Prüfungssituation Rechnung zu tragen. Beispielsweise kann eine starke Prüfungsangst angemessen sein, wenn sie im Zusammenhang mit einer Prüferin bzw. einem Prüfer auftritt, der in den Prüfungen als extrem unberechenbar, willkürlich und abwertend gilt.

Symptome der Prüfungsangst treten auf verschiedenen Ebenen des Erlebens und Verhaltens auf. Dabei kann – wie bei anderen Ängsten auch – sowohl interindividuell als auch intraindividuell von sehr unterschiedlichen Formen, Ausprägungsgraden sowie Kombinationen der Symptomatik ausgegangen werden. Auch innerhalb einer Person kann sich das Erleben von Prüfungsängsten je nach Prüfungssituation oder Prüfungsart, der Bedeutung der Prüfung oder in Abhängigkeit von der Phase der Prüfungsvorbereitung verändern. Ebenso sind Veränderungen in Intensität und Erscheinungsform über die Zeit hinweg möglich.

Prüfungsängste gehen vor allem in der Vorbereitungsphase mit dauerhaft erhöhter mentaler und meist auch körperlicher Anspannung einher. Diese haben insgesamt oft den Charakter allgemeiner Stresssymptome. Zu diesen gehören in erster Linie Konzentrationsschwierigkeiten, Probleme mit der beruflichen Arbeit oder dem Studium, Probleme mit der Prüfungsvorbereitung sowie mit der Organisation anderer Alltagsaufgaben, aber auch emotionale Reaktionen wie Gereiztheit, Niedergeschlagenheit und Antriebslosigkeit, erhöhte Schreckhaftigkeit, Schlafstörungen und zusätzliche somatische Probleme.

Zugeordnet zu den vier Modalitäten Emotionalität, Kognition, Physiologie und Verhalten werden im Folgenden typische und häufige Symptome bzw. Reaktionen bei Prüfungsängsten beschrieben. Dabei gehört – ähnlich wie bei anderen klinischen Problemen – die hohe Interdependenz und damit mitunter eine große Überlappung bei der Zuordnung von Symptomen zu Modalitäten zur „Natur der Sache“.

|7|1.2.1 Emotionale Ebene

In der Prüfungssituation selbst ist das zentrale Gefühl meist eine starke Angst, die oft mit panikartigen Reaktionen bzw. Zuständen einhergehen kann. Auf der physiologischen und kognitiven Ebene gehören zu diesen Ängsten (siehe unten) eine starke physiologische Erregung, z. B. erkennbar an starkem Herzklopfen, Schwitzen und starker Muskelanspannung, das Auftreten von Katastrophengedanken oder das Gefühl der „Leere“. Derartige Angstreaktionen sind auch in Vorbereitungsphasen zu Prüfungen sehr häufig. Neben spezifischen Prüfungsängsten sind als weitere Gefühle Verzweiflung, Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit sowie umfassende Versagens- und Minderwertigkeitsgefühle oft vorhanden.

Vor allem die zuletzt genannten Emotionen haben einen hohen selbstreflexiven (kognitiven) Anteil. Dies verdeutlicht, dass zur inhaltlichen Charakterisierung von Emotionen auf jeden Fall eine kognitiv-interpretative Komponente gehört. Umgekehrt sind die im Folgenden genannten kognitiven Elemente von Prüfungsangst in der Regel mit charakteristischen, den Inhalten der Gedanken entsprechenden Emotionen verbunden.

1.2.2 Kognitive Ebene

In Situationen, in denen Angstgefühle überwiegen, beschreiben Betroffene häufig intensive Katastrophengedanken oder aber eine Art „Leere im Kopf“. Typischerweise richten sich Gedanken auf negative Aspekte der Situation oder der angenommenen Folgen der Situation, z. B. darauf, dass die Prüfer:innen schwere Fragen stellen könnten oder dass während der Prüfung starke und unangenehme körperliche Symptome auftreten könnten, die als nicht kontrollierbar erlebt werden. Als langfristige Folgen von Prüfungsangst und dem befürchteten Prüfungsversagen werden beispielsweise befürchtet, dass eine nicht bestandene Prüfung das Ende einer Karriere bedeutet, dass das gesetzte Berufs- oder Ausbildungsziel „nie“ erreicht wird und dass das antizipierte Scheitern einen „klaren Beweis“ für „absolute Unzulänglichkeit“ und „kolossales Versagen“ darstellt. Auch die erwartete Enttäuschung wichtiger Bezugspersonen sowie die Scham über das antizipierte Versagen spielen eine wichtige Rolle. Darüber hinaus sind auf der Ebene der Überzeugungen und Pläne überdauernde Denkmuster erkennbar. Hierzu gehören beispielsweise grundsätzliche Zweifel an der eigenen Kompetenz und Leistungsfähigkeit (z. B. „Ich bin einfach ein absoluter Versager.“, „Ich werde es niemals schaffen.“). Hinsichtlich des antizipierten Verlaufs von Prüfungen stehen besonders Befürchtungen über das Auftreten plötzlicher „Blockaden“ im Vordergrund. Betroffene beschreiben diese als plötzlich auftretende „Leere“, verbunden mit akuten Versagenskognitionen (z. B. „Das war es jetzt.“, „Jetzt kannst du ein|8|packen.“) sowie dem Erleben der Unfähigkeit, die gestellten Fragen der Prüfer:innen zu verstehen.

Die Präsenz solcher oder ähnlicher Gedanken führt meist zu Problemen mit der notwendigen Konzentration auf die eigentlichen Lerninhalte, auf die Inhalte des Gesprächs mit der Prüferin bzw. dem Prüfer oder die Inhalte der schriftlich gestellten Aufgabe.

1.2.3 Physiologische Ebene

Auf der körperlichen Ebene treten Empfindungen und Symptome auf, die typisch für Ängste und akute Stressreaktionen sind. Hierzu gehören insbesondere sympathische und parasympathische Aktivierungsreaktionen, vor allem starkes Herzklopfen, verstärktes Schwitzen, erhöhte Atemfrequenz mit Mundtrockenheit, erhöhte Magen-, Darm- und Blasenaktivierung einhergehend mit erhöhtem Harn- oder Stuhldrang und auch Übelkeit. Weiterhin sind Zittern, vor allem der Hände und Beine, sowie das Auftreten von körperlichen Schwächegefühlen („weiche“ Knie) charakteristisch. Nicht immer werden diese Symptome von Betroffenen in distinkter Form berichtet. Oft schildern Prüfungsängstliche begleitende körperliche Symptome diffuser – etwa als „flaues Gefühl im Magen“, „Kloß im Hals“, „Druck auf der Brust“ oder allgemeine Schwächegefühle, manchmal mit Schwindel und/oder sensorischen Wahrnehmungsstörungen verbunden (z. B. „Ich habe die Stimme des Prüfers nur noch ganz entfernt gehört.“). Die sensorischen Beeinträchtigungen können bei starken Ausprägungen durchaus den Charakter einer Derealisation oder Depersonalisation annehmen.

Zu physiologischen Stressreaktionen gehören im Weiteren die Konstriktion der Blutgefäße, einhergehend mit erhöhtem Blutdruck und geringerer Durchblutung der Extremitäten, was zur temporären Reduktion der peripheren Blutversorgung führen kann. Die Folgen davon sind Blutleere in Händen und Beinen und oft eine Erniedrigung der Körpertemperatur in der Körperperipherie, was kalte Hände und Füße zur Folge haben kann. Endokrinologisch gehen Stressreaktionen mit einer Aktivierung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinde-Achse und damit einer verstärkten Ausschüttung von Katecholaminen (Adrenalin und Noradrenalin) einher. Alles in allem kann akute Prüfungsangst physiologisch auch als „Fight-flight“-Reaktion gekennzeichnet werden, wie sie schon früh im 20. Jahrhundert vom amerikanischen Physiologen Walter Cannon beschrieben wurde.