Psychosomatik bei Kindern und Jugendlichen - Dieter Bürgin - E-Book

Psychosomatik bei Kindern und Jugendlichen E-Book

Dieter Bürgin

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Beschreibung

In children and young adults with psychosomatic conditions, the ?body&mind interface= is often so impaired that their body language is no longer comprehensible. A holistic assessment of a psychosomatic problem not only includes a careful somatic examination, but also involves understanding each patient=s social influences, inner mental and internal family psychological structures and dynamics, as well as interactions between these different perspectives. In addition, it is necessary to assess whether the intrapsychic and interpersonal resources in the situation are sufficient to allow physical, mental and social development in the existing environment. This book therefore endeavours to present the disease phenomena described from the point of view of developmental biology and developmental psychology.

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Die Autoren

 

Prof. em. Dr. med. Dieter Bürgin, emeritierter Chefarzt der kinder- und jugendpsychiatrischen Universitätsklinik und -poliklinik Basel sowie emeritierter ordentlicher Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Basel. Ausbildungsanalytiker der Schweiz. Ges. f. Psychoanalyse.

 

PD Dr. med. Barbara Steck, Priv.-Doz. für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Universität Basel. Psychoanalytische und familientherapeutische Ausbildung an den Kinder- und Jugendpsychiatrischen Universitätskliniken von Basel und Lausanne.

Dieter Bürgin und Barbara Steck

Psychosomatik bei Kindern und Jugendlichen

Psychoanalytisch verstehen und behandeln

Verlag W. Kohlhammer

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Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

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1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-032345-2

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-032346-9

epub:    ISBN 978-3-17-032347-6

mobi:    ISBN 978-3-17-032348-3

Inhaltsverzeichnis

 

 

Vorwort

 

 

Das Werk »Psychosomatik im Kindes- und Jugendalter«, das im Jahre 1993 erschienen ist, war auf dem Hintergrund des Denkens und Konzeptualisierens im Rahmen der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Universitätsklinik und -poliklinik (KJUP) in Basel entstanden. Verschiedene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hatten sich daran beteiligt.1 Die klinische Erfahrung, Produktivität und Kreativität all dieser im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychologie sehr erfahrenen Kolleginnen und Kollegen war in den Text eingeflossen und hatte ihn, gerade durch die manchmal leicht unterschiedlichen Optiken, bereichert und ergänzt.

Nachdem das Buch bald ausverkauft gewesen und über lange Zeit keine neue Auflage vorgesehen war, trat Herr Dr. Poensgen vom Kohlhammer-Verlag auf Anraten von Herrn Dr. Hans Hopf 2015 mit der Idee hervor, es zu überarbeiten und neu herauszugeben. Als Frau Privatdozentin Dr. med. Barbara Steck, ehemals auch eine langjährige, tragende Mitarbeiterin der KJUP, eine erfahrene Wissenschaftlerin und zudem gute Freundin, sich bereit erklärt hatte, bei dieser Aufgabe mitzumachen, stand dem Ansinnen nichts mehr im Wege.

So freuen wir beide uns über dieses neue, gemeinsam verfasste Werk, welches der Entwicklung heutiger psychosomatischen Sichtweisen Rechnung trägt und einerseits gegenwärtige somatische Erkenntnisse, andererseits aktuelle psychoanalytische und psychodynamische Konzeptualisierungen2 zu vereinen sucht. Psychoanalytisches Denken liegt allen Überlegungen zugrunde, wenngleich manchmal auch andere Therapieverfahren angeführt sind.

Jeder Mensch somatisiert zu gewissen Zeiten seines Lebens. Stress erhöht die psychosomatische Vulnerabilität. Der Körper übernimmt es, sich dem Patienten, dem Gegenüber und der gesamten Umgebung mitzuteilen. Psychosomatische Patienten sind es gewohnt, psychophysisch zu leiden. Es ist, als hätten sie aber nie gelernt, auf ihren Seelenschmerz wirklich zu hören. Unsere angeborene Kommunikationsbereitschaft umfasst nicht nur Emotionen und kognitive Inhalte, sondern auch physiologische, mittels des Körpers zum Ausdruck gebrachte Bedürfnisse und psychische Begehren. Wie vermag ein Individuum die Sprache seines Körpers zu hören? Wahrscheinlich vor allem durch nonverbale Informationen wie Gesten, Haltungen und Bewegungen, Gefühlsempfindungen und -ausdrucksformen (der eigenen Stimmfärbung und Tonalität, des eigenen Blickkontakts und Geruchs), durch vegetative (z. B. Schwitzen oder Erröten) und taktile (z. B. Wahrnehmen von Temperatur oder Spannungen/Druck) Symptome, sowie durch verbale Äußerungen. Da Affekte die Brücken zwischen Psyche und Soma darstellen, sind interaktive Botschaften der primären Betreuungspersonen für das Kind höchst bedeutungsvoll, vor allem in der Art und Weise der kommunikativen Übermittlung, damit sie vom Kind »gelesen«, »verstanden« und »interpretiert« werden können.

Die Wurzeln des psychosomatischen Geschehens liegen in der frühesten Kindheit, oft in Spannungszuständen zwischen Säugling und den primären Bezugspersonen. Die frühesten psychischen Strukturbildungen, zum Beispiel die Bildung des Kern-Selbst, sowie Introjektions -und Projektionsprozesse und nicht etwa die Verdrängung oder höher entwickelte komplexe Abwehrkonfigurationen spielen dabei eine besonders wichtige Rolle. Der menschliche Säugling ist im Verhalten biologisch zwar darauf ausgerichtet, sich an der Stimme, am Blick und dem Lächeln der Hauptbeziehungspersonen zu orientieren; psychologisch aber baut er eine sehr intime Beziehung zum Unbewussten der primären Betreuungsperson auf.

Alle Symptome stellen Selbstheilungsversuche dar, sind Konfliktlösungsversuche, um mit interpsychischen konfliktgeladenen Spannungsfeldern und Seelenschmerz umzugehen. Bei vielen Patienten mit ausgeprägten psychischen Schmerzen besteht das Gefühl, ein schweres Vergehen begangen, nämlich weiter gelebt zu haben, da sie sich unerwünscht und abgelehnt gefühlt haben. So kann sich zum Beispiel ein Kleinkind als absolut monströs und keinesfalls liebenswert empfinden. Dies geschieht besonders leicht, wenn der Projektionsdruck der hauptsächlichsten Beziehungspersonen keinen Raum dafür ließ, dass ein Kind seine eigenen Empfindungsweisen zu entwickeln imstande war. Botschaften wie: »Du hast so zu sein, wie ich mir dich erträume oder vorstelle«, oder: »Du sollst empfinden und denken, so wie ich es von dir erwarte und verlange«, und ebenso Botschaften, deren verbaler Inhalt nicht mit der nonverbalen Kommunikation übereinstimmt, wie z. B.: »…geh nur, …amüsiere dich mit deinen Freunden« (verbale Botschaft), während die Melodie/Tonalität der Stimme lautet: »…wie kannst du es nur wagen, mich allein zu lassen!«, hinterlassen vor allem im Kleinkindesalter, aber auch bei Latenzkindern, schwere Konfusionen und den Eindruck, eigenes Empfinden und Denken sei mit Gefahren verbunden und nicht erlaubt, wie auch mit der Gewissheit, bezüglich der Berechtigung, eigenständig zu funktionieren, grundsätzlich eingeschränkt zu sein.

Die psychosomatische Symptomwahl wird wahrscheinlich immer geheimnisvoll bleiben. Das Kind erfindet sich gleichsam selbst und zieht die äußere Realität nur noch ungenügend in Betracht. Es scheint aus unerträglichen Erfahrungen des Nicht-Seins oder der Bedeutungslosigkeit in ein sich selbst Haltendes und damit in etwas Fassbareres zu fliehen.

Früheste traumatische Erfahrungen entsprechen möglicherweise Traumszenarien, die nicht geträumt werden können (McDougall, 1992). Oft haben sie etwas mit Übererregung, Überstimulation oder übermäßigen Schmerzerfahrungen zu tun. Diese letzten bewirken gegebenenfalls, dass die Psyche nicht mehr mit den üblichen Formen symbolischer Wortbildungen zu denken vermag. Dies gilt besonders, wenn ein Säugling oder ein Kleinkind Zuviel an rätselhaften Botschaften der Hauptbetreuungspersonen (Laplanche, 2005, 2011) in sich aufgenommen hat. In diesen Fällen versucht die Psyche einerseits mittels eigenartigen, oft paradoxen Bildern oder Szenerien und andererseits auch der gesamte Körper angesichts des noch Undenkbaren und des damit Nicht-Aussprechbaren neue Lösungswege zu finden, um dem Seelenschmerz zum Ausdruck zu verhelfen. Das Abgespaltene bleibt dynamisch sehr aktiv. Der gesamte Körper versucht gleichsam, die undenkbaren, nicht verbalisierbaren Affekte, Empfindungen, Ideen, Bilder und Szenerien in das biologische Substrat einzuschreiben.

Frühkindliche Traumata stellen eine tödliche Bedrohung des gesamten Selbst dar, denn nicht-symbolisierte oder -symbolisierbare Erlebnisinhalte können nicht in der üblichen Art verdrängt werden. Sie lassen sich nur projektiv entfernen oder durch Verwerfung vom bewussten Erleben fernhalten. Für das, was durch Projektion aus der Psyche entfernt wird, existiert keine Kompensation. Es hinterlässt Leerstellen, existentielle »Lücken«, unaushaltbare Vernichtungsangst und sprachlose Verzweiflung. Höchstens in Form halluzinatorischer Verfolgungsängste, von Drogenabhängigkeit oder mittels Somatisierung vermag es wiederzukehren. Auch ein Festungswall ausgeprägtester Blockierungen kann zum Überleben beitragen.

Bei psychosomatischen Patienten ist es unabdingbar, auf früheste, präverbale Bedeutungsträger zu hören, die ersten Bilder eines Gegenübers entziffern zu können und zu verstehen, was für Annahmen der Säugling sich darüber gemacht hat, wer und wie das Gegenüber wohl sei. Dies ist besonders schwierig, da sich in ein und der gleichen Person oft verschiedene Organisationseinheiten finden, die auf sehr unterschiedlichem Entwicklungsniveau angesiedelt sein können, aber gleichzeitig am Werke sind.

Natürlich sind alle Störungen und/oder Erkrankungen im Bereich der Psyche-Soma-Existenz von Kindern und Jugendlichen nicht ohne einen intensiven Einbezug des Umfelds, z. B. die familialen Konstellationen, im Sinne eines übergeordneten Systems, zu betrachten. Das Buch ist bewusst nicht als klassisches Lehrbuch konzipiert, sondern als ein Text, der – gewachsen aus den Erfahrungen im klinischen und ambulanten Behandlungsbereich und den theoretischen Entwicklungen psychoanalytischen Denkens – gewisse Basisannahmen deutlich zu machen versucht und zu eigenem Weiterdenken anregen soll.

Die psychotherapeutische Arbeit an der Entwicklung interpersonaler Beziehungen bewirkt Veränderungen der Ich-Funktionen, der Selbst- und Objektrepräsentanzen, der Affektwahrnehmung und der Besetzung des eigenen Körpers. Sie steht im Zentrum aller Überlegungen.

Wer sich vertieft mit dem Gebiet der Psychosomatik, d. h. der engsten Verbindungen von Körper und Seele, auseinandersetzen möchte, tut gut daran, das Kapitel der frühesten Störungen ganz zu lesen. Wer sich vor allem rasch ein Bild über ein bestimmtes Symptombild machen möchte, kann sich auch nur gerade das entsprechende Kapitel vornehmen, da die verschiedenen Teilbereiche auch eine eigene Geschlossenheit aufweisen.

Dieter Bürgin und Barbara Steck

Frühjahr 2019

1     Frau Dorothee Biebricher (†), Dipl.Psychol., an den Kapiteln »Essstörungen«, »Adipositas« und »Asthma bronchiale«; Prof. Dr.med. Kai von Klitzing an den Kapiteln »Entzündliche Darmkrankheiten« und »Tic – Störungen«; Prof. Dr. med. Peter Riedesser (†) am Kapitel über »Konversion«; Frau Dr.med. Barbara Rost an den Abschnitten über »Essstörungen in der Adoleszenz« und »Hautkrankheiten« und an einem Fallbeispiel beim Kapitel »Konversion«; Herr Dr. phil. Joachim Schreiner, Dipl. Psychol., an den Kapiteln »Enuresis« und »Enkopresis«.

2     Ergänzende theoretische Teile sind – etwas breiter angelegt – in unserem letzten Buch dargestellt: Bürgin D. & Steck B. (2013). Indikation psychoanalytischer Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter. Klett-Cotta.

Einleitung

 

 

In den Praxen der Kinder- und Jugendmedizin, Psychiatrie, Psychologie, Psychotherapie und den entsprechenden Polikliniken und Kliniken sind Kinder und Jugendliche mit sog. psychosomatischen Krankheiten eine häufige Patientengruppe.

Alle, die psychosomatisch leidende Personen behandeln, stehen im Kontakt mit Menschen, welche zu einem Teil ihrer inneren Erfahrungen kaum mehr Zugang haben. Möglicherweise haben zu viele Affekte die Fähigkeit zu denken und zu empfinden eingeschränkt oder blockiert und damit die Körper-Psyche-Schnittstelle unterbrochen. Damit kann auch die eigene Körpersprache nicht mehr »gehört« und verstanden werden.

Zu einer ganzheitlichen Erfassung einer in der Sprechstunde präsentierten Problematik solcher Patientinnen und Patienten gehört nicht nur die sorgfältige somatische Abklärungsuntersuchung, sondern auch das Verstehen der jeweiligen sozialen Einflüsse, der innerseelischen und innerfamiliären psychischen Strukturen und Dynamiken sowie der Wechselwirkungen zwischen diesen Perspektiven und Zugängen.

Den Faktoren der Reifung und Entwicklung kommt in den Lebensabschnitten der Säuglings-, Kinder- und Jugendzeit viel größere Bedeutung zu als beim Erwachsenen, vor allem der Einschätzung, ob der junge Patient in einem Normbereich situiert werden kann, in welchem die vorhandenen biologischen, intrapsychischen und interpersonalen Ressourcen ausreichen, um seine körperliche, seelische und soziale Entwicklung im gegebenen Umfeld zu ermöglichen. Oder aber, ob das Störungsgeschehen die Selbstregulationsfähigkeit überschreitet und äußere Hilfe unverzichtbar wird. Im vorliegenden Buch wird deshalb versucht, die genannten Krankheitsphänomene einerseits aus entwicklungsbiologischer und -psychologischer Sicht sowie andererseits vor dem Hintergrund entwicklungspsychopathologischer Kenntnisse und Erfahrungen darzustellen. Ziel des Buches ist es, die in den psychosomatischen Krankheiten oft enthaltenen – körperliche und interaktionelle Aspekte übergreifenden – verkörperten Botschaften der Patienten und ihrer Umgebung in ihrer Komplexität vertiefend darzustellen und eben jenen Patienten sowie deren Umfeld mit Hilfe der daraus hervorgegangenen, integrativen Sicht, die den gegebenen Umständen angemessenste Behandlung angedeihen zu lassen.

Wir versuchen in diesem Buch von den frühesten körperlichen und psychischen Entwicklungsschritten auszugehen und zu betrachten, wie sich diese beiden Aspekte, als Teil eines Ganzen, eigenständig und doch in steter Wechselwirkung zueinander entwickeln. Es zeigen sich bereits sehr früh Phänomene, die weder als rein psychisch noch als eindeutig somatisch bezeichnet werden können, sondern eine gegenseitige Verflochtenheit zum Ausdruck bringen, die sich in Reifungs- oder Entwicklungsstörungen und damit schließlich in auffälligem Verhalten manifestieren können. Wir benutzen den Begriff Reifung (im Sinne von Spitz, 1969) zur Bezeichnung einer nach genetischen Plänen erfolgenden Entfaltung und den Begriff der Entwicklung für die in der Interaktion mit der jeweils spezifischen Umgebung erfolgenden Ausgestaltungen.

 

 

 

I           Allgemeiner Teil

1          Entwicklung und deren Störungen bezüglich Alter und Beziehungspersonen

 

1.1       Entwicklungslinien des ersten Lebensjahres

In einer kurzen schematischen Übersicht werden einige Entwicklungslinien des ersten Lebensjahres dargestellt, welche leicht überprüfbar sind. Natürlich besteht bezüglich der Zeitangaben eine sehr große Variabilität. Die Sequenz der entsprechenden Entwicklungsschritte aber wird auch bei großer zeitlicher Unterschiedlichkeit einzelner Schritte eingehalten. Wir folgen hier den von Hellbrügge, Lajosi, Menara, Schamberger, Rautenstrauch (1978) beschriebenen Abläufen.

1.1.1     Entwicklung der Körperdrehung und des Kriechens

Im ersten Monat kann der Kopf für einen Augenblick angehoben werden. Mit drei Monaten geht das schon für eine Minute. Im fünften Monat gelingt es, dass der Säugling sich aktiv von Seite zu Seite sowie aus der Bauch- in die Rückenlage zu drehen vermag. Im sechsten Monat braucht er zum Abstützen in Bauchlage nur noch eine Hand. Mit acht Monaten vermag er auf dem Bauch rückwärts zu kriechen und sich aus Bauchlage zum Sitzen zu bringen. Mit zehn Monaten beginnt er auf allen vieren zu kriechen, im elften Monat kriecht er bereits viel auf Händen und Knien. Die Beherrschung der Motorik erweitert das Blick- und Explorationsfeld massiv, auch durch die Lokomotion.

1.1.2     Entwicklung des Sitzens

Während bei Neugeborenen der Kopf bei einem gehaltenen Sitzen schlaff vorwärts fällt, kann er mit zwei Monaten bereits aufrecht gehalten werden. Mit sechs Monaten spielt das Kind in Rückenlage, mit angehobenem Kopf mit seinen Füßen. Es sitzt mit wenig Hilfe. Mit acht Monaten zieht es sich selbst auf und sitzt kurze Zeit frei ohne Halt. Ende des zehnten Monats sitzt der Säugling auf der Unterlage mit geradem Rücken und gestreckten Beinen, was sich in den Folgemonaten noch stabilisiert. (Der Weg geht vom Liegen zum Sitzen und Stehen. Die Hilflosigkeit verringert sich zusehends).

1.1.3     Entwicklung des Stehens und Gehens

Das Neugeborene vermag, angemessen gehalten, automatische Schreitbewegungen durchzuführen. Bereits mit fünf Monaten übernimmt es mit den Füßen für kurze Zeit fast sein ganzes Gewicht. Im sechsten Monat streckt es die Beine in Hüften und Knien und »tanzt« auf den Zehenspitzen. Bereits im siebten Monat vermag das Kind für einen Augenblick, zum Stehen heraufgezogen, zu stehen. Im neunten Monate stellt sich das Kleinkind selbst auf, wenn es an den Händen gehalten wird. Im zehnten Monat zieht es sich an Möbeln oder anderen Dingen zum Stehen hoch. Am Ende des elften Monats geht das Kleinkind seitwärts am Gitter des Laufstalls oder an Möbeln herum, schreitet auch vorwärts, wenn ihm beide Hände gereicht werden. Am Ende des ersten Lebensjahres vollzieht ein Kind, zum Stehen heraufgezogen, seine ersten selbstständigen Schritte. Das Vorhandene (das Schreitvermögen) wird zuerst blockiert und dann wieder gelernt.

1.1.4     Entwicklung des Greifens und der Handbeherrschung

Der Greifreflex ist bereits bei der Geburt vorhanden. Am Ende des ersten Monats führt der Säugling die Hand unwillkürlich zum Mund. Einen Monat später bildet sich der Hand-Greif-Reflex zurück, die Hände können häufiger offengehalten werden. Am Ende des dritten Monats werden die Hände sehr genau betrachtet und es ist ein Übergang zu aktivem Greifen zu beobachten. Am Ende des sechsten Monats werden Oberflächen mit den Handflächen betastet, einen Monat später wechselt ein Kind einen Würfel oder anderen Gegenstand zwischen den beiden Händen aus. Mit acht Monaten kann zwischen Daumen und Zeigefinger ein Gegenstand erfasst werden. Das Berühren mit dem Zeigefinger ist meist am Ende des neunten Monats festzustellen. Ein Gegenstand, der dem Kind auf den Kopf gelegt wird, wird von ihm selbst entfernt. Am Ende des zehnten Monats reicht der Säugling auf Anfrage dem Erwachsenen ein Spielzeug, kann es aber noch nicht loslassen. Dies gelingt erst zwei Monate später.

Damit man »begreifen« kann, muss der Greifreflex erst blockiert werden, so dass sich die Hand öffnen lässt. Erst danach kann man etwas willentlich »erfassen«. Der Wechsel von einer Hand zur anderen und die Kombination mit dem Sehen und In-Den-Mund-Nehmen ermöglicht eine komplexe, dreidimensionale Wahrnehmung. Das Sprachverständnis ist in einfacher Form bereits ab dem zehnten Monat vorhanden.

1.1.5     Entwicklung der Sinnesorgane des Spielverhaltens

Das Neugeborene reagiert unwillig auf extreme sensorische Einwirkungen, insbesondere auf Licht und Geräusche, nämlich mit Stirnerunzeln, Schreien oder Zappeln. Am Ende des dritten Monats sucht es mit den Augen nach dem Ort der Entstehung eines Tones. Spielzeuge in der Hand werden am Ende des vierten Monats genau angeschaut, am Ende des fünften Monats auch in den Mund gesteckt und von einer Hand in die andere gegeben (Hand-Mund-Augen-Koordination). Am Ende des achten Monats lauscht das Kleinkind bereits einer Unterhaltung, lässt Dinge fallen, nimmt sie wieder hoch und erprobt, insbesondere am Ende des zehnten Lebensmonats, das Hinunterwerfen von Gegenständen. Am Ende des elften Monats findet es ein Spielzeug unter einer Tasse oder in einem zugedeckten Plastikkubus und zieht Gegenstände an einer Schnur zu sich heran. Eine Reizüberflutung kann nun durch Verhaltenssignale mitgeteilt werden. Räumlichkeit und Zeitlichkeit werden experimentell ausgebaut (Wegstoßen und Herholen; Aktivität und Passivität).

1.1.6     Entwicklung des Hörens

Was ein Kind in jungen Jahren hört, scheint für den Rest seines Lebens in seiner Psyche eingeschrieben zu sein (Sacks, 2007). Musik ist mit den frühesten Erlebnissen verbunden; Erinnerungsspuren werden bereits vor der Geburt gebildet und musikalische Erinnerungen sind besonders langandauernd. Das Hörorgan und das Trommelfell entwickeln sich in der achten Schwangerschaftswoche. Ab der 20. Schwangerschaftswoche kann das Ungeborene akustische Signale wahrnehmen. Taktile und auditive Wahrnehmungen sind die wichtigsten sensorischen Modi des Fötus in der Interaktion mit seiner Mutter. Der Fötus hat keine Möglichkeit, die Stimme seiner Mutter zu beeinflussen, aber er kann anhand ihrer Stimme wahrscheinlich emotionale Unterschiede im mütterlichen Gefühlszustand erkennen. Erst nach der Geburt ist das Kleinkind in der Lage, zu schreien und zu weinen, d. h. Laute zu evozieren und mit diesen seine Gefühle kundzutun (Maiello, 2001). Der hörende Fötus ist eingebettet in ein inneres Klangkontinuum, das durch die Herztöne und die Stimme der Mutter gekennzeichnet ist. Der stetige Rhythmus der Herztöne erhält einen existenziellen Charakter. Der Tonfall der mütterlichen Sprache prägt das fötale Ohr mit melodischem Dialekt. Im Moment der Geburt entdeckt das Kind, dass der vertraute Herzschlag und die »Melodie« der mütterlichen Stimme eine Veränderung erfährt.

Attraktiv für Kleinkinder sind nicht die Wortinhalte der Eltern, sondern ist die »Musikalität« der elterlichen Sprache. Diese wird in fast allen Kulturen im Dialog mit dem Säugling »überhöht«. Vor dem Erwerb sprachlicher Kompetenz ist das frühe Kommunikationssystem vor allem eines das sich der Affekte als »Boten« bedient (Rose, 2004; Rose zit. in Sabbadini, 2002). Die Stimme der Mutter, die den affektiven Zustand des Säuglings widerspiegelt, ist ebenso wichtig wie die »Spiegelung« im Gesicht (Klanghülle des Selbst [Anzieu, 1976]).

1.1.7     Entwicklung von Sprachäußerungen

Das Neugeborene reagiert mit Schreien auf unangenehme Wahrnehmungen. Am Ende des zweiten Monats sind häufige Lautäußerungen zu beobachten, eine Art »plaudern«. Einen Monat später kann das Kleinkind bereits drei Laute von sich geben, die sich deutlich unterscheiden lassen. Auch das Schreien differenziert sich (zum Beispiel Hunger- und Schmerzschreien). Am Ende des vierten Monats ist Freude an spontaner Lautbildung mit Lautwiederholung vorhanden, »gurren«, »jauchzen« und »lallen« verstärken sich am Ende des sechsten Monats. Einen Monat später lallt ein Kind Silben, am Ende des achten Monats werden diese verdoppelt. Am Ende des zehnten Monats treten »Lall«-Monologe auf, das Kind sagt Mama und Papa, aber noch ohne sichere Differenzierung, und bemüht sich, Laute nachzuahmen. Am Ende des elften Monats kann es den Kopf schütteln, um nein zu sagen, und am Ende des ersten Lebensjahres ist es fähig, mindestens zwei sinnvolle Worte in Kindersprache zu sprechen.

(Lallmonologe mit Verdoppelungen entsprechen eigenem Experimentieren. Daneben besteht viel Imitation. Beides ermöglicht es, das kulturelle Sprachangebot anzunehmen und auszubauen. Knapp vor Ende des ersten Lebensjahres beginnt sich die Verneinung auszubilden).

1.1.8     Entwicklung des Sprachverständnisses

Das Sprachverständnis ist in den ersten sechs Monaten schwer zu prüfen. Am Ende des siebten Monats sucht ein Kind, von der primären Betreuungsperson gehalten, mit den Augen nach Gegenständen oder Personen, wenn diese mehrfach benannt worden sind. Einen Monat später geschieht dies bereits mit einer Kopfdrehung. Am Ende des neunten Monats macht ein Kleinkind »Patsch-Patsch-Bewegungen«, wenn es dazu aufgefordert worden ist. Einen Monat später reagiert es auf seinen Namen und auf die Aufforderung, etwas dem Gegenüber zu geben. Am Ende des elften Monats macht ein Kind spontan »winke-winke« und versteht Verbote wie »Nein«. Am Schluss des ersten Lebensjahres reagiert es auf die Bitte, einen Ball oder anderen bekannten Gegenstand zu suchen, zu finden und diesen zu holen. Suchbewegungen durchziehen alles, stets mit dem Ziel, sich eine Fertigkeit zu erwerben. Aufforderungen werden am Ende des ersten Lebensjahres, auch wenn meist nur zwei Worte gesprochen werden können, recht genau verstanden und folgsam ausgeführt.

1.1.9     Sozialentwicklung

Das Neugeborene lässt sich durch Hautkontakt, d. h. Streicheln, oder durch Stillen beruhigen. Am Ende des ersten Monats hat das Aufnehmen des Kindes auch eine beruhigende Wirkung, ebenso wie eine vertraute Stimme. Am Ende des dritten Lebensmonats finden wir das »blickerwidernde Lächeln«, d. h., auch ein fremdes, bewegtes Gesicht löst ein freudiges Lächeln aus. Einen Monat später verhält sich das Kind freundlich zu Fremden, leistet einen gewissen muskulären Widerstand im Spiel und freut sich, wenn man mit ihm spielt. Am Ende des fünften Monats ist es imstande, einen liebenswürdigen von einem strengen Sprachton zu differenzieren. Dasselbe gilt auch für die Mimik. Meistens hört es auf zu weinen, wenn man mit ihm spricht. Gegen Ende des sechsten Monats beginnt es, sich gegenüber Bekannten und Unbekannten unterschiedlich zu benehmen. Es streckt die Arme aus, um hochgenommen zu werden. Am Ende des siebten Monats zeigte es Genuß an zärtlichem sich Anschmiegen. Zum Ende des achten Monats taucht das »Fremdeln« unbekannten Erwachsenen gegenüber auf. Das Kleinkind beginnt, vertraute Erwachsene zu imitieren und beobachtet sehr genau. Einen Monat später versteht es das Versteckspiel und ärgert sich, wenn man ihm ein Spielzeug wegnimmt. Gegen Ende des zehnten Monats ist ein Verständnis für Lob zu beobachten. Am Ende des ersten Lebensjahres zeigt es sich fasziniert vom eigenen Spiegelbild, lächelt dieses an und spielt mit ihm. Es unternimmt erste Versuche, selbstständig mit einem Löffel zu essen.

Außenaktivitäten können also eine klare Beruhigungswirkung auf den Säugling ausüben (Wiegen, Streicheln). Der erste und der zweite »Organisator« (blickerwiderndes Lächeln, Achtmonatsangst/Fremdeln) (Spitz, 1969) manifestieren sich meist recht deutlich. Beide sagen etwas über die Beziehungsentwicklung aus (z. B. Entwicklung der Kontaktaufnahme zu einem besonderen Attraktor, dem menschlichen Gesicht; Bildung eines »ganzen« Objektes; Unterscheidung von fremd und vertraut). Im Versteckspiel zeigt sich der lustvolle Umgang mit der Trennungsangst. Das spiegelbildliche Konterfei eines Gegenübers evoziert Interesse.

1.2       Psychophysisches Gleichgewicht

Beim Säugling und Kleinkind können Reifung und Entwicklung verschiedenster Funktionen – in ihrer Wechselwirkung mit den Aktionen der zentralen Bezugspersonen – auch psychoanalytisch exploriert und verstanden werden. Dynamische Konflikte zwischen den beiden Protagonisten zeigen sich nicht nur in Funktionsstörungen physiologischer Abläufe sondern auch in psychischen Symptomen, die sich plötzlich manifestieren können. Beide Bereiche lassen sich – ganz anders als beim Jugendlichen und Erwachsenen – gut und zumeist direkt beobachten. Die Klinik ist oft bedeutend aussagekräftiger als eine nosographische Einteilung, die etwa bis zum dritten Lebensjahr außerordentlich schwierig vorzunehmen ist (DC: 0-3R, 2005). Denn die Ausdrucksformen sind höchst unterschiedlich und rasch wechselnd. Reifungsfaktoren, Entwicklungselemente, reaktive Erscheinungen, ungewöhnliche Verhaltensweisen, beginnende strukturelle Verzerrungen und komplexe Bedeutungen sind nur schwer auseinander zu halten. Zudem vermag jegliche, noch ungeordnete Funktionseinheit des Ich die Entwicklung gerade dieser Funktion zu beeinträchtigen. Die klinische Beobachtung hingegen zeigt uns die Entwicklung von funktionellenStörungen in Abhängigkeit von der Strukturierung des Ich, dem Zeitpunkt ihres Auftretens/Verschwindens und ob sich eine motorische Abfuhr oder eine eigentliche Transformation festhalten lässt.

Früh auftretende Probleme zeigen sich oft in einer Dysfunktion der Dyade »primäre Betreuungsperson« – Kind. Für jeden Menschen gibt es altersspezifische Schwellen, jenseits welcher die Integrationsfähigkeiten überschritten sind. Diese dyadischen Dysfunktionen transformieren sich – sofern die Schwellenwerte des Primärprozesses in traumatisierender Form überschritten worden sind und damit stressauslösende Belastungssituationen auftauchen – nicht selten in physiologische Funktionsstörungen des Kindes. Diese weisen auf einen damit verknüpften Besetzungsabzug des Säuglings von der äußeren Welt hin.

Meist lassen sich Funktionsstörungen als Vorformen eigentlicher psychophysischer Probleme beschreiben, die ein gestörtes psychophysisches Gleichgewicht zum Ausdruck bringen. Die Gleichgewichtsstörung baut sich auf einer Dysbalance der narzisstischen Ökonomie des Säuglings auf, d. h. der Säugling ist wegen der ungenügenden Art der Zuwendung, die er von den primären Betreuungspersonen erfahren hat, nicht mehr im Stande, das Andauern von massiven Unlustzuständen in seiner Innenwelt zu verhindern. Er versucht sie deshalb durch Externalisation loszuwerden oder durch autoerotische Aktivitäten ein Gegengewicht zu setzen.

Existieren Probleme bei der libidinösen Besetzung einer physiologischen Funktion, so besetzen der Säugling oder das Kleinkind automatisch die Motorik, als ob motorische Aktivitäten im Sinne einer Flucht bei diesem Entwicklungsstand bereits behilflich sein könnten. Bei der halluzinatorischenWunscherfüllung werden die muskulären Innervationen in gleicher Art aktiviert wie beim Handeln, aber sie werden gleichzeitig auch blockiert, so dass keine Handlung entsteht.

Gewisse libidinöse oder aggressive Besetzungen werden unter bestimmten Bedingungen für Mechanismen aufgewendet, die den lebenserhaltenden geradezu zuwiderlaufen. Sie überschreiten physiologische Gesetzlichkeiten und können – lässt man sie anstehen – einen Säugling oder ein Kleinkind in Todesgefahr bringen (z. B. Dehydrierung bei Erbrechen). Man könnte diese Besetzungsform als eine pervertierende beschreiben, da ein primär angestrebtes Ziel um 180 Grad verschoben, d. h. ins Gegenteil verkehrt worden ist.

Intrapsychische, interpersonale und soziokulturelle Gleichgewichte, die auf Grund der Reifung und der Entwicklung stets von neuem abgeglichen werden müssen, scheinen somit untrennbar miteinander verknüpft zu sein. Die Störung von einem Balancesystem bewirkt mehr oder weniger massive und unterschiedlich lange anhaltende Störungen der anderen, auch ganz besonders deshalb, weil die Funktion der primären Symbolisierung sich in einem Zustand des »status nascendi« befindet und nur in geringem Ausmaß eingesetzt werden kann.

1.3       Säuglinge und primäre Beziehungspersonen

Wenn man vom »Säugling« spricht, so entspricht dies einer unstatthaften Gleichsetzung von verschiedensten Personen, nicht nur, was ihre ganze Körperlichkeit, sondern auch, was die Art ihrer Innenwelt angeht. Denn Säuglinge sind bereits bei der Geburt sehr unterschiedliche Wesen, einerseits wegen ihrer genetischenAusstattung (z. B. bezüglich des »Temperaments«), dann wegen der intrauterinenErfahrungen während der Schwangerschaft und schließlich dadurch, wie sich der »Fit« zwischen ihnen und den primären Betreuungspersonen auf ihre psychischen Reifungs- und Entwicklungsvorgänge auswirkt. Sie unterscheiden sich in ihrer Aktivität/Passivität (z. B. was den Gebrauch der Motorik angeht), ihrem nach-außen oder nach-innen Gewendetsein, ihrer Empfindsamkeit und Reagibilität (Schwellenhöhe für Außen- oder Innenreize), ihrer Art, mit Unlust umzugehen (z. B. Erregung oder Hemmung oder zyklischer Wechsel von beidem), ihrer Fähigkeit, Erlebnisse sich anzueignen (Mentalisierung im Sinne der französischen Schule), ihrer Neigung, sich für eine kürzere Entbehrungszeit autoerotisch zu beruhigen, ihrem Hunger nach Zuwendung (d. h. der narzisstischen Besetzung durch das Gegenüber) und ihrer Neigung, eine sich entwickelnde Rage gegen sich selbst oder nach außen zu wenden.

Die vom Körper und der Psyche des Säuglings wie auch der primären Betreuungspersonen und dem dyadischen Paar als solchem generierten und wechselseitig einwirkenden Variablen sind so unüberschaubar zahlreich, dass nur gröbere Störfaktoren (z. B. längere Dyskontinuitäten in der Betreuung, Unvermögen, die vom Säugling oder von den primären Betreuungspersonen ausgehenden Signale wahrzunehmen) eindeutige Voraussagen erlauben.

Säuglinge lassen bereits bei der Geburt enorme Unterschiede erkennen, zum Beispiel was Aktivität/Passivität, Empfindsamkeit, Bedürfnisintensität, Integrationsfähigkeit und zeitliche Regulierungskapazität angeht. All diese Faktoren dürften sich im Verlaufe der Schwangerschaft, d. h. der intrauterinen Entwicklung, bereits ausgebildet haben. Aber sie wurden für die Betreuenden noch nicht manifest erfahrbar.

Gelingt es den »primären Beziehungspersonen« (in der Mehrzahl sind dies die Eltern) den Körper ihres Säuglings bzw. Kleinkindes libidinös intensiv zu besetzen, so umfasst dies nicht nur die erogenen Zonen, sondern auch diverse Funktions- und Regulationsmechanismen. Diese Besetzungen geben den libidinösen Besetzungen der kleinen Kinder ein entsprechendes »Gerüst« für Entwicklungsabläufe. Identifizieren sich die Säuglinge mit den primären Betreuungspersonen, so übernehmen sie diese Gerüstanteile, die für ihre eigenen Regulationsfunktionen wie eine Aufbauhilfe wirken. Denn diese liefern so etwas wie ein Gegengewicht zu eventuell verkehrt laufenden Besetzungen.

Stehen aber heftige projektiv-aggressive Aktivitäten, widersprüchliche Signale oder ein Besetzungsabzug der primären Beziehungspersonen im Vordergrund, so sind die Kräfte des Todestriebes, bzw. der Destruktion, oft so stark, dass diese Kinder sich in Richtung Selbstvernichtung bewegen; denn ein Säugling stirbt, wenn sich nicht eine erwachsene Person um ihn kümmert.

Alle ungenügenden oder unausgeglichenen Triebbesetzungen, alle größeren oder häufigeren Kontinuitätsunterbrechungen und zu massive Unterschiede zwischen der Ausstattung des realen und der des phantasmatischen Kindes in den Vorstellungen der Eltern stellen oft so massive Entwicklungsbeeinträchtigungen dar, dass aus diesen Gründen ein Übermaß an narzisstischer Rage freigesetzt wird. Dieses überfordert meistens das Kind und vielfach auch die Eltern, hat somit einen traumatisierenden Charakter, wirkt als Disstress auf den kindlichen Organismus ein und übersteigt die Integrationsfähigkeit des jeweiligen Ichs. Die Symptombildung bzw. Ausbildung einer psychophysischen Funktionsstörung oder der im Verhältnis zum Auslöser zu heftige Einsatz motorischer Aktivitäten zur Spannungsabfuhr oder der Versuch einer autoerotischen Beruhigung werden somit leicht ausgelöst.

Den Zeitpunkt, wann aus einer funktionalen Störung eine eigentliche somatische Läsion wird, kann höchstens im Einzelfall und unter Einbezug vieler Variablen zu erfassen versucht werden.

Geht man von einem Differenzierungsmodell der Psyche aus, so heißt das, dass sich intrapsychische Strukturen im Ich (und später im Über-Ich) in ungefähr normierten Zeitbereichen ausbilden. Es lässt sich dann von zeitgerechten, vorzeitigen oder verspäteten Entwicklungen sprechen. Damit sich diese Strukturen ausbilden können, sind der Säugling und das Kleinkind auf (Kontinuität vermittelnde) spezifische Betreuungspersonen und deren dazugehöriges, persönlich-emotionales wie auch deren sozio-kulturelles Milieu angewiesen.

Die Aufgabe der zentralen Betreuungspersonen besteht einerseits im Reizschutz, andererseits aber auch in der – dem jeweiligen Säugling und seiner Entwicklung angemessenen – variationsreichen Stimulation. Mütter oder andere signifikante Personen werden fortlaufend aufgefordert, sich gegenüber dem sich entwickelnden Säugling anzupassen und gleichzeitig behilflich zu sein, dessen Impulse zu regulieren und zu steuern. Beim Versuch, immer wieder neue Gleichgewichte zwischen polaren Positionen, bzw. Einstellungen zu finden, sind sie dauernd mit der Wahrnehmung ihrer ambivalenten, d. h. den liebenden und den ablehnenden Gefühlen, die sie gegenüber dem Säugling oder Kleinkind empfinden, konfrontiert. Dies ist besonders schwierig, wenn es bei der primären Betreuungsperson um unbewusste Aspekte wie die Nötigung zu projektiven Identifizierungen oder um die Auswirkungen widersprüchlicher oder paradoxer Signale geht, die – im Hinblick auf den Säugling – mit einer hohen Desorganisationspotenz verbunden sind. Die überfürsorgliche Liebe lässt dem Kind keinen Raum für Eigenexploration, die zu stark phobisch-fernhaltende Haltung gibt ihm keine Möglichkeit, im Kontakt mit einem wirklichen Gegenüber sich selbst zu finden. Beide polaren Positionen hinterlassen einen Säugling oder ein Kleinkind in einer unerträglichen Deprivationsposition (welche die »psychische Aneignung« der gemachten Erfahrungen in hohem Maße erschwert und höchstens einen Ausweg über eine Verhaltens- oder Somatisierungsstörung möglich macht).

Befindet sich die Mutter in einem postpartal-psychotischen oder schwer depressiven Zustand, so kann sie nicht mehr zwischen sich und dem Säugling unterscheiden. Dieser wird zu einem Teil ihrer Innenwelt, sie spricht ihm alle ihre Gefühle und halluzinatorischen Wunscherfüllungen zu und kann seine Bedürfnisse und sein Begehren nicht mehr wahrnehmen.

Leidet eine Mutter unter starken neurotischen Ängsten, so wird der Säugling davon richtig eingehüllt, kann kaum mehr Eigenerfahrungen machen und vermag seine eigene Affektivität nicht im freien Kontakt mit dem Gegenüber zu explorieren und zu entwickeln.

Je älter ein Kind wird, desto differenzierter hat sich sowohl der somatische als auch der psychische Teil seiner Persönlichkeit entwickelt. Je homogener und altersentsprechender sich das Niveau der Funktionen ausgeformt hat, desto komplexer sind nicht nur die Aufgaben, die das Kind meistern muss, sondern auch die Möglichkeiten, mit denen es den auftretenden Schwierigkeiten zu begegnen vermag. Je unausgeglichener, retardierter oder regressiver sich die psychophysischen Funktionen erweisen, desto leichter werden sich dysfunktionale Problemlösungen einstellen, die dann als sog. »Symptome« oder Auffälligkeiten in Erscheinung treten und im günstigen Fall bewirken, dass von den betroffenen Eltern Hilfe gesucht und in Anspruch genommen wird.

1.4       Frühe Entwicklungsstörungen und psychosomatische Auffälligkeiten

Die frühen psychosomatischen Auffälligkeiten können als störende Abweichungen basaler vitaler Funktionen (wie z. B. der Nahrungsaufnahme und dem Appetit, der Verdauung und der Evakuation des Unverdaulichen, der Einatmung von sauerstoffgesättigter Luft und dem Ausatmen von CO2-haltiger Abluft etc.) verstanden werden. Werden diese Funktionen durch kleinere affektive Konflikte beeinträchtigt, so zeigt sich dies in den entsprechenden Funktionsstörungen.

Reifung und Entwicklung sind über längere Zeit mit dem Alter eines Kindes verknüpft. Die biologischen, die psychoaffektiven und die geistigen Funktionen machen eine Entwicklung durch, die sich an der zunehmenden Strukturierung des Ich erkennen lässt. Alle Ausdrucksformen zeigen eine größere Variation und höhere Komplexität. So kann ein Symptom in Abhängigkeit vom Alter des Kindes eine völlig verschiedene Bedeutung haben. Selbst eine dysfunktionale Störung kann in ihrem Erscheinungsbild oft nicht von einer primär organischen Krankheit unterschieden werden. Dysfunktionale Störungen haben zudem nicht selten auch eine Auswirkung auf diverse organische Abläufe (z. B. eine Hyperphagie, die zu einer Adipositas mit allen sekundären organischen Begleiterscheinungen führen kann). Fehlen die von Spitz (1969) beschriebenen drei psychischen »Organisatoren« (d. h. beobachtbare Phänomene, nämlich das blickerwidernde Lächeln um den dritten, die Fremden-Angst um den achten und die Fähigkeit, Nein zu sagen, um den 18. Monat herum), so manifestieren sich oft mit solchen Ausfällen verknüpfte, dysfunktionale somatische Desorganisationserscheinungen.

Die übermäßige Besetzung von Konflikten, die anhaltend sexualisierte Beziehung zu Überich-Substituten und die Vermeidung einer Trauerarbeit in Beziehungen, was von den klinischen Bildern der Hysterie bekannt ist, sowie die klassische Konversion, wie wir sie bei Jugendlichen und Erwachsenen kennen, sind beim Kleinkind – auf Grund der noch nicht ausgereiften Ich- und Abwehr-Strukturen – außerordentlich selten. Hysteriforme Erscheinungen, d. h. solche, bei denen eine Erregung automatisiert in somatischer Form abgeführt wird, sind hingegen recht häufig.

Eine verfrühte Entwicklung kann sich auf das ganze Ich oder nur auf Teile dieser Struktur erstrecken. Es kann sich um ganz frühe oder spätere Funktionseinheiten wie Regulations-, Steuerungs- und Abwehrmechanismen handeln oder um Fähigkeiten wie Affektentwicklung, Toleranz für Unlustzustände oder Leidensfähigkeit. Die verfrüht entwickelten Teile der Psyche (die z. B. eine Neigung zu Autodestruktivität, zu Somatisierung, zu narzisstischem Rückzug, zu leichter Kränkbarkeit oder zu Frustrationsintoleranz etc. zeigen) können einerseits zwar zu stark, zu schwach oder zu verzerrt erscheinen, aber noch im Rahmen einer kompensierbaren Varianz erscheinen, d. h. sie können im Verlauf der weiteren Entwicklung ausgeglichen und integriert werden. Wenn sie aber ungewöhnlich intensiv, zu schwach oder massiv verzerrt sind, so können sich – infolge intrasystemischer Schwierigkeiten – pathogene Störungen entwickeln.

2          Gen-Umfeld-Interaktionen und Resilienz

 

2.1       Wechselwirkungen von Genen und Umwelt

Gehirn und Umwelt haben einen wechselseitigen Einfluss aufeinander. Umweltfaktoren können die Genexpression durch epigenetische Mechanismen beeinflussen. Bei diesen Mechanismen handelt es sich um Modifikationen der genetischen Trägersubstanz DNA (DNA-Methylierung und Histonmodifikation), die jedoch die Nucleotidsequenz des Gens nicht direkt verändern (Price, Adams, Coyle, 2000; Bird, 2007). Die epigenetischen Veränderungen sind weniger stabil als die genetischen Veränderungen, die z. B. durch Mutationen verursacht werden; sie werden in der Regel auch nicht mehr als auf eine oder zwei Generationen übertragen. Die Epigenetik bezieht sich auf Veränderungen in der Genaktivität und -expression, die nicht durch Veränderungen in der DNA-Sequenz verursacht wurden. Genetische und epigenetische Faktoren stehen in einer anhaltenden und komplexen Wechselwirkung.

Der Erwerb und der Gebrauch von Fertigkeiten und Kompetenzen erhöhen die Myelinisierung (McKenzie, Ohayon, Li, de Faria, Emery, Tohyama, et al., 2014), während soziale Isolation oder schwerer Stress zu einer Beeinträchtigung der Myelinisierung führen (Sexton, Mackay, Ebmeier, 2009; Liu, Dietz, DeLoyht, Pedre, Kelkar, Kaur et al., 2012). Lernprozesse fördern z. B. die Synapsenbildung. Eine Störung der zerebralen Plastizität in kritischen Perioden der kindlichen und adoleszentären Entwicklung kann zu langanhaltenden Störungen führen. In der Adoleszenz ist die Plastizität des Gehirns am größten; in dieser Entwicklungsphase treten schwere psychische Erkrankungen gehäuft auf.

Widrige Lebensumstände in einer von Armut und Vernachlässigung gekennzeichneten Umwelt werden in molekulare Ereignisse überführt, welche die Expression von neuroregulatorischen Genen steuern, die ihrerseits die Gehirnentwicklung beeinflussen und zu lebenslangen psychopathologischen Risiken führen können. Die Exposition gegenüber einer Vielzahl von Stressoren im frühkindlichen Leben ist nicht nur mit Veränderungen in der Hypothalamus-Hypophysen-Niebennieren (HHN)-Aktivität, sondern auch mit zahlreichen Neurotransmittersystemen verbunden.

Entwicklungsförderliche, frühe Umfeldbedingungen – gekennzeichnet durch eine fürsorgliche und kontinuierliche Betreuung – sorgen für eine antizipatorische Programmierung von regulatorischen Genen, die in der Folge die entwicklungsneurologische Vorbereitung für das Lernen optimieren und eine normative, sozio-emotionale Entwicklung gewährleisten (Boyce & Kobor, 2015).

Die »Architektur« der Genetik psychischer und psychosomatischer Erkrankungen ist komplex. Dies ist zum Teil auf die bei psychischen Störungen involvierten multiplen Gene und die Schwierigkeit, diese Gene miteinander zu verbinden, zurückzuführen (Sullivan, Daly, O’Donovan, 2012).

2.2       Genetik und Resilienzentwicklung

Resilienz bezeichnet ein interaktives Konzept, das sich auf eine relative Widerstandsfähigkeit gegenüber Umweltsrisiko-Erfahrungen, Traumata oder auf die Bewältigung von Stress oder ungünstigen Belastungen bezieht. Multiple genetische und Umweltfaktoren sind an den entsprechenden Entwicklungsprozessen beteiligt und tragen zu den Resilienz- oder Vulnerabilitätsunterschieden eines Individuums bei (Bürgin & Steck, 2008). Resilienz ist verantwortlich für die individuelle Variation in der Reaktion von Kindern und Jugendlichen auf ähnliche Erfahrungen. Die angemessene Exposition gegenüber Stress – und nicht deren Vermeidung – kann unter bestimmten Umständen die Widerstandsfähigkeit gegenüber späteren Stresssituationen stärken.

Elterliche Bindungs- und Beziehungsmodelle wirken sich auf die Bindungssicherheit ihres Kindes aus. Ein Kind kann die beiden Beziehungsmodelle seiner primären Betreuungspersonen internalisieren und dann integrieren. Man nimmt an, dass ein sicheres internes Beziehungsmodell einen ausreichenden Schutzfaktor darstellt und zur Resilienz des Kindes in einer Deprivationssituation beiträgt.

Der Beitrag einzelner Gene bei der Entwicklung von Resilienz wurde intensiv untersucht (vor allem das Serotonin-Transporter-Gen, das Oxytocin-Rezeptor-Gen, das Dopamin-Rezeptor D4-Gen und das Kortikotropin-Releasing-Hormon-Rezeptor-Gen). Alle diese Gene sind bei resilientem Funktionieren teilweise beteiligt (Cicchetti & Rogosch, 2012). Sie sind aber auch bei einer Vielfalt von entwicklungsneurologischen Störungen involviert (z. B. bei Erkrankungen an Schizophrenie, Autismus und bei gewissen Formen geistiger Behinderung) und können somit auch eine potenzielle Gefährdung übertragen (Owen, 2012). Diese Tatsache weist auf die Komplexität hin, die bei der Kombination von Genen und deren Interaktion mit Umweltfaktoren zu beobachten ist und betont die vielfältigen Möglichkeiten der Beeinflussung bzw. Beeinträchtigung individueller Entwicklung und psychologischer Prozesse. Zudem dürften – während kritischer Perioden der Entwicklung – verschiedene epigenetische Veränderungen in mehreren Regionen des Gehirns für die Entstehung von Vulnerabilität oder Resilienz gegenüber stressbedingten psychischen Störungen verantwortlich sein (Dudley, Li, Kobor, Kippin, Bredy, 2011).

Die Erkenntnisse der Resilienzforschung können nicht in ein klares Präventions- und Behandlungsprogramm übersetzt werden; sie bieten jedoch zahlreiche Ansätze, die auf dynamischen Prozessen aufbauen und bei der Überwindung ernsthafter negativer Erfahrungen involviert sind.

2.3       Genetik – Epigenetik: Beispiel Kindsmisshandlung

Kindsmisshandlung ist mit einer Reihe von negativen gesundheitlichen Folgen verbunden. Neuere Studien zeigen, dass frühe Stresserlebnisse epigenetische Veränderungen bewirken (und zwar bei Genen, die in Stoffwechselprozessen, Immunfunktionen, Diabetes, Herzkreislauferkrankungen, Krebs und psychischen Erkrankungen involviert sind (Weder, Zhang, Jense, Simen, Jackowski, Lipschitz et al., 2014). Solche epigenetischen Veränderungen erhöhen das Risiko einer späteren Depressionserkrankung. Eine positive psychosoziale Unterstützung hingegen reduziert das mit Misshandlung und einem entsprechenden Genotyp assoziierte Risiko, so dass misshandelte Kinder mit einem solchen Profil nur eine minimale Erhöhung ihrer Depressivitätswerte aufwiesen. Das Risiko negativer Auswirkungen von Stresserlebnissen kann also, dank emotional verfügbarer Betreuungspersonen, modifiziert werden. Die letzten sind im Stande, die Resilienz misshandelter Kinder zu erhöhen, selbst beim Vorliegen eines Genotyps, der für eine erhöhte Vulnerabilität bezüglich psychischer Störungen verantwortlich ist (Kaufman, Yang, Douglas-Palumberi, Houshyar, Lipschitz, Krystal et al., 2004; Kaufman, Gelernter, Hudziak, Tyrka, Coplan, 2015).

2.4       Genetik und Identifizierungen

Die Genetik zeigt im Verlaufe der Reifung eines Individuums eine Neigung zur Selbstentfaltung. Trotzdem ist die Entwicklung sämtlicher epigenetischer Faktoren auf die Spezifität der Umwelt angewiesen, die somit mitgestaltet, welche Gene oder Genkombinationen zum Ausdruck kommen. Zudem ist das Individuum selbst ein Mitgestalter seiner Entwicklung, indem es seine psychischen Strukturen und Kompetenzen für die Entwicklung seiner altersabhängigen, individuellen Bedürfnisse und Begehren in mehr oder weniger dienlicher Form einzusetzen vermag. Die materielle und beziehungsmäßige Umwelt gestaltet mit ihrem vorhandenen oder fehlenden Angebot und mit ihrem direkten oder indirekten Einwirken auf den sich entwickelnden Organismus einen dritten Wirkbereich, der nicht zu unterschätzen ist, besonders wenn man zum Beispiel an eine schwere Mangelernährung denkt, die sich schädlich auf die gesamte Gehirnentwicklung und damit auf die psychophysischen Möglichkeiten eines Individuums auswirkt. Die Psychosomatik sitzt als Betrachtungsweise somit inmitten eines triadischen, bio-psycho-sozialen Feldes, in welchem eine Komponente nie für sich allein betrachtet werden kann und die Komplexität der Einwirkungen und Rückmeldungen, d. h. der schlaufenförmig verlaufenden Rückkoppelungs- und Informationswege so hoch ist, dass jeder Versuch, der Situation mit einem monolinear-einheitlichen und einfachen Modell zu begegnen, einer nicht adäquaten Simplifizierung gleichkommt.

Wahrscheinlich werden Verarbeitungsformen für psychische Abläufe mittels primärer Identifizierung von den primären Bezugspersonen, d. h. meistens den Eltern, übernommen. So lässt sich oft nicht klären, ob ein bestimmtes Verhalten eines Kleinkindes einer spezifischen Genetik zuzuschreiben ist, einer Identifizierung mit unbewussten Teilen der primären Bezugspersonen gleichkommt oder – was das Wahrscheinlichste ist – durch beides zusammen verursacht wird.

Während im Verlaufe der Entwicklung vom Säugling – nach einer Phase der Illusionsbildung – die frustrierende Erfahrung einer sanften Desillusionierung durchgemacht werden muss und ein gewisses, vom Ich gerade noch verkraftbares Manko, eine Karenz an Zuwendung, zumutbar und entwicklungsstimulativ ist, bildet ein wirkliches Zuviel, ein deutliches Zuwenig oder eine klar verzerrte Form von libidinöser Besetzung durch die Mutter – wie auch eine längerdauernde Trennung von ihr – eine Belastung, die vom Säugling nicht mehr ausgeglichen werden kann und einen traumatisierenden Charakter erhält. Er befindet sich dann über kürzere oder längere Zeit im Zustand eines Disstresses.

3          Stressvolle Belastungen und ihre Auswirkungen

 

3.1       Allgemeine Bemerkungen

Das »Stressmodell« scheint ein zentrales Bindeglied zu sein, welches als »Belastungsreaktion« auf beiden Ebenen, Soma und Gehirn/Psyche, klare Auswirkungen hat. Während auf der somatischen Ebene postnatal bereits grundsätzliche Funktionen gut etabliert sind, wird die psychische Struktur nach der Geburt weitgehend erst aufgebaut. Schädlicher Stress beeinträchtigt somit die psychische Strukturbildung und nicht nur Funktionen im psychischen Geschehen. Der gleiche äußere Stress hat zu verschiedenen Zeiten der Einwirkung während der Entwicklung sehr unterschiedliche Auswirkungen. Insbesondere hinterlässt ein pathogen wirkender Stress in den ersten zwei Lebensjahren massive Struktur- und Funktionsdefizite, welche später nur noch teilweise ausgeglichen werden können. Es wird noch zu klären sein, wie die eingeschränkte Entwicklung gewisser Funktionen und Abwehrmodalitäten im Ich sich so belastend auf den Gesamtorganismus auswirkt, dass daraus eine »übermäßge Belastung« im Sinne einer »Stressreaktion« ausgelöst wird.

Da die Stressreaktion als eine angeborene, das Gehirn und den Körper umfassende Funktionsweise betrachtet werden kann, welche in ihrer Erscheinungsform in hohem Ausmaß durch Anlagefaktoren des Säuglings, Umwelteinwirkungen und die damit verknüpften Austauschvorgänge gekennzeichnet ist und somit Reifungs- und Entwicklungsgesetzen untersteht, gehen wir an dieser Stelle etwas vertiefter darauf ein.

Aus biologischer Sicht ist das Gehirn das zentrale Organ für Anpassungsprozesse. Es verarbeitet nicht nur unsere Erfahrungen in der physischen Umgebung als Teil einer homöostatischen Regulation, sondern auch unsere Erlebnisse im sozialen Umfeld. Unsere Lebenserfahrungen verändern Gehirnstrukturen und -funktionen, d. h. sie bewirken Änderungen, die als »adaptive Plastizität« bezeichnet werden. Auf kritische Lebensereignisse, so genannte Stressoren, erfolgt eine koordinierte und energetisierende Reaktion, die unsere körperliche Integrität und unser psychisches Wohlbefinden aufrechterhält. Die Psyche und damit auch das Gehirn stellen Bedrohungen und potenziell stressvolle Situationen fest und initiieren physiologische, emotionale und Verhaltensreaktionen. Diese Reaktionen können entweder der Anpassung dienen oder gesundheitsschädlich sein. Stress basiert – mittels des autonomen Nervensystems und endokriner Mechanismen – stets auf einer bidirektionalen Kommunikation zwischen verschiedenen Systemen (z. B. Gehirn, Psyche, Herz, Kreislauf, Immun- und Stoffwechselorganisation). Die komplexen Interaktionen dieser unterschiedlichen Systeme führen zu positiven oder negativen Veränderungen im Gehirn, der Psyche und dem Körper (Steck & Steck, 2015).

Die mit chronischer Stressbelastung verbundenen Hormone schützen den Körper kurzfristig und fördern eine Anpassung. Auf lange Sicht hinaus jedoch bewirken die Belastungen von der Art eines chronischen Stresses Veränderungen in Gehirn und Körper, allenfalls mit nachfolgenden Erkrankungen.

Die Prävalenz von psychosomatischen und emotionalen Symptomen (PES; bei Kindern im Alter von vier bis elf Jahren in acht europäischen Ländern erfasst) ist signifikant (quantitativ und qualitativ) mit negativen Lebensereignissen oder widrigen familiären oder sozialen Lebensumständen assoziiert (Vanaelst, De Vriendt, Ahrens, Bammann, Hadjigeorgiou, Konstabel et al., 2012). Psychosomatische Erscheinungen (wie z. B. Erbrechen oder Bauchschmerzen vor der Schule) sind bei Kindern häufig und im psychoanalytisch-psychotherapeutischen Dialog meistens recht gut veränderbar.

Bei der psychosomatischen Trias von Kopfschmerzen, rezidivierenden Abdominalschmerzen und Einschlafstörungen erwies sich bei schwedischen Schulkindern der ökonomische Stress als bedeutungsvoller als die soziale Schicht. Mädchen klagten häufiger über Kopfschmerzen und rezidivierende Abdominalschmerzen als Jungen. Diese Unterschiede verstärkten sich mit dem Alter (Östberg, Alfven, Hjern, 2006). Es bestehen somit nicht geringe Unterschiede in Bezug auf Art, Zeitpunkt und eventuelle Kumulation einer Belastung bei Kindern und Jugendlichen (Wang, Raffeld, Slopen, Hale, Dunn, 2016).

Dies lässt sich besonders gut bei Schlafstörungen eruieren: Jugendliche, die widrigen Stresserfahrungen ausgesetzt waren, litten vermehrt unter Schlafstörungen im Vergleich zu jugendlichen Kontrollgruppen. Das höchste Risiko für Schlafstörungen zeigten Jugendliche, die zwischenmenschlicher Gewalt (z. B. elterlicher Gewalt oder Vergewaltigung) in früher Kindheit oder in der Adoleszenz ausgesetzt gewesen waren.

3.2       Neurobiologische Reaktionen auf Stress

Die zentralen Komponenten des Stresssystems sind im Hypothalamus und im Hirnstamm lokalisiert. Sie bilden Teile eines neuroendokrinen Steuerungssystems – der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren Achse (HHN) – und eines Teiles des unwillkürlichen Nervensystems – nämlich des sympathischen-adreno-medullären Systems. Die Aktivierung dieser Systeme hat eine erhöhte Ausscheidung vonStresshormonen (Corticotropin-Releasing-Hormon [CRH], Cortisol, Noradrenalin und Adrenalin) zur Folge. Gleichzeitig manifestieren sich erhöhte, entzündungsbedingte Zytokine3, welche für die Koordination des Immunsystems verantwortlich sind; danach folgt der andere Teil des unwillkürlichen Nervensystems, nämlich das parasympathische, das jetzt aktiviert wird und sowohl die sympathische Aktivierung als auch die Entzündungsreaktionen auszubalancieren beginnt (Shonkoff & Garner, 2012).

Das Stresssystem verfügt über zwei hauptsächliche operative Funktionsmodi. Beim unmittelbaren Modus handelt es sich um die Kampf- oder Flucht-Reaktion4, die durch eine schnelle Aktivierung des sympathischen Nervensystems infolge Freisetzung von Adrenalin erfolgt. Parallel dazu wird die HHN-Achse stimuliert. Zwei wichtige Hormone aus dem Hypothalamus und der Hypophyse werden freigesetzt, nämlich das Corticotropin-Releasing-Hormon (CRH) und das adrenokortikotrope Hormon (ACTH). Sie dienen der Koordination von raschen metabolischen und Verhaltensantworten. Durch die ACTH Wirkung auf die Nebennierenrinde werden Glukokortikoide ausgeschüttet. Sie sind verantwortlich für die multiplen, während der akuten Stressreaktion auftretenden physischen Reaktionen und Verhaltensweisen.

Der andere Modus besteht aus einer lang andauernden Einwirkung auf das soziale Verhalten. Er spielt wohl eine Schlüsselrolle im Umgang mit alltäglichem, sozialem Stress. Dieser Modus umfasst eine Vielzahl von Schaltkreisen im limbischen System. Das CRH hat eine wichtige Funktion bei der Regulierung von Verhaltensweisen, die chronischen Stress begleiten (Hostetler & Ryabinin, 2013).

Die Stressreaktion ist darauf ausgerichtet, dem Individuum schnell zu ermöglichen, auf unerwartete Situationen zu antworten, um zu einer adäquaten Kontrolle der externen Ereignisse beizutragen. Wenn sich die Stressreaktion als übermäßig intensiv oder – wie beim chronischen Stress – als zu lange anhaltend erweist, so wird eine ungewöhnliche Reaktion ausgelöst, die stressbedingte Störungen zu induzieren vermag.

Es ist bekannt, dass stressvolle Erlebnisse im frühen Kindealter die Fähigkeit eines Individuums negativ beeinflussen, stressvolle Ereignisse im späteren Leben zu bewältigen (de Kloet, Joëls, Holsboer, 2005). Das Versagen von Bewältigungsmechanismen wird von einer Reihe von Veränderungen begleitet, nämlich von einer abnormen Aktivität der HHN-Achse und von veränderten limbischen Funktionen. Die neurobiologischen Folgen von molekularen und zellulären Veränderungen finden nicht nur im limbischen System (insbesondere in der Amygdala und im Hippocampus) statt, sondern auch im präfrontalen Kortex. Während die genauen molekularen Mechanismen – verantwortlich für die stressinduzierte kognitive Beeinträchtigung – noch nicht bekannt sind, gibt es Hinweise, dass Änderungen in den Verankerungseigenschaften von Synapsen durch Zelladhäsionsmoleküle beteiligt sind. Eine Fehlregulation der synaptischen Adhäsionsmoleküle durch Stress führt zu synaptischen Veränderungen und zu Gedächtnisdefiziten (Wang, Su, Wagner, Avrabos, Scharf, Hartmann et al., 2013).

Es ist zu vermuten, dass stressbedingte Lerndefizite durch eine unterdrückte Neurogenese im Hippocampus entstehen. Diese Veränderungen sind reversibel. Individuelle Vulnerabilitätsunterschiede gegenüber Stress können, nach stressinduzierten Veränderungen, durch mehr oder weniger große Regenerationsfähigkeit in Gehirnschaltungen und -funktionen erklärt werden.

Stressereignisse im frühkindlichen Alter, wie z. B. der Tod eines Elternteils, beeinträchtigen die hippocampale Integrität in Folge einer nachfolgenden verminderten kognitiven Leistung. Frühkindliche Stresserfahrungen sind mit einer Erhöhung der Amygdala-Funktionen verbunden (Coplan, Fathy, Jackowski, Tang, Perera, Mathew et al., 2014). Bei Kindern mit schweren Deprivationen wurde ein erhöhtes Amygdala- und ein geringeres Gesamthirnvolumen festgestellt (Mehta, Golembo, Nosarti, Colvert, Mota, Williams et al., 2009).

3.3       Psychobiologische Auswirkungen von Stresserfahrungen

Unerwünschte Erfahrungen in kritischen oder sensiblen Entwicklungsphasen während der frühen Kindheit beeinflussen in hohem Maße die Entwicklung des Gehirns und können langanhaltende Auswirkungen haben. Die Entwicklung des Gehirns behält jedoch seine Plastizität bis zum Erwachsenenalter bei (Weder & Kaufman, 2011; Weder et al., 2014). Stressvolle Ereignisse in der frühen Kindheit, die zu epigenetischen Modifikationen Anlass geben und die Genexpression verändern, spielen eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von stressbedingten, psychischen Erkrankungen und anderen Gesundheitsproblemen im späteren Leben. Diese Veränderungen sind oft andauernd, müssen aber nicht permanent sein (Nemeroff & Binder, 2014; Weder et al., 2014).

Die Entwicklung des Gehirns, insbesondere des Kortex, findet beim Menschen größtenteils postnatal statt. Epigenetische Veränderungen sind sowohl mit Veränderungen in der Genexpression als auch mit solchen der synaptischen Entwicklung verbunden (Gabel & Greenberg, 2013). Psychische Erkrankungen können aber nicht auf eine einfache, genetische oder molekulare Ebene reduziert werden, sondern sind auf der somatischen Ebene als Dysfunktion groß angelegter neuronaler Schaltkreise zu verstehen. Deshalb müssen nicht nur die genetischen und biologischen Faktoren des Gehirns in Betracht gezogen werden, sondern es sind auch die komplexen Umweltfaktoren sowie persönliche Lebenserfahrungen, die gegebenenfalls mit akutem oder chronischem emotionalem Stress verbunden sind, zu berücksichtigen (Solms, 2004).

Beide, die psychischen wie auch die biologischen Auseinandersetzungs-, Konflikt- und Bewältigungsprozesse, die als Reaktionen auf Stress zu beobachten sind, sowie die Art der Erholung von Stress, sind für das Verständnis des Ausmaßes der psychophysischen Folgen von chronischem Stress fundamental. Eine direkte Auswirkung von chronischem Stress zeigt sich überdies in einer Beeinträchtigung der Fähigkeit, Stress wirksam bewältigen zu können.

Eine übertriebene oder verminderte Stressreaktion kann auf eine Fehlregulation derjenigen Systeme hinweisen, die für die Aufrechterhaltung von Homöostase und gutem Gesundheitszustand verantwortlich sind. Widrige frühkindliche Erlebnisse sind mit reduzierter Stressreaktivität und erhöhtem impulsiven Verhalten verbunden. Junge gesunde Erwachsene, die einen hohen Grad an widrigen Erfahrungen vor dem 16. Altersjahr erlebt hatten, zeigten eine reduzierte Cortisol- und Herzfrequenzreaktivität, verminderte kognitive Leistungsfähigkeit und eine instabile Affektsteuerung, die oft mit impulsivem Verhalten und asozialen Tendenzen verbunden war (Lovallo, 2013).

Die reduzierte Stressreaktivität (verminderte Cortisolausschüttung) infolge frühkindlicher Stresserlebnisse bewirkt eine reduzierte Dopamin-Aktivität und stellt eine Basis für die Entwicklung riskanter Verhaltensweisen dar, denn sie verändert die Cortisol-Feedback-Reaktionen in kritischen Hirnsystemen.

Bestimmte Bereiche des Gehirns müssen in entscheidenden Phasen der Entwicklung ausreichend stimuliert werden, damit sie später optimal funktionieren. Kritische Stresserfahrungen in der frühen Kindheit wirken sich nicht nur auf die Entwicklung des zerebralen Kortex und des limbischen Systems aus, sondern führen auch zu multiplen langfristigen Veränderungen in mehreren Neurotransmittersystemen. Die spezifische Vernetzung der dendritischen Verzweigungen und neuronaler Synapsen wird entsprechend der Häufigkeit ihrer Verwendung geformt. Nach van der Kolk, Alexander, McFarlane, Weisaeth, (2007), sind Thalamus, Amygdala, Hippocampus und präfrontaler Kortex alle an der schrittweisen Integration und Interpretation eingehender Sinnesinformationen beteiligt. Diese Integration kann durch eine hohe Erregung gestört werden.

Obwohl die genetische Variabilität in der Stressreaktivität unzweifelhaft bedeutsam ist, weisen auch frühe psycho-emotionale Erfahrungen und Umwelteinflüsse auf erhebliche Einwirkungen hin. Schon nur, wenn ein Fötus mütterlichem Stress ausgesetzt wird, vermag dies später die Reaktionsbereitschaft, d. h. das Ansprechverhalten gegenüber Stress, zu beeinflussen.

Während vorübergehende Erhöhungen der Stresshormone schützend und sogar überlebensnotwendig sind, können übermäßig hohe Niveaus oder ausgedehnte Expositionen schädlich oder geradezu »giftig« wirken. Eine Dysregulation dieses Netzwerks physiologischer Mediatoren (d. h. beispielsweise zu viel oder zu wenig Cortisol) kann zu einem chronischen »wear and tear«, d. h. einem »Verschleiß und Abnutzungs«-Effekt multipler Organsysteme, einschließlich des Gehirns, Anlass geben (Shonkoff & Garner, 2012). Kumulative, stressinduzierende Belastungen verunmöglichen schließlich die Bewältigung von Stress und die Rückkehr zu einem homöostatischen Gleichgewicht.

Bestimmte neurobiologische Veränderungen können durch Behandlungsmaßnahmen eine gewisse Reversibilität erfahren. Verschiedene Studien zeigen, dass die negativen Folgen eines frühen Umweltstresses, d. h. die entsprechenden psychopathologischen Störungen, durch präventive Interventionen gemildert werden können.

3.4       Drei verschiedene Arten von Stressreaktionen bei Kleinkindern

Bei kleinen Kindern werden, unabhängig von den tatsächlichen Stressoren, auf Grund ihres Potenzials, dauerhafte physiologische Störungen zu verursachen, drei verschiedene Arten von Stressreaktionen unterschieden: eine positive, eine tolerierbare und eine toxische (Shonkoff & Garner, 2012).

•  Der positive Stress: Er bezieht sich auf einen physiologischen Zustand, der nur kurz andauert und dessen Ausmaß ohne große Mühe zu mildern ist. Wichtig dabei ist die Verfügbarkeit einer fürsorglichen und ansprechbaren erwachsenen Person, die dem Kind hilft, die Belastungen zu reduzieren. Hierdurch entsteht eine schützende Wirkung, welche eine rasche Rückkehr des Stressantwortsystems zum Ausgangsstatus ermöglicht. Positive Stressreaktionen können ein wachstumsförderndes Element in der normalen Entwicklung eines Kindes darstellen. Die Beziehungsqualität setzt sich somit direkt in die physiologischen und funktionellen Abläufe des Gehirns, des autonomen Nervensystems und des endokrinen Systems um.

•  Der tolerierbare Stress: Er ist – im Gegensatz zum positiven Stress – mit einer Exposition an nicht-normative Erfahrungen verknüpft, die ein höheres Ausmaß von Widrigkeit/Belastung oder Bedrohung enthalten. Es kann sich bei den auslösenden Faktoren z. B. um eine schwere Krankheit, eine Verletzung oder eine konfliktreiche Scheidung handeln. Wenn allerdings