Chronische Depression, Trauma und Embodiment - Marianne Leuzinger-Bohleber - E-Book

Chronische Depression, Trauma und Embodiment E-Book

Marianne Leuzinger-Bohleber

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Beschreibung

Viele chronisch depressive Menschen sind früh und mehrfach traumatisiert. Frühe Traumatisierungen werden im Körper als »embodied memories« erhalten und bestimmen meist unerkannt Denken, Fühlen und Handeln. Daher bilden diese »embodied memories« in der Übertragungsbeziehung zum Analytiker/zur Analytikerin einen Schlüssel zu einem sukzessiven, präzisen Verstehen der erlittenen Traumatisierungen eines bestimmten Patienten, was sich als unverzichtbare Voraussetzung für deren seelische Integration erwiesen hat. Wie anhand von zwei ausführlichen Fallbeispielen illustriert wird, können psychoanalytische Behandlungen nicht nur aus der depressiven Erkrankung herausführen, sondern die Wahrscheinlichkeit verringern, Traumatisierungen und Depressionen an die nächste Generation weiterzugeben.

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Herausgegeben vonFranz Resch und Inge Seiffge-Krenke

Marianne Leuzinger-Bohleber

Chronische Depression, Trauma und Embodiment

Eine transgenerative Perspektive in psychoanalytischen Behandlungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 2 Abbildungen und 2 Tabellen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-647-99889-3

Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de

Umschlagabbildung: Paul Klee, Leidende Frucht, 1934/akg-images

© 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen /Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.www.v-r.deAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim

Inhalt

Vorwort zur Reihe

Vorwort zum Band

1 Einführende Bemerkungen

2 Chronische Depression – einige Fakten zu einer Zeitkrankheit

3 Zur psychoanalytischen Traumaforschung

4 Chronische Depression und Trauma

4.1 Transgenerationelle Weitergabe von Trauma und Depression in der LAC-Depressionsstudie

4.2 Einige interdisziplinäre Forschungsergebnisse zu Trauma und Depression

4.2.1 Frühe emotionale Vernachlässigung, körperlicher und sexueller Missbrauch: erhöhtes Risiko für Depressionen im Erwachsenenalter

4.2.2 Kinder depressiver Eltern

4.2.3 Ausgewählte Ergebnisse der epigenetischen Forschung zu Trauma und Depression

4.2.4 Einige neurowissenschaftliche Studien zu Trauma und Stress

5 Embodied Memories: Schlüssel zum Verstehen von unbewusst gewordenen Traumatisierungen

5.1 Von der klassischen zur Embodied Cognitive Science

5.2 Entschlüsseln von Embodied Memories und therapeutische Veränderungen. Zwei Fallbeispiele

6 Zur transgenerativen Dimension in psychoanalytischen Behandlungen schwer traumatisierter, chronisch depressiver Patienten: Kurze Zusammenfassung

Literatur

Vorwort zur Reihe

Zielsetzung von PSYCHODYNAMIK KOMPAKT ist es, alle psychotherapeutisch Interessierten, die in verschiedenen Settings mit unterschiedlichen Klientengruppen arbeiten, zu aktuellen und wichtigen Fragestellungen anzusprechen. Die Reihe soll Diskussionsgrundlagen liefern, den Forschungsstand aufarbeiten, Therapieerfahrungen vermitteln und neue Konzepte vorstellen: theoretisch fundiert, kurz, bündig und praxistauglich.

Die Psychoanalyse hat nicht nur historisch beeindruckende Modellvorstellungen für das Verständnis und die psychotherapeutische Behandlung von Patienten hervorgebracht. In den letzten Jahren sind neue Entwicklungen hinzugekommen, die klassische Konzepte erweitern, ergänzen und für den therapeutischen Alltag fruchtbar machen. Psychodynamisch denken und handeln ist mehr und mehr in verschiedensten Berufsfeldern gefordert, nicht nur in den klassischen psychotherapeutischen Angeboten. Mit einer schlanken Handreichung von 70 bis 80 Seiten je Band kann sich der Leser schnell und kompetent zu den unterschiedlichen Themen auf den Stand bringen.

Themenschwerpunkte sind unter anderem:

–Kernbegriffe und Konzepte wie zum Beispiel therapeutische Haltung und therapeutische Beziehung, Widerstand und Abwehr, Interventionsformen, Arbeitsbündnis, Übertragung und Gegenübertragung, Trauma, Mitgefühl und Achtsamkeit, Autonomie und Selbstbestimmung, Bindung.

–Neuere und integrative Konzepte und Behandlungsansätze wie zum Beispiel Übertragungsfokussierte Psychotherapie, Schematherapie, Mentalisierungsbasierte Therapie, Traumatherapie, internet-basierte Therapie, Psychotherapie und Pharmakotherapie, Verhaltenstherapie und psychodynamische Ansätze.

–Störungsbezogene Behandlungsansätze wie zum Beispiel Dissoziation und Traumatisierung, Persönlichkeitsstörungen, Essstörungen, Borderline-Störungen bei Männern, autistische Störungen, ADHS bei Frauen.

–Lösungen für Problemsituationen in Behandlungen wie zum Beispiel bei Beginn und Ende der Therapie, suizidalen Gefährdungen, Schweigen, Verweigern, Agieren, Therapieabbrüchen; Kunst als therapeutisches Medium, Symbolisierung und Kreativität, Umgang mit Grenzen.

–Arbeitsfelder jenseits klassischer Settings wie zum Beispiel Supervision, psychodynamische Beratung, Arbeit mit Geflüchteten und Migranten, Psychotherapie im Alter, die Arbeit mit Angehörigen, Eltern, Gruppen, Eltern-Säuglings-Psychotherapie.

–Berufsbild, Effektivität, Evaluation wie zum Beispiel zentrale Wirkprinzipien psychodynamischer Therapie, psychotherapeutische Identität, Psychotherapieforschung.

Alle Themen werden von ausgewiesenen Expertinnen und Experten bearbeitet. Die Bände enthalten Fallbeispiele und konkrete Umsetzungen für psychodynamisches Arbeiten. Ziel ist es, auch jenseits des therapeutischen Schulendenkens psychodynamische Konzepte verstehbar zu machen, deren Wirkprinzipien und Praxisfelder aufzuzeigen und damit für alle Therapeutinnen und Therapeuten eine gemeinsame Verständnisgrundlage zu schaffen, die den Dialog befördern kann.

Franz Resch und Inge Seiffge-Krenke

Vorwort zum Band

Nach einer Faktendarstellung zur Zeitkrankheit Depression wird der psychodynamische Traumabegriff klar definiert und in seinem Bedeutungsgehalt umrissen. Dabei kommen auch die wichtigen Themen der Extremtraumatisierung, die dem Schrecken des Holocaust entstammen, zur Sprache. Berichte über psychoanalytische Behandlungen zeigten eindrucksvoll, wie die nicht zu verarbeitenden Traumatisierungen die Grenzen der Generationen in den Opferfamilien aufweichen können. Jahrzehnte später hat sich die Psychoanalyse dann den Täterfamilien zugewandt. Auch dort sind Mechanismen einer »transgenerativen Weitergabe von Traumatisierungen« zu beobachten.

Der Zusammenhang von Traumatisierung und Depression ist immer wieder wissenschaftlich beschrieben worden, aber in der klassischen Psychiatrie fast in Vergessenheit geraten. Marianne Leuzinger-Bohleber berichtet, dass auch in ihrer Studie »auffallend viele der chronisch Depressiven« schwere Kindheitstraumatisierungen erlebt haben. Sie bringt ebenso ausgewählte Ergebnisse aus der epigenetischen Forschung zu Trauma und Depression, die einen der biologischen Folgemechanismen von seelischen Verletzungen untersucht hat. »Embodied Memories« – also in körperlichen Prozessveränderungen resultierende traumatische Erfahrungen – können einen der Schlüssel zum Verständnis unbewusst gewordener Traumatisierungen darstellen.

Klinische Fallbeispiele bereichern diesen anschaulichen Bericht aus der Forschung und machen die erkannten Mechanismen im Therapiekontext ungemein lebendig. Spannend, innovativ und eine wohltuende Ergänzung zu den klassischen Forschungsergebnissen hinsichtlich genetischer Vulnerabilität und Depression, die ja immer dem schon »Mitgebrachten« die Hauptbedeutung zuschreiben und nicht dem vom Leben dem Menschen »Entgegengebrachten«.

Eine wichtige Lektüre für Therapeutinnen und Therapeuten von Patienten und Patientinnen mit Depressionen in allen Lebensaltern.

Inge Seiffge-Krenke und Franz Resch

1 Einführende Bemerkungen

»Das wichtigste Ergebnis meiner Psychoanalyse war,dass ich die Weitergabe meines eigenen Elends anmeine Kinder abmildern konnte.« (Frau U.)

Frau U. bezeichnete es in den Katamneseinterviews, vier Jahre nach Abschluss ihrer Psychoanalyse, als das wichtigste Ergebnis ihrer Therapie, dass sie ihre Kinder aus einer krankhaften Umklammerung und der »Weitergabe meines eigenen Elends« entlassen konnte. Ihr Vater war in Russland gefallen. Ihre Mutter reagierte auf den Verlust ihres idealisierten, nationalsozialistischen Ehemanns mit schweren Depressionen und drohte ihrer einzigen Tochter während der gesamten Kindheit mit Suizid. Als Dreißigjährige erkrankte Frau U. plötzlich dramatisch an Herz- und Hyperventilationsanfällen. Nach vielen ergebnislosen medizinischen Untersuchungen fragte ein Arzt sie schließlich, was sich am Tag des ersten Herzanfalls ereignet habe. Sie hatte damals ihre Mutter besucht, die ihr beim Abschied hasserfüllt nachrief: »Wenn du so bist, wie du bist, sollst du vom Erdboden verschwinden!« – Die psychosomatische Ursache ihrer Herzbeschwerden wurde deutlich: Der Kardiologe überwies sie in eine Psychoanalyse.

Hier sehr kurz zusammengefasst: Die chronisch traumatisierende Beziehung zu der depressiven Mutter wurde in der Übertragung zur Analytikerin wiederbelebt und konnte in ihren Auswirkungen verstanden werden. Danach verschwanden die psychosomatischen Symptome. Die Therapie führte darüber hinaus zu einer Lockerung der krankhaft engen und kontrollierenden Beziehung zu ihrer eigenen Tochter.

Frau U. war eine von vielen ehemaligen Analysandinnen und Analysanden, die im Rahmen der Ergebnisstudie der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung durchschnittlich 6,5 Jahre nach Beendigung der psychoanalytischen Langzeittherapien oder Psychoanalysen interviewt wurden (vgl. Leuzinger-Bohleber, Rüger, Stuhr u. Beutel, 2002). Zu den unerwarteten Ergebnissen dieser repräsentativen retrospektiven Studie mit über 400 ehemaligen Patienten zählte, dass 62 Prozent von ihnen von schweren Traumatisierungen in ihrer Lebensgeschichte berichteten, die ihre Kindheit geprägt hatten, oft in Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg. Für viele von ihnen gehörten die erlittenen Traumatisierungen zu den wesentlichen unbewussten Determinanten, die zu ihren oft jahrzehntelangen chronischen Depressionen geführt hatten. Wie für Frau U. war für viele dieser schwer traumatisierten Menschen das wichtigste Ergebnis ihrer Psychoanalyse, dass diese ihnen ermöglicht hatte, die Weitergabe ihrer Traumatisierungen und Depressionen an die nächste Generation abzumildern oder sogar zu unterbrechen.

Auch in der LAC-Depressionsstudie, die Ergebnisse von psychoanalytischen und kognitiv-behavioralen Langzeittherapien bei chronisch Depressiven vergleicht, gehört das Thema der transgenerativen Weitergabe von Depression und Trauma zu den klinisch eindrücklichsten Befunden. Rund 80 Prozent der chronisch Depressiven gaben im Child-Trauma-Questionnaire an, dass sie in ihrer Kindheit schwere multiple Traumatisierungen erlebt hatten, die schließlich im Leiden an einer oft über Jahre dauernden depressiven Erkrankung mündeten (vgl. Leuzinger-Bohleber, 2015a; Negele et al., 2015). Über 50 Prozent von ihnen verzichteten auf die Realisierung ihres Kinderwunsches aus Angst, ihre Depressionen an die nächste Generation weiterzugeben. Wie wir aus Behandlungsberichten wissen, waren viele von ihnen überzeugt, dass ihre Familien genetisch belastet seien und es daher unverantwortlich sei, das unermessliche Leid von depressiv Erkrankten der nächsten Generation aufzubürden. Auch auf diesem Hintergrund sind neuere Ergebnisse der epigenetischen Forschung äußert relevant, da sie empirisch belegen, dass eine genetische Belastung in depressiven Familien keineswegs ein Schicksal sein muss, sondern, wie die Psychoanalyse immer schon postulierte, erst durch zusätzliche traumatische frühe Beziehungserfahrungen zum Tragen kommt. Diese Konvergenz zwischen epigenetischer und psychoanalytischer Forschung sowie einige weitere ausgewählte Erkenntnisse aus der interdisziplinären Traumaforschung sollen in diesem Band diskutiert werden.

Zunächst werden kurz einige Fakten zur chronischen Depression (Kapitel 2) und zur psychoanalytischen Traumaforschung (Kapitel 3) dargestellt, gefolgt von Ausführungen, wie in der heutigen Psychoanalyse das Verhältnis zwischen Depression und Trauma konzeptualisiert wird (Kapitel 4). Dann werden einige Ergebnisse der LAC-Studie zur transgenerativen Weitergabe von Trauma und Depression zusammengefasst (Kapitel 4.1) und mit Erkenntnissen aus angrenzenden Forschungsgebieten, vor allem aus dem Bereich der Epigenetik und den Neurowissenschaften bzw. aus dem Gebiet der sogenannten »Embodied Cognitive Science«, in Verbindung gebracht (Kapitel 4.2). Das Konzept der »Embodied Memories«, die in der psychoanalytischen Beziehung oft einen Schlüssel bilden, um die ins Unbewusste verbannten Traumatisierungen zu erkennen, wird vorgestellt (Kapitel 5) und mit zwei ausführlichen Fallbeispielen illustriert.

Aus den klinischen Beispielen und theoretischen Überlegungen in diesem Band wird deutlich, wie wichtig eine zeitnahe therapeutische Behandlung von Traumatisierungen vor allem bei Kindern und Jugendlichen ist, um depressive Erkrankungen und ihre Chronifizierung zu verhindern. Dies motiviert zurzeit manche Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker, sich in Kriseninterventionen und psychodynamischen Therapien mit traumatisierten Geflüchteten in der aktuellen Flüchtlingskrise zu engagieren, wie abschließend kurz erwähnt wird.

2 Chronische Depression – einige Fakten zu einer Zeitkrankheit