Psychoanalytische Forschung - Marianne Leuzinger-Bohleber - E-Book

Psychoanalytische Forschung E-Book

Marianne Leuzinger-Bohleber

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Beschreibung

Als ein "Junktim zwischen Heilen und Forschen" charakterisierte Freud die Forschung in der Psychoanalyse. Das analytische Verfahren sei das einzige, bei dem dies kostbare Zusammentreffen gewahrt bleibe. Bis heute provoziert die "Junktimforschung" Kontroversen zwischen der "klinischen" Forschung, die in der analytischen Situation selbst stattfindet, und der "extraklinischen" Forschung, die im Anschluss erfolgt - innerhalb und außerhalb der psychoanalytischen Community. Drei namhafte psychoanalytische Forscher stellen anhand eigener Studien und konzeptueller Überlegungen ihre Positionen zur Diskussion.

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Seitenzahl: 311

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Psychoanalyse im 21. Jahrhundert

Klinische Erfahrung, Theorie, Forschung, Anwendungen

 

Herausgegeben von Cord Benecke, Lilli Gast,

Marianne Leuzinger-Bohleber und Wolfgang Mertens

 

Berater der Herausgeber

Ulrich Moser

Henri Parens

Christa Rohde-Dachser

Anne-Marie Sandler

Daniel Widlöcher

Marianne Leuzinger-BohleberCord BeneckeStephan Hau

Psychoanalytische Forschung

Methoden und Kontroversen in Zeiten wissenschaftlicher Pluralität

Unter Mitarbeit von Bernhard Rüger

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

 

 

1. Auflage 2015

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-022275-5

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-029152-2

epub:    ISBN 978-3-17-029153-9

mobi:    ISBN 978-3-17-029154-6

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Geleitwort zur Reihe

 

 

 

Die Psychoanalyse hat auch im 21. Jahrhundert nichts von ihrer Bedeutung und Faszination verloren. Sie hat sich im Laufe ihres nun mehr als einhundertjährigen Bestehens zu einer vielfältigen und durchaus auch heterogenen Wissenschaft entwickelt, mit einem reichhaltigen theoretischen Fundus sowie einer breiten Ausrichtung ihrer Anwendungen.

In dieser Buchreihe werden die grundlegenden Konzepte, Methoden und Anwendungen der modernen Psychoanalyse allgemeinverständlich dargestellt. Worin besteht die genuin psychoanalytische Sichtweise auf Forschungsgegenstände wie z. B. unbewusste Prozesse, Wahrnehmen, Denken, Affekt, Trieb/Motiv/Instinkt, Kindheit, Entwicklung, Persönlichkeit, Konflikt, Trauma, Behandlung, Interaktion, Gruppe, Kultur, Gesellschaft u. a. m.? Anders als bei psychologischen Theorien und deren Überprüfung mittels empirischer Methoden ist der Ausgangspunkt der psychoanalytischen Theoriebildung und Konzeptforschung in der Regel zunächst die analytische Situation, in der dichte Erkenntnisse gewonnen werden. In weiteren Schritten können diese methodisch trianguliert werden: durch Konzeptforschung, Grundlagenforschung, experimentelle Überprüfung, Heranziehung von Befunden aus den Nachbarwissenschaften sowie Psychotherapieforschung.

Seit ihren Anfängen hat sich die Psychoanalyse nicht nur als eine psychologische Betrachtungsweise verstanden, sondern auch kulturwissenschaftliche, sozialwissenschaftliche sowie geisteswissenschaftliche Perspektiven hinzugezogen. Bereits Freud machte ja nicht nur Anleihen bei den Metaphern der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts, sondern entwickelte die Psychoanalyse im engen Austausch mit geistes- und kulturwissenschaftlichen Erkenntnissen. In den letzten Jahren sind vor allem neurowissenschaftliche und kognitionspsychologische Konzepte und Befunde hinzugekommen. Dennoch war und ist die klinische Situation mit ihren spezifischen Methoden der Ursprung psychoanalytischer Erkenntnisse. Der Blick auf die Nachbarwissenschaften kann je nach Fragestellung und Untersuchungsgegenstand bereichernd sein, ohne dabei allerdings das psychoanalytische Anliegen, mit spezifischer Methodik Aufschlüsse über unbewusste Prozesse zu gewinnen, aus den Augen zu verlieren.

Auch wenn psychoanalytische Erkenntnisse zunächst einmal in der genuin psychoanalytischen Diskursebene verbleiben, bilden implizite Konstrukte aus einschlägigen Nachbarwissenschaften einen stillschweigenden Hintergrund wie z. B. die derzeitige Unterscheidung von zwei grundlegenden Gedächtnissystemen. Eine Betrachtung über die unterschiedlichen Perspektiven kann den spezifisch psychoanalytischen Zugang jedoch noch einmal verdeutlichen.

Der interdisziplinäre Austausch wird auf verschiedene Weise erfolgen: Zum einen bei der Fragestellung, inwieweit z. B. Klinische Psychologie, Entwicklungspsychologie, Entwicklungs-psychopathologie, Neurobiologie, Medizinische Anthropologie zur teilweisen Klärung von psychoanalytischen Kontroversen beitragen können, zum anderen inwieweit die psychoanalytische Perspektive bei der Beschäftigung mit den obigen Fächern, aber auch z. B. bei politischen, sozial-, kultur-, sprach-, literatur- und kunstwissenschaftlichen Themen eine wesentliche Bereicherung bringen kann.

In der Psychoanalyse fehlen derzeit gut verständliche Einführungen in die verschiedenen Themenbereiche, die den gegenwärtigen Kenntnisstand nicht nur klassisch freudianisch oder auf eine bestimmte Richtung bezogen, sondern nach Möglichkeit auch richtungsübergreifend und Gemeinsamkeiten aufzeigend darstellen. Deshalb wird in dieser Reihe auch auf einen allgemein verständlichen Stil besonderer Wert gelegt.

Wir haben die Hoffnung, dass die einzelnen Bände für den psychotherapeutischen Praktiker in gleichem Maße gewinnbringend sein können wie auch für sozial- und kulturwissenschaftlich interessierte Leser, die sich einen Überblick über Konzepte, Methoden und Anwendungen der modernen Psychoanalyse verschaffen wollen.

 

Die Herausgeberinnen und Herausgeber

Cord Benecke, Lilli Gast,

Marianne Leuzinger-Bohleber und Wolfgang Mertens

Inhaltsverzeichnis

 

 

Geleitwort zur Reihe

Vorbemerkungen der drei Autoren

Teil I

Zur Vielfalt psychoanalytischer Forschung heute Illustriert mit Forschungsprojekten am Sigmund-Freud-Institut, Frankfurt

Marianne Leuzinger-Bohleber

Bernhard Rüger gewidmet

1

Psychoanalytische Forschung: Einige historische und wissenschaftssoziologische Anmerkungen

1.1 Die Anfänge: Psychoanalyse als Produkt der Europäischen Kultur- und Geistesgeschichte

1.2 Aktuelle Entwicklungen in der internationalen Psychoanalyse

1.3 Zusammenfassung

2

Zur Vielfalt psychoanalytischer Forschung heute: Klinische und Extraklinische Forschung

2.1 Klinische Forschung in der Psychoanalyse

2.2 Extraklinische Forschung in der Psychoanalyse

2.2.1 Psychoanalytische Konzeptforschung

2.2.2 Weitere Formen der Extraklinischen Forschung

3

Über Statistische Methoden in der empirischen Psychotherapieforschung

Bernhard Rüger

3.1 Einführung

3.2 Über klinische Studien

3.3 Grundsätzliche statistische Begriffe und Kriterien

3.4 Über RCT-Studien

3.5 Vorschlag für das Design einer neuen erstrangigen Studienform

4

Exemplarische Forschungsprojekte zur Kombination von klinischer und extraklinischer Forschung in der Psychoanalyse am Sigmund-Freud-Institut

4.1 Ergebnisstudie der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung

4.2 Die LAC Depressionsstudie (Langzeitbehandlungen Chronisch Depressiver Patienten)

4.3 Die Frankfurter fMRI/EEG Depressions-Studie (FRED)

4.4 Die Frankfurter ADHS-Studie

4.5 Studien im Frühpräventionsbereich

4.6 Klinische und extraklinische Forschung im Bereich der Pränataldiagnostik

Teil II

Forschung im interdisziplinären Dialog und in der Grundlagenforschung

Stephan Hau

5

Der Kontext psychoanalytischer Forschung – Übersicht

5.1 Definition Grundlagenforschung

5.2 Definition Interdisziplinäre Forschung

5.3 Freuds Junktim von »Heilen und Forschen«

5.4 Status der Psychoanalyse als Wissenschaft

5.5 Vier verschiedene Bereiche psychoanalytischer Theorie

5.5.1 Psychoanalyse als allgemeine Theorie des psychischen Erlebens (»mind«)

5.5.2 Psychoanalyse als eine Theorie der Psychopathologie

5.5.3 Psychoanalytische Sozialpsychologie

5.5.4 Psychoanalyse als Psychotherapieform und Behandlungstechnik

6

Vielfalt der Forschungsmethoden

6.1 Vielfalt der klinischen Theorien innerhalb der Psychoanalyse

6.2 Weitere Faktoren Praxisorientierte Theorie versus Forschungstheorie

6.3 Private Umsetzung von Theorien und zwei unterschiedliche Arten der Beobachtung

6.4 Extraklinische Forschung über psychoanalytische Konzepte

6.5 Grenzen der psychoanalytischen Forschungsmethode

6.6 Psychoanalytische Forschung geschieht im gesellschaftlichen Kontext und im Kontext des Erkenntnisfortschrittes in anderen Wissenschaftsdisziplinen

7

Psychoanalytische Traumforschung als Beispiel für Grundlagenforschung und für interdisziplinäre Forschung

7.1 Das neue Bild vom Traum – Ergebnisse grundlagenwissenschaftlicher Untersuchungen

7.2 Psychoanalytische Traumforschung im Labor

7.3 Die tachyakustische Beeinflussung von Träumen

7.3.1 Stimuli

7.4 Folgerungen zur Traumtheorie und zur Beschaffenheit des Vorbewussten

7.5 Traum und Trauma

7.6 Träume und Alpträume: Der traumatische Traum

7.7 Analyse eines Traums

7.8 Abschließende Betrachtungen: Klinische Bedeutung der empirischen Ergebnisse

Teil III

Vergleichende Psychotherapieforschung

Cord Benecke

8

Wirksamkeitsforschung

8.1 Wirksamkeiten und Evidenzen

8.1.1 Efficacy und Effectiveness – Fragestellungen und Designs

8.1.2 Welche Veränderungen sind für wen relevant?

8.2 Befundlage zur Wirksamkeit Psychoanalytischer Psychotherapien

8.2.1 Psychodynamische (Kurz-)Psychotherapien

8.2.2 Psychoanalytische Langzeitbehandlungen / Psychoanalyse

8.2.3 Psychoanalytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie sowie Gruppentherapie

8.2.4 Wirtschaftlichkeit von Psychoanalytischen Behandlungen

9

Psychotherapieprozessforschung

9.1 Methoden zur Erfassung psychoanalytischer Prozessaspekte

9.2 Ergebnisse der Prozessforschung

10

Fazit zur Wirksamkeits- und Prozessforschung

10.1 Grundzüge eines Studiendesigns für Vergleiche zwischen Behandlungsformen von unterschiedlicher Dauer und Intensität

Literaturverzeichnis

Register

Vorbemerkungen der drei Autoren

 

 

 

»In der Psychoanalyse bestand von Anfang an ein Junktim zwischenHeilen und Forschen, die Erkenntnis brachte den Erfolg, man konnte nicht behandeln, ohne etwas Neues zu erfahren, man gewann keine Aufklärung, ohne ihre wohltätige Wirkung zu erleben. Unser analytisches Verfahren ist das einzige, bei dem dies kostbare Zusammentreffen gewahrt bleibt. Nur wenn wir analytische Seelsorge betreiben, vertiefen wir unsere eben aufdämmernde Einsicht in das menschliche Seelenleben. Diese Aussicht auf wissenschaftlichen Gewinn war der vornehmste, erfreulichste Zug der analytischen Arbeit.« (S. 386, Hervorhebung, d. V.), so charakterisierte Freud 1927 im »Nachwort zur Frage der Laienanalyse« Forschung in der Psychoanalyse. Wie in diesem Band diskutiert wird, provoziert diese sogenannte »Junktimforschung« bis heute kontroverse Auffassungen der on-line (»klinischer«) Forschung in der psychoanalytischen Situation selbst und off-line (»extraklinischer«, nach den Sitzungen stattfindende) Forschung sowohl innerhalb als auch außerhalb der psychoanalytischen Community.

In den nun über 100 Jahren psychoanalytischer Forschung hat sich ein Reichtum verschiedener Forschungsmethoden entwickelt, sodass wir heute auch in der Psychoanalyse von einer »Pluralität der Forschung« sprechen. Mit dieser Entwicklung ist die Psychoanalyse in bester Gesellschaft: Sowohl in den Natur- als auch in den Geisteswissenschaften herrscht heute eine Pluralität vor. Wie u. a. der Wissenschaftsphilosoph und -historiker Michael Hampe (2000, 2004, 2010) detailliert ausführt, hat sich in den letzten 50 Jahren im wissenschaftstheoretischen Diskurs die Einsicht durchgesetzt, dass die Idee der Einheit aller Wissenschaften, die – voll Euphorie und Überzeugungskraft – zuerst im deutschen Idealismus und später in anderer Form im logischen Empirismus verkündet wurde, nicht mehr haltbar ist. Er schreibt dazu: »Wie alle Euphorien, so waren auch die der philosophischen Einheitswissenschaft ohne Bestand, sie vergingen wieder. Hier will ich nur feststellen, daß mir heute kein ernst zu nehmender Vertreter der Philosophie bekannt ist, der noch ein einheitswissenschaftliches Programm vertritt. Doch der Untergang dieser Enthusiasmen war von einem beständigen Prozeß begleitet, der das einheitswissenschaftliche Projekt eigentlich hätte immer dringlicher erscheinen lassen müssen: Ich meine den Prozeß der stetigen Ausdifferenzierung der Wissenschaften« (S. 28). So kann z. B. die Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, die Ende des 19. Jahrhunderts u. a. von Dilthey postuliert wurde, die Vielfalt der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, mit denen wir es heute zu tun haben, nicht mehr adäquat abbilden. Es wurde immer offensichtlicher, dass es nicht mehr möglich ist, einen einheitlichen Theoriebegriff für all diese Wissenschaften zu formulieren. »Es gibt nicht die Form einer wissenschaftlichen Theorie, die sich in Mathematik, Physik, Neurobiologie, Psychologie, Soziologie, Altertumswissenschaft, Geschichte und Neuphilologie wiederholen würde, ganz zu schweigen von Medizin, Jurisprudenz und Theologie; Disziplinen, die es nicht nur mit spezifischen Formen der Theoriebildung, sondern darüber hinaus mit Anwendungen von Wissen zur Pflege der Gesundheit, der Gerechtigkeit und der Seelsorge zu tun haben. … Der Pluralismus der Wissenschaften ist (also) erstens einer der Theorien, zweitens einer der Erfahrungen, drittens einer der Erkenntniswerte und viertens einer der Methoden« (Hampe, a.a.O., S. 33).

Ein Ziel dieses Bandes ist es, einen Eindruck vom pluralen Reichtum heutiger Forschung in der Psychoanalyse zu vermitteln. Zudem sollen spezifische Herausforderungen und Problemstellungen bei verschiedenen Zugangsweisen geschildert werden. Auf Fragen unterschiedlicher Forschungsdesigns und der damit verbundenen methodischen Probleme wird besonderes Gewicht gelegt. Sie werden mit konkreten Forschungsprojekten illustriert. Während in Teil I der Schwerpunkt auf einem kurzen historischen Abriss, auf einer Übersicht über den Reichtum der psychoanalytischen Forschung, als »Wissenschaft des Unbewussten« eingebettet in die heutigen pluralen Wissensgesellschaften, liegt (Autorin: Marianne Leuzinger-Bohleber), bietet Teil II, aufgrund der Expertise von Stephan Hau, nach einer kurzen Skizze seiner eigenen Position als Professor für Klinische Psychologie an der Universität Stockholm, einen Einblick in die experimentelle, psychoanalytische Schlaf-Traumforschung. In Teil III vertieft Cord Benecke, Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Kassel, grundlegende Probleme der psychoanalytischen Psychotherapieforschung mit besonderem Schwerpunkt auf der Ergebnis- und Prozessforschung psychoanalytischer Projekte.

Alle drei Autoren des Bandes sind ausgewiesene Forscher im Bereich der Psychoanalyse. Sie vertreten aufgrund ihrer spezifischen Forschungssozialisation unterschiedliche Forschungstraditionen in der Psychoanalyse und sind in unterschiedlichen institutionellen Kontexten tätig, die auch ihre aktuellen Forschungsrealitäten und -positionen mitprägen, wie aus ihren Beiträgen in diesem Band ersichtlich wird.

Marianne Leuzinger-Bohleber ist geschäftsführende Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt am Main und Professorin für Psychoanalyse an der Universität Kassel. Sie ist Vice-Chair des Research Boards der International Psychoanalytical Association (IPA), Lehranalytikerin und Vorsitzende der Forschungs- und Hochschulkommission der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV). Sie war verantwortlich für einige große Studien im Bereich der Psychotherapieforschung und der Frühprävention und plädiert für ein breites Spektrum verschiedener methodischer Zugänge bei der Erforschung des spezifischen Gegenstands der Psychoanalyse, unbewussten Phantasien und Konflikten. Sie blickt auf 20 Jahre interdisziplinäre Zusammenarbeit mit dem emeritierten Professor für Statistik, Bernhard Rüger, Universität München, zurück. Gemeinsam verfassen sie in diesem Band eine Art Resumée ihrer langjährigen Zusammenarbeit.

Cord Benecke ist Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie am Institut für Psychologie der Universität Kassel und leitet die dortige Hochschulambulanz sowie den Schwerpunktmasterstudiengang Klinische Psychologie und Psychotherapie. Er ist Mitglied und Leiter der Forschungskommission der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG) und Mitbegründer der DPG-Summer-School zur Förderung psychoanalytischer Forschung. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Klinischen Emotionsforschung, hier insbesondere der Untersuchung nonverbaler Kommunikationsprozesse, sowie in der Psychotherapieforschung. Er leitet zwei Projekte zur Untersuchung von Langzeiteffekten psychoanalytisch begründeter Psychotherapie: die DPG-Praxisstudie und die APS-Studie.

Stephan Hau ist Professor für Klinische Psychologie an der Universität Stockholm und Mitglied der International Psychoanalytical Association. Bis 2005 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main und dort vor allem im Bereich experimentelle Traum- und Gedächtnisforschung tätig. Er forscht seit über 20 Jahren interdisziplinär mit Pädagogen, Sprachwissenschaftlern, Medizinern und Sozialwissenschaftlern über klinische sowie sozialpsychologische Themen. Aktuell stehen Untersuchungen von Albträumen bei traumatisierten Patienten und pädagogische Forschung über die Entstehung der psychotherapeutischen Identität im Mittelpunkt. Das vorliegende Kapitel über interdisziplinäre und grundlagenwissenschaftliche psychoanalytische Forschung veranschaulicht die Probleme aber auch die Möglichkeiten in der Anwendung

Wir freuen uns, dass dieser gemeinsame Band in der Reihe »Psychoanalyse im 21. Jahrhundert« erscheinen wird und hoffen, dass er zu konstruktiven Diskursen über Forschung in der Psychoanalyse beitragen kann. Wir danken Annabelle Starck und Tom Degen, studentische Mitarbeiter am Sigmund-Freud-Institut, für die sorgfältige Durchsicht des Manuskripts und das Erstellen des Literaturverzeichnisses.

 

Frankfurt, im Dezember 2014

 

Marianne Leuzinger-Bohleber, Cord Benecke und Stephan Hau

 

 

 

Teil I   Zur Vielfalt psychoanalytischer Forschung heute Illustriert mit Forschungsprojekten am Sigmund-Freud-Institut, Frankfurt

Marianne Leuzinger-BohleberBernhard Rüger gewidmet

1         Psychoanalytische Forschung: Einige historische und wissenschaftssoziologische Anmerkungen1

 

Lernziele für Teil I

•  Einen Überblick über die Geschichte der psychoanalytischen Forschung bekommen

•  Aktuelle Entwicklungen in der internationalen Psychoanalyse heute kennenlernen

•  Vor- und Nachteile der »evidence-based-medicine« kennen

•  Psychoanalyse als »spezifische Wissenschaft des Unbewussten« charakterisieren können

•  Veränderungen der Bedeutung von »Wissenschaft« in der globalisierten, medialisierten und pluralistischen Gesellschaften kennen

•  Überblick über die Vielzahl von psychoanalytischen Forschungsmethoden gewinnen

•  Unterschiede zwischen klinischer und extraklinischer Forschung beschreiben können

•  Vor- und Nachteile der »Psychoanalytische Expertenvalidierung« kennen

•  Verschiedene Phasen der psychoanalytischen Psychotherapieforschung kennenlernen

•  »Neuro-Psychoanalyse« definieren können

•  Unterschiedliche Designs zur Untersuchung von psychoanalytischen Langzeitbehandlungen kennenlernen

•  Verschiedene psychoanalytische Projekte im Bereich der Psychotherapieforschung und der Frühprävention kennen

1.1        Die Anfänge: Psychoanalyse als Produkt der Europäischen Kultur- und Geistesgeschichte

Wollen wir heutige psychoanalytische Forschung verstehen, ist ein kurzer Blick auf ihre Geschichte sowie wissenschaftssoziologische Kontexte unverzichtbar. So zeichnete kürzlich der Medizinhistoriker George Makari (2008) die Entstehung der Psychoanalyse Anfang des 20. Jahrhunderts in eindrucksvoller Weise nach und zeigte auf, wie sehr sie als das Produkt der Europäischen Kultur- und Geistesgeschichte gesehen werden kann. Makari verbindet die Entstehung und die Geschichte der Psychoanalyse und vor allem die Überschätzung, die Freud dabei als geniale Persönlichkeit zugesprochen wird, mit der größten Katastrophe des 20. Jahrhunderts, dem Nationalsozialismus, und den unerträglichen Verlusten, die die Generation der in die USA emigrierten Psychoanalytiker dadurch erleben musste:

»Die Psychoanalyse entstand aus dem Wirrwarr des Nachkriegs-Europa und wurde zur führenden, modernen Theorie der Seele. Ihre Modelle der unbewussten Leidenschaften, ihre Auffassung von Abwehr und innerem Konflikt, und ihre Methode Selbsttäuschungen aufzudecken, siegte über die traditionellen Quellen des Selbstverständnisses wie z. B. Religion. In den USA eroberte die Psychoanalyse ihren Weg zu Gerichten, Schulen und Kliniken, und wurde zur Informationsquelle in der Literatur, im Film, dem Fernsehen, von Journalisten, im Theater und in der Kunst. Und während sich die Psychoanalyse ausbreitete, brachten sie, beabsichtigt oder unbeabsichtigt, die Kultur Kant’s mit sich; die Grundannahmen der Geisteswissenschaften und einer Europäischen klassischen Bildung: Sie brachte die Evolutionsbiologie, den Positivismus und die Newton’sche Physik mit sich und die Gedanken von Ribot, Charcot, Bernheim, Breuer, Brentano, Krafft-Ebing, Fliess, Brücke, Helmholtz, Mach, Schelling, Fechner, Hering, Haeckel, Ehrenfels, Forel, Bleuler, Jung, Gross, Adler, Stekel, Sadger, Rank, Ferenczi, Abraham, Horney, Alexander, Fenichel und viele andere. Allerdings wurden die meisten dieser Vorgänger mit der Zeit vergessen oder verleugnet. Stattdessen trug ein Geist all das weiter, was geerbt und zerstört worden war, alle die Möglichkeiten und Verluste. Die Kultur, die die Psychoanalyse geboren hatte, wurde zu ihrem Grab. Es gab sie nicht mehr. Die Überlebenden im Exil und ihre Nachfolger auf der neuen Insel fielen in ein Vakuum ihrer Zukunft begleitet von einem Namen, einem Talismann: Freud. Ein Mann musste nun die Geschichte repräsentieren, und als Symbol würde er weiterleben, … seine Söhne und Töchter, seine Feinde und Freunde« (Makari, 2008, S. 485).

Allerdings betont auch Makari andererseits das Verdienst von Freud, dass es ihm gelungen war, in seinem Verständnis von Psychoanalyse verschiedene Strömungen der damaligen Biophysik und Psychophysik, die Kontroversen um ein neues Verständnis der Psychopathologie in Frankreich um Charcot an der weltberühmten Klinik Salpetière, sowie sexualwissenschaftliche Forschungen von Krafft-Ebing, Ehrenfels, Weinberger, Moll, Hirschfeld und andere in seinen Theorien der psychosexuellen Entwicklung, des Unbewussten und der Psychodynamik seelischer Störungen zu integrieren (a. a. O., 2008, S. 120). Zudem war er in dieser naturwissenschaftlichen Orientierung stark vom Darwinismus2 beeinflusst, der den Menschen als einen Organismus sah, der von Bedürfnissen getrieben ist, die er unter spezifischen Umweltbedingungen zu befriedigen versucht. Daher definierte Freud bekanntlich »Triebe« an der Grenze zwischen dem Somatischen und dem Psychischen. Psychische Eigenschaften, die Entwicklungsstadien der Sexualität sowie die Ichfunktionen verstand er als das Produkt einer langen Evolutionsgeschichte, in der sich der Mensch kontinuierlich an innere und äußere Realitäten anpasste (vgl. dazu auch Gay, 1987/1989; Jones, 1960/1962; Zaretzki, 2004/2006, S. 473 ff.; Whitebook, 2010).

Unbestritten gehört es daher zu den großen Leistungen von Freud und seinen Mitstreitern, dass sie sich bei seiner Entdeckung der Psychoanalyse einerseits auf die Naturwissenschaften ihrer Zeit beriefen, aber andererseits immer auch die Human- und Kulturwissenschaften mitdachten. Als junger Mann interessierte sich Freud bekanntlich sehr für Philosophie und die anderen Geisteswissenschaften, bevor er sich mit einer auffallend heftigen emotionalen Reaktion den Naturwissenschaften zuwandte. Im Labor am Physiologischen Institut von Ernst Brückes lernte er ein streng positivistisches Verständnis von Wissenschaft kennen, das ihn Zeit seines Lebens anzog. Dennoch wandte sich Freud später bekanntlich von der Neurologie seiner Zeit ab, da er die Grenzen der methodischen Möglichkeiten zur Erforschung des Seelischen in dieser Disziplin erkannte. Mit der »Traumdeutung«, dem »Geburtsdokument der Psychoanalyse«, definierte er diese als »reine Psychologie«. Allerdings verstand er sich auch weiterhin als naturwissenschaftlich genau beobachtender Mediziner. Sein Wunsch nach einer präzisen »empirischen« Überprüfung von Hypothesen und Theorien schützte, so Joel Whitebook (2010), Freud vor seiner eigenen Neigung zur wilden Spekulation. Dadurch konnte er als »philosophischer Arzt« eine neue, »spezifische Wissenschaft des Unbewussten«, die Psychoanalyse, begründen.

So setzte Freud mit seinem Verständnis von Psychoanalyse Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften miteinander in Beziehung. In seiner Konzeption einer Psychosexualität gestaltete er eine Dialektik zwischen Biologie und Psychologie, zwischen Körper und Seele, in einer neuen Weise. Ebenso intensiv befruchteten Literatur und Kunst sein Denken. Auch aus ihnen schöpfte er seine Erkenntnisse über die Grundkonflikte des Menschen, die sich aus den frühkindlichen Phantasien und den ersten Objektbeziehungen speisen und ihn ein Leben lang unbewusst determinieren.

Makari (2008) beschreibt eindrucksvoll, wie schon in der Anfangszeit der Psychoanalyse zu beobachten war, wie Freud und seine Anhänger einen Weg zu finden versuchten, zwischen einer offenen, innovativen Diskussion, mit ständigem Hinterfragen von sogenannten »Wahrheiten«, wie sie einen wissenschaftlichen Diskurs auszeichneten, einerseits und dem Suchen nach einer gemeinsamen Identität, den spezifischen Merkmalen von »Psychoanalyse« andererseits.

Nachträglich gesehen war es eine folgenschwere Entscheidung von Freud, dass er an diesem inhaltlichen und institutionellen Spannungsfeld an seinem Verständnis von Psychoanalyse festhielt und der Gefahr widerstand, die Psychoanalyse entweder in die Welt der Medizin oder in eine »reine Kultur- und Geisteswissenschaft« zu integrieren. Die Psychoanalyse bewahrte daher ihre Eigenständigkeit als wissenschaftliche Disziplin.

Allerdings ist diese Einschätzung nicht unbestritten. Schröter (2010) zum Beispiel bezeichnet es als einen »Konstruktionsfehler« der Psychoanalyse, dass sie sich von den Universitäten abwandte und sich als »Privatwissenschaft« definierte, abseits des universitären Diskurses. Makari (2008) wiederum verfolgt eine andere These: Auch er sah in der Entscheidung zur Gründung einer »loyalen« psychoanalytischen Vereinigung in Nürnberg 1910 einen problematischen Schritt, der sowohl den Rückzug wichtiger, als wissenschaftlich identifizierter Personen wie Eugen Bleuler als auch die verheerenden Spaltungen (Adler, Jung) etc. nach sich zog. »Sigmund Freud hat seine Community von Zweiflern, Rivalen und potentiellen Nachfolgern gereinigt. Der Clanvater hatte sich seiner rebellierenden Söhne entledigt …« (Makari, 2008, S. 290). Zwar schützte er dadurch durchaus auch Patienten vor den Auswüchsen »wilder Analyse« und sexueller Übergriffe, wie sie etwa Otto Gross praktizierte und idealisierte, aber er schränkte dadurch auch produktive wissenschaftliche Kontroversen ein und schuf die Gefahr einer psychoanalytischen Sekte, die sich ihrem Führer unterwirft. – Makari zeigt auf, dass sich Freud dieser Gefahren durchaus bewusst war und sich in den folgenden Jahren noch intensiver darum bemühte, Psychoanalyse nicht als Religion, sondern als Wissenschaft zu definieren.

»Nachdem Jung von seiner IPA Präsidentschaft zurückgetreten war, versuchte Freud sofort sein Wissenschaftsfeld zu verteidigen. Um diesen Punkt zu betonen: Freud brauchte eine solide Definition von Wissenschaft. Zur gleichen Zeit wurde in Wien dieses Thema heftig debattiert [u. a. durch Ernst Mach in seiner Auseinandersetzung mit der Relativitätstheorie von Albert Einstein; L.-B.]. 1914, bezog sich Freud auf diese Diskussionen und versuchte, die Freudsche Psychoanalyse als Wissenschaft zu charakterisieren. Psychoanalytische Ideen, schrieb er sind nicht die Grundlage der Wissenschaft, auf denen alles aufbaut: dieses Fundament sind einzig die Beobachtungen. Sie sind nicht die Basis, sondern der Gipfel der ganzen Struktur, und sie können jederzeit ersetzt oder verändert werden, ohne ihr zu schaden. Das Gleiche ereignet sich in unseren Tagen in der Physik. Die Basisannahmen, die z. B. zentrale Kräfte, Anziehungen etc. sind kaum weniger zu debattieren als die analogen Konzepte in der Psychoanalyse.« (Makari, 2008, S. 298)

Damit beschrieb Freud das Ringen um eine »forschende Grundhaltung« (Leuzinger-Bohleber, 2007), die bis heute die Psychoanalyse prägt. Makari zeichnet detailliert nach, dass sich Freud ständig um eine solche wissenschaftliche Grundhaltung bemühte, sich mit den Argumentationen seiner Gegner intensiv auseinandersetzte und sie in neue theoretische Ansätze integrierte. So differenzierte er z. B. in seinen »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse« (1916/17) seine Auffassungen zur Psychosexualität, die in der Kontroverse mit Jung zu einer Art »Glaubenssatz« geworden waren. In den Vorlesungen, die wie ein erstes »Lehrbuch der Psychoanalyse« aufzufassen sind und daher dazu dienten, den damaligen Konsens, »was unter Psychoanalyse zu verstehen gilt«, zu sichern, fordert er seine Zuhörer auf, seinen Beobachtungen kritisch (»wissenschaftlich«) zu folgen, statt sich nicht seinen Auffassungen zu unterwerfen. Die Beobachtungen werden nun zum Prüfstein der »Wahrheit der Theorien«, zum argumentativen Ausgangspunkt einer Auseinandersetzung mit alternativen Auffassungen wie jenen von Jung, Adler etc. – Nach Makari hat sich Freud die Argumente seiner Gegner immer für Modifikationen seiner Theorien nutzbar gemacht. Z. B. stellte er durch die Kontroverse mit Adler fest, dass er bisher die Rolle der Aggression konzeptuell unterschätzt hatte und berücksichtigte diesen Aspekt (auch unter dem Eindruck des ersten Weltkrieges) in seiner Narzissmustheorie. Zudem überraschte er in seiner Arbeit »Jenseits des Lustprinzips« (1920) seine Anhänger damit, dass er selbst die Position verwarf, die Libidotheorie sei das »sine qua non« der Psychoanalyse. Er konzeptualisierte nun Thanatos (den Todestrieb) als den unverzichtbaren Gegenspieler des Eros (des Lebenstriebs) im Seelenleben des Menschen, ein Gedanke, den schon Stekel vor Jahren formuliert hatte, den Freud aber damals heftig verworfen hatte.

»Angetrieben von den Schrecken des Krieges, verwarf Sigmund Freud, der Denken, Sigmund Freud, den Verteidiger einer Bewegung. Niedergeschmettert durch die Ereignisse ging er zurück zum Reißbrett und änderte seine Auffassungen. In diesem Prozess erlaubte er, bzw. betonte er sogar, die vorläufige Natur jeder Theorie des Unbewussten.… Freud veränderte sich von einem grauen, alten Patriarchen zu jemandem mit vielen Söhnen und Töchtern, ein Indikator für die Entstehung einer Wissenschaft (Makari, 2008, S. 319, Übersetzung, d. V.).

Doch brauchte es klare Strukturen in der Ausbildung, wie sie erstmals das Berliner Institut unter Karl Abraham entwickelte, um einen kreativen, lebendigen und »wissenschaftlichen« Diskurs in der analytischen Gruppe zu stärken: Verglichen mit der Wiener Gruppe herrschte in Berlin ein offenes, von Neugier geprägtes Klima, das viele begabte Nachwuchswissenschaftler anzog und zu eigenständigen Weiterentwicklungen der psychoanalytischen Theoriebildung führte (z. B. von Karl Abraham selbst aber danach u. a. von Franz Alexander, Melanie Klein u. a.). Makari spricht daher von der »Neuen Psychoanalyse« (Makari, 2008, S. 367 ff.). Die Poliklinik (u. a. unter der Leitung von Ernst Simmel) und die Öffnung zu Medizin, Psychiatrie und Universität trugen ebenfalls zu der Kreativität der Gruppe bei. Die politischen Ereignisse (Börsenkrach, Aufkommen des Nationalsozialismus’) beendeten diese Blüte der Psychoanalyse im Berlin der 1920er-Jahre.

In Wien entwickelte sich u. a. ein intensiver Diskurs über die »Wissenschaftlichkeit der Psychoanalyse«, an der sich u. a. Heinz Hartmann und Anna Freud (»Das Ich und die Abwehrmechanismen«, 1936/1952) federführend beteiligten. So wandte sich z. B. Hartmann vehement gegen eine Auffassung von Psychoanalyse als »Weltanschauung«:

»Es gab keine Marxistische Psychoanalyse, keine Jüdische Psychoanalyse und es konnte auch keine nationalsozialistische Psychoanalyse geben. Es gab nur die Psychoanalyse. Oder anders ausgedrückt, eine rationalistische, empirische und naturalistische Psychoanalyse.« (Freud & Hartmann, 1972, S. 451).

Noch in einer weiteren Hinsicht kann die Psychoanalyse als Kind der Europäischen Geistes- und Kulturgeschichte gelten: In der Psychoanalyse wird die Vision der Aufklärung aufgenommen und jedem Individuum seine ganz eigene Berechtigung als Individuum – unabhängig von gesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen – zugedacht, allerdings um ihm gleichzeitig die »dritte narzisstische Kränkung der Menschheit« (Freud) zuzumuten, dass das Individuum keineswegs »Herr oder Frau im eigenen Hause« ist, sondern weitgehend von unbewussten Motivationsquellen in seinem Denken, Fühlen und Handeln determiniert wird.

»Freud verschmolz beide Strömungen in einer vollkommen neuen, weder rein naturwissenschaftlichen noch rein geisteswissenschaftlichen Synthese. Zwingend und kohärent wurde sie durch die Entdeckung eines neuen Objektes: des eigensinnigen, bedeutungsvollen und moralisch bestimmten psychischen Lebens des Menschen. Es war ein neues Verständnis des Subjekts, stand zudem mit den Formen des persönlichen Lebens in Einklang, die sich mit der zweiten industriellen Revolution gesellschaftsübergreifend durchsetzten. […] Die psychoanalytische Auffassung des Subjekts machte das Projekt der Aufklärung vielschichtiger und vertiefte es zugleich […] Die Forderung war, sich selbst objektiv – nämlich ›analytisch‹ – zu sehen und zugleich empathisch in die innere Welt anderer Menschen einzutreten. Insofern leistete die Psychoanalyse einen gewaltigen Beitrag zur Erweiterung der menschlich-moralischen Fähigkeiten. Als Speerspitze epochaler gesellschaftlicher Veränderungen schuf sie eine neue Ethik, die darauf hinauslief, dass ein bedeutungsvolles Leben gründliche Selbstreflexion verlangt. Solange die Psychoanalyse ihre führende Rolle innehatte, verband sie diese neue Ethik mit der Leidenschaft einer Berufung« (Zaretzki, 2004/2006, S. 474 f.).

Um dies an einem historischen Beispiel zu illustrieren: Alexander Mitscherlich, der Gründer des Sigmund-Freud-Instituts (SFI), kann als ein prototypischer Verfechter dieser »neuen psychoanalytischen Ethik« der Psychoanalyse nach dem Zweiten Weltkrieg gelten: Leidenschaftlich setzte er sich für die Aufklärung des dunkelsten Kapitels der deutschen Geschichte, des Nationalsozialismus, ein und nutzte die Psychoanalyse als Forschungsmethode, um die unbewussten Wirkungen des Nationalsozialismus auf die deutsche Nachkriegszeit zu erhellen. Diesem Engagement, das öffentlich und politisch eng verknüpfte mit der Psychoanalyse als unverzichtbarer, aufklärerischer Kraft wahrgenommen wurde, verdankt das SFI seine Existenz. Dabei war es gerade die Verbindung von einer genauen, empirisch »naturwissenschaftlichen« Beobachtung komplexer Phänomene mit aktuellen geisteswissenschaftlichen Störungen, die damals zur Attraktivität der Psychoanalyse – auch bei Politikern – beitrug.

Nach Zaretzki (2004/2006, S. 475 ff.) trennten sich in den 1970er-Jahren die natur- und geisteswissenschaftlichen Orientierungen innerhalb der Psychoanalyse wieder, nach seinen soziologischen Analysen, ein wichtiger Faktor, der zum gesellschaftlichen Bedeutungs- und Machtverlust der Psychoanalyse beitrug. Die internationale Psychoanalyse spaltete sich in zwei verschiedene Projekte, in eine quasi medizinische, therapeutische Behandlungpsychisch Kranker, eine »therapeutische« Richtung, einerseits und in eine neue kulturtheoretische Forschungsrichtung mit einer »kritisch hermeneutischen«Orientierung andererseits. Von heute aus gesehen ist interessant, dass am Sigmund-Freud-Institut diese Spaltungen und die damit verbundenen wissenschaftstheoretischen Positionierungen in den 1970er-Jahren intensiv diskutiert wurden, erinnern wir nur zum Beispiel an die Definition der Psychoanalyse als »Wissenschaft zwischen den Wissenschaften« von Alfred Lorenzer (1974/1985) oder an die Charakterisierung der Psychoanalyse als eine dem »emanzipatorischen Erkenntnisinteresse« verpflichtete Therapiemethode, die ihr »szientistisches Selbstmissverständnis« immer wieder neu zu analysieren habe, von Jürgen Habermas (1968). Damit wurde die wichtige wissenschaftstheoretische Verortung der Psychoanalyse erneut aufgenommen und weiter differenziert. – Allerdings konnten die sich damals vollziehenden gesellschaftlichen Prozesse, die zu einem sukzessiven Verlust der Attraktivität der Psychoanalyse als einer das Unbewusste in der Kultur deutenden Disziplin führten, zwar reflektiert, aber selbstverständlich in ihrer weiteren Entfaltung nicht verhindert werden.

1.2        Aktuelle Entwicklungen in der internationalen Psychoanalyse

Einige der neueren Entwicklungen in der internationalen Psychoanalyse seien hier kurz skizziert:

Niedergang der Freud’schen Kulturkritik zugunsten eines Paradigmas der »Anerkennung« oder »Außengeleitetheit«

Bis Ende der 1960er-Jahre sprach die Freud’sche Psychoanalyse – international und in Deutschland – so viele Menschen an, weil sie sich, angeregt durch Kunst und Literatur – mit den großen Themen des menschlichen Lebens auseinandersetzte, mit Liebe und Aggression, Sexualität, Kreativität und Tod, dem »Unbehagen in der Kultur«, Krieg und Frieden etc. Margarete und Alexander Mitscherlich verstanden es zudem, vorherrschende Zeitthemen, wie die »Unfähigkeit zu trauern«, in Sprache zu fassen und dadurch breite Diskurse in der deutschen Nachkriegszeit zu initiieren.

Es ist interessant, dass zuerst diese aufklärerischen, politischen Schriften auf großes Interesse bei den Studierenden der 68er-Generation stießen. In Frankfurt hatten Mitscherlichs Vorlesungen fast einen Kultcharakter. Aber bald schon zeigte sich, dass sich die Beziehung von Mitscherlich, aber auch von Psychoanalytikern seiner Generation weltweit, zu der revoltierenden Studentengeneration abkühlte, oder sogar in gegenseitiges Misstrauen umschlug (vgl. dazu u. a. Hoyer, 2008). In Zürich zum Beispiel waren die Führer der Studentenbewegung fast vorwiegend Psychoanalytiker der jüngeren Generation, wie Berthold Rothschild, Emilo Modena, Peter Passett und andere. Die Vorlesung zu Wilhelm Reichs »Massenpsychologie und Ichanalyse« von Rothschild während der antifaschistischen Woche in der großen Aula der Universität bildete 1971 einen der Höhepunkte der Bewegung. – Doch bald spitzten sich die Konflikte mit der etablierten Generation von Psychoanalytikern zu: Ulrich Moser, Professor für Klinische Psychologie, verteidigte die Bibliothek des Instituts, die von den Studierenden weggetragen und »dem Proletariat« zur Verfügung gestellt werden sollte, mit dem sprichwörtlich gewordenen Satz »Nur über meine Leiche …«. – In Zürich eskalierten daraufhin die Konflikte zwischen den verschiedenen Generationen von Psychoanalytikern und, damit verbunden, mit der institutionalisierten Psychoanalyse, der Schweizer Gesellschaft für Psychoanalyse, und führten zu einer Spaltung der Zürcher Gruppe, einer Spaltung mit weitreichenden Folgen bis heute.

Doch nicht nur in Zürich, auch in Frankfurt, Paris, Berkeley und New York setzte die Generation von Studierenden ihre Hoffnungen immer mehr auf eine politisierte Kultur und politische Bewegungen und Organisationen, die die Gesellschaft als Ganze verändern sollten und nicht mehr nur auf die Psychoanalyse. Die Veränderungen der Einzelnen, auf die die Psychoanalyse den Schwerpunkt setzte, wurden eher an den Rand gedrängt. Gruppentherapeutische Angebote (vgl. dazu u. a. Richter, Foulkes, Horn) sowie institutionstheoretische Ansätze gewannen mehr und mehr an Attraktivität. Manche davon waren auch mit der antipsychiatrischen Bewegung liiert, die breiten Einfluss gewann und unter anderem mit der Psychiatrie-Enquête die psychiatrischen Institutionen weitgehend veränderte. H.-E. Richter und anderen Psychoanalytikern gelang es, viele Psychoanalytiker auf die neu gegründeten Psychosomatik-Lehrstühle zu berufen und sie zu einem sozialpsychologischen Engagement zu animieren. International wurde die Psychoanalyse aber trotz dieser teilweise aus ihr hervorgegangenen gesellschaftlichen Reformbewegung als kritische Kulturtheorie in den kommenden Jahrzehnten eher marginalisiert.

»Als der eine große Teilbereich des psychoanalytischen Gebäudes in der Psychopharmakologie versank, so driftete der andere ab in die Identitätspolitik. […] Heraus entstand ein neues Paradigma: ›Anerkennung‹ oder ›Außengeleitetheit‹. Damit blieb von der Psychoanalyse nicht viel übrig […]« (Zaretzky, 2008, S. 480).

Zwar erlebte die Psychoanalyse in der Genderforschung nochmals einen neuen Aufschwung und leistete ihren Beitrag zur Konstruktion und Dekonstruktion von Geschlechtsrollen und Identitätsentwürfen (vgl. u. a. Chodorow, 1978/1985; Butler, 1990). Doch auch in diesen Diskursen verlor die Psychoanalyse mehr und mehr ihre Deutungsmacht als »Metatheorie des Unbewussten« und wurde sukzessiv zu einer zwar nach wie vor unverzichtbaren, aber »leisen« Stimme im interdisziplinären Dialog.

Analoge Entwicklungen lassen sich in den letzten Jahrzehnten auch im Bereich der Medizin sowie der Wissenschaften in Zeiten zunehmender Pluralität ganz allgemein beobachten.

Bedeutungsverlust der Psychoanalyse in der Medizin: Zum Vormarsch der pharmakologischen Behandlungen und der »evidence based medicine«

Die Beziehung der Psychoanalyse zur Medizin war, wie oben kurz skizziert, von Anfang an eine komplizierte. Freud konnte sich einen seiner größten Wünsche nie erfüllen: Er wurde nie ordentlicher Professor an der medizinischen Fakultät in Wien. In Europa, auch durch die politischen Ereignisse im 20. Jahrhundert und die Verfolgung und Vertreibung der jüdischen Psychoanalytiker, hatte die Psychoanalyse eher mit der gesellschaftlichen Marginalisierung als »Geheimwissenschaft« und »Sekte« jenseits der medizinischen Institutionen zu kämpfen.3

In den USA lehnte sich die Psychoanalyse von Anfang an sehr an die Medizin und die Psychiatrie an und ließ beispielsweise bis in die 1990er-Jahre nur Mediziner zur psychoanalytischen Vollausbildung zu (vgl. dazu u. a. Wallerstein, 1985; Kernberg, 2006, 2007; Hanly, 2009).4 Dies ermöglichte ihr einen einzigartigen politischen Einfluss und eine erstaunliche gesellschaftliche Machtstellung: Die amerikanische Psychiatrie der 1950er- und 60er-Jahre war fast vorwiegend in den Händen der Psychoanalyse. Alexander Mitscherlich lernte diese Situation durch seine USA-Reisen kennen und brachte die amerikanische Ichpsychologie nach Deutschland. Allerdings entstand – nachträglich gesehen –, durch dieses Anlehnen der amerikanischen Ichpsychologen an ein positivistisches Wissenschaftsverständnis in der Psychiatrie durchaus eine paradoxe Situation: »Je mehr sie sich am Vorbild Medizin orientierten und dort Schutz suchten, desto lautstärker wurden sie von medizinisch-wissenschaftlicher Seite als ›unwissenschaftlich‹ abqualifiziert« (Zaretzky, 2008, S. 476). Dies lässt sich in verschiedenen Diskursen beobachten, in den Diskussionen um das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM), in dem der Einfluss des psychodynamischen Denkens von Version zu Version immer mehr verschwand, sowie im sukzessiv stärker werdenden Einfluss der »evidence based medicine«.5 Das ausschließlich positivistische Forschungsverständnis breitete sich vor allem auch im Zusammenhang mit der rasanten Entwicklung der pharmakologischen Behandlung psychischer Störungen aus, die als »billiger«, »effizienter« und »wissenschaftlicher« (in Doppelblindversuchen überprüfbar) gesellschaftlich wahrgenommen wurden. Ihr Vormarsch verdrängte die Psychoanalyse mehr und mehr aus der Psychiatrie. – Während in den 1980er-Jahren durchaus noch ein pluralistischer Methodenansatz, oft eine Kombination von medikamentöser, psychodynamischer und psychosozialer Behandlung, angeboten wurde, führten die heftigen Kontroversen, unter anderem ausgelöst durch Grünbaum und andere »Freud bashers«, in den 1990er-Jahren dazu, der Psychoanalyse ihre wissenschaftliche Fundierung ganz abzusprechen und der Verhaltenstherapie immer mehr die Präferenz sowohl in den psychiatrischen Kliniken als auch den Universitäten einzuräumen.

Solche gesellschaftlichen Entwicklungen fanden, wenn auch in milderer Form, ebenfalls auch in Deutschland statt und führten zu einem weitgehenden Verlust der psychoanalytischen und psychosomatischen Lehrstühle (vgl. dazu u. a. Forschungsgutachten: Strauß et al., 2009; Lebiger-Vogel, 2011).

Von der exklusiven »Wissenschaft zwischen den Wissenschaften« zu einer »spezifischen Wissenschaft des Unbewussten« in der heutigen pluralen Welt der Wissenschaften und einer globalisierten, neoliberalen Wissensgesellschaft

Wenigstens kurz soll erwähnt werden, dass die eben skizzierten Veränderungen nicht auf die internationale und nationale Psychoanalyse beschränkt sind, sondern mit den enormen Veränderungen in allen Bereichen der Gesellschaft einhergehen und mit der fortschreitenden Globalisierung, dem Zusammenbruch des sogenannten real existierenden Sozialismus und den neuen, extremen Formen der Konkurrenz um Marktanteile, den kaum noch zu steuernden internationalen Finanzmärkten des heutigen Neoliberalismus, den modernen Völkerwanderungen, aber auch mit den sich verstärkenden ideologischen Gegensätzen nach dem 11. September in Zusammenhang stehen (vgl. dazu u. a. Leuzinger-Bohleber & Klumbies, 2010).

Bezogen auf die Veränderungen im Bereich der Wissenschaften fasst die Bielefelder Forschungsgruppe (Weingart, Carrier & Krohn, 2002) die Entwicklung von der Industrie- zur Wissensgesellschaft, die sich in diesen Jahren vollzogen hat und immer noch vollzieht, präzise und knapp wie folgt zusammen:

»Die gegenwärtige neue Wissensordnung, deren Merkmale gerade erst erkennbar werden, muss im Vergleich zu ihren historischen Vorläufern verstanden werden. Drei Phasen der Verhältnisse zwischen der Gesellschaft und der Wissenschaft lassen sich unterscheiden: 1) Die neue Wissenschaft des 17. Jahrhunderts trat mit Versprechungen ihres Nutzens auf, die sie nicht einlösen konnte. 2) Erst im späten 19. Jahrhundert kommt es zu der versprochenen Verbindung der Wissenschaft und der technischen Entwicklung. 3) Im Verlauf des 20. Jahrhunderts gerät die Wissenschaft durch die extreme Ausweitung ihres Erklärungsanspruchs und deren Anwendungskontexte erneut in eine Situation der Überforderung. Die Erfolge haben Erwartungen erzeugt, die wiederum nicht erfüllt werden können. Durch das Optimieren an den Grenzen des wissenschaftlich zuverlässig Fassbaren nehmen Erfahrungen unsicheren Wissens zu.

Die gerade entstehende Wissensordnung ist durch eine hohe praktische Relevanz der Wissenschaft, aber ebenso durch eine damit einhergehende wachsende gesellschaftliche Einflussnahme auf die Wissenschaft charakterisiert. Die vormalige Selbststeuerung der Wissenschaft wird durch vermehrte Fremdsteuerung ersetzt. Die praktisch relevante oder angewandte Wissenschaft wird zum dominanten Forschungsmodus. Provisorische Erkenntnisstrategien wie exploratives Experimentieren oder die Beschränkung auf kontextualisierte Kausalbeziehungen gewinnen an Bedeutung. Sie belasten die Gesellschaft mit Risiken, die früher auf die Institutionen der Forschung (das abgeschlossene Labor!) beschränkt blieben« (Weingart, Carrier & Krohn, 2002, S. 11).

In den letzten 50 Jahren ist daher Wissenschaft nicht nur international und interdisziplinär vernetzter geworden. Sie steht im dauernden, beschleunigten, globalen Wettbewerb. Zudem wird von Wissenschaft, und damit auch von der Psychoanalyse, vermehrt praktische Relevanz ihrer Forschungsergebnisse erwartet, was unter anderem damit verbunden ist, dass die gesellschaftlichen Geldgeber und politischen Interessensgruppen beispielsweise über die Finanzierung von Forschungsprojekten immer mehr an Einfluss gewinnen. In diesem Sinne droht, dass Wissenschaft mehr und mehr ihre Selbststeuerung verliert.

Ein zweites Merkmal steht damit in Zusammenhang: Weil Politik und Gesellschaft immer rascher von der Wissenschaft Empfehlungen bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme erwarten, bleibt immer weniger Muße und Raum für die Grundlagenforschung, aus der schließlich – nach intensiver Forschungsarbeit – relativ sicher abgestütztes Wissen für Anwendungsfelder abgeleitet wird. Dies führt zu neuen Paradoxien: Einerseits trauen sich immer weniger »normale Bürger« und Politiker ein eigenes Urteil über komplexe Sachverhalte zu, ohne vorher wissenschaftliche Experten zu Rate zu ziehen, andererseits ist es inzwischen zum Allgemeingut geworden, dass auch wissenschaftliche Experten nicht über »objektive« Wahrheiten verfügen, sondern dass das sogenannte »wissenschaftliche Wissen« immer kritisch zu betrachten ist. Zudem trägt es zuweilen sogar neue Risiken in sich, wie die Katastrophe von Tschernobyl, die BSE-Krise oder nun die aktuelle Finanzkrise aufdeckten. Dies bildet eine neue Quelle von Unsicherheit und diffuser Angst, wie wir dies exemplarisch und eindrucksvoll in Psychoanalysen mit unseren heutigen, zu Depression und narzisstischen Rückzügen neigenden Patienten erfahren.

In dieser Verunsicherung werden wir alle besonders sensibel für Themen wie Authentizität und Glaubwürdigkeit. So wird zum Beispiel zu einem relevanten gesellschaftlichen Faktor, welchem wissenschaftlichen