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Selbstwertprobleme können Einfluss auf die Entstehung und Aufrechterhaltung einer psychischen Störung nehmen, aber auch eine Folge der Störung sein. Interventionen, die auf den Selbstwert bezogen sind, spielen bei der Behandlung zahlreicher psychischer Störungen eine zentrale Rolle, insbesondere bei Depressionen, Essstörungen und Persönlichkeitsstörungen. Der Band fasst Wissenswertes zu Selbstwert und dessen Zusammenhang mit unterschiedlichen psychischen Störungen zusammen und grenzt den Begriff gegenüber anderen psychotherapeutisch relevanten Konstrukten, etwa soziale Kompetenz oder Selbstmitgefühl, ab. Es folgen Überlegungen zur Indikation selbstwertbezogener Interventionen und den diagnostischen Möglichkeiten von Selbstwert. Praxisorientiert wird veranschaulicht, wie selbstwertbezogene Interventionen in der Behandlung umgesetzt werden können. Zunächst werden Hinweise zur Psychoedukation und zum Einbezug von Selbstwert in die Fallkonzeptualisierung gegeben. Anschließend wird gezeigt, wie klassisch-verhaltenstherapeutische sowie achtsamkeitsbasierte Interventionen transdiagnostisch zur Bearbeitung von Selbstwertproblemen eingesetzt werden können. Dabei wird auf verschiedene selbstwertspezifische Interventionen eingegangen, z.B. auf die Förderung der Selbstfürsorge, die Förderung einer ausgewogenen Sichtweise auf sich selbst oder die Arbeit mit inneren selbstkritischen oder wohlwollenden Anteilen. Ausführlich vorgestellt werden zudem zwei im deutschen Sprachraum bislang weniger bekannte Ansätze, die spezifisch für die Behandlung von Selbstwertproblemen konzipiert wurden: Das kognitive Therapiekonzept für Selbstwertprobleme von Fennell sowie das Selbstwerttraining "COMET" der niederländischen Arbeitsgruppe um Korrelboom. Hinweise zu Besonderheiten der Nutzung selbstwertbezogener Interventionen im Gruppenkontext runden den Band ab.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Lydia Fehm
Anke Weidmann
Selbstwertbezogene Interventionen
Standards der Psychotherapie
Band 13
Selbstwertbezogene Interventionen
Prof. Dr. Lydia Fehm, Dr. Anke Weidmann
Die Reihe wird herausgegeben von:
Prof. Dr. Martin Hautzinger, Prof. Dr. Tania Lincoln, Prof. Dr. Jürgen Margraf, Prof. Dr. Winfried Rief, Prof. Dr. Brunna Tuschen-Caffier
Die Reihe wurde begründet von:
Martin Hautzinger, Kurt Hahlweg, Jürgen Margraf, Winfried Rief
Prof. Dr. Lydia Fehm, geb. 1966. 1987–1993 Studium der Psychologie in Marburg. Anschließend Promotionsstipendium in Dresden und therapeutische Tätigkeit mit Schwerpunkt Angststörungen. 1994–1999 Verhaltenstherapieausbildung und 1999 Approbation als Psychologische Psychotherapeutin. 1999–2005 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Technischen Universität Dresden. 2000 Promotion. 2005–2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Psychotherapie und Somatopsychologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2008 Habilitation. Seit 2008 Ambulanzleitung am Zentrum für Psychotherapie der Humboldt-Universität zu Berlin. 2016 Ernennung zur außerplanmäßigen Professorin an der Humboldt-Universität.
Dr. Anke Weidmann, geb. 1978. 1999–2004 Studium der Psychologie und Journalistik in Hamburg. 2005–2017 Tätigkeit als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Psychotherapie und Somatopsychologie der Humboldt-Universität zu Berlin. 2009 Promotion. 2007–2012 Ausbildung in Verhaltenstherapie und 2013 Approbation als Psychologische Psychotherapeutin. 2013–2017 psychotherapeutische Tätigkeit in der Hochschulambulanz der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2017 Psychologische Psychotherapeutin an der Fliedner Klinik Berlin.
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Satz: Sabine Rosenfeldt, Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen
Format: EPUB
1. Auflage 2023
© 2023 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen
(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-3061-4; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-3061-5)
ISBN 978-3-8017-3061-1
https://doi.org/10.1026/03061-000
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Einführung
1 Problembeschreibung und theoretische Konzepte
1.1 Beschreibung und Arbeitsdefinition von Selbstwertproblemen
1.2 Abgrenzung und Überlappung verwandter Konstrukte
1.3 Selbstwertmodelle
1.3.1 Selbstwert als Grundbedürfnis nach Grawe
1.3.2 Selbstwert als Teil eines umfassenden Motivationsmodells
1.3.3 Soziometer-Theorie
1.3.4 Terror-Management-Theorie
1.3.5 Hierarchische Strukturmodelle des Selbstwerts
1.3.6 Klinisch-psychologische Modelle: Das kognitiv-behaviorale Modell von Fennell
1.4 Befunde zu Selbstwert
1.4.1 Geschlechterunterschiede
1.4.2 Entwicklungspsychologische Befunde
1.4.3 Selbstwert und kritische Lebensereignisse
1.4.4 Selbstwert und Körperhaltung
2 Selbstwertprobleme und psychische Störungen
2.1 Modelle zum Zusammenhang zwischen Selbstwertproblemen und psychopathologischen Auffälligkeiten
2.1.1 Vulnerabilitätsmodell
2.1.2 Narben-Modell
2.1.3 Selbstwert und psychische Störungen in der Fallkonzeption
2.2 Selbstwert und psychische Störungen
2.2.1 Depressionen
2.2.2 Essstörungen
2.2.3 Persönlichkeitsstörungen
3 Indikation und Diagnostik
3.1 Indikation
3.2 Fragebögen
3.2.1 Rosenberg Self-Esteem Scale (RSES)
3.2.2 Multidimensionale Selbstwertskala (MSWS)
3.3 Gesprächsbasierte Techniken
3.4 Indirekte Messtechniken
3.5 Bewertung und Empfehlung
4 Interventionen und praktische Behandlungsempfehlungen
4.1 Interventionen zu Beginn der selbstwertorientierten Behandlung
4.1.1 Psychoedukation und Informationsvermittlung
4.1.2 Bestandsaufnahme: Der Selbstwert in verschiedenen Lebensbereichen
4.1.3 Individuelle Fallkonzeptualisierung bei Selbstwertproblemen
4.2 Transdiagnostische Interventionen zur Förderung eines gesunden Selbstwerts
4.2.1 Achtsamkeit
4.2.2 Werte und Ziele
4.2.3 Kognitive Umstrukturierung
4.2.4 Akzeptanz und Defusion
4.2.5 Bearbeiten selbstwertrelevanter belastender Erinnerungen
4.2.6 Kognitives Therapiekonzept nach Fennell
4.3 Spezifische Interventionen zur Förderung der Selbstakzeptanz und des Selbstvertrauens
4.3.1 Förderung einer ausgewogenen Sichtweise auf sich selbst
4.3.1.1 Competitive Memory Training for Low Self-Esteem (COMET)
4.3.1.2 Weitere Übungen zur Stärkung eines ausgewogenen Selbstbilds
4.3.1.3 Probleme bei der Durchführung
4.3.2 Externalisierung und Anteilsarbeit
4.3.2.1 Arbeiten mit dem „liebevollen/wohlwollenden Begleiter“ und dem „inneren Kritiker“
4.3.2.2 Aufbau eines „Compassionate Self“
4.3.2.3 Probleme bei der Durchführung
4.3.3 Förderung der Selbstfürsorge
4.3.3.1 Wo liegen die Defizite in der Selbstfürsorge? (Ist-Stand erfassen)
4.3.3.2 Was hat Selbstfürsorge mit Selbstwert zu tun? (Motivation fördern)
4.3.3.3 Was stellt sich in den Weg? (Barrieren ermitteln und damit umgehen)
4.3.3.4 Wie gelingt eine Verbesserung der Selbstfürsorge? (Strategien für die Realisierung)
4.4 Das Thema Selbstwert in der Gruppentherapie
4.4.1 Rahmenbedingungen
4.4.2 Empfehlungen und Hinweise für das inhaltliche Vorgehen
5 Evidenzlage und wissenschaftliche Beurteilung
5.1 Wirksamkeit selbstwertspezifischer Interventionen
5.2 Zusammenfassende Beurteilung
6 Weiterführende Literatur
7 Literatur
8 Kompetenzziele und Lernkontrollfragen
9 Anhang
Arbeitsblatt: Persönliches Modell – Entstehungsbedingungen
Arbeitsblatt: Persönliches Modell – Faktoren der Aufrechterhaltung
Arbeitsblatt: Persönliches Modell – Faktoren der Aufrechterhaltung (Beispiel Frau W.)
Arbeitsblatt: Persönliches Modell – Faktoren der Aufrechterhaltung (Beispiel Herr B.)
Arbeitsblatt: Säulen des Selbstwerts
Arbeitsblatt: Wochenprotokoll der Selbstfürsorge
Bei einem großen Internet-Buchhändler werden zum Suchwort „Selbstwert“ über 2000 Vorschläge gemacht, sehr viele davon sind Selbsthilfebücher oder Ratgeber, die einen besseren Selbstwert, mehr Selbstliebe oder eine höhere Selbstakzeptanz in Aussicht stellen. Offenbar fühlen sich viele Menschen von diesem Thema angesprochen und/oder darüber können gut Bücher geschrieben werden. Eine Suche nach dem Schlüsselwort „self-esteem“ einer großen Wissenschafts-Suchmaschine ergab fast 28.000 Treffer für wissenschaftliche Publikationen seit 1970 (Stand August 2021). In unserer therapeutischen und supervisorischen Praxis ist das Thema Selbstwert ebenfalls ubiquitär. Dennoch oder vielleicht gerade deswegen empfanden wir die Anfrage, ein Buch über dieses Thema zu verfassen, als Herausforderung.
Auf den ersten Blick erschienen fast alle therapeutischen Interventionen auf die eine oder andere Art und Weise mit einer Veränderung des Selbstwerts verbunden – ohne unter der Überschrift „selbstwertbezogene Intervention“ zu laufen. Eindrücklich im Gedächtnis blieb eine 48-jährige Patientin, die sich im Erstgespräch unter anderem mit dem Anliegen „Ich will wieder mehr Selbstwert haben“ an uns wandte. Ihr Alltag war aufgrund starker Ängste seit Monaten auf einen engen Radius um ihre Wohnung beschränkt, sie war dadurch arbeitsunfähig und verbrachte viel Zeit mit Grübeln über ihre Wertlosigkeit. Wir diagnostizierten eine Panikstörung mit Agoraphobie und eine sekundär aufgetretene depressive Episode und leiteten die Patientin in ein Forschungsprojekt weiter, in dem eine stark manualisierte Behandlung der agoraphobischen Symptomatik in hoher Sitzungsfrequenz angeboten wurde. Durch die starke Strukturierung der Sitzungen mit vielen zu besprechenden angstbezogenen Themen und einer großen Zahl von störungsspezifischen Arbeitsblättern kann fast sicher ausgeschlossen werden, dass Zeit für störungsunspezifische, übergreifende Themen war, wie z. B. selbstwertspezifische Interventionen. Dennoch schloss die Patientin in der Abschlussbewertung der Behandlung begeistert, dass sie nun „endlich wieder ein gutes Selbstwertgefühl“ habe.
Deutlich seltener steht ein verminderter Selbstwert von vornherein im Fokus der Behandlung. Eine 24-jährige Studentin beschrieb dies so: „Eigentlich bin ich mit mir durchaus zufrieden. Dann fällt mir in einem Seminar eine Mitstudentin auf, die eine Frage stellt, die ich wirklich interessant finde. Ich denke darüber nach und mir fällt auf, dass ich selbst nie solch interessante Fragen stelle. Ich denke dann, dass ich vermutlich auch nicht so schlau und so inter|2|essant bin wie diese Kommilitonin. Daraus ergibt sich ein regelrechter Strudel aus Selbstabwertung und Selbsthass, und mir fallen immer mehr Dinge ein, die ich an mir nicht so mag. An guten Tagen bin ich nach ein paar Stunden wieder da raus, aber an schlechten Tagen kann es dazu führen, dass ich mich so wenig leiden kann, dass ich mich im Bett verkrieche und ein paar Tage kaum noch das Haus verlasse. Ich fühle mich wertlos und bin total deprimiert.“
Aus diesen Beobachtungen und Überlegungen ergaben sich folgende Fragestellungen:
Sind alle Probleme von Patientinnen letztlich Selbstwertprobleme?
Sind alle Psychotherapien letztlich Behandlungen eines geminderten Selbstwerts?
Gibt es mehr oder weniger selbstwertbezogene Elemente einer Behandlung? Welche sind das?
Gibt es Patientinnen, bei denen das Thema Selbstwert mehr im Fokus steht als bei anderen?
Gibt es Problemkonstellationen oder Störungen, bei denen das Thema Selbstwert mehr im Fokus steht als bei anderen?
Gibt es einen optimalen Zeitpunkt für selbstwertbezogene Interventionen?
Gibt es Kontraindikationen für selbstwertbezogene Interventionen?
Funktionieren selbstwertbezogene Interventionen auch in der Gruppe?
Diese Fragen wollen wir in unserem Buch beantworten. Wir wollen dazu beitragen, dass der Bereich der selbstwertbezogenen Interventionen überschaubarer wird, und dass die Leserin über ein klareres Verständnis unterschiedlich intensiven Arbeitens mit selbstwertorientierten Strategien und Methoden verfügt.
Dieses Buch ist kein Manual, es gibt also keine Schritt-für-Schritt-Anleitung, die bei Selbstwertproblemen direkt so übernommen werden kann. Da sich die Selbstwertprobleme unserer Patientinnen ohnehin sehr unterscheiden, wäre dies möglicherweise auch gar nicht zielführend. Wir verstehen dieses Buch daher eher als Nachschlagewerk für Anregungen zum Erwerb und zur Vertiefung des eigenen therapeutischen Repertoires.
In vielen Kontexten wird derzeit um sprachliche Ausdrucksformen gerungen, die möglichst geschlechtergerecht und dennoch gut lesbar sind. Wir haben uns für dieses Buch entschieden, bei allgemeinen Formulierungen immer die weibliche Form bei der Bezeichnung von Gruppenzugehörigkeiten zu verwenden, also zum Beispiel durchgängig von Therapeutinnen und Patientinnen zu sprechen, da in diesen beiden Gruppen die größte Untergruppe weiblich ist. Selbstverständlich sind an allen Stellen Menschen aller Geschlechter mit angesprochen.
|3|Wenn wir Fälle von Patientinnen schildern, greifen wir oft auf unsere eigene Praxis zurück. Wir haben jedoch alle Schilderungen so verfremdet, dass zentrale Merkmale der Person nicht kenntlich sind.
Berlin, Januar 2023
Lydia Fehm und
Anke Weidmann
Bei der Beschäftigung mit dem Thema Selbstwert taucht eine Vielzahl von Begriffen auf, die dieses Thema beschreiben, wie z. B. Selbstachtung, Selbstmitgefühl, Selbstbewusstsein oder Selbstsicherheit. Viele dieser Begriffe überlappen sich oder werden von verschiedenen Autorinnen unterschiedlich beschrieben oder eingeordnet. Eine Definition und die Abgrenzung zu anderen Begriffen unternehmen wir im nächsten Abschnitt (vgl. Kapitel 1.2). Wir haben uns für dieses Buch dazu entschieden, den Begriff Selbstwert zu nutzen.
Im therapeutischen Kontext ist es für viele Patientinnen leichter, von Selbstwertgefühl zu sprechen: Auch wenn der Selbstwert kein Gefühl ist bzw. mehr als das, äußert sich ein geringer oder schwankender Selbstwert für Patientinnen häufig in starken negativen Emotionen, z. B. in Scham oder Minderwertigkeitsgefühlen. Für das Gespräch mit Patientinnen ist daher der Begriff des Selbstwertgefühls oft ein guter Einstieg in die Arbeit an den damit verbundenen Problemen.
Was ist nun Selbstwert bzw. Selbstwertgefühl? Unter Selbstwert versteht man schlicht den Wert, den eine Person sich selbst zuschreibt (z. B. Potreck-Rose, 2006, S. 9; Zeigler-Hill, 2011; Baumeister, 1993; Branden, 1994), d. h. die evaluative Komponente des Selbst. Selbstwert ist somit ein subjektives Phänomen. Die meisten Befragten könnten auf die Frage, wie es um den eigenen Selbstwert bestellt sei, eine ungefähre Aussage treffen. Diese Einschätzung wird dann als globaler Selbstwert bezeichnet.
Bei genauerem Hinsehen fällt jedoch auf, dass die Frage, wie es um den eigenen Selbstwert bestellt sei, nicht so einfach zu beantworten ist. Viele Autorinnen führen an, dass der Selbstwert strenggenommen der Selbstwert in vielen unterschiedlichen Lebensbereichen ist, denn die meisten Menschen berichten in verschiedenen Lebensbereichen auch unterschiedlich ausgeprägten Selbstwert (z. B. Swann & Bosson, 2010). Dies kann beispielsweise an Rollen gebunden sein, z. B. als Partnerin, Mutter, Chefin oder Mannschaftsmitglied beim Sport. Auch ein Bezug auf verschiedene psychologische Domänen |5|ist möglich, wie z. B. berufliche Leistung, soziale Kontakte oder physische Aspekte (Aussehen, Sportlichkeit).
Die mögliche Bereichsabhängigkeit des Selbstwerts findet sich in manchen psychometrischen Instrumenten wieder (z. B. der Multidimensionalen Selbstwertskala; vgl. Seite 37), hat jedoch (noch) keine finale Operationalisierung gefunden und wird auch in vielen Studien nicht systematisch berücksichtigt (vgl. auch Kapitel 1.3.5).
Eine Vielzahl von Studien konnte zeigen, dass ein hohes Niveau einer globalen Einschätzung des Selbstwerts mit einer Reihe von Variablen des psychischen Wohlbefindens assoziiert ist, wie z. B. höherer Lebenszufriedenheit, akademischem Erfolg, geringerer Einsamkeit, weniger problematischem Smartphone-Gebrauch, aber auch mit höheren Ausprägungen psychopathologischer Variablen wie Depressivität und Suizidgedanken (für Reviews siehe z. B. DuBois & Tevendale, 1999; Baumeister, Campbell, Krueger & Vohs, 2003). Manche der Befunde waren jedoch uneinheitlich oder das Niveau des Selbstwerts konnte nur einen kleinen Teil der Gesamtvarianz der untersuchten Variablen erklären.
In der Folge wurden neben dem Ausmaß des globalen Selbstwerts (engl.: „level of self-esteem“) zusätzliche Aspekte des Selbstwerts konzeptualisiert und als potenzielle Einflussfaktoren untersucht:
Die Außenabhängigkeit („contingency“),
die Stabilität („stability“) sowie
die Konvergenz zwischen implizitem und explizitem Selbstwert („implicit versus explicit self-esteem“).
Annahmen zu einem außenabhängigen bzw. -unabhängigen Selbstwert postulieren, dass ein Selbstwert, der stärker an antizipierte Erwartungen bzw. Reaktionen anderer gekoppelt ist, eher niedrig ist. Dies kann sich auf alle Lebensbereiche beziehen oder auf ausgewählte (z. B. akademische Leistung). Auf die akademische Leistung bezogen würde ein hohes Maß an außenabhängigem Selbstwert bedeuten, dass die Person bei fehlender positiver Zustimmung, ausbleibendem Erfolg oder einer schlechten Note schnell einen niedrigen Selbstwert in diesem Bereich entwickelt. Einige Studien (z. B. Schöne, Tandler & Stiensmeier-Pelster, 2015; Wouters et al., 2013) konnten zeigen, dass ein bereichsspezifisch abhängiger Selbstwert mit einem höheren Ausmaß an depressiven Symptomen assoziiert war.
Das u. a. in der Gesprächspsychotherapie verortete Konzept der bedingungslosen positiven Zuwendung wird ebenfalls mit dieser Form von Selbstwert in Zusammenhang gebracht: Eltern, die ihren Kindern bereichs- und inhaltsunabhängig Zuwendung schenken, fördern damit die Entwicklung eines stabilen Selbstwerts.
|6|Weitere Differenzierungen beziehen sich auf den zeitlichen Verlauf: Der Selbstwert kann in Abhängigkeit von äußeren Ereignissen oder spontan schwanken. In der Literatur wird entsprechend von der Stabilität oder Fragilität des Selbstwerts einer Person gesprochen (z. B. Kernis, Lakey & Heppner, 2008). Dies kann noch weiter unterteilt werden in die wahrgenommene versus die tatsächliche Stabilität, die über wiederholte Messungen erfasst werden könnte. Die wahrgenommene Stabilität entspräche dabei einer globalen Selbsteinschätzung für einen Zeitraum, während die tatsächliche Stabilität über wiederholte Messungen erfasst wird. Eine mögliche Quelle eines schwankenden Selbstwerts könnte die oben geschilderte stärkere Außenabhängigkeit sein – die Stabilität wäre also in dieser Betrachtungsweise eine Folge eines außenunabhängigen Selbstwerts. Die Frage, ob es auch Personen mit instabilem Selbstwert gibt, der jedoch nicht auf eine stärkere Außenabhängigkeit zurückzuführen ist, wurde nach unserem Wissen bislang nicht beantwortet.
Eine weitere Differenzierung erfolgt mit dem Konzept des expliziten und impliziten Selbstwerts. Der explizite Selbstwert ist die direkte Wahrnehmung bzw. Aussage über den eigenen Selbstwert, von der bisher gesprochen wurde. Für eine Vielzahl psychologischer Dimensionen wurde jedoch eine zusätzliche implizite Ebene angenommen: Diese spiegelt sich nicht in den direkten Aussagen wider, sondern wird als automatisch und möglicherweise unbewusste Reaktion konzeptualisiert. Häufig werden die impliziten Ausprägungen über Reaktionszeiten gemessen, das klassische experimentelle Paradigma ist der Implizite Assoziationstest (IAT; Greenwald, McGhee & Schwartz, 1998). Im Falle von Selbstwert wären dies z. B. selbstbewertende Äußerungen, die mit anderen Stimuli kombiniert dargeboten werden. Auf diese muss z. B. durch Tastendruck reagiert werden. Die Differenzen zwischen den Reaktionszeiten zwischen z. B. positiven und negativen selbstbewertenden Äußerungen entsprechen dann dem postulierten impliziten Selbstwert.
Expliziter und impliziter Selbstwert zeigen sich in Studien interessanterweise als weitgehend unabhängige Dimensionen. Bei den entstehenden Differenzen kann unterschieden werden zwischen einem fragilen Selbstwert, d. h. einem hohen expliziten, aber niedrigen impliziten Selbstwert, sowie einem beschädigten Selbstwert (niedriger expliziter, aber hoher impliziter Selbstwert; siehe z. B. Vater et al., 2013; Zeigler-Hill, 2011).
Der fragile Selbstwert wurde in einer Reihe von Studien mit der narzisstischen Persönlichkeitsstörung sowie der Borderline-Persönlichkeitsstörung in Verbindung gebracht. Bei Jugendlichen mit einer Autismus-Spektrum-Störung wurde hingegen im Vergleich zu Jugendlichen ohne psychische Störung eher ein beschädigter Selbstwert gefunden, d. h. geringerer expliziter Selbstwert bei gleich hoher Ausprägung des impliziten Selbstwerts. Auch Depressivität und Ängstlichkeit werden wiederholt mit Diskrepanzen zwischen dem expliziten und impliziten Selbstwert in Verbindung gebracht.
|7|Für die Praktikerin ist eine Messung des impliziten Selbstwerts mithilfe von experimentellen Anordnungen in der Regel keine Option. Wir denken jedoch, dass sich Hinweise auf einen niedrigen impliziten Selbstwert durch Beobachtungen finden lassen, z. B. wenn überkompensatorische Verhaltensweisen in einer selbstwertbedrohlichen Situation gezeigt werden oder Diskrepanzen zwischen verbalen Äußerungen und der Mimik, Gestik oder Verhalten auftreten. Diese Annahme ist jedoch nicht wissenschaftlich gestützt.
Fazit
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der globale Selbstwert leicht definiert werden kann. In der Forschung wurden weitere Differenzierungen vorgenommen, z. B. bezüglich unterschiedlicher Domänen, des Ausmaßes der Abhängigkeit von Außenkriterien, der zeitlichen Fragilität bzw. Stabilität sowie dem Unterschied zwischen dem expliziten und impliziten Selbstwert. Eine Modellvorstellung, die alle diese Faktoren einbezieht, existiert derzeit (noch) nicht.
Wie bereits geschildert, existieren im Umfeld des Begriffs Selbstwert eine Vielzahl verwandter Begriffe. In Tabelle 1 haben wir häufig genutzte Begriffe zusammengetragen und grenzen sie jeweils zum oben definierten Selbstwert-Begriff ab. Viele Begriffe sind nicht zentral und einheitlich definiert, sodass wir unsere Beschreibung keinesfalls als begriffliche Festlegung für jeden der beschriebenen Begriffe verstehen wollen.
Tabelle 1: Selbstwert und verwandte Konstrukte
Konstrukt
Abgrenzung zum Selbstwert-Begriff
Selbstachtung
Selbstachtung ist als positives Gefühl gegenüber der eigenen Person und ihrer Leistung konzeptualisiert. Sie deckt somit einen Bereich von Selbstwert ab.
Selbstmitgefühl
Selbstmitgefühl beschreibt im Gegensatz zu Selbstwert eher eine Haltung als ein Ergebnis, nämlich einen freundlichen und wohlwollenden Umgang mit sich selbst, gerade auch dann, wenn schmerzhafte Gefühle und Gedanken erlebt werden. Selbstmitgefühl kann zu einem gesunden Selbstwertgefühl beitragen (vgl. Kasten).
Selbstvertrauen
Selbstvertrauen bezieht sich auf eigene Fähigkeiten und Fertigkeiten und deren Einsatz.
|8|Selbstakzeptanz
Selbstakzeptanz stellt einen Unteraspekt von Selbstwert dar und besteht in einem sich zugewandten Umgang mit eigenen Fehlern und Unzulänglichkeiten.
Selbstzufriedenheit
Selbstzufriedenheit hat im allgemeinen Sprachgebrauch die negative Konnotation von zu viel Zufriedenheit mit den eigenen Fähigkeiten.
(Positives) Selbstkonzept
Das Selbstkonzept stellt die deskriptive Komponente des Selbst dar, der Selbstwert die evaluative.
(Positives) Selbstbild
Der Begriff des Selbstbildes ist inhaltlich deckungsgleich mit dem Begriff des Selbstkonzepts. Da er in der Umgangssprache häufiger genutzt wird, ist er für den therapeutischen Kontext geeigneter.
Selbstwirksamkeit
Selbstwirksamkeit bezeichnet die Überzeugung, schwierige Situationen und Herausforderungen meistern zu können. Sie stellt damit einen Unteraspekt von Selbstwert dar.
Selbstsicherheit
Selbstsicherheit bezieht sich auf die wahrgenommene Kompetenz im Umgang mit interpersonell herausfordernden Situationen. Sie stellt damit einen Unteraspekt von Selbstwert dar.
Soziale Kompetenz
Soziale Kompetenz bezieht sich auf Denk- und Verhaltensweisen in Interaktionssituationen, stellt also einen Unteraspekt des Selbstwerts dar.
(Gutes, hohes) Selbstbewusstsein
Im psychologischen Kontext wird ein hohes Selbstbewusstsein ähnlich wie ein gutes Selbstvertrauen konzeptualisiert, also als subjektive Überzeugung guter eigener Fähigkeiten und des eigenen Werts. Es kommt somit dem Begriff eines guten Selbstwerts relativ nah.
Da der Begriff des Selbstmitgefühls in der Psychotherapie in den letzten Jahren viel Beachtung erfahren hat – auch in Zusammenhang mit selbstmitgefühlsbasierten Interventionen für die Psychotherapie – möchten wir diesen im folgenden Kasten genauer erläutern und von Selbstwert abgrenzen.
Selbstmitgefühl
Selbstmitgefühl bezeichnet das Mitgefühl in Bezug auf die eigene Person. Kristin Neff (2003) operationalisiert Selbstmitgefühl mittels dreier Facetten:
Der Freundlichkeit („kindness“) gegenüber der eigenen Person,
der Achtsamkeit, insbesondere für schmerzhafte Gedanken und Gefühle („mindfulness“), und
der Tatsache, dass alle Menschen Leid erleben und dadurch miteinander verbunden sind („sense of common humanity“).
|9|Zusammen mit Chris Germer entwickelte Neff eine achtwöchige Gruppenintervention für die Allgemeinbevölkerung, das Mindfulness Self-Compassion Training (MSC; Neff & Germer, 2013): Hier lernen Menschen, freundlich und mitfühlend auf emotionalen Schmerz und Belastungen zu reagieren. Neff und Germer sehen das Programm eher als Fertigkeiten-Training („like going to the gym“), es ersetze keine Psychotherapie, könne aber als sinnvolles Additivum verwendet werden.
Etwa zeitgleich entwickelte Paul Gilbert basierend auf evolutionären, neurowissenschaftlichen und psychologischen Forschungsergebnissen die „Compassion-Focused Therapy“ (CFT; z. B. Gilbert, 2014). Sie kombiniert Elemente verschiedener Therapierichtungen, vorrangig der kognitiven Verhaltenstherapie, mit der Stärkung einer mitfühlenden Haltung und ist insbesondere für Patientinnen indiziert, die ein hohes Maß an Scham und Selbstkritik zeigen. Unter Mitgefühl versteht Gilbert die Empfindsamkeit für eigenes Leid und Leid der anderen („sensitivity to suffering“), verbunden mit dem Wunsch, zu versuchen, dieses zu lindern oder diesem vorzubeugen. Gilbert arbeitet dabei mit unterschiedlichen inneren Anteilen oder Mindsets, zum Beispiel dem „Compassionate Self“, welches durch verschiedene Qualitäten charakterisiert ist (z. B. Empathie, Toleranz für Leid, Nicht-Bewertung). Darüber hinaus führt er verschiedene Fertigkeiten und Übungen auf, die dieses Mindset stärken (Gilbert 2014; vgl. auch Kapitel 4.3.3).
Beide Strömungen weisen eine rege Forschungstätigkeit auf, es wurden verschiedene psychometrische Instrumente entwickelt und die Interventionen können als vergleichsweise gut evaluiert gelten (vgl. Kapitel 5.1).