Psychodynamische Therapie mit Kindern und Jugendlichen in der Praxis - Eva Rass - E-Book

Psychodynamische Therapie mit Kindern und Jugendlichen in der Praxis E-Book

Eva Rass

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Beschreibung

Ein Werkstattbuch für die psychodynamische Praxis - Zahlreiche Fallbeispiele - Konzepte für eine kindzentrierte psychodynamische Familientherapie - Praxistaugliche Konzepte für die Therapie unter Einbeziehung der Elternarbeit - Eine erfahrene Psychotherapeutin liefert Werkzeuge für die kinderpsychotherapeutische Werkstatt In diesem Buch verbindet Eva Rass ihre 40 Jahre währende praktische Erfahrung als Kinder- und Jugendlichen- Psychotherapeutin mit den Erkenntnissen des modernen psychodynamischen Wissens wie der Affektregulationstheorie, der Bindungstheorie und neuesten wissenschaftlichen Befunden der Neurobiologie und Neuroendokrinologie. Es gelingt ihr, all dies in ein therapeutisches Handlungskonzept zu integrieren mit dem Ziel, einen entwicklungsfördernden heilsamen Zugang zu individuellen und familiären Konfliktfeldern zu eröffnen. Sie erläutert die wissenschaftlichen Grundlagen und öffnet die Schatzkiste ihrer reichen praktischen therapeutischen Erfahrung, wobei klinische Beispiele ihre integrative Vorgehensweise veranschaulichen. Dieses Buch richtet sich an: - PsychotherapeutInnen in Klinik und Praxis - AusbildungskandidatInnen und Studierende des Studiengangs Psychotherapie

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Seitenzahl: 359

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Eva Rass

Psychodynamische Therapie mit Kindern und Jugendlichen in der Praxis

Affekte regulieren und Bindungen stärken

Impressum

»Die Zeichnung auf S. 129 stammt von meiner 7-jährigen Enkeltochter. Sie entstand als spontane Reaktion auf ihre Erkundigung nach dem Beruf ihrer Großmutter. Die Darstellung verweist auf die wichtige Funktion der Familie im therapeutischen Geschehen mit dem kindlichen Patienten«. (Eva Rass)

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Bettina Herrmann, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von © istock/Juanmonino

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98441-5

E-Book: ISBN 978-3-608-12131-5

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20497-1

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1

Der psychologische Blick auf die Entwicklung von Kindern als Grundlage zum Verständnis psychischer Phänomene

Kapitel 2

Der Einfluss einer mütterlichen Depression auf die kindliche Entwicklung

2.1 Entwicklung des Selbst

2.2 Störfaktoren in der Entwicklung

2.3 Strukturdynamische Schlussfolgerungen

2.4 Zusammenfassung

Kapitel 3

Die Rolle des Vaters bei einer psychischen Erkrankung der Mutter

3.1 Die Verletzbarkeit des sich entwickelnden Selbst

3.2 Das Erscheinungsbild der depressiven Mutter

3.3 Auswirkungen auf das Kind

3.4 Die Interaktion mit dem Vater als Drittem im Bunde

3.5 Veränderungen in der Partnerschaft: Elterliche Paarbeziehung als Gefährdung und Ressource der Vaterrolle

3.6 Psychodynamische Änderung

Kapitel 4

Die Bedeutung der Geschwistererfahrungen für den weiteren Lebenslauf mit besonderer Berücksichtigung des Schamerlebens

4.1 Geschwisterbeziehungen als ein vernachlässigtes Forschungsthema

4.2 Differenzierungsprozess zwischen Geschwistern

4.3 Entwicklungs- und affektregulatorische Perspektiven

4.4 Entwicklung des Schamerlebens

4.5 Liebe als Motor der Selbstentfaltung

4.6 Geschwistererfahrung der Eltern

4.7 Zusammenfassung

Kapitel 5

Affektregulatorische und bindungsgeleitete Elternarbeit in der kindzentrierten Familientherapie

5.1 Psychodynamische Entwicklungskonzepte von D. W. Winnicott, J. Bowbly, H. Kohut, A. Ornstein und A. Schore

5.2 Vom Teufels- zum Engelskreis

5.3 Die Diagnostik der kindlichen Problematik und die des seelischen Spannungszustandes seiner familiären Bezugspersonen

5.4 Die therapeutische Allianz

5.5 Die Schaffung eines Übergangs- und Entwicklungsfreiraumes für das Kind

5.6 Die Therapie als eine fortlaufende Diagnose

5.7 Behandlungsziele

5.8 Das klinische Setting

5.9 Abschließende Bemerkungen

Kapitel 6

Jungen im Abseits – Mädchen im Erfolg? Geschlechterspezifische Herausforderungen im familiären und außerfamiliären Kontext

6.1 Bestandsaufnahme

6.2 Multidisziplinäre Erkenntnisfortschritte zu den Geschlechterunterschieden

6.3 Geschlechtstypische Verhaltensweisen

6.4 Der Vater als zweite Bindungsperson

6.5 Verantwortungsvolle Väterlichkeit

6.6 Schlussfolgerungen

Exkurs:Allan Schore: Es geht um unsere Söhne: Eine entwicklungsgeleitete Neurobiologie und Neuroendokrinologie der gefährdeten Jungen

Kapitel 7

Die Wahrnehmungswelt des Kindes: Unerkannte Schwächen seiner Wahrnehmungsorganisation und die Auswirkungen auf seine psychische Entwicklung

7.1 Die Alltagserfahrung eines Kindes mit Wahrnehmungsproblemen

7.2 Taktil-kinästhetische Wahrnehmungsprobleme

7.3 Auditive Wahrnehmungsprobleme

7.4 Visuelle Wahrnehmungsprobleme

7.5 Rhythmuserkennung, Beziehungserfahrungen und neuronale Vernetzung

7.6 Zur Bedeutung des Schamerlebens als Folge sensorischer Unzulänglichkeit

Exkurs:Allan Schore: Die frühkindliche Neurobiologie der Bindungsentwicklung und bei Störungen aus dem autistischen Spektrum

Kapitel 8

Bindung, Bindungstrauma und Dissoziation im familiären Kontext

8.1 Das Konzept der Dissoziation

8.2 Die Bindungstheorie

8.3 Die Neurobiologie der Mutter-Kind-Beziehung

8.4 Der Einfluss des Beziehungstraumas

8.5 Die Kontinuität der dissoziativen Strategie vom Säuglingsalter über die Kindheit bis hin ins Erwachsenenalter

8.6 Prävention und Intervention

8.7 Abschließende Gedanken

Schlussbemerkung

Der (Kinder-)Psychoanalyse schlägt ein rauer Wind entgegen

Quellenangaben

Personenregister

Vorwort

Eine fast 40 Jahre lang psychodynamisch geführte Praxis ist in wissenschaftliche und soziale Vorgegebenheiten eingebettet. Diese Bedingungen sind ebenfalls einem Wandel unterworfen, und so gilt es, sich mit diesen Veränderungen, Erweiterungen, aber auch Belastungen zu beschäftigen; Erkenntnisfortschritte müssen integriert werden, und so muss sich – wo nötig – eine Praxis von Strebungen des Zeitgeistes abgrenzen. In vielen Lebens- und Wissenschaftsbereichen fanden in diesen 40 Jahren grundlegende Veränderungen und Erweiterungen statt – z. B. der Zuwachs in den Neurowissenschaften, in den Humanwissenschaften, das Auftauchen und die Ausbreitung der digitalen Welt, Veränderungen in der Kinderbetreuung, veränderte Krankheitsbilder bis hin zu einer globalen Pandemie, um nur einiges zu nennen –, während sich das individuelle Suchen nach grundlegender Sicherheit kaum von früheren Vorstellungen unterscheidet. All dies spiegelt sich auch in den Problemfeldern wider, die in einer Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapiepraxis auftauchen, die es differenziert zu erfassen, zu durchdringen und zu strukturieren gilt, um dem Heranwachsenden und den Familien einen heilsamen Weg zu eröffnen.

Um den beschriebenen Phänomenen auf dem Boden aktuellen Wissens begegnen zu können, wird daher in der Einleitung eine entwicklungspsychologische Basis angeboten, damit die beschriebenen psychischen Phänomene und spezifischen Handlungsoptionen aus dieser Perspektive nachvollzogen werden können. Im Anschluss daran geht es um die Bedeutung und den Einfluss einer mütterlichen Depression in den Aufwuchsjahren ihres Kindes, um daran folgend die Rolle des Vaters in der familiären derart belasteten Dynamik zu beleuchten. Dargestellt wird seine reorganisierende Rolle in einem solchen Prozess, was die Möglichkeit eröffnet, eventuelle negative Effekte zu mildern. Des Weiteren ist ein »Dauerbrenner« elterlicher Belastung der meist fortwährende Streit unter den Geschwistern, was es notwendig macht, die Chancen und Risiken beim Aufwachsen mit Geschwistern zu untersuchen.

All dies sind zeitlose Konfliktfelder, die zum familiären Alltag schon immer gehören und je nach Lebensverständnis und psychologischem Wissen entsprechende Handlungsoptionen eröffnen. Das darin anschließende 5. Kapitel soll Einblick in die kindzentrierte psychodynamische Familientherapie eröffnen, denn die Erkenntnisse der Affektregulations- und Bindungstheorie zeigen eindringlich, dass es die Elterngeneration ist, die dem Nachwuchs einen sicheren Hafen bieten muss, um Exploration des Kindes und allgemeine Lebenssicherheit und Zufriedenheit zu ermöglichen.

In den daran anschließenden Kapiteln werden Aufwuchsphänomene dargestellt, die ubiquitär sind und dennoch im allgemeinen Verständnis – sei es beim Laien, aber auch beim Professionellen – nicht immer gegenwärtig sind. Zunächst werden die Aufwuchsbedingungen von Jungen herausgearbeitet, die sich in bedeutsamen Realitäten von denen eines weiblichen Kindes unterscheiden. Eine Nicht-Beachtung dieses Unterschiedes, d. h. eine »Gleichbehandlung«, wird somit beiden Geschlechtern nicht gerecht.

Im anschließenden Kapitel wird ein Phänomen beschrieben, das den Lebensverlauf vieler Menschen nachhaltig prägt, im allgemeinen Bewusstsein eher nicht präsent ist und daher nicht wenige Lebensläufe zutiefst negativ beeinflusst. Es handelt sich um eine nicht optimale Wahrnehmungsorganisation – wie die äußere Welt von den Sinnen aufgenommen und in der Folge verarbeitet wird – wobei ganz offensichtlich im Allgemeinen gedacht wird, dass sich die Menschen dabei sehr ähneln. Da aber erwiesenermaßen mehr als ein Drittel der Individuen die sinnlichen Eindrücke nur unzulänglich verarbeitet, entstehen aus dem Nicht-Wissen und dem daraus resultierenden Missmatch äußerst schwierige Lebensverläufe. In Kapitel 8 – eine gemeinsame Ausarbeitung mit Allan Schore(1) – wird das Thema Bindungstrauma und Dissoziation als Ergebnis eines entgleisten Bindungsdialogs ausgearbeitet.

Ich möchte mich in diesem Zusammenhang bei Allan Schore(2) für die nun schon sehr lange kollegial-freundschaftliche Beziehung und Zusammenarbeit bedanken, die mich sowohl persönlich als auch wissenschaftlich geprägt und unbeschreiblich bereichert hat. Er ermöglicht mir immer wieder Teilhabe an seinen wissenschaftlichen Forschungen und Ausarbeitungen. In diesen Zusammenhang gehört die wissenschaftliche Ergänzung im Anschluss an Kapitel 6, wobei ich seine wegweisenden und herausragenden Erkenntnisse bezüglich der spezifischen Entwicklungsbedingungen des männlichen Kindes in verkürzter und übersetzter Form wiedergebe. Das gleiche gilt für seinen Essay zum besonderen Lebensphänomen der autistischen Spektrumsstörung, deren Darstellung sich ebenfalls in verkürzter und übersetzter Form dem Kapitel 7 zum Erscheinungsbild von Wahrnehmungsschwächen und sensorischen Integrationsproblemen anschließt.

Die Schlussbemerkung beschäftigt sich mit der Behandlungsform der psychodynamischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, ohne deren Perspektive die vorausgegangenen Ausarbeitungen nicht möglich gewesen wären. Diese Perspektive – d. h. das aktualisierte analytische Gedankengut – nimmt inzwischen im Rahmen der psychotherapeutischen Versorgung nur noch geringen Raum ein. Dies ist eine bedauerliche Realität, da eine strukturelle und heilsame Behandlung ohne den Blick in die menschliche Tiefe, was eine kontinuierliche, vertrauensvolle und gelegentlich auf längere Zeit ausgelegte therapeutische Beziehung verlangt, nicht möglich ist.

Kapitel 1

Der psychologische Blick auf die Entwicklung von Kindern als Grundlage zum Verständnis psychischer Phänomene

Mit Sigmund Freud(1) begann Anfang des vergangenen Jahrhunderts, die Entwicklungs- und Tiefenpsychologie zu einer wissenschaftlichen Disziplin zu werden. In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts eröffneten zudem neue Erkenntnisfortschritte im Feld der Entwicklungspsychologie komplexe Zugänge und Einsichten zur Entfaltung des Menschen und zu der Bedeutung der Umgebungsfaktoren. John Bowlby(1) legte in den 1960er Jahren mit seiner Forschung das Fundament der Bindungstheorie, die derzeit als die am gründlichsten und sorgfältigst evaluierte Entwicklungspsychologie gilt. Weltweit veröffentlichen Forscher in fast nicht mehr überschaubarem Ausmaß ihre Erkenntnisse. In Deutschland ist es u. a. Karl Heinz Brisch(1), der mit seinen Tagungen und Veröffentlichungen an der Verbreitung dieser Theorie beteiligt ist.

Neben der durch die Videographie höchst präzise gewordenen Beobachtung können bildgebende Verfahren Einblicke in hirnorganische Prozesse eröffnen. Weiter haben Messungen am Körper (z. B. Herzschlag, Hautwiderstand, Speichelüberprüfung zur Erfassung des Stresspegels) der Entwicklungspsychologie ein wissenschaftlich nachvollziehbares Fundament unterlegt, sodass inzwischen der Wechsel von einer »weichen« zu einer »harten« Wissenschaft vollzogen werden konnte. Die Hirnforschung, insbesondere die Neurobiologie, ist zu einer Hilfswissenschaft der Entwicklungs- und Tiefenpsychologie geworden.

Entwicklung ist u. a. ein biologisches, ein psychobiologisches und mentales Phänomen und bezieht sowohl das Körperliche als auch das Psychische mit ein. Die Entwicklungspsychologie präsentiert sich dabei als eine multidisziplinäre Theoriengruppe. Die Phänomene des Lebens lassen sich nicht mehr nur unter einem Aspekt erklären. Nun erlaubt der breit gefächerte Wissenszuwachs in den vergangenen 50 bis 60 Jahren – und insbesondere der Zeitraum zwischen 1990 und 2000 (dieser Zeitraum wird als die »Dekade des Gehirns« bezeichnet) –, strukturelle Sequenzen im Entwicklungsverlauf wahrzunehmen, mit deren Hilfe die Komplexität der menschlichen Entwicklung konzeptuell erfasst werden kann.

Die frühe Kindheit stellt das Fundament des Lebens dar, und die neurobiologische Forschung kann belegen, dass die Schwangerschaft und die ersten 18 Monate Prägungscharakter haben – d. h., dass die dort gemachten Erfahrungen unauslöschlich in die hirnorganische Struktur eingeprägt sind. Daher ist es von großer Bedeutung, welche Erfahrungen der kleine Mensch während der Schwangerschaft und in der frühen Kindheit macht, und es ist mehr als plausibel, dass gute Bedingungen in der Kindheit präventiven Charakter haben. Wer in seiner frühen Lebensphase gute Beziehungs- und Bindungserfahrungen machen kann, begibt sich besser ausgerüstet auf den langen Lebensweg. Jemand, der nur unzureichend gute Erfahrung hat machen können, wird einen dornenreicheren Weg zu beschreiten haben. Es gibt zwar Möglichkeiten, durch spätere bessere Beziehungs- und eventuelle therapeutische Erfahrungen an diesem Basalen eine Reorganisation vorzunehmen, doch ist es nicht einfach, diese in das bis dahin entwickelte neuronale Netz zu integrieren, wenn die frühen Jahre mit übermäßigen Belastungen einhergingen.

Sowohl die psychische als auch die hirnorganische Strukturbildung geht mit Bindungserfahrungen einher, die in die fortwährenden Aktionen des Kindes mit seinen Fürsorgepersonen eingebettet sind. Realer Traumatisierung – dazu gehört auch eine Akkumulation von Minimaltraumata durch chronische Überlastung, z. B. fortwährende Belastungsfaktoren in der Familie, kontinuierliche Überforderung in spezifischen Lebensbereichen – wird eine größere Bedeutung bei der Entstehung psychischer, psychosozialer und psychosomatischer Störungen als fantasierten unbewussten Konflikten eingeräumt. Damit bekommen die frühen realen Interaktionserfahrungen als Wegbereiter der späteren Entwicklung ein wesentliches Gewicht. Diese interdisziplinären Befunde sind wichtig, um ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie frühe affektive Erfahrungen unausweichlich die gesamte Entwicklung und somit insbesondere die der sich früh entwickelnden rechten Hemisphäre und der damit einhergehenden regulierenden Strukturen beeinflussen. Die rechte Hemisphäre ist in den ersten Jahren die dominante, und diese ist besonders intensiv in den Ausbau der Stressregulation, des kardiovaskulären Systems, des Immunsystems sowie des Hormonsystems involviert. Die linke Hemisphäre, der im Wesentlichen die Kognition und die Sprache zugeordnet werden, gerät erst gegen Ende des zweiten Lebensjahres in einen bedeutsamen Wachstumsschub. Regulierende Bindungs- und Beziehungserfahrungen prägen sich in die entstehenden neuronalen Strukturen ein. Die Forschung spricht daher von der »sozialen Konstruktion des menschlichen Gehirns«.

Regulierte und beruhigende affektive Interaktionen mit einer vertrauten, vorhersagbaren und primären Bezugsperson schaffen nicht nur das Gefühl von Sicherheit, sondern auch eine positiv aufgeladene Neugier, die es der entstehenden Persönlichkeitskonfiguration ermöglicht, ihre sozioemotionale physikalische Umwelt zu erforschen. Es ist wichtig zu betonen, dass das entwicklungsgeschichtliche Phänomen eines wirksamen Selbstsystems, das verschiedene Erregungs- und psychobiologische Zustände zu regulieren vermag, sich nur in einer stützenden und emotionalen Umgebung entwickeln kann. Dies bedeutet, dass sich ein zuverlässiges Stressverarbeitungssystem intern nur dann entfalten kann, wenn zuvor extern durch beruhigende und sicherheitsgebende Fürsorgepersonen eine Milderung der Stresszustände erlebt werden konnte. Diese regulierenden Momente fördern die Erweiterung der Anpassungsfähigkeit des Kindes, und diese Sicherheit der Bindungsbeziehung ist der größte Schutz gegen eine durch Trauma herbeigeführte Psychopathologie. Je mehr sich in den frühen Jahren den Bedürfnissen des Kindes angepasst wurde, desto stabiler können sich Anpassungskompetenzen, die im späteren Leben von größter Bedeutung sind, entwickeln.

Der Säugling ist in Erregungszuständen auf die zustandsmodulierten Interventionen der Pflegeperson angewiesen, um die psychobiologische Homöostase wiederherzustellen. Der Fokus bei der Entstehung von Störungen liegt demnach auf den psychischen Nachwirkungen realer Interaktionen, die die Bedürfnisse des Kindes nicht befriedigen konnten; nicht etwa auf konflikthaften intrapsychischen Binnenbeziehungen zwischen Wunschfantasien und fantasierten Objekten. Nur durch regulatorische Erfahrungen kann in der neurobiologischen Ausstattung ein Stressverarbeitungssystem aufgebaut werden, und es ist daher von größter Notwendigkeit, dass beruhigende Fürsorgepersonen sich dem erregten Kind in diesen Zuständen unmittelbar und kontinuierlich zur Verfügung stellen. Die biologische Regulation ist somit das Basisgeschehen, aus dem heraus sich im Laufe der Kleinkindzeit Affekte, Emotionen und Gedankengänge entwickeln können. Die Steuerung von Affekten jedweder Art stellt somit eine Schlüsselfunktion dar.

Der Mensch hat von Anfang an Entwicklungsaufgaben zu durchlaufen, und in jedem Alter stehen spezifische Entwicklungsthemen im Vordergrund. Im ersten halben Jahr geht es insbesondere um die grundlegenden Regulierungsprozesse im Organismus des Kindes; bis zum Ende des ersten Lebensjahres und weitergehend bis zum dritten Lebensjahr steht die Bindungsentwicklung im Vordergrund. Aufbauend auf diesem Prozess werden die Autonomieentwicklung und die Exploration des Kindes ermöglicht. Der Impulskontrolle im Allgemeinen und der Interaktionsgestaltung in der Gleichaltrigengruppe kommen große Bedeutung zu. Ab dem Schulalter rückt die körperliche Leistungs- und Sozialkompetenz in den Vordergrund, was ab dem Jugendalter durch die Identitätsbildung und die Bildung außerfamiliärer Beziehungen erweitert wird. Jede neue Entwicklungsaufgabe gleicht einer Schwellensituation, in der neue Reifungsschritte zu bewältigen sind. Übergänge gehen häufig mit normativen Krisen, in denen das Stressverarbeitungssystem die Stabilität der vorherigen gemeisterten Entwicklungsschritte »abklopft«, einher. An auftauchenden längerfristigen Irritationen kann deutlich werden, dass es in der Vorgeschichte offenbar Entwicklungshindernisse gegeben hat. Diese Krisen sind große Chancen – insbesondere die der langen Adoleszenz –, da in ihnen durch bessere Lebenserfahrungen und neue Bewältigungsstrategien Reorganisationsmöglichkeiten bestehen.

Insbesondere mit Blick auf die Kindheit ist wichtig zu betonen, dass ein Kind mehrere wichtige Entwicklungsaufgaben fast nie gleichzeitig bewältigen kann, wie z. B. Geburt eines Geschwisters bei gleichzeitigem Übergang in die außerfamiliäre Betreuung. Meist kann nur eine Aufgabe in Angriff genommen werden, während die anderen nur bedingt zur Reifung kommen. Dies gilt aber auch für die späteren Jahre, und es ist schwierig, parallel stressvolle Belastungen in der Partnerschaft und im Beruf zu bewältigen. Gerade in höchst angespannten Zeiten benötigt der Heranwachsende angepasst an das jeweilige Alter die persönliche Regulation seiner Affekte und sicherheitsgebende Bindungserfahrungen. Der fürsorgende Erwachsene muss die Unreife komplementär ausgleichen, um so dem sich entwickelnden Kind das Gefühl von Ganzheit und Passung zu ermöglichen. Dies setzt eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Fürsorgeperson und Kind voraus und kann nicht auf sich häufig wechselnde Bezugspersonen verlagert werden. Gute Beziehungsangebote in einer fördernden Umwelt können Entwicklungsstagnationen beheben, und das Kind kann wieder den Weg seiner autonomen Entwicklung und Exploration beschreiten. Affektregulation, Bindung und Sicherheit liefern lebenslang basale Bausteine für die Bewältigung nie endender Entwicklungsaufgaben, und es gilt daher, der Bindungs- und Beziehungsdiagnostik in der Familie besondere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. D. h., dass Einfühlungsvermögen, die Regulation bei affektiver Überflutung, das Vermitteln sicherheitsgebender Rahmenbedingungen sowie kognitiver Angebote im Fokus der Einschätzung stehen müssen. Daher gilt es, der Diagnostik der Elternkompetenz im Zusammenspiel mit den kindlichen Entwicklungsaufgaben größte Bedeutung beizumessen.

Auch für die moderne Entwicklungspsychologie ist die alte Weisheit »wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus« gültig: Wer in den Entwicklungsjahren eine emotionale und sicherheitsgebende Fürsorge erfahren hat, wird im späteren Leben beziehungsfähig, respektvoll, einfühlsam und geduldig mit anderen Menschen umgehen können. Die sicherheitsgebenden Erfahrungen führen zu Neugier und Weltoffenheit, was sich im kindlichen Spiel und später beim kreativen Lernen und Arbeiten eine Basis schafft. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, dass die Bindungsforschung zeigen kann, dass die gemachten Bindungserfahrungen – die wohltuenden wie auch die weniger beruhigenden – in den Umgang mit der nächsten Generation hineinfließen. Man spricht daher von einer transgenerationalen Weitergabe – die sich ebenfalls in einem weisen Satz des Volksmundes niederschlägt: »Es wurde einem in die Wiege gelegt«.

Literatur

Rass, E. (2011): Bindung und Sicherheit im Lebenslauf. Stuttgart (Klett-Cotta).

Winnicott, D. (2002 [1965]): Maturational Processes and the Facilitating Environment. London (Hogarth Press). Dt.: Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. Übers. von G. Theusner-Stampa. Gießen (Psychosozial) 2002.

Kapitel 2

Der Einfluss einer mütterlichen Depression auf die kindliche Entwicklung

Keine den Seelenbereich betreffende Störung ist so verbreitet wie die Depression; sie erfasst alle sozialen Schichten und Altersgruppen, Männer und Frauen, und scheint im Zunehmen begriffen.1 Von drei Depressiven sind zwei Frauen betroffen, und zwar überwiegend vor ihrem 35. Lebensjahr. Der Erkrankungsschwerpunkt der Männer liegt in der Altersgruppe zwischen 55 bis 70 Jahren (Stiemerling 1995, S. 7)(1). Nicht nur Erwachsene, auch Kinder können an Depressionen erkranken. Amerikanische Studien gehen davon aus, dass 10 % der Sechs- bis Zehnjährigen an einer depressiven Störung leiden (Nissen 1999, S. 10)(1). Auch in Autobiographien berühmter Menschen wie Gottfried Keller(1), Friedrich Hebbel(1) oder Thomas Mann(1) finden sich zahlreiche Hinweise auf depressive Episoden in der Kindheit. Kierkegaard reflektierte über einen »unerträglichen Druck«, der seit seinem vierten Lebensjahr auf ihm lastete, »den alle Elastizität der Seele, alle Energie der Freiheit« nicht aufheben konnte. Auch Rilke schrieb mehrere Gedichte über seine traurige Kindheit, so eines mit den Schlusszeilen: »Da wachsen Kinder auf an Fensterscheiben – und wissen nicht, dass draußen Blumen rufen – an einem Tag voll Weite, Glück und Wind – und müssen Kind sein und sind traurig Kind.« (zit. nach Nissen & Trott 2013, S. 135)(2)(1).

2.1 Entwicklung des Selbst

Im Folgenden soll die psychodynamische Entstehung des Selbst aus der Sicht der psychoanalytischen Selbstpsychologie erweitert mit Aspekten der Erkenntnisse von Margaret Mahler(1), Joseph Sandler(1), Walter Joffe(1) und Daniel Stern(1) skizziert werden, um so Mangelerfahrungen, die zur Depression führen können, besser aufzuspüren.

Nach Heinz Kohut entwickelt sich das Kern-Selbst durch spezifische Selbstobjekterfahrungen, die wir im Laufe der frühen Jahre machen und die die Selbstobjektmatrix darstellen (Kohut 1979 [1977]; Kohut 1987 [1984])(1): Das Kind sollte in eine empathisch-responsive Umgebung hineingeboren werden, die sich auf seine Wünsche und Bedürfnisse einstellen kann. Ist das physische und psychische Gleichgewicht des Kindes gestört, werden die Spannungen unter normalen Umständen vom Selbstobjekt empathisch wahrgenommen, und sie erfahren eine entsprechende Reaktion. Das Selbstobjekt, das eine reife seelische Organisation besitzt, die die Bedürfnisse des Kindes und was dafür zu tun ist, realistisch einschätzt, wird das Kind in seine eigene psychische Organisation aufnehmen, um seinem homöostatischen Ungleichgewicht durch einfühlendes Handeln abzuhelfen. Die empathische Resonanz des Selbstobjektes schafft Bedingungen, die das Kind phasengerecht als intensive Verbundenheit mit dem allmächtigen Selbstobjekt erlebt. Die unreife Psyche des Kindes hat damit an der hoch entwickelten psychischen Organisation des Selbstobjektes teil. Dieser aus zwei Schritten bestehende Ablauf ist ungemein wichtig. Er ermöglicht dem Kind die Teilhabe an der reifen psychischen Organisation des Selbstobjektes und die Teilnahme daran, dass das fürsorgende Selbstobjekt statt einer Affektausbreitung ein Affektsignal erlebt und eine bedürfnisbefriedigende Handlung vornimmt.

Wenn während der Kindheit dieser Ablauf der Spannungsregulierung immer wieder erlebt wird, bleibt dieser während des ganzen Lebens als eine Säule psychischer Gesundheit bestehen. Wenn umgekehrt aber die Selbstobjekte der Kindheit versagen, dann werden die daraus resultierenden psychischen Defizite und Verzerrungen eine lebenslange Bürde bleiben. Wenn z. B. das Selbstobjekt hypochondrisch auf die milde Angst eines Kindes reagiert, dann führt die große Nähe zu diesem Selbstobjekt nicht zur nützlichen Erfahrung einer sich mildernden Angst, die sich sogar in Ruhe verwandelt, sondern vielmehr im Gegenteil zu dem schädlichen Erfahrungsablauf, dass milde Angst sich in Panik umwandelt. Als Endergebnis bleibt ein Mangel an normale Spannung regulierender Struktur.

Unter günstigen Umständen gehen die mütterlichen Reaktionen der Konsolidierung des Selbst des Babys voraus – die Mutter meint, es sei stabiler, als es tatsächlich ist; oder mit anderen Worten, die Mutter erlebt, da sie der tatsächlichen Entwicklung des Kindes vorauseilt, die Freude, durch ihre eigenen Erwartungen diese Entwicklung fördern zu können. Die Mutter ist bei diesem Prozess schöpferisch, da sie mit dieser für ihr Kind passgenauen Vorgabe seine Fähigkeiten zur Entfaltung bringt, was für das kreative Gedeihen des Kindes unerlässliche Voraussetzung ist.

Kohut(2) nahm an, dass sich das Kern-Selbst in den ersten beiden Lebensjahren auszubilden beginnt: Es wird bestimmt durch zwei Pole, die durch einen Spannungsbogen miteinander verbunden sind. Der eine Pol, das Größenselbst, bildet sich durch die Erfahrung des Gespiegelt-Werdens und der Einfühlung und beinhaltet das vitale Bedürfnis, als eigenes Wesen geachtet und bestätigt zu werden (Glanz im Auge der Mutter). Von hier aus erwerben wir unser Selbstwertgefühl, das Gefühl, im innersten Kern lebendig zu sein und grundlegende Ambitionen zu hegen. Übermäßige Mangelerfahrungen führen zu dem Gefühl innerer Leere, der Wertlosigkeit und Angst. Die andere Seite des bipolaren Selbst bezeichnet Kohut(3) als idealisierte Elternimago. Der mächtige Andere sollte idealisierbar sein, um mit ihm zur Spannungs- und Sicherheitsregulierung eine Zweieinheit herstellen zu können. Die Bedürfnisse nach Ruhe, Geborgenheit und Schutz vor äußeren Reizen werden befriedigt. Ein Mangel in diesem Entwicklungsbereich des Selbst kann zu Sucht, Kriminalität und Perversion führen. D. h., dass einfühlsame Verfügbarkeit bei der emotionalen Abhängigkeit des Kindes die optimale Entfaltung seiner angeborenen Möglichkeiten fördert. Wenn die Mutter zur Affektregulation verfügbar ist, einen empathischen Rahmen liefert, wenn sie an der Expansion des kleinen Abenteurers teilnimmt, auf seine Nachahmungs- und Identifizierungsversuche adäquat eingeht, schreitet die Beziehung zu dem Punkt fort, an dem die verbale Kommunikation einsetzt, auch wenn lebhaftes gestisches Verhalten, d. h. die Affektmotilität, noch überwiegt.

Nach Stern ist das Selbstempfinden das Organisationsprinzip der Entwicklung, dessen Phasen – beginnend beim auftauchenden Selbst bis hin zum verbalen – er beschreibt (Stern 1992 [1985])(2). Jede neue Selbstempfindung definiert auch einen neuen Bereich der Bezogenheit. Diese Selbstempfindungen bleiben, nachdem sie sich herausgebildet haben, das ganze Leben in vollem Umfang lebendig; sie wachsen weiter und bestehen gleichzeitig. Das empathische Abstimmungsverhalten der Mutter muss somit jeweils altersspezifische Funktionen erfüllen. Die vorhersehbare emotionale Anteilnahme der Mutter an diesem Prozess scheint die reiche Entfaltung der kindlichen Gedankengänge, die Realitätsprüfung und das Sich-Messen mit anderen gegen Ende des zweiten und zu Beginn des dritten Lebensjahres und somit den Ablösungs und Individuationsprozess zu fördern. Das Kind entwickelt die Bereitschaft, sich von der Mutter zu entfernen, während sie weiter emotional verfügbar bleibt; diese emotionale Verfügbarkeit ist der wichtigste Faktor der durchschnittlich zu erwartenden Umgebung für das Kind.

In der Zeit zwischen dem neunten und 18. Monat, in der sich das subjektive und verbale Selbst entwickelt, keimen Ansätze der Selbstrepräsentanz des Kindes, und der damit verbundene Schritt kann als die Übungsphase par excellence bezeichnet werden. Diese Phase, die mit dem zusammenfällt, was Phillis Greenacre(1) »das Liebesverhältnis des Kindes mit der Welt« (Greenacre 1957, S. 367) genannt hat, führt zur Meisterung gewisser Fortbewegungsfähigkeiten, kognitiver Fähigkeiten und anderer partieller autonomer Ich-Funktionen. Damit wird sich das Kind jedoch zunehmend seiner Getrenntheit bewusst und pari passu auch seines Bedürfnisses, von der Mutter als etwas »Eigenes«, d. h. Eigenständiges anerkannt zu werden und sich dennoch ihrer Anteilnahme sicher zu sein. Das Kind wird hartnäckiger im Verfolgen seiner Ziele, und auch die Eltern realisieren die Quantensprünge in dessen Entwicklung und verlangen mehr von ihm, was auf beiden Seiten Ambivalenzen erzeugt (Mahler 1985 [1979], S. 313 ff.; Dornes 1997)(1). Nach Mahler(2) kommt es nun zu einer Phase, in der ein erneutes Annäherungsverhalten zu beobachten ist und die sich etwa vom 18. Monat bis weit in das dritte Lebensjahr hinein erstreckt. Diese Phase der Wiederannäherung ist sehr wichtig für die Grundlegung späterer psychischer Gesundheit oder psychischen Leidens.2 Diese sehr entscheidende Entwicklungsperiode geht allmählich in eine Phase über, in der ein gewisses Maß an Objektkonstanz erreicht wird: D. h., psychische Repräsentanzen der Mutter werden intrapsychisch verfügbar. Die Gedächtnisspuren des Liebesobjekts befähigen das Kind, eine gewisse Zeit von der Mutter getrennt zu sein und doch emotional beruhigt zu funktionieren, vorausgesetzt es befindet sich in einer einigermaßen vertrauten Umgebung. Mit dem Erwerb dieser Fertigkeiten und Fähigkeiten wird sich das Kind seiner Getrenntheit aber immer mehr gewahr, es erkennt die Hindernisse, die seinen magischen Allmachtswünschen und Fantasien entgegenstehen. Auf dem Höhepunkt der Meisterschaft dämmert dem Kleinkind, dass die Welt nicht ihm gehört, dass es sich immer wieder als relativ hilfloses, kleines, einsames und getrenntes Individuum mit ihr auseinandersetzen muss. Wie sehr es auch seine Mutter zu bedrängen versucht: Sie und das Kind funktionieren nicht mehr wirkungsvoll in der alten Zweieinheit, d. h., es kann auch nicht mehr an der Vorstellung der elterlichen Allmacht teilhaben, an der es immer wieder festhält. Verbale Verständigung und sekundär prozesshaftes Denken werden damit immer mehr zu einer Notwendigkeit. Frageakte laufen an, und Verloren-Gehendes – Sich-Verlierendes – soll dadurch wieder heimgeholt werden (vgl. dazu Riebel 2000)(1).

Während sich das kleine Kind seiner individuellen Getrenntheit in zunehmendem Maße bewusst wird, erkennt es auch allmählich, dass seine Liebesobjekte ebenfalls getrennte Individuen sind; sie scheinen nach vielfältigen Interessen zu handeln, die immer weniger mit seinen eigenen übereinzustimmen scheinen. Diese Erkenntnis wird jedoch zu einem Zeitpunkt gewonnen, zu dem die Vorstellung des Kleinkindes von der unbegrenzten Macht der Eltern noch besteht. Erst viel später, in der postödipalen Phase, vermag es zu begreifen, dass nicht nur es selbst, sondern auch die Eltern keineswegs allmächtig sind. Demzufolge können sie eine Omnipotenz, die sie nicht besitzen, mit ihm weder teilen noch sie verweigern. Wenn die Mutter diesen Prozess emotional nicht erfühlen kann, wenn es nicht zu einer Zweisamkeit auf einem höheren Niveau kommt, verringert sich das Selbstwertgefühl des Kindes und führt zu einer narzisstischen Verletzbarkeit. Die aktive Unterstützung durch die Mutter während dieser Wiederannäherungsphase ist daher notwendige Vorbedingung, dass das Kind allmählich erkennt und anerkennt, dass seine Omnipotenz irreal ist, d. h. eine Erkenntnis, die es ihm ermöglicht, allmählich zu sekundären narzisstischen Besetzungen der eigenen Autonomie zu gelangen. Dadurch wird das Kind vor der akuten Entwertung seiner Omnipotenz geschützt und eine ernstliche Beeinträchtigung seines Selbstwertgefühls verhindert (Mahler 1985 [1979], S. 318 ff.)(3).

Der Zusammenbruch des kindlichen Glaubens an die eigene Allmacht im Verein mit der Ungewissheit über die emotionale Verfügbarkeit der Eltern erzeugt eine feindselige Abhängigkeit und Ambivalenz ihnen gegenüber. Dadurch entsteht ein Gefühl der Hilflosigkeit, eine depressive Grundstimmung. Säulen des frühkindlichen Wohlbefindens und Selbstwertgefühls sind u. a. der Glaube des Kindes an die eigene Allmacht und der Glaube an die Allmacht der Eltern, an der es teilhat. Dieser Glaube kann nur allmählich dadurch ersetzt werden, dass das Kind die eigene Autonomie realistisch zur Kenntnis nimmt, an sie glaubt und sie genießt, sowie durch die Entwicklung der Objektkonstanz (Mahler 1985 [1979], S. 321)(4).

Ein bedeutsamer Aspekt ist dabei das Gefühl, etwas, das für die narzisstische Integrität entscheidend wichtig ist, verloren zu haben. Bei dieser Reaktion handelt es sich nicht primär um einen Objektverlust, sondern vielmehr um das Gefühl, des Idealzustandes beraubt worden zu sein. Wenn der aktuelle Zustand des kindlichen Selbst einem Idealzustand, einem Zustand des seelischen Wohlbefindens, nicht entspricht, entsteht seelischer Schmerz. Da der Zustand des kindlichen Selbst nie durchweg mit dem Idealzustand eins ist, kommt es ständig zu Schwankungen im jeweiligen Grad des Wohlbefindens. Einige Kinder erleben selbst geringere Diskrepanzen in diesem Bereich als extrem schmerzlich, während andere eine ganz beträchtliche Differenz zwischen dem aktuellen Zustand des Selbst und dem Ideal mühelos aushalten können. Es liegt auf der Hand, dass die Fähigkeit, eine derartige Spannung zu ertragen, für die Entwicklung des Kindes wichtig ist.

Es leuchtet somit ein, dass zu dem kontinuierlichen Prozess einer normalen psychologischen Entwicklung bei jedem Kind auch der Verlust früher erlebter befriedigender Zustände des Selbst gehört. Im Normalfall ist das ein Ansporn zur Anpassung; die Anziehungskraft, die von den neuen Entwicklungsmöglichkeiten und Erfahrungen ausgeht, macht es dem Kind möglich, die Besetzung von den verlorenen Idealzuständen mit einem Minimum an Schmerz abzuziehen (Kohut(4) spricht in diesem Zusammenhang von »optimaler Frustration«). Die frei gewordenen Kräfte werden nunmehr in neue Ideale, die sich im Zuge der Reifungsprozesse und des Vorwärtsdrängens in die nächste Entwicklungsphase ergeben, investiert (Sandler & Joffe 1980)(2)(2).

Kinder antworten aber unterschiedlich auf seelischen Schmerz, und hier reicht die Skala vom zornigen, protestierenden Nicht-Annehmen des schmerzlichen Zustandes bis hin zu den als depressive Reaktion beschriebenen Zuständen von passiver hilfloser Resignation. Das Erleben von psychischem Schmerz mobilisiert normalerweise Gefühle von Aggression, die dann gegen den vermeintlichen Ausgangspunkt des Schmerzes gerichtet werden.3 Diese Aggression kann dazu benutzt werden, entweder das eigene Selbst des Kindes oder aber seine Lebensumstände zu ändern, sodass die Stärke des erlittenen seelischen Schmerzes gemindert wird. Die Folge derartiger Änderung ist entweder eine allmähliche Anpassung oder eine Entwicklungsstörung (Sandler & Joffe 1980)(3)(3).

2.2 Störfaktoren in der Entwicklung

Eltern können nach außen hin gut funktionierende erwachsene Menschen sein, aber in der Beziehung zu ihrem Kind können ansonsten unauffällige Defizite in ihrer Selbstentwicklung manifest werden. Strukturell reife Eltern haben eine Form von Empathie entwickelt, eine Fähigkeit, sich als Erwachsene in das innere Leben eines Kindes hineinzuversetzen, ohne Gefahr zu laufen, sich selbst darin zu verlieren oder die eigenen Bedürfnisse mit denen des Kindes zu vermischen. Die Fähigkeit des Erwachsenen, empathisch zu sein, hängt von seinen Fähigkeiten ab, sich weiterhin als getrennte Person zu erleben (vgl. Ornstein & Ornstein 1994 [1985])(1)(1). Elternschaft erfordert Beziehungsfähigkeit, die in der tiefsten Schicht der Persönlichkeit mit einem Gefühl für das abgegrenzte Selbst in Beziehung zu einem anderen verankert ist.

In diesem Zusammenhang erscheint es wichtig, die kohutsche Differenzierung von defensiven und kompensatorischen Strukturen einzufügen (Kohut 1979 [1977], S. 20)(5): Eine Struktur ist defensiv, wenn ihre hauptsächliche Funktion darin besteht, den primären Defekt im Selbst, d. h. Leere, Unlebendigkeit und Wertlosigkeit, zu überdecken. Eine Struktur ist dagegen kompensatorisch, wenn sie diesen Defekt kompensiert, statt ihn nur zu verdecken. Sie durchläuft eine eigene Entwicklung und führt zu einer funktionellen Rehabilitierung des Selbst. Der grundlegende Unterschied zwischen defensiven und kompensatorischen Strukturen besteht darin, dass die defensive Struktur das Leid des beschädigten Selbst zudeckt und abspaltet. Defensiv ist somit alles, was zur Abwehr-Abspaltung dieses Leids führt, worunter auch erstaunliche Leistungen fallen können. Diese Abwehr kostet aber Lebenskraft, die für echtes Lebendig-Sein verloren geht. Vielleicht stabilisiert die bemerkenswerte Leistung sogar das Defensive, was gelegentlich zum psychischen Überleben notwendig ist, aber keine Kompensation darstellt. Gerade im Bereich der Selbstwahrnehmung und in dem hier stattfindenden Zuwachs wird sichtbar, ob kompensatorische Strukturen entwickelt werden konnten. Erst die Arbeit am primären Defekt, die mögliche Introspektion ins eigene Leid, führt zum Wahrnehmen von Selbstobjektbedürfnissen anderer. D. h., dass bei zunächst unreflektierten primären Verletzungen im Selbst einer Mutter dies bei ihr zu einem Bindungsstil dem Kind gegenüber führen kann, der defensiv das alte Leid zu umgehen und zu vermeiden versucht. Somit wird das Kind in seinen ihm eigenen gesunden Bedürfnissen nicht genügend abgegrenzt von der Mutter wahrgenommen und erneut frustriert.

Die rudimentäre Psyche des Kindes hat durch seine angeborene Suche nach Anbindung an der psychischen Organisation des Selbstobjektes teil – sei sie hoch entwickelt oder selbst von Defiziten geprägt. Pathogen ist nicht das gelegentliche Versagen des Selbstobjektes, sondern seine chronische Unfähigkeit, angemessen zu reagieren, was wiederum auf eine eigene Psychopathologie im Bereich des Selbst zurückzuführen ist.

Zu den an dieser Stelle beschriebenen Elternteilen gehören vermutlich auch jene, die nicht als depressiv deutlich erkennbar in Erscheinung treten. Für sie kann der Begriff larvierte Depression gelten, da sich das depressive Syndrom eventuell hinter Beziehungskühle und auch manchmal im Gegenteil hinter scheinbar intensivem Bemühen um das Kind, in vegetativer Symptomatik oder Vitalstörungen und Beschwerden versteckt und zum Erleben des Betroffenen scheinbar in keinem Zusammenhang steht.

Das Selbstobjektkonzept ermöglicht zu erkennen, dass es nicht nur die offene Pathologie eines Elternteils ist, die einen krankmachenden Einfluss ausübt, sondern dass es auch die subtileren und unsichtbaren Mängel in der Selbstobjektfunktion sind, die ausschlaggebend sein können. Das Kind, dessen Eltern eindeutig eine Störung zeigen, scheint weniger innere Kompromissbildung von der Art entwickeln zu müssen, als die Kinder, deren Eltern unter versteckteren Formen von Selbstpathologie leiden. Wenn die Störung der Bezugsperson klar ist, werden die Wahrnehmungen des Kindes bereitwilliger als richtig anerkannt, und es hat mehr Freiheit, sich anderen Menschen zuzuwenden, um sich die für seine Entwicklung notwendigen Selbstobjektreaktionen zu verschaffen. Auf diese Weise kann sich das Selbst des Kindes angemessener konsolidieren und eine gewisse Widerstandsfähigkeit gegenüber der gestörten Bezugsperson entwickeln (Ornstein & Ornstein 1994 [1985])(2)(2).

Fehlende Empathie bei Eltern kann als Hauptfaktor für eine ungesunde Entwicklung angesehen werden. Elterliche Empathie ist nicht nur ein vorübergehendes Eintauchen in die innere Welt des Kindes, sondern eine andauernde Fähigkeit, das Kind in seiner besonderen Art zu erkennen und es vor potenziell destruktiven Entwicklungen zu schützen. Das offenkundige Hindernis, das elterlicher Einfühlung im Wege steht, ist die Angst der Eltern vor dem Wiederbeleben eigener Probleme. Wenn das Gefühl der Hilflosigkeit beim Kind bei Eltern ähnliche Probleme auslöst, dann verteidigt sich der Erwachsene, indem er auf das Kind böse wird, weil dieses ihn diesen Gefühlen aussetzt (Ornstein 1981 [1976])(3). Besonders folgenreich ist dieses elterliche Versagen inmitten entscheidender Entwicklungsschritte, in denen das Selbst ohnehin unsicherer etabliert und daher verstärkt verwundbar ist.

In vielen Fällen sind Eltern, die an Störungen ihres Selbst leiden, durch die Notwendigkeit zur Defensivität feindlich-intrusiv oder zurückgezogen-unerreichbar, daher weit vom Erleben ihres Kindes entfernt, quasi abgeschirmt. Die Kinder sind dadurch der empathischen Spiegelung und des reagierenden Zieles für ihre Idealisierungsbedürfnisse beraubt. In anderen Fällen ist die Deprivation nicht so leicht zu erkennen, da diese Eltern den Anschein erwecken, ihren Kindern besonders nahe zu sein, ihnen überbetont positiv gegenüberzustehen. Doch trügt der Schein, da diese Eltern unfähig sind, auf die sich ändernden narzisstischen Bedürfnisse ihrer Kinder zu reagieren. Jedes Schreien des Kindes rührt am eigenen, eventuell abgespaltenen oder verdrängten Bedürfnis oder wird als eigenes Versagen aufgefasst, per Verwöhnung unterbunden, und so wird das Kind in seiner Expansion behindert. Wenn die Mutter aus Mangel an Empathie nicht ›versteht‘, steigt sie auf ›versorgen‹ um, übertreibt dies als Verwöhnung, weil sie unbewusst vage empfindet, dass sie etwas falsch macht. Wird diese Mutter später pädagogisch, hilft sie, als Lernerfolg eine Ich-Funktion anstelle einer Selbstfunktion auszubilden (Riebel 2000)(2). Aus Schuldgefühlen heraus wird exzessiv diskutiert, und der Überdruss gegenüber den Kindern entzieht diesen den emotionalen Rückhalt. Dieses Defizit an ausreichend guter Bemutterung pflegt, zu einem Mangel an Selbstwertgefühl des Kindes und zu einer daraus resultierenden Verletzbarkeit zu führen. Vielleicht überdeckt die scheinbar übergroße Nähe des Erwachsenen zum Kind die eigene Einsamkeit und vor allem die des Kindes, das auf diese Weise depressiv gefährdet ist. Mangels Spiegelung und frustrierter Idealisierungsbedürfnisse ist das Selbst eines solchen Kindes psychologisch unterernährt und seine Kohärenz dadurch schwach.

Es gibt Eltern, die nicht Nein sagen können, weil sie den Ärger durch die Frustration fürchten, was Ausdruck der Tatsache sein kann, dass das Selbst des Kindes beginnt, sich von dem des Erwachsenen zu trennen, um ein eigenes Antriebszentrum zu werden. Derartige Mütter erscheinen oft überhaupt nicht depressiv, da das Kind – oder die Kinder – ein stabilisierendes Segment in der Erwachsenenpsyche darstellt, d. h., deren Leerstellen und Unlebendigkeit ausfüllt. Vielleicht erlebt sich eine solche Mutter durch ihr scheinbar einfühlsames Bemühen als außerordentlich kompetent, versucht, Streit und Konflikt unbedingt zu vermeiden, und gibt zu guter oder vielmehr »schlechter« Letzt nach scheinbar zähem Clinch nach. Sie verunmöglicht dadurch Abnabelung und echte Auseinandersetzung, erscheint vielleicht sogar durch das Nachgeben bei kindlicher oder jugendlicher Maßlosigkeit »großzügig«, verhindert aber mit dem »Weichwerden« – in welchem jedoch existenzielle Aggression liegen mag – das Zerreißen der seelischen Nabelschnur durch Enttäuschungswut, sodass der Heranwachsende durch diese Art der Verwöhnung verstärkt angebunden und abhängig wird. Noch verführerischer sind Mütter, die die kindlichen Größenfantasien mehr oder weniger deutlich insgeheim füttern, die die notwendigen optimalen Frustrationen nicht setzen können, da ihr eigenes diesbezügliches Erleben nicht zu reiferen Strukturen umgewandelt werden konnte. Das Grandiose des eigenen Kindes angemessen zu beschneiden, wäre ein entsetzlich wehtuender Schnitt ins eigene Fleisch. Diese verführerische Zufuhr »verdirbt« das Kind für die Eigen- und Fremdrealität, hindert es an der Wahrnehmung der objektalen Welt und damit an dem eigentlichen Leben, was gepaart mit Aggression ein gefährliches Gemisch darstellt. Oder aber Kinder werden zu Eltern der eigenen Eltern gemacht, sollen Beruhigung, liebevolle Zuwendung spenden, all das, was die Eltern von den eigenen ehemals nicht bekamen. Die derart missbrauchten Kinder erleben einerseits existenzielle Entbehrung, gleichzeitig stimuliert das – wenn sie »begabt« und ich-stark sind – die kindlichen Größenfantasien, da sie auf diese Weise von ungeheurer Wichtigkeit sind. Um den Eltern, deren Stabilität sie so dringlich brauchen, Sicherheit zu geben, spalten sie die eigene Hilflosigkeit, Kindlichkeit und Bedürftigkeit ab, werden frühzeitig funktionell selbständig – womöglich noch mit der Überlebensstrategie als Sunnyboy/-girl – und verschaffen sich als »Schwerstarbeiter« auf diese Weise scheinbar zufriedene Eltern. Damit wird aber kein Einklang mit den eigenen Möglichkeiten erreicht, nicht der eigene Selbstentwurf ausgestaltet, sondern ein falsches Selbst produziert (vgl. Ornstein & Ornstein 1994 [1985])(4)(3).

Fallbeispiele

a)

Die Mutter der 1,4 Jahre alten Patientin meldete sich auf Anraten des Kinderarztes, da ihr ihre kleine Tochter ständig unzufrieden und zornig erschien, tagsüber beim Alleinsein die Mutter ständig beschattete, in Anwesenheit anderer diese aber mied und die Nähe anderer suchte, nachts ständig wach wurde und weinte, und somit konnte auch die Mutter nicht zum Schlafen und zur Ruhe kommen. Zum Termin erschien eine sehr sympathische 37 Jahre alte Frau, die vom äußeren Anschein her jünger wirkte. Das kleine Mädchen imponierte durch sein offenes, klares und lebendig wirkendes Gesichtchen. Neugierig beäugte es die Therapeutin und untersuchte angemessen den Behandlungsraum, in welchem sich die Therapeutin und die Mutter unterhielten. Die Mutter schilderte sich fast durchweg als schlechte Mutter, vermutlich könne sie ihrer Tochter nicht genügend emotionale Wärme geben und nicht kindlich genug mit ihr spielen. Das kleine Mädchen lehne somit zu Recht die Mutter ab und suche sich anderweitig das (z. B. beim Vater, bei der Patentante), was bei der Mutter nicht vorhanden sei. Die Mutter schilderte Situationen, in denen die Tochter trotz mütterlicher Nähe den Schoß und die Arme anderer sucht und sich dabei wohl fühlt. Generell schlimm seien die Nächte, in denen das Kind seit seiner Geburt fast stündlich wach werde und durch Weinen die Mutter an das Bettchen rufe.

Im Moment der Beobachtung wurde ganz anderes sichtbar: Das kleine Kind orientierte sich per Blick und Berührungskontakte nach Erkundungen im Zimmer immer wieder an der Mutter, beäugte zwar neugierig die Therapeutin und deren Freundlichkeit, ließ sich jedoch überhaupt nicht auf Nähe ein. Ich sprach das Gesamt dieser Beobachtung an, vermittelte dabei wohl auch dem Kind, dass die Situation o. k. sei. Die Mutter nahm zum ersten Mal dieses Verhalten ihres Kindes wahr, war erstaunt und merklich erleichtert. Als die Tochter immer wieder scheu und dennoch keck die Therapeutin »anmachte«, dann zur Mutter zurückkehrte und nach deren Blick suchte und dieses »Spielchen« wiederholte, wurde der Mutter klar, dass sie dieses Verhalten und das Sie-Suchen aufgrund ihrer eigenen Unsicherheit, die sie tief beschäftigte, gar nicht gesehen hatte. Gleichzeitig konnte sie wahrnehmen, dass das dabei lebendige Gesichtchen ihrer Tochter weder depressiv, unzufrieden noch sonst irgendwie gestört anmutete.

Schon beim nächsten Termin erschien die Mutter gelöster. Das kleine Mädchen bewegte sich ähnlich wie beim Vorgespräch, ein kleines bisschen mehr Kontakt mit der Therapeutin suchend, mit regelmäßiger Rückversicherung bei der Mutter. Dieser konnte das Verhalten ihrer Tochter »übersetzt« werden, d. h., es konnte ihr vermittelt werden, wie wichtig es für das Sicherheitserleben und Stolz-Sein ihrer Tochter ist, sie als Auftank-, Abstimmungs- und Spiegelstation benutzen zu können. Immer deutlicher wurde der Mutter diese Interaktion, machte sie froh, selbstsicherer, und sie strahlte ihr Kind dabei an. In einer weiteren Stunde berichtete sie aus der eigenen Vorgeschichte: Episoden von Depression, einem Selbstmordversuch und Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken und Ähnliches. Die Beziehung zur eigenen Mutter wurde als im Wesentlichen »tot«, »leer«, »Mangel an körperlicher Nähe, Wärme und Wahrgenommen-Werden« beschrieben. Die eigenen Eltern hatten eine Gaststätte, gingen darin auf, keinerlei Zeit und Blick und Streicheln blieb für die Kinder (große Schwester, jüngerer Bruder). Chancenlos habe sie um Zuneigung gebettelt, letztendlich tue sie es auch noch heute, und es sei ein unerträglicher Gedanke, dass die Mutter einmal sterbe, ohne dass sie ihren emotionalen Hunger je an ihr hätte sättigen können. Der inzwischen verstorbene Vater sei kalt, aggressiv und ebenfalls unerreichbar gewesen. Sie habe in ihrer Geschichte weder Sicherheit noch Geborgenheit und Mütterlichkeit, noch Unterstützung erlebt. Sie habe deswegen auch so lange mit einem eigenen Kind gewartet, um soweit wie möglich die eigenen Verletzungen aufgearbeitet zu haben. Nach den verschiedenen Klinikaufenthalten und Therapien habe sie sich sicherer gefühlt und sei nun sehr erstaunt, dass sie die Beziehung zur Tochter so schwer als beglückend erleben könne.

Auf das Schlafproblem des kleinen Mädchens eingehend, beschrieb die Mutter, dass sie überhaupt nicht ertragen könne, dass die Kleine einschlief, weil sie Angst habe, dass sie nicht mehr wach werden würde. Außerdem gehe sie ständig ans Bettchen, um zu sehen, ob sich die Tochter eventuell einsam fühle – so wie es in ihrer Kindheit war.

Einfühlsame Interpretationen und Erklärungen sowohl zur eigenen Lebensgeschichte als auch zu deren Auswirkungen auf die Beziehung zur kleinen Tochter erleichterten die Mutter. Sie wurde in der Handhabung ihrer kleinen Tochter immer sicherer, gewann an mütterlicher Selbstsicherheit, erlebte die Tochter abgegrenzter und mit Stolz, welche ihrerseits mit Wohlbehagen das mütterliche Angebot annahm. Schon nach der fünften Behandlungsstunde (jeweils 14 Tage Abstand) schilderte die Mutter, dass beim Zusammensein mit der vorher so bevorzugten Patentante diese zwar für die Tochter eine angenehme Spielfigur war, dass die Mutter aber in der Besuchssituation den Hauptbezugspunkt darstellte. Die Tochter schlief ab diesem Zeitpunkt nachts im Wesentlichen durch. Ansonsten nahm das Umfeld das kleine Mädchen als noch liebreizender und lebendiger wahr denn zuvor, sodass tatsächlich von einem »Liebesverhältnis« mit der Welt gesprochen werden konnte. Das Kind erlebte die Mutter als sicherer und sich über sie freuend. Diese hatte selbst das Gefühl, ihr Kind emotional besser »sättigen« zu können, konnte durch ihr Idealisieren der Therapeutin diesen Aspekt von sich selbst narzisstisch besetzen und somit an das Kind weitergeben. Derart »aufgetankt«, hielten beide den Spannungsbogen der Trennung durch Schlaf besser aus – was die Mutter in ihrem Beziehungsverhalten bestärkte. Ineinander verschränkte und dennoch differenzierbare Selbstobjektfunktionen beider Beteiligter fanden Erfüllung.

Äußerst problematisch war für die Mutter auch der Umgang mit den aversiven Affekten des Kindes: Stieß es auf Widerstände, wurde das Gesichtchen natürlich unzufrieden, nachdenklich, »beleidigt«, weinerlich, das Verhalten aggressiver, was die Mutter in große Hilflosigkeit brachte, sofort Gefühle der Schuld und mütterlicher Unzulänglichkeit erzeugte, was wiederum zu Vermeidungsstrategien (Flasche- oder Essengeben, sprachliche Überzeugungsarbeit) führte. Auch hier ermöglichten die Ruhe der Therapeutin und das Aufzeigen der Notwendigkeiten dieser Affekte zur Selbstbehauptung, zur Abgrenzung und Loslösung der Mutter andere Zugangs- und Umgangswege zum Erleben der Tochter: dass aggressives Aufbegehren nicht Ablehnung der Mutter, sondern Herauswachsen-Wollen aus einem sicheren Hafen bedeuten kann.

Sicher wäre diese Entwicklungsstörung des kleinen Kindes ohne die »Vorarbeit« anderer Therapeuten während der offensichtlichen psychischen Erkrankung der Mutter nicht so schnell möglich gewesen. Sie war zudem hoch sensibilisiert und sensibel, motiviert und differenziert. Ihre Vorerfahrungen ermöglichten ihr auch, die Therapeutin durch deren Einfühlung in ihre Nöte, die Entlastung von Schuld und durch ihr Aufzeigen ihrer eigenen mütterlichen Qualitäten genügend zu idealisieren, um für sich durch deren Interventionen Zuwachs zu erzielen.

b)