Bindung und Sicherheit im Lebenslauf - Eva Rass - E-Book

Bindung und Sicherheit im Lebenslauf E-Book

Eva Rass

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Beschreibung

Eva Rass beantwortet die hoch umstrittene Frage, was entscheidender ist, Umweltfaktoren oder Genetik, so: Die Struktur des entstehenden menschlichen Gehirns ist eine Widerspiegelung der gelebten Erfahrung. Besonders die ersten 18 Monate sind von größter Bedeutung; der Affektregulation und der Qualität der Bindung kommen dabei eine Schlüsselrolle zu. Das Buch beginnt mit der Biologie der Schwangerschaft. Es stellt dann die folgenden Phasen des Lebens als ein Kontinuum dar. Es wird deutlich, dass die Lebensgestaltung selbst im Erwachsenenalter von der aktiven Ausformung bestimmt ist. Die erfahrene Kindertherapeutin Eva Rass erarbeitet eine Synthese der neuesten Entwicklungen in Bindungs- und Affektregulationstheorie, sozialer Neurowissenschaft und entfaltungsorientierter Psychoanalyse. Ihre Befunde sind, wie sie zeigt, evidenzbasiert. Zielgruppe: - KinderärztInnen - Kinderpsychiater - Kinder- und JugendlichentherapeutInnen - SozialarbeiterInnen - Pädagogen - Jugendämter - Familienbehörden - Auszubildende und Studierende

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Seitenzahl: 268

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Eva Rass

Bindung und Sicherheit im Lebenslauf

Psychodynamische Entwicklungspsychologie

Mit einem Geleitwort von Anna und Paul Ornstein

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Besuchen Sie uns im Internet: www.klett-cotta.de

Klett-Cotta

© 2011 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Roland Sazinger, Stuttgart

Unter Verwendung eines Fotos von © Franz Pfluegl – Fotolia.com

Datenkonvertierung: Koch, Neff & Volckmar GmbH, KN digital – die digitale Verlagsauslieferung Stuttgart

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94686-4

E-Book: ISBN 978-3-608-10256-7

|9|Geleitwort

Im Laufe der Geschichte haben sich viele Forscher und Denker die Frage gestellt, wie sich Körper, Seele und Umgebungsfaktoren wechselseitig beeinflussen. Insbesondere die Humanwissenschaften versuchen zu erfassen, warum frühe Ereignisse im Leben wesentlichen Einfluss auf den weiteren Lebensweg haben und wie emotionale Erfahrungen die Muster des strukturellen Wachstums beeinflussen. Forschungsergebnisse der Neurobiologie, der affektiven Neurowissenschaften, der Bindungs- und Kleinkindforschung sowie der Psychoanalyse konvergieren in zunehmendem Maße, und ihre Befunde werden mehr und mehr zu einem soliden Fundament, auf das sich das sozioemotionale und biopsychosoziale Geschehen stützen kann.

Eva Rass nimmt in diesem bemerkenswerten und mutigen Buch die Entwicklung der menschlichen Psyche von der Schwangerschaft bis ins hohe Alter in den Blick. In einer klaren und gut lesbaren Sprache sowie einer besonders pragmatischer Darstellung ist es ihr gelungen, die neuesten wissenschaftlichen Befunde, die für all jene nützlich sind, die sich mit Kinderentwicklung, mit Psychologie, mit Psychotherapie, mit Psychiatrie, mit Erziehung, aber auch mit den Entwicklungsprozessen im fortschreitenden Alter beschäftigen, nachvollziehbar darzustellen. Man merkt den Themen des Buches an, dass sie dem Praxisalltag einer erfahrenen Kindertherapeutin entstammen, die fortwährend mit Phänomenen des kindlichen Lebens inmitten seiner familiären und außerfamiliären Umgebung im derzeitigen Zeitgeist konfrontiert ist. Sie versteht es als ihre Aufgabe, sich auf Spurensuche zu begeben und die psychodynamischen Hintergründe der sich vor ihr ausbreitenden Probleme zu erforschen. Die Nöte der Kinder, die Sorgen ihrer Eltern und vielleicht sogar die Einflüsse der Großelterngeneration müssen dabei beachtet werden.

Die größte Herausforderung der Autorin lag in der Integration sowohl genetischer Voraussetzungen als auch des Einflusses von Umgebungsfaktoren auf den Säugling und das heranwachsende Kind. Die neueste Forschung zeigt, dass |10|es diese beiden Faktoren sind, die die gesamte Entwicklung und so auch die des Gehirns fundamental beeinflussen. Es kann heute als gesichert gelten, dass die Struktur des entstehenden Gehirns eine Widerspiegelung der gelebten Erfahrung ist. In den ersten 18 Lebensmonaten ist dessen Wachstum am größten. Aus der Komplexität der biologischen und Umgebungsfaktoren wählte die Autorin jene Aspekte der frühen Entwicklung aus, die für das spätere Leben als höchst bedeutsam anerkannt werden, wobei der Affektregulation durch die Fürsorgepersonen und der daraus resultierenden Qualität der Bindung als Basisgeschehen eine Schlüsselrolle zukommt. Historisch gesehen lief die unmittelbar forschende Beobachtung der Fürsorgeperson-Säugling-Beziehung zunächst relativ unabhängig von Studien der Neurowissenschaften ab. Doch erkannten sowohl die affektiven Neurowissenschaften als auch die entfaltungsorientierte Psychoanalyse im Verbund mit der Bindungsforschung maßgebliche Zusammenhänge in der neuronalen und mentalen Entwicklung. Eva Rass weist den Leser darauf hin, dass die frühen Erfahrungen die Entwicklungsmuster zwar tief beeinflussen, jedoch keine lineare Evolution zeitigen, da das menschliche System flexibel und selbst in späteren Lebenszeiten für Veränderungen offen ist.

Die Autorin beginnt die Darstellung des Lebensverlaufs mit Überlegungen zur Psychobiologie der Schwangerschaft, da schon in diesem frühen Stadium die psychologische Haltung der Eltern das Gehirn und die Psyche des sich entwickelnden Fötus beeinflussen. Sie führt in einem weiteren Abschnitt in die Elternschaft als eine herausragende Funktion des Erwachsenenselbst ein. Diese Funktion verlangt vom Erwachsenen eine Einfühlung in den Säugling und das Kind, ohne dessen Bedürfnisse mit den Notwendigkeiten der eigenen, erwachsenen Psyche zu verwechseln. Der Eltern-Säugling-Dialog wird als ein Wechselspiel von Unterbrechung und erwartbarer Wiederherstellung der Bindung dargestellt, und der erfolgreiche Verlauf dieser wechselseitigen Interaktion ermöglicht den Aufbau einer stabilen Psyche, die mit einer spezifischen Widerstandskraft gegen spätere Belastungen ausgestattet ist. Eine wichtige Entwicklungszeit ist die Loslösungs- und Individuationsphase (angelehnt an Margaret Mahler), in der sich das Kind auf Basis der zuvor erworbenen Bindungsbeziehung in das Leben hinauswagt und dabei gewahr wird, dass es sich dabei von den wichtigsten Bezugspersonen zeitweilig löst, und in diesem dramatischen Geschehen auch noch sein eigenes Geschlecht entdeckt. Die Fürsorgepersonen sind in dieser Zeit sehr gefordert, wobei die Wichtigkeit des Vaters als zweite primäre Bindungsperson betont wird. Besonders kreativ ist der Abschnitt über die Bedeutung des kindlichen |11|Spiels, da dadurch innerseelische »Spiel-Räume« und Konfliktbewältigungssphären entstehen sowie die schöpferische Zentrierung auf das eigene Selbst stattfindet. Diese Selbst-Zentrierung ist auch für die spätere Konzentration beim schulischen Lernen von großer Wichtigkeit. In diesem Kapitel – im Verbund mit dem Abschnitt zur Entwicklung der sensorischen Wahrnehmungsorganisation – wird das Wissen der Autorin um schulische Prozesse aus ihrer langen Vorerfahrung als Lehrerin spürbar. Von Bedeutung ist die Abhandlung zu Geschwisterbeziehungen, die in entwicklungspsychologischen Büchern häufig nur am Rande thematisiert werden. Die vorausgegangenen Abschnitte erleichtern das Verstehen der umwälzenden Phase der Pubertät, die eine Schwellensituation darstellt, in der die Errungenschaften des bis dahin Entwickelten auf ihre Stimmigkeit und Stabilität »abgeklopft« werden. Der Leser wird daran erinnert, dass die Natur dieser Entwicklungsprogression sowohl durch sozioemotionale – und wie wir betonen würden – auch durch ökonomische Umstände, in denen sich das Kind befindet, beeinflusst wird.

Ein besonderes Verdienst dieses Buches liegt darin, dass das Leben in seinen verschiedenen Phasen mit den darin eingebetteten Entwicklungsaufgaben als ein Kontinuum dargestellt wird, was nicht heißt – wie anfangs erwähnt –, dass nicht auch die Möglichkeit zu Veränderung besteht. Es wird aber nachvollziehbar, dass die Wege der Lebensgestaltung im mittleren, späteren und auch sehr hohen Erwachsenenalter unmittelbar von der aktiven Ausformung bestimmt werden, und dass »nichts« – so auch das Lebensgefühl im reifen Erwachsenenalter – einfach »vom Himmel fällt«. Eva Rass arbeitet sensibel heraus, dass die Generation der jetzt sehr alten Menschen durch den Zweiten Weltkrieg häufig schweren Traumatisierungen ausgesetzt war, die sich bei nicht wenigen als nicht verarbeitete und nicht heilende Wunden zu Wort melden. Im letzten Abschnitt wird das unausweichliche Lebensende mit besonderer Tiefe behandelt.

Als uns Eva Rass als »Studentin« 1996 zum ersten Mal am »International Center for Self Psychology« an der Universität in Cincinatti aufsuchte, war sie trotz aller Erfahrenheit eine »Suchende«, die ihre Tätigkeit als Kindertherapeutin aus der Sicht des Kindes in seinem Familiensystem wahrnahm, und einen analytischen Weg suchte, um der Elternarbeit und den damit verbundenen Umgebungsfaktoren gerecht zu werden, da die Verantwortung für das Kind, das am Ende einer Therapie wieder auf seine sozioemotionale Umwelt zurückgeworfen wird, einen erweiterten therapeutischen Zugang verlangt. Sie schlug konsequent den Weg des Child-Centred-Family-Treatment aus der Sicht der analytischen |12|Selbstpsychologie ein, und so gab es keine Hindernisse, die neuesten Erkenntnisse der Neurobiologie und der Bindungs- und Affektregulationsforschung zu integrieren. Seit dieser Zeit weilte sie regelmäßig ein- oder zweimal im Jahr zu Studienaufenthalten zunächst in Cincinatti und später – nachdem wir umgesiedelt waren – in Boston bei uns. Im Laufe der Jahre rieten wir ihr dringlich, dass sie ihr umfangreiches wissenschaftliches und Erfahrungswissen aus der damit verbundenen Verantwortung einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen sollte. Mit diesem Buch, das nicht nur eine Synthese der neuesten Entwicklungen der Bindungs- und Affektregulationstheorie, sozialer Neurowissenschaft und entfaltungsorientierter Psychoanalyse leistet, sondern eine Sammlung evidenzbasierter wissenschaftlicher Fakten, im Verbund mit einer Reflektion über deren Bedeutung für das menschliche Selbstverständnis darstellt, kommt sie dieser Verantwortung nach. Möge das Buch die zahlreichen Leser finden, die es verdient.

Anna und Paul Ornstein

Boston, April 2011

|13|Vorwort

Als ich nach einem passenden Titel für das vorliegende Buch suchte, der den gesamten Lebensverlauf umfasst, kamen mir – angelehnt an die 2008 breit angelegte Kampagne des Ministeriums Familie, Senioren, Frauen und Jugend – die Begriffe »Gipfelstürmer« und »sicherheitsgebendes Basislager« in den Sinn. Ein krabbelndes Kleinkind in Windeln saß auf den unteren Stufen einer gewaltigen, hoch hinaufragenden Treppe. Das vital wirkende Baby blickte neugierig in die Welt und erweckte den Anschein, seine Potenziale entfalten zu wollen, um dann – auf dem Höhepunkt eines Entwicklungsschrittes – stolz seine Errungenschaften zu genießen. Da in diesem Buch auch die weiteren Entwicklungsphasen bis hin ins hohe Erwachsenenalter in den Blick genommen werden sollen, und auch der erwachsene Mensch seinen letzten Gipfel zu erreichen hat, hätte das Wort »Gipfelstürmer« auch für ihn gelten können. Da die meisten Menschen beim Begriff »Gipfelstürmer« aber zunächst an Bergsteiger oder Extremsportler und nicht an ein Baby oder den sehr alten Menschen denken, wurde dieser Buchtitel verworfen und ein Begriff gewählt, der die Voraussetzung für diese zweifache Expansion heraushebt.

Es kann heute als gesichert gelten, dass sich die Lebenseinstellung und die damit einhergehende Lebensstimmung im höheren Erwachsenenalter nicht von ungefähr einstellt, sondern ganz wesentlich vom vorherigen Lebensverlauf bestimmt wird. Diese vorausgegangene Entwicklung verläuft in aufeinanderfolgenden Phasen und Stufen, und die Bewältigung des jeweiligen Abschnittes ist mit dem Kontinuum des davor Gelebten verbunden. Die menschliche Entwicklung verläuft nicht immer linear und sie geht auch nicht immer nur in eine Richtung. Sie verläuft nicht gleichmäßig bergauf oder bergab, vielmehr werden viele Einflüsse auf verschiedenen Ebenen und in Auseinandersetzung mit Umgebungsfaktoren wirksam. Die Beschäftigung mit diesem Wechselspiel verlangt Flexibilität und Offenheit, da die verschiedenen Entwicklungsfaktoren nicht getrennt voneinander betrachtet werden dürfen. Entwicklung ist unter anderem ein biologisches, |14|psychobiologisches und mentales Phänomen und bezieht sowohl das Körperliche als auch das Psychische mit ein.

Diese immer größer werdende Komplexität führt zu einer wachsenden Anzahl an Themenfeldern, da sich neue Perspektiven und Erkenntnisfortschritte auch in den Methoden der Forschung und der Evaluation in den Humanwissenschaften niederschlagen. Untersuchungen zur Entwicklung des Menschen müssen dessen Entwicklungsumgebung berücksichtigen, die entsprechende Entwicklungsbedürfnisse hervorruft und die Bewältigung entsprechender Entwicklungsaufgaben verlangt.

Das vorliegende Buch legt den Fokus auf spezifische Entwicklungsaspekte in unserem Lebensraum und versucht, die Entwicklungslinie von der Befruchtung eines Eis bis hin zum späten Erwachsenenalter aus der äußeren und inneren Perspektive des Menschen zu beleuchten. Die Entwicklungspsychologie präsentiert sich dabei als eine multidisziplinäre Theoriengruppe. Die Forschungsergebnisse in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen beeinflussen einander nachvollziehbar wechselseitig und so gibt es heute kaum noch einen Wissenschaftsbereich, der isoliert vor sich hin arbeiten kann. Die Phänomene des Lebens lassen sich nicht mehr nur unter einem Aspekt erklären.

Nun erlaubt der breit gefächerte Wissenszuwachs in den letzten 50–60 Jahren – und insbesondere der Zeitraum zwischen 1990 und 2000 (dieser Zeitraum wird als die »Dekade des Gehirns« bezeichnet) – strukturelle Sequenzen im Entwicklungsverlauf wahrzunehmen, mithilfe derer – quasi wie ein roter Faden – die Komplexität der menschlichen Entwicklung konzeptuell erfasst werden kann, was sachdienlich ist, um sich nicht in der Fülle des bestehenden Wissens zu verlieren. Der Neurobiologie kommt dabei die Rolle einer Leitwissenschaft zu. Viele Veröffentlichungen namhafter Wissenschaftler im Bereich der modernen Hirnforschung erscheinen fast »psychologisch«, da gerade dieser Wissenschaftsbereich erfasst hat, dass sich im Bereich der neurologischen Entwicklung wenig tut, ohne dass von außen, d.h. von der sozialen Welt, Impulse in das menschliche neuronale System gesendet werden (vgl. Damasio 1994/dt. 2004; Hüther 2006a; Roth 2006). Eisenbergs (1995) Formulierung: »The Social Construction of the Human Brain« zeigt schlaglichtartig die Abhängigkeit des sich entwickelnden Gehirns (aber auch des späteren und reiferen) von den Einflüssen der äußeren Welt; somit wird die fortwährende Wechselwirkung durch Interaktionen verständlich.

»Die Zeit ist reif« – wie es Allan Schore 2003 schon formulierte –, dass die Naturwissenschaften und die humanistischen Wissenschaften aufeinander zugehen, |15|um mit ihren spezifischen Erkenntnissen zu einer Konzeptualisierung der Persönlichkeitsentwicklung des Menschen beizutragen, die Erklärungen dafür liefert, warum frühe Ereignisse im Leben einen so nachhaltigen Einfluss auf die weitere Entwicklung haben. Daraus ergibt sich die Frage, auf welche Weise emotionale Erfahrungen mit anderen Menschen die Muster des strukturellen Wachstums beeinflussen. Das wiederum verweist auf die Notwendigkeit, Forschungsergebnisse der Neurobiologie, der affektiven Neurowissenschaften, der Bindungs- und Kleinkindforschung, der Affektregulationsforschung, der Traumaforschung und der psychodynamisch ausgerichteten Psychotherapie zu integrieren.

Damit ist das Feld umrissen, in dessen Grenzen Phänomene der menschlichen Entwicklung – begrenzt durch selektive Ausschnitte der Forschungsvorhaben und der aktuellen persönlichen Sichtweise – beleuchtet werden sollen; gleichzeitig ist damit auch die Perspektive herausgearbeitet, aus der die menschliche Entwicklung vom Mutterleib bis ins späte Erwachsenenalter in den Blick genommen werden soll. Diese Perspektive ermöglicht es auch, sich mit den Veränderungen der Formen, der Inhalte und der Verhaltensweisen und gleichzeitig mit den Prozessen fortschreitender Differenzierung bei gleichzeitiger Ausrichtung und Zentralisierung auf ein Ziel zu beschäftigen.

|16|Einleitung

Henne oder Ei? Wo soll man anfangen, wenn man Phänomene des Lebens verstehen will? Konnte man noch vor 20–30 Jahren diese Frage in dieser Form stellen, geht dies nach den Erkenntnisfortschritten der letzten 20 Jahre nicht mehr. Es kann kein Zweifel mehr daran bestehen, dass es die Generation der Erwachsenen ist, d.h. die Generation der Fürsorgepersonen, die für das Ei entsprechende Umgebungsfaktoren zur Ausgestaltung seiner Potenzen bereitzustellen hat. Es ist die Elterngeneration, die die genetischen Anlagen für die Nachkommen liefert und gleichzeitig auch die Bedingungen dafür, was sich aus diesen genetischen Anlagen überhaupt entwickeln kann. Gerald Hüther (2006a) führt für diesen Verstehensprozess den allerersten Vielzeller, den Volvox, an. Schon bei dieser Frühform des Lebens müssen einzelne Tochterkugeln aus der Mutterkugel in das Innere des Systems fallen, um neue Tochterkugeln entstehen zu lassen. D.h., die einzelne Zelle muss in das Innere hineinfallen. »(A)uf der grünen Wiese«, wie er formuliert,

»kann keine neue Kugel entstehen. Es bedarf … wesentlicher Rahmenbedingungen, dass aus Anlagen überhaupt etwas werden kann. Immer dann, wenn in den Rahmenbedingungen Störungen auftreten, gibt es Störungen bei der Entfaltung der Potenzen und diese Störungen nennen wir dann Erkrankung. Während man genetische Anlagen sehr wohl identifizieren kann, ist es schwer, diese zu verändern. Was aber veränderbar ist, sind die Rahmenbedingungen, so auch die unserer Kinder, die in der heutigen Welt aufwachsen.«

Gene führen kein auf sich gestelltes Eigenleben, vielmehr bilden Organismus und Umwelt, d.h. Gene und ihre Umgebung, eine Einheit, und die Gestaltung unserer zwischenmenschlichen Beziehungen entscheidet mit, ob und wie bestimmte genetische Reaktionsmuster durch Erlebnisse und Erfahrungen eingestellt werden (Bauer 2002, S. 9ff.).

|17|Dieses gesicherte Wissen beantwortet die Ei-oder-Henne-Frage: Es geht um das Ei in seiner sozioemotionalen Umwelt, und somit ergibt sich auch die Reihenfolge, in der Entwicklungsphänomene zu beschreiben sind. Ausgehend von den neurobiologischen Aspekten der Anfänge der Mutter-Kind-Beziehung, die in affektive und regulatorische Prozesse eingebettet sind und die zu spezifischen Bindungsmustern führen, die das Überleben garantieren sollen, werden die in Stufen ablaufenden Phasen des Lebens – beginnend bei der Schwangerschaft bis hin ins hohe Alter – untersucht. Es gilt, Zusammenhänge zwischen den jeweiligen Bedürfnissen und Entwicklungsaufgaben mit ihrem Outcome zu verstehen, um in der positiven oder negativen Vielschichtigkeit immer wiederkehrende Muster im Zusammenspiel von Vergangenheit und Gegenwart mit Blick in die Zukunft als eine Einheit wahrnehmen zu können.

|19|TEIL A: Entwicklungspsychologische Grundlagen

1

Die Neurobiologie der Mutter-Kind-Beziehung

Der Körper als Ausdrucksorgan psychischen Geschehens ruft schon lange das Interesse vieler Wissenschaften hervor, die sich mit den Erscheinungsformen des Lebens beschäftigen, ohne jedoch die Geheimnisse der Verbindung von Körper und Psyche lüften zu können. In den 1990er Jahren konnten jedoch durch die seither möglichen bildgebenden Verfahren erste Erkenntnisse gesichert werden, und so wurde die Neurobiologie, die sich mit den Verschaltungen im menschlichen Gehirn beschäftigt, zu einer Art Leitwissenschaft, deren Erkenntnisfortschritte auch Antworten auf wichtige Fragen anderer Humanwissenschaften lieferten.

Die Frage, warum frühe Ereignisse im Leben einen so starken Einfluss auf den weiteren Lebensweg haben, ist eine der grundlegenden in allen Wissenschaften, die sich mit der menschlichen Entwicklung beschäftigen. Auf welche Weise beeinflussen Erfahrungen mit anderen Menschen die Muster des neuronalen strukturellen Wachstums? Es besteht weitgehend Übereinstimmung darüber, dass das Gehirn ein sich selbst organisierendes System ist; doch findet die Selbstorganisation des sich entwickelnden Gehirns im Kontext von Beziehungen statt (Schore 1996). Forscher sprechen, wie eingangs erwähnt, von der »sozialen Konstruktion des menschlichen Gehirns« (Eisenberg 1995). Das akzelerierte Wachstum der Gehirnstruktur tritt während kritischer Reifungsperioden in der Säuglingszeit auf. Es ist erfahrungsabhängig und wird von sozialen Kräften beeinflusst. Während die Neurowissenschaften keine klaren Vorstellungen von der Natur dieser »sozialen« Kräfte haben, verfügt die Entwicklungspsychologie sehr wohl über Informationen zu diesen »sozialen Kräften«. Der enorme Wachstumsschub des Gehirns (von 400 Gramm bei der Geburt bis über 1000 Gramm im Alter von zwölf Monaten), insbesondere der früh reifenden »sozioemotionalen« rechten Gehirnhälfte, fällt in die gleiche Entwicklungsphase wie jene Periode, die die Bindungsforscher untersuchen (Schore 1998). Insbesondere Allan Schore, der sich integrierend mit der Bindungsforschung, der Neurobiologie, der Mutter-Kind-Beziehung und der Affektregulation beschäftigt, führt Beweise aus dem entwicklungsbiologischen Feld der Mutter-Kind-Beobachtung bis hin zur Molekularbiologie an, welche diese These belegen. Das daraus entstandene Modell erklärt mit erstaunlicher Genauigkeit die Wirkweisen, durch die das kindliche Gehirn die affektregulierenden Funktionen der Mutter in umschriebenen Bereichen des Nervengewebes und zu bestimmten Zeiten seiner epigenetischen Entwicklung internalisiert und ihre Strukturen verinnerlicht (Kaplan-Solms/Solms 2007, S. 219). Damit bekommen die Aussagen der Hirnforschung ein ungeheures Gewicht: Beziehungs- und Erfahrungsprozesse prägen die strukturelle Ausformung der Nervenzellen innerhalb des genetisch vorgegebenen Gestaltungsraumes. Später, wenn das Gehirn schon weiter ausgereift ist, sind solch grundlegende Veränderungen der Architektur nur noch schwer möglich; frühe Prägungen programmieren das Gehirn dabei fast genauso nachhaltig wie genetische Faktoren (vgl. Bauer 2002). Frühe Erfahrungen beeinflussen die genetische Ausstattung und »die molukulären Änderungen im Erbgut sind dann das Sprachrohr, über das Umwelt und Gene miteinander kommunizieren« (Holsboer in Blawat 2009, S. 1). Erfahrungen werden somit in der Gehirnarchitektur gespeichert, was z.B. bei traumatischen Erlebnissen dazu führen kann, dass sich eine Art Furchtstruktur bildet, in die alle künftig erlebten Ängste und Ereignisse eingepasst und dadurch verstärkt werden (Elbert 2005). Das Furchtzentrum wird dadurch überaktiviert, während die ordnende und regulierende Kraft einer anderen Hirnstruktur, des Hypocampus, abnimmt. Wir verfügen heute über gesicherte Hinweise dahingehend, dass genetisch vulnerable Kinder mit frühen Stresserfahrungen sich in der Fähigkeit, ihr eigenes Verhalten, ihre Emotionen und ihre Aufmerksamkeit zu regulieren, von jenen Kindern unterscheiden, die diese stressvollen Erfahrungen nicht gemacht haben. Forschungsergebnisse belegen (z.B. McGill-Universität Montreal; Ludwig-Maximilian-Universität München), dass frühe Erfahrungen eine lebenslange Basis für neuronale und hormonelle Reaktionen legen können (Bartens 2008). Misshandlungen können u.a. die Aktivität eines Gens dauerhaft bremsen, das für die Produktion eines Faktors verantwortlich ist, der hilft, das Stresshormon Kortisol zu neutralisieren, um dadurch die Stressreaktion zu begrenzen (McGowan et al. 2009). Auch die Immunabwehr, die der Körper in der Kindheit erst ausbilden muss, kann durch traumatisierenden Stress beeinträchtigt werden, so dass angenommen werden muss, dass emotionale Erfahrungen in der Kindheit umfassende Auswirkungen auf die Gesundheit haben (Shirtcliff et al. 2009). Katharina Braun von der Universität Magdeburg spricht von »Narben« im Gehirn, die eine Vulnerabilität bedeuten, wenn es um die Verarbeitung von Stress geht (K. Braun 2001, 2002). Dies ist hochbedeutsam für die psychosomatische Forschung, die die »Last der frühen Jahre« untersucht und dabei prägende Faktoren entdeckt, die im späteren Leben für Stress anfälliger machen (vgl. Murgatroyd et al. 2009). So gibt es immer mehr Hinweise dafür, dass sogar vermeintlich rein organische Leiden wie Diabetes, verkalkte Herzkranzgefäße, Übergewicht, Bluthochdruck und viele weitere Erkrankungen häufiger auftreten, wenn die frühe Entwicklung belastet war. Bei Tieren konnte nachgewiesen werden, dass sich jene bei späteren Belastungen entspannter verhielten, die von ihren Müttern intensiver umsorgt wurden. Intensive Fürsorge beeinflusst die Biochemie der Zelle. Je nach Bindungserfahrung bilden sich mehr oder weniger Rezeptoren, die die im Körper anflutenden Stresshormone abfangen können (Bartens 2008). Eine unsichere Bindung ist somit ein Risikofaktor (Brisch 1999). Je häufiger die jeweils spezifischen Muster aufgebaut werden, desto stärker werden die dabei aktivierten synaptischen Verschaltungen gefestigt und alles andere, was nicht aktiviert wird, wird abgebaut; am Ende bleibt ein bestimmtes Muster übrig. Dies führt zu der bedeutsamen Erkenntnis, dass die strukturelle Organisation des Gehirns die Geschichte des Organismus reflektiert: »Der Körper vergisst nicht«, wie Michael Ermann (2009, S. 46) es beschreibt. Die frühen sozioemotionalen Erfahrungen werden in die biologische Struktur eingeprägt, die während des frühen Wachstumsschubs reift, und weisen daher langfristige Effekte auf. Konrad Lorenz nennt es »Filialprägung«: Das, was sich tief in den Gefühlshaushalt des Lebewesens einprägt – je nach Erfahrung von Geborgenheit oder von Verlorensein. »Prägung« deshalb, weil dieser Vorgang nur begrenzt rückgängig zu machen ist.

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