Psychotherapie bei Psychosen - Wolfgang Jordan - E-Book

Psychotherapie bei Psychosen E-Book

Wolfgang Jordan

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Beschreibung

Woher nehme ich die Sicherheit, dass der Patient gegenüber schizophren ist und ich es nicht bin? Was ist überhaupt eine Psychose und wird sie nur medikamentös behandelt? Das Buch richtet sich an angehende oder erfahrene ärztliche und psychologische Therapeuten im Fachgebiet Psychiatrie und Psychotherapie. Es gibt eine wissenschaftlich fundierte Einführung in die Grundlagen der psychiatrischen Diagnostik und die Entstehung von Psychosen. Es vermittelt integrativ die wichtigsten psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten für Menschen mit einer Psychose. Eine Fülle konkreter Beispiele hilft dem Leser, das theoretische Wissen in seine praktische Tätigkeit zu integrieren. Therapeutische Basisverfahren werden insoweit vorgestellt, wie sie für die Behandlung von Psychosen relevant sind. Auch spezielle Themen wie Chronobiologie und biologische Verfahren werden berührt. Die Diskussion alternativer Versorgungsstrukturen öffnet den Blick auf eine sozialpsychiatrische Perspektive. Zusammengefasst, ein Buch fürs Leben. Was die Facetten seelischen Erlebens würdigt und die Lust weckt, Menschen mit Psychose auch psychotherapeutisch zu behandeln.

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Autoreninfo

 

Professor Dr. med. W. Jordan, MBA, MIM. Stellv. Ärztlicher Direktor der Klinikum Magdeburg gGmbH, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Schlafmedizin, Suchtmedizin, Video-Interventions-Therapie, Supervisor. Studium der Managementwissenschaften Universität Salzburg, außerplanmäßige Professur Universität Göttingen. Vorstandsmitglied der Bundesdirektorenkonferenz der ärztlichen Leiter und Leiterinnen deutscher Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie e.V. (BDK). Publikationsschwerpunkte: Notfallpsychiatrie und psychotherapeutische Krisenintervention, Schlafmedizin, Oxidativer Stress, Mutter-Kind-Behandlung, Management in der Psychiatrie, Ethik in der Psychiatrie.

Wolfgang Jordan

Psychotherapie bei Psychosen

Ein psychiatrisch-psychotherapeutischer Leitfaden zum Verstehen und Behandeln von Menschen mit Psychose

Verlag W. Kohlhammer

 

 

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

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Die Fallbeispiele in diesem Buch sind anonymisiert. Rückschlüsse auf reale Personen sind daher nicht möglich.

 

 

 

 

1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-035812-6

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-035813-3

epub:    ISBN 978-3-17-035814-0

mobi:    ISBN 978-3-17-035815-7

 

 

Für das Leben

Inhalt

Vorwort

1 Krankheitslehre

1.1 Der psychiatrische Krankheitsbegriff

1.2 Definition einer »Psychose«

1.3 Entstehung von Psychosen und psychotischer Symptome

1.4 Definition von Psychotherapie

1.5 Wirkfaktoren und Wirksamkeit einer Psychotherapie

1.6 Evidenzbasierte Psychotherapien

1.7 Leitlinien und psychosoziale Versorgung

2 Diagnostik

2.1 Klinische Diagnostik

2.2 Differenzialdiagnosen psychotischer Symptome

2.3 Psychische Klärung

2.4 Explorationstechniken

3 Krankheitsbilder und Behandlung

3.1 Einteilung und allgemeine Behandlungsempfehlungen

3.2 Behandlungsmethoden und -verfahren

3.3 Klinische Besonderheiten

4 Therapeutische Basisverfahren

4.1 Allgemeine ressourcenorientierte Therapietechniken

4.2 Allgemeine körperorientierte Techniken

4.3 Allgemeine psychotherapeutische Techniken

4.4 Chronobiologisch orientierte Therapien

4.5 Biologische Therapieverfahren

4.6 Handlungsorientierte und kreativtherapeutische Verfahren

5 Alternative Versorgungsmodelle

5.1 Integrative Versorgungsmodelle

5.2 Niederschwellige psychosoziale und/oder psychotherapeutische Versorgungsmodelle

6 Vom Leben – Der Schattengänger

7 Literatur

Stichwortverzeichnis

Vorwort

 

 

Eine weit verbreitete Vorstellung unter Therapeuten ist, dass eine Psychotherapie bei Psychosen nicht indiziert sei. Doch stimmt das?

Was ist überhaupt eine Psychose und was ist Psychotherapie? Dürfen Patienten mit einer Psychose psychotherapeutisch behandelt werden und wie geht das?

Der kompakte Leitfaden nimmt zunächst eine differenzierte Betrachtung der unterschiedlichen Psychosen vor. Davon abgeleitet werden wesentliche psychotherapeutische Interventionstechniken praxisorientiert beschrieben und störungsspezifische Besonderheiten benannt. Therapeutische Basisverfahren werden insoweit vorgestellt, wie sie für die Behandlung von Psychosen relevant sind. Abschließend werden alternative Versorgungsstrukturen diskutiert.

Auf der Basis eines breiten diagnostischen und therapeutischen Ansatzes gibt der Leitfaden einen gleichermaßen kompakten wie profunden sowie wissenschaftlich aktuellen und klinisch ausgerichteten Überblick zu einem von der Fachliteratur bislang häufig vernachlässigten Thema, das durch die neue Psychotherapie-Richtlinie an zusätzlicher Versorgungsrelevanz gewonnen hat.

Wolfgang Jordan im Mai 2018

 

1          Krankheitslehre

 

 

1.1       Der psychiatrische Krankheitsbegriff

 

Woher nehme ich die Sicherheit, dass der Patient mir gegenüber schizophren ist und ich es nicht selbst bin?

Was ist überhaupt eine psychiatrische Erkrankung? Ein objektiver Gegenstand, eine Realdefinition, oder ein begriffliches Konstrukt, d. h. eine Nominaldefinition, oder nur eine individuelle Reaktion, eine Lebensform, also eine biographische Definition?

Das gegenwärtige Krankheitsverständnis gemäß der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) beruht auf den beiden zuletzt genannten Definitionen. Aber unverändert besteht die Vorstellung, dass »Geisteskrankheiten« nicht medizinisch einzuordnen seien, sondern als begründete Verhaltensweisen in einem konkreten sozialen System anzusehen, sprich höchstens moralische Probleme sind (Szasz 2013).

Der Krankheitsbegriff in der Psychiatrie ist durch die ausgeprägte Verschränkung mit dem gesellschaftlichen und politischen Umfeld bestimmt. Diagnosen werden zum Teil stigmatisierend verwandt, was zu Kontroversen und Entwicklung einer »Anti-Psychiatrie«-Haltung führte. Demgegenüber ist eine »Anti-Somatik-Bewegung« in der Bevölkerung wenig vorstellbar. In Japan wird darüber diskutiert, die Schizophrenie in eine Störung der Einheit des Selbst umzubenennen (Umehara et al. 2011), oder als Spektrum zu sehen (Guloksuz und van Os 2018) und darüber den Begriff ganz abzuschaffen. Ist die Schizophrenie überhaupt eine Erkrankung (Read et al. 2004), d. h. gibt es eine Kernerkrankung (Parnas 2011) im Sinne Kraeplins? Von Dr. Knock aus dem Bühnenstück von Jules Romain (Uraufführung 1923) wissen wir, dass einige Erkrankungen nicht bestehen, bis wir sie akzeptieren, wahrnehmen, benennen und behandeln bzw. mit ihnen Geld verdienen (Romain 2001). Vielleicht benötigt es ein neues Verständnis für psychische Erkrankungen (Heinz 2017), soziale Neurowissenschaften, die Symptome erforschen statt Krankheiten? Die klassische Psychopathologie nach Jaspers scheint ausgedient zu haben. Kritikern zu Folge wird sie dem Subjekt nicht gerecht, ist zu vage, nicht ausreichend wissenschaftlich fundiert, trägt zu Pathologisierung und Medikalisierung bei und ist zudem manipulations- und missbrauchsgefährdet.

Das National Institut of Mental Health hat im Jahr 2009 in den Vereinigten Staaten das Research Domain Criteria (RDoc) Projekt gestartet, um Befunde aus der neurobiologischen Forschung mehr zu berücksichtigen und Grundlagenforschung und klinische Forschung wieder stärker zusammenzuführen (Jäger 2015). Dieser neue datengetriebene Ansatz könnte anstelle einer nosologischen Einteilung wie bislang zu einer diagnostisch nutzbaren Clusterung aus integrierenden Daten zu Genetik, Neurobiologie, Hirnaktivität, Immunologie, Verhaltensprozesse und Lebenserfahrungen führen (Insel und Cuthbert 2015; Clementz et al. 2016; Clementz 2016; Strik et al. 2017). Gehirnmorphologische Biomarker können z. B. zwischen einer unipolaren und bipolaren Depression unterscheiden (Redlich et al. 2014) oder zur Vorhersagbarkeit von therapeutischen Verfahren genutzt werden (Redlich et al. 2016; Hahn et al. 2015; 2017; Lueken et al. 2013).

Das menschliche Gehirn ist über Areale organisiert. Diese sind Teile eines großen Netzwerkes mit eigener Dynamik und komplexen Effekten. Die zugehörigen Funktionen lassen sich nicht in psychologische Termini fassen. Einfache Begrifflichkeiten wie Aufmerksamkeit, Emotionen oder Halluzinationen kommen dem Verständnis der Hirnfunktion nicht nahe. Mittlerweile besteht eine deutliche Divergenz zwischen der Grundlagenforschung und der klinischen Psychiatrie, so dass es an der Zeit ist, eine gemeinsame Sprache zu finden. Wir sollten nicht vergessen, dass das Gehirn ein Beziehungsorgan ist (Fuchs 2016). Psychiatrische Diagnostik und Therapie sind somit nicht nur Technik, sondern immer eingebunden in eine Beziehung. Die Psychiatrie ist eine Abschätzung der Behandlungsmöglichkeiten. Der (RDoC)-Ansatz einschließlich einer sozialen Neurowissenschaft stellt eine zukunftsweisende diagnostische Option dar.

Merke

Die Natur kennt keine Sprünge. Der Übergang zwischen pathologisch und physiologisch ist stets fließend. Eine Hirnfunktion ist Netzwerkstruktur und -dynamik, d. h. immer reduktionistisch zu sehen. Psychiatrische Diagnosen sind gegenwärtig begriffliche Konventionen. Die psychiatrische Diagnostik erfordert eine Multiperspektive. In einem wissenschaftlichen Diskurs sollten die Methoden miteinander und nicht gegeneinander reden.

 

1.2       Definition einer »Psychose«

 

Der Begriff »Psychose« ist unspezifisch, vergleichbar »Herzkreislaufproblemen« in der somatischen Medizin. Hierunter können sich dann sehr unterschiedliche Krankheitszustände wie Herzinfarkt, Herzrhythmusstörungen, Blutdruckentgleisungen oder nur einfache orthostatisch bedingte Synkopen verbergen. Psychose ist eine sehr allgemeine Bezeichnung für viele Formen psychischen Andersseins und psychischer Krankheit, die teils durch erkennbare Organ- oder Gehirnerkrankungen hervorgerufen werden oder deren organische Grundlagen hypothetisch sind (z. B. sog. endogene Psychosen) (Peters 1990). Mit Begründung der Psychoanalyse wurde eine Trennung zur »Neurose« vorgenommen, wobei in einzelnen Fällen die Abgrenzung schwierig sein kann. Als Unterscheidungskriterien dienen Schweregrad der psychischen Auffälligkeiten, z. B. in den USA lange die Notwendigkeit einer stationären Unterbringung, Besonderheiten in der Symptomatik wie bizarre Verhaltensweisen, fehlende Nachvollziehbarkeit des Erlebens, Kommunikationsstörungen oder mangelnde Krankheitseinsicht. In der deutschen Psychiatrie bestand die Vorstellung einer krankhaften hirnorganischen Veränderung als Ursache, welche sich in Zeit- und Verlaufskriterien zur diagnostischen Klassifikation niederschlägt (Dilling et al. 2005).

Insbesondere Wahn, aber auch Halluzinationen und formale Denkstörungen werden oft als Merkmal einer Psychose benannt. Letztendlich können alle psychotischen Ausgestaltungen den Bereichen »Sprache«, »Affekte« und »Motorik« zugeordnet werden, welche als gemeinsame Basis der zwischenmenschlichen Kommunikation dienen. In einer weit gefassten Definition kann eine Psychose als eine Störung der Realitätsbezüge verstanden werden. Der Charme dieser Auslegung besteht in der Annahme eines Kontinuums seelischen Erlebens, von normalen Reaktionsformen des Gehirns zu funktionellen und weiter strukturellen Veränderungen, die gegebenenfalls auch morphologisch als Defekt nachweisbar sind.

Psychotisches Erleben findet sich somit auch bei psychisch gesunden Menschen, z. B. optische Halluzinationen nach Schlafentzug, bei Migräne, Epilepsie, hohem Fieber, Überdosierung gewisser Medikamente, bei Drogenkonsum, oder Depersonalisations- und Derealisationserleben bei Schlaftrunkenheit, Verliebtsein, Liebeskummer, Stress oder auch Deprivation und Reizentzug. Psychotisches Erleben von Gesunden unterscheidet sich nicht grundlegend von dem schizophrener Menschen, auch diese sind in der Lage, Trugwahrnehmungen als irreal zu erkennen. Im Gegensatz zu Gesunden benötigen sie jedoch hierfür Unterstützung.

Psychotisches Erleben kommt weiterhin bei unterschiedlichen Persönlichkeitsstörungen, affektiven, schizophrenen und wahnhaften sowie hirnorganisch bedingten Störungen vor.

Merke

Eine Psychose ist eine Störung der Realitätsbezüge. Psychotisches Erleben ist eine relativ eingeschränkte, unspezifische Reaktionsform des Gehirns auf unterschiedliche innere oder äußere Reize. Psychotisches Erleben findet sich auch bei Gesunden.

 

1.3       Entstehung von Psychosen und psychotischer Symptome

 

Unter einer Psychose werden diagnostisch heterogene Störungsbilder verstanden. Der Psychose-Begriff findet zumeist Anwendung für das Auftreten von Halluzinationen und Wahn, mitunter werden auch Ich-Störungen und formale Denkstörungen umfasst. Die ätiopathogenetischen Grundlagen sind unklar, es wird aber von einem Zusammenwirken organischer Krankheitsursachen mit psychosozialen Faktoren ausgegangen. Die Gewichtung, mehr zu einem neurobiologischen oder psychosozialen Pol hin, ist nicht nur akademischer Natur, sondern beschreibt unterschiedliche Erkrankungen mit unterschiedlichen Anforderungen an den Therapeuten. Mit fließendem Übergang lassen sich organisch/hirnorganisch bedingte Psychosen, strukturbedingte Psychosen, konfliktbedingte Psychosen, reaktivbedingte und traumabedingte Psychosen abgrenzen. Die Plastizität des Gehirns beinhaltet nicht nur, dass bestehende Defizite teilweise von anderen Hirnregionen abgedeckt werden können, sondern auch, dass durch eine gezielte Beeinflussung selbst strukturelle Veränderungen möglich sind.

Für die schizophrenen, die schizoaffektiven und die bipolar affektiven Störungen ist eine genetische Beteiligung bekannt (Glessner et al. 2017; Charney et al. 2017; Schizophrenia Working Group of the Psychiatric Genomics Consortium 2014). Obwohl mittlerweile eine Vielzahl von Risikogenen identifiziert werden konnte, haben einzelne Gene nur einen geringen Einfluss auf das Erkrankungsrisiko. Die hohe Heritabilität ist somit nicht hinreichend, eine solche Erkrankung zu entwickeln. Verschiedene Umweltfaktoren sind vermutlich ebenfalls von Bedeutung. Möglicherweise verändern sie durch DNA-Methylisierung (Montano et al. 2016) und Histonacetylierung die Ableserate der beteiligten Gene. Die abgeänderte epigenetische Regulation könnte eine Modifikation der neuronalen Entwicklung und darüber auch der Neurotransmission verursachen. Das Auftreten psychopathologischer Symptome wäre letztendlich die Konsequenz (Buchholz et al. 2013).

Daneben könnten Umweltfaktoren über hormonelle, entzündliche, immunologische oder neurotoxische Prozesse direkt die Hirnentwicklung und damit auch die neuronale Informationsverarbeitung beeinflussen. So ist bei Patienten mit einer Schizophrenie oder anderen Psychosen eine Aktivierung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse) als Folge von chronischem Stress, Cannabiskonsum oder im Rahmen entzündlicher Reaktionen bekannt (Walker et al. 2013). Eine Dysregulation des Immunsystems und oxidativer Stress scheinen ebenfalls pathophysiologisch bedeutsam zu sein (Haller et al. 2014; Goldsmith et al. 2016; Jordan et al. 2016; Black et al. 2015; Flatow et al. 2013; Michel et al. 2012; Miller et al. 2011; Palta et al. 2014; Popa-Wagner et al. 2013), weiterhin besteht zumindest für eine Untergruppe von Patienten ein Zusammenhang mit Antikörpern gegen den N-Methyl-D-Aspartat glutamatergen Rezeptor (NMDA-Rezeptor) (Steiner et al. 2013; Kovac et al. 2018).

Zahlreiche hirnmorphologische und -funktionelle Veränderungen sind mittlerweile für Psychosen bei schizophrenen, schizoaffektiven und bipolaren Patienten beschrieben (Andreasen et al. 2008; Lefort-Besnard et al. 2018; Pezzoli et al. 2018; Walton et al. 2018; 2017; Altamura et al. 2017; Eggins et al. 2018; Wise et al. 2017). Es benötigt jedoch die Analyse großer Datensätze, um Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten, was sicherlich auch am gegenwärtigen Klassifikationssystem und der Heterogenität der DSM- oder ICD-Diagnosen liegt.

Die Identifikation klar unterscheidbarer »Biotype für Psychose« mit Hilfe ZNS-basierter Biomarker gibt Aufschluss darüber, dass mehrere pathophysiologische Wege zur Manifestation einer klinisch ähnlichen Psychose führen können (Clementz et al. 2016).

Möglicherweise ist der Einfluss ungünstiger Umweltfaktoren umso größer, je früher sie in der Entwicklung auftreten. Für Geburts- und Schwangerschaftskomplikationen, Viruserkrankungen und Mangelernährung der Mutter während der Schwangerschaft, aber auch körperlichen und psychischen Störungen in der frühkindlichen Entwicklung sowie psychosozialen Belastungen in der Kindheit konnte ein erhöhtes Risiko gefunden werden (Belbasis et al. 2018; Dean und Murray 2005; Mäki et al. 2005). Es ist davon auszugehen, dass die negative frühkindliche Einwirkung zu funktionellen Störungen führen kann und auch mit diskreten Hirnschädigungen einhergeht. Die Auswirkungen tragen zu einer gestörten neuronalen Entwicklung bei, die dann mit der Hirnreifung in der Adoleszenz offensichtlich wird. Da belastende Lebensumstände aus der frühen Kindheit oft bis in das Erwachsenenalter reichen, stellen sie eine Potenzierung einer möglichen Fehlentwicklung der Persönlichkeit dar, wobei es dann zu einer wechselseitigen Beeinflussung kommen kann. Oder Traumata wie sexueller Missbrauch, körperliche Gewalt oder schwere Vernachlässigung in der Kindheit verändern selbst die Epigenetik, wie am Beispiel der Regulation des Glukokortikoidrezeptors gezeigt werden konnte (McGowan et al. 2009).

Hieraus leitet sich die Notwendigkeit ab, nicht nur ausreichend psychosoziale Unterstützungsangebote für werdende Eltern vorzuhalten, sondern auch präventiv wirksam zu intervenieren, insbesondere wenn diese selbst psychisch erkrankt sind (Jordan et al. 2012; Jordan 2018). Unabhängige Risikofaktoren in der Adoleszenz oder dem frühen Erwachsenenalter scheinen im Wesentlichen durch einen Missbrauch von Stimulantien und Cannabis begründet (Belbasis et al. 2018), wahrscheinlich über eine Sensibilisierung des dopaminergen Systems (Dean und Murray 2005; Mäki et al. 2005).

Die Dichotomie der Schizophrenie zeigt, dass es unterschiedliche Phänotypen des Verlaufs gibt (Craddock und Owen 2010). Mittlerweile wird davon ausgegangen, dass viele Verbindungen zwischen kindlichen Traumatisierungen und der Entwicklung einer Psychose bestehen (Hardy et al. 2016; Isvoranu et al. 2017), insbesondere affektive mit Angst als dem wesentlichen Bestandteil, aber auch Impulskontrollstörungen und körperliche Retardierung scheinen von Bedeutung zu sein und stehen in Beziehung zu anderen psychopathologischen Symptomen. Sexueller Missbrauch in der Kindheit könnte das Risiko für akustische Halluzinationen erhöhen, wohingegen ein emotionaler Missbrauch in Zusammenhang mit der Entwicklung von Wahnvorstellungen gesehen wird (Hardy et al. 2016).

Vom psychosozialen Pol aus betrachtet liegt die Ätiologie psychogener, auch psychotischer Störungen in ungünstigen Umwelteinflüssen, die nicht bewältigt werden können. Sie treffen auf eine gesunde Persönlichkeit oder auf jemanden mit unterschiedlich ausgeprägten strukturellen Einschränkungen, d. h. einer verminderten Bewältigungsfähigkeit.

Auch im gesunden Leben finden sich reaktive Störungen. Sie treten als Reaktionen auf übermäßige Belastungen auf, wobei bei dem Betroffenen keine besondere Disposition besteht. Psychosen sind bei reaktiven Störungen selten und zumeist nur kurz andauernd, können aber durchaus vorkommen.

Posttraumatische Belastungsstörungen entstehen durch einmalige oder anhaltende Traumatisierungen in verschiedenen Lebensabschnitten. Anhaltende frühe Traumatisierungen sind als ungünstiger für die Entwicklung einer Psychose anzusehen.

In der psychoanalytischen Lehre wird zwischen Konflikt und Struktur unterschieden. Konflikte bezeichnen unlösbare Gegensätze widersprüchlicher Motivationen. Misslungene Konfliktlösungen stellen ein Risiko für die Entstehung einer Konfliktpathologie dar (Ermann 2016). Konfliktstörungen beruhen auf fixierten, unbewussten Konflikten, die ihren Ursprung in der Kindheitsentwicklung nehmen. Psychotisches Erleben ist eher selten, allenfalls passager, eingebunden z. B. in eine narzisstische oder depressive Persönlichkeitsstörung.

Unter einer Struktur wird ein überdauerndes Muster, mit denen der Mensch sich zu sich selbst und seinen Objekten in Beziehung setzt, verstanden. Sie äußert sich in basalen Fähigkeiten wie der Regulation von Beziehungen, Affekten, Impulsen und im Selbstwertgefühl (Ermann 2016). Strukturstörungen liegt eine Entwicklungspathologie zugrunde, die durch Mangelerfahrungen in den vulnerablen Phasen der frühkindlichen Entwicklung bedingt wurde. Psychotische Zustände können im Rahmen der für diese Konstellation typischen Persönlichkeitsstörungen, z. B. Borderline-Persönlichkeitsstörung, schizoide, paranoide und schizotypische Persönlichkeitsstörung auftreten. Der Übergang zu Psychosen i. e. S. ist fließend.

Die frühkindliche Entwicklung ist von Abstimmungsprozessen zwischen dem Kind und seiner Bezugsperson, z. B. der Mutter, abhängig. Gelingen diese nicht, kann es im weiteren Verlauf zu psychischen Auffälligkeiten kommen. Deren Ausprägung steht im engen Zusammenhang mit der Entwicklungsphase, die ungünstig durchlaufen wurde.

Im ersten Lebensjahr steht die sensorische Entwicklung im Vordergrund. Innere und äußere Reize werden die ersten drei Monate zunächst als Wahrnehmungen des Selbst verstanden. Allmählich bilden sich einfache Verhaltensmuster aus und die primäre Betreuungsperson wird bevorzugt. Das Kind ist darauf angewiesen, in Beziehung zu gehen und eine Kommunikation herzustellen. Das zentrale Beziehungsthema ist Bindung. Nach Rudolf (2013) besteht ein Grundkonflikt der Nähe, welcher gekennzeichnet ist durch den Wunsch nach Nähe und der zugehörigen Angst vor Überwältigung. Die Ich-Organisation ist fragil. Objekte werden zur Spiegelung des eigenen, auftauchenden Selbst benötig, die Beziehungsstruktur ist noch symbiotisch angelegt. Das Trieberleben ist auf die Versorgung intentionaler Grundbedürfnisse ausgerichtet. Dabei wird die versorgende Person in Teilobjekte mit unterschiedlichen Funktionen entsprechend der jeweiligen Bedürfnisse erlebt. Die zugehörigen Kernängste sind dementsprechend Verschmelzungs- und Fragmentierungsangst, später auch Verfolgungsangst. Bei noch unzureichend ausgebildeter Ich-Funktion können widersprüchliche Wahrnehmungen und Einstellungen noch nicht integriert werden, wodurch gespaltene Repräsentanzen und Identitätsdiffusion entstehen. Spaltung ist der vorherrschende Abwehrmechanismus. Der Gedächtnismodus funktioniert noch prozedural-implizit, d. h. sensorische Reize und basale Beziehungserfahrungen werden ohne zugehörige Begrifflichkeit präsemantisch als prozedurales Wissen abgespeichert. Störungen in dieser sensiblen Phase durch Vernachlässigungen, emotionale Mangelerfahrungen oder psychische Erkrankungen der Bezugspersonen ziehen schwere Entwicklungsschäden nach sich. Sie zeigen sich in defizitären strukturellen Fähigkeiten hinsichtlich der Selbstregulation, der Nähe-Distanz-Regulation und einem gestörten Körpergefühl. Im weiteren Verlauf können Strukturstörungen, vornehmlich schizoide Persönlichkeitsstörungen entstehen. Es wird angenommen, dass solche Störungen in der frühen Entwicklung auch den psychischen Anteil bei der Entstehung von Psychosen ausmachen (Ermann 2016).

Mit einem halben bis anderthalb Jahren setzt die Individuationsentwicklung ein. Das Trieberleben ist auf die Befriedigung oraler Bedürfnisse ausgerichtet. Die Realisierung des eigenen Getrenntseins von der Umgebung löst den Grundkonflikt der Bindung (Depressiver Grundkonflikt) (Rudolf 2013) aus. Der Säugling beginnt zu realisieren, dass versorgende Bezugspersonen, Objekte, nicht permanent verfügbar sind. Es entstehen Verlassenheitsängste und ggf. auch Verfolgungsängste, wenn die eigene nicht aushaltbare Wut in die Bezugsperson projiziert wird. Die innere Befindlichkeit und die Umwelt werden polarisiert, als schwarz/weiß oder gut/schlecht, wahrgenommen, wodurch das Abbild einer gespaltenen Welt entstehen kann. Paranoid-schizoide Persönlichkeitsentwicklungen sind typisch für diese frühe Individuationsphase. Mit Beginn des Spracherwerbs zum Ende dieser Phase hin kann das Erleben sprachlich symbolisiert werden, der Gedächtnismodus wird deklarativ-explizit. Erlebnisse werden nun bewusst erinnert, Erfahrungen, explizites Wissen, wird darüber abrufbar und kann berichtet, deklariert, werden. Das Spaltungserleben nimmt ab, wodurch das eigene Selbst und die Anderen, Objekte, sowie die Umwelt realistischer wahrgenommen werden. Die ursprüngliche Verfolgungsangst kehrt sich um in die Angst, verlassen zu werden. Wenn die Individuation nicht sicher bewältigt werden kann, bleiben die genannten Auffälligkeiten wie Spaltungserleben, Fragmentierungsängste und Objektangewiesenheit bestehen, was in eine Persönlichkeitsorganisation auf niederem Strukturniveau, z. B. eine Borderline-Persönlichkeitsstörung, münden kann.

Merke

Das angeborene frühkindliche Bindungsverhalten soll die Beziehung zu emotional verfügbaren zuverlässigen Betreuungspersonen sichern, auf die der Säugling existenziell angewiesen ist. Es gerät in Gegensatz zu dem sich später entwickelnden kindlichen Explorationsverhalten. Je früher Abweichungen in der vulnerablen Phase der frühkindlichen Entwicklung auftreten, umso größer können deren Folgen sein.

Die Autonomieentwicklung vollzieht sich zwischen dem zweiten und vierten Lebensjahr. Sie geht mit einer Zunahme der neurologischen Funktionen, der Sphinkterkontrolle für Ausscheidungsvorgänge und Reifung der Motorik, einher. Das Kleinkind kann sich aus der passiven Versorgung entziehen und eigene selbstbehauptende oder expansive Bedürfnisse verfolgen, z. B. trotziges Stuhlverhalten, aggressives Einnässen oder Weglaufen. Das Trieberleben ist oralaggressiv und analaggressiv bestimmt. Aus dem Zuwachs an Möglichkeiten ergibt sich der Grundkonflikt der Autonomie (Rudolf 2013). Autonomiewünsche stehen der Angst vor Objektverlust entgegen. Trennungs-, Objektentzugs- und Verlustangst bilden sich als Kernängste heraus. Zu dem Abwehrtyp der Spaltung tritt die Verdrängung hinzu. Mit der Zunahme kognitiver Funktionen erwirbt das Kind auch die Fähigkeit, eigene Befindlichkeiten und Absichten zu reflektieren und sich in andere hineinzuversetzen, sich ein Bild von ihren Intentionen, Gedanken und Gefühlen zu machen, eine Theory of Mind entsteht (Fonagy et al. 2002). Wenn der Autonomiekonflikt nur unzulänglich gelöst werden kann, finden eine Fixierung auf der Entwicklungsstufe und eine Regression statt. Der Betreffende wird sich später an die Bedürfnisse des Anderen anpassen und eigene expansive Bestrebungen selbstverleugnen. Die eigene Identität kann nicht ausreichend entwickelt werden, es bilden sich eine typische Objektabhängigkeit und ein falsches Selbst aus. Hierdurch ergibt sich die Disposition für eine depressive oder narzisstische Pathologie auf dem mittleren Strukturniveau. Klinische Manifestationen sind narzisstische und depressive Persönlichkeitsstörungen, Ess- und Verhaltensstörungen sowie funktionelle Störungen (Ermann 2016).

Die präödipale Entwicklungsphase reicht vom dritten bis zum fünften Lebensjahr und wird von der ödipalen Entwicklung zwischen dem vierten und siebten Jahr abgelöst. Die Ausbildung einer psychosexuellen Identität ist für beide Phasen das zentrale Entwicklungsthema. Ist die Beziehungsgestaltung präödipal noch triadisch zwischen dem Selbst und zwei sich ablösenden Liebesobjekten, Mutter und Vater, angelegt, so beginnt ödipal eine ausgewogene Dreiecksbeziehung. Der Prozess der Triangulierung ist in Zusammenhang mit dem Grundkonflikt der Identität zu sehen (Rudolf 2013). Ein Scheitern führt zur Fixierung von Liebesverlust- und Trennungsängsten. In der ödipalen Entwicklung kommt es zu einem libidinösen Rivalitätskonflikt, üblicherweise zunächst mit der gleichgeschlechtlichen Bezugsperson, später auch zu anderen Personen in der familiären Konstellation. Hieraus ergibt sich eine Angst vor Bestrafung, welche in der unbewussten kindlichen Vorstellung auch die Kastration beinhaltet. Mit der weiteren Verinnerlichung konkret strafender Bezugspersonen wird sie von der Gewissensangst abgelöst. Fixierungen in der präödipalen oder ödipalen Entwicklung stellen eine Disposition zur Entstehung von Konfliktstörungen auf höherem Strukturniveau dar. Hierunter können psychische Störungen und Persönlichkeitsstörungen vornehmlich mit hysterischen oder zwanghaften Zügen fallen (Ermann 2016).

Merke

Die Entwicklung der Fähigkeit zur Selbst- und Affektregulation erfolgt durch Spiegelung und frühe Interaktionserfahrungen in einer sicheren Bindung. Ein guter Therapeut benötigt hinreichende Kenntnisse über entwicklungspsychologische Grundlagen und Gesetzmäßigkeiten im Ablauf, um Störungsmuster erkennen zu können.

Für das Verständnis zur Entwicklung psychotischer Störungen ist es wichtig sich zu verdeutlichen, dass die neurobiologische Reifung einer erfahrungsbedingten Ausgestaltung unterliegt. Dabei sind die frühkindlichen Erfahrungen zu den wesentlichen Bezugspersonen besonders bedeutsam. Die Qualität der Bindung entscheidet über spätere Fähigkeiten zur Affektregulierung und Mentalisierung. Bindung umfasst dabei die Gewissheit, dass die Bezugspersonen verfügbar sind, und, dass die Art ihrer Zuwendung den Bedürfnissen, d. h. dem Entwicklungsstand des Kindes, angemessen ist. Die ersten anderthalb bis zwei Jahre, in denen die Grundstruktur der Persönlichkeit, des eigenen Selbst, angelegt wird, gelten als ausnehmend vulnerabel. Störungen können auf der kindlichen Seite durch angeborene oder erworbene neurobiologische Funktionsstörungen bestehen, durch die Bezugspersonen bedingt sind hingegen Vernachlässigung, Trennung, Missbrauch, eigene Krankheit, Konflikte oder ungünstige Lebensumstände zu nennen.

Merke

Physische und psychische Gewalt kann Kinder dauerhaft prägen. Gewalterlebnisse und fehlende emotionale Zuwendung nehmen z. B. Einfluss auf die Genaktivität im Hippocampus und verändern darüber Stressgene. Solche »epigenetische« Veränderungen können an die nachfolgende Generation vererbt, also von den Eltern an ihre Kinder weitergegeben werden.

Eine unzureichende Unterstützung der Bezugsperson, z. B. eine inadäquate Spiegelung eigener Affekte, bewirkt, dass physiologische Abläufe und Emotionen zwar stattfinden, aber im eigenen Erleben nicht bewusst integriert werden können. Kausale Zusammenhänge zwischen körperlichen Prozessen und eigenen Vorstellungen bzw. zwischen eigenen und in der Umwelt ablaufenden Prozessen können nicht hergestellt werden, der »Sense of Agency«, die Wahrnehmung einer Handlungsvollmacht ist beeinträchtigt. Die Bezugsperson, der Gegenüber, übernimmt somit eine strukturbildende Funktion. In Abhängigkeit von der Gestaltung der Eltern-Kind-Beziehung einwickelt sich die Fähigkeit des Kindes, ein positives, kompetentes Selbstbild aufzubauen, eine eigene Identität zu finden, Affekte zu regulieren und ausreichend über sich und andere mentalisieren zu können.

Einigen Theorien zu Folge könnte die Ausbildung einer paranoiden Symptomatik in Zusammenhang mit einem Theory-of-Mind-Defizit stehen (Brune 2005; Kronbichler et al. 2017; Knorr und Hoffmann 2018). Dysfunktionale Einstellungen zur eigenen Person und Umwelt, erhöhte Kränkbarkeit in sozialen Interaktionen und Insuffizienzerleben gehen mit einem ängstlich gefärbten, misstrauischen Denkstil einher. Wenn die Fähigkeit zur Mentalisierung vermindert ist, kommt es zu vorzeitigen oder verzerrten Schlussfolgerungen (Garety und Freeman 1999; Freeman und Garety 2014). Diese können auch auftreten, wenn der Betreffende Schwierigkeiten hat, Ungewissheit, Unsicherheit und kulturelle Unterschiede auszuhalten (Colbert und Peters 2002). Die Wahrnehmung der Realität wird subjektzentriert, d. h. Veränderungen der Umwelt werden auf sich selbst bezogen. Die Umgebung nimmt einen feindlich-bedrohlichen Charakter an. Aber auch anderweitige strukturelle Hirnveränderungen können zur gestörten Mentalisierung beitragen, so ist bei schizophrenen Patienten eine Veränderung der Areale für Gesichtserkennung beschrieben (Caspers et al. 2015). Möglicherweise liegt hier auch eine neurobiologische Basis für das Capgras-Syndrom. Jedenfalls wird der Betroffene zum Schutz seines Selbst sich zurückziehen und dabei in eine passive Haltung geraten. Diese wird eine korrigierende Erfahrung verhindern und zur Festigung der Defizite beitragen.

Patienten mit akustischen Halluzinationen zeigen Veränderungen in den Areas für Akustik und Sprache (Kompus et al. 2011). Akustische Halluzinationen stehen möglicherweise in Zusammenhang mit einer motorisch unterschwelligen Sprachaktivierung, wobei die »innere« Stimme fälschlicherweise auf eine externe Quelle zurückgeführt wird, also eine Störung des Sense of Agency besteht (de Sousa et al. 2016). Weiterhin konnte im primär auditorischen Cortex eine Aktivierung von Heschl´s Gyrus gefunden werden (Dierks et al. 1999).

Wenn eigene Anteile, Gedanken und Handlungen, in dem Gegenüber externalisiert werden, kann es zur Ausbildung von Ich-Störungen kommen. Neben einem projektiven Abwehrmechanismus zur Stabilisierung des eigenen fragilen Selbstwertgefühls scheinen auch neurobiologische Regulationsstörungen mit einem verminderten Sense of Agency beteiligt zu sein (Frith 2005; Postmes et al. 2014). Inwieweit auch dysfunktionale Überzeugungen bezüglich des eigenen Denkens (Metakognitionen) an der Entstehung von Wahn, Halluzination und Ich-Störungen involviert sind, ist noch nicht abschließend geklärt.

Auch für das Auftreten der typischen formalen Denkstörungen finden sich neurobiologische Korrelate (Kircher et al. 2018). Bei Patienten mit einer Schizophrenie scheint die funktionelle Konnektivität unter Einbezug der unteren frontalen Gyri (Broca`s Area) und des Frontallappens verändert. Auffälligkeiten im frontalen Sprachnetzwerk bestehen bereits zu Beginn der Erkrankung (Li et al. 2017). Der Schweregrad positiver formaler Denkstörungen zeigte zudem eine inverse Korrelation mit der Aktivität in der Wernicke Area (Kircher et al. 2001; 2002). Eine Minderung der Dicke des Cortex, v. a. im linken Temporallappen, soll ebenfalls in Zusammenhang mit der Ausbildung formaler Denkstörungen stehen (Horn et al. 2010; Palaniyappan et al. 2015), wobei als Folge einer synaptischen Rarifizierung die glutamerge Transmission gestört sein könnte (Nagels et al. 2017). Weiterhin ließen sich ein Genlocus und eine Störung eines Transkriptionsfaktors als Risiko für formale Denkstörungen identifizieren (Thygesen et al. 2015). Eine Metaanalyse zu formalen Denkstörungen bei schizophrenen und bipolar affektiven Patienten konnte keinen Unterschied für positive formale Denkstörungen im akuten Stadium finden, lediglich im stabilen Stadium gab es mehr positive Denkstörungen bei schizophrenen Patienten, die auch stärkere negative Denkstörungen aufwiesen (Yalincetin et al. 2017). So ist davon auszugehen, dass formale Denkstörungen unspezifisch sind und auch bei anderen Spektrumerkrankungen auftreten, zumal eine Abhängigkeit zur neuropsychologischen Leistungsfähigkeit besteht (Docherty 2012).

»Die Psychose ist ein Kunstwerk der Verzweiflung« (Jakob Klaesi). Diese Aussage verdeutlicht, dass eine Psychose nicht nur eine rein passive Reaktionsform eines strukturell gestörten Gehirns darstellt, sondern dass es eine Subjektivität im psychotischen Erleben gibt. Die Psychose wäre dann eine aktive Abwehrleistung einer existenziell wahrgenommenen Bedrohung mit einem klar lebensgeschichtlichen Bezug. Der Patient konnte sich zu einem Zeitpunkt nur so und nicht anders entwickeln.

Merke

Die Betrachtung psychotischen Erlebens als eine kreative Abwehrleistung betont ein vorsichtiges Vorgehen, dieses nicht nur zu beseitigen, sondern auch eine alternative Gegenwelt aufbauen zu müssen.

Nach Mentzos (2005) sind die meisten psychotischen Symptome Teile und Komponenten von Abwehr- und Kompensationsmechanismen, die sich gegen eine unerträgliche innere Spannung richten. Die Spannung ist die Folge einer intrapsychischen Gegensätzlichkeit, also eines Konfliktes oder eines Dilemmas. In seinem Bipolaritätsmodell beschreibt er das Dilemma, ein selbständiges autonomes Selbst zu bilden und sich gleichzeitig dem Objekt anzunähern. Unter bestimmten ungünstigen psychosozialen und zum Teil auch biologischen Bedingungen ist dieser eigentlich normale Prozess nicht möglich. Die Psychose übernimmt in der weiteren Entwicklung eine Lösungsfunktion, wobei ein Teil der Persönlichkeit Krankheitssymptome mitgestaltet. Letztendlich stellt die Psychose eine kreative Leistung dar. Wenn innerhalb der Bipolarität zwischen Selbst- und Objektbezogenheit die Selbstidentität verteidigt wird, entstehen autistische und katatone Zustände. Eine Abwehr von zu großer Nähe bis hin zur Verschmelzung mit dem Objekt führt auf Kosten der Selbstidentität zu hebephrenen bzw. fusionellen psychotischen Zuständen. Auch im Verfolgungswahn bildet sich eine entsprechende Kompromisslösung ab, seine starke feindliche Komponente garantiert die Distanz, während die Beziehung, die Bindung zum Objekt in der Verfolger-Verfolgter-Beziehung enthalten ist. Vergleichbar können Halluzinationen durch Abspaltung und anschließender Externalisierung von negativen, »bösen« oder anders nicht erwünschten Introjekten entstehen, wodurch der Konflikt nach außen transportiert wird, ohne den Bezug zu verlieren. Selbst eine psychotische Negativsymptomatik könnte eine verzweifelte Kompromissbildung darstellen. Wenn ein Kranker in einer Beziehungswelt aufgewachsen ist, in der keine Grenzen gewahrt wurden, dann können der Verlust der Phantasie und die Verwerfung vieler Gedanken wie ein Schutzschild durch Sprachlosigkeit erscheinen, wo andere Abgrenzungen versagt haben (Küchenhoff 2015).

In Abhängigkeit des jeweiligen psychodynamischen Ansatzes können sich Psychosen

•  bei defizitär ausgebildeten Selbst- und Objektvorstellungen auf basale Störungen der Beziehungsregulation zwischen Selbst und Objekt begründen (Objektbeziehungstheorie mit verdrängten konflikthaften Objektbeziehungen),

•  eine Folge von narzisstischen Ungleichgewichten sein, z. B. bei unbewussten konflikthaften Bedürfnissen der Selbst-Eltern-Kind-Interaktion mit Einfluss auf die Organisation des Selbst (Selbst-Psychologie),

•  Symptome einer Kompromissbildung bei einer angeborenen oder erworbenen Ich-Schwäche darstellen (Ich-Psychologie) oder

•  als intrapsychische Reaktion einer Konfliktverarbeitung (Konfliktabwehr-Konzept) auftreten.

Schizophrene Psychosen sind Ausdruck schwerer Entwicklungsstörungen. Sie gehen mit existenziellen Ängsten, zu fragmentieren oder die eigene Identität zu verlieren, einher. Entsprechende Ängste sind entwicklungspsychologisch für die frühen Phasen der sensorischen und der Individuationsentwicklung beschrieben und werden auch in Zusammenhang mit schizotypischen, schizoiden oder paranoiden Persönlichkeitsstörungen gesehen. In depressiven Psychosen wird eine tiefe Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit zum Ausdruck gebracht, oft handelt es sich um Reaktionen auf Verlassenheit und damit einhergehendem Verlust des Selbstwertgefühls. Manische Psychosen sind durch megalomanische Größenphantasien und Umtriebigkeit gekennzeichnet.

Psychopathologische Symptome bilden nicht nur komplexe neuronale Funktionsstörungen ab, welche eine diagnostische Eingrenzung ermöglichen. Wird die Gestaltung der psychopathologischen Symptomatik in Bezug zur Lebensgeschichte gesetzt, können ebenso Sinngehalt einzelner Symptome und die Subjektivität des Patienten Ausdruck finden. Manchmal stellen einzelne Symptome auch eine Metapher für die Beschreibung der therapeutischen Beziehung dar, z. B. wenn während der Therapie plötzlich ein Vergiftungswahn aufgetreten ist.

Merke

Schizophrene Psychosen sind misslungene Bewältigungsversuche schwerer Entwicklungsstörungen.

Psychotische Symptome können eine Funktion haben. Sie thematisieren ein negatives Selbstbild und unangenehme Überzeugungen. Sie sprechen das Unsagbare an und haben manchmal das (Üb)erleben anfangs ermöglicht. Sie füllen eine Leere und geben Bedeutung. Ihr Sinn erschließt sich mitunter erst in Kenntnis der Lebensgeschichte.

 

1.4       Definition von Psychotherapie

 

Was ist Psychotherapie? Wer macht Psychotherapie? Wann ist es Psychotherapie und wann bloß ein nettes Gespräch?

Die Vorstellungen, was Psychotherapie eigentlich ist und wer überhaupt psychotherapeutisch tätig ist, unterliegen einem stetigen Wandel und können sich zwischen einzelnen Ländern unterscheiden. Dies ist bei der Interpretation internationaler Studien, z. B. zur Wirksamkeit einzelner psychotherapeutischer Verfahren, zu berücksichtigen. So wird in den USA und in Großbritannien Psychotherapie oft durch Krankenpflegepersonal (Nurses) praktiziert (Winship et al. 2009; Wheeler 2013). Entsprechende Bestrebungen finden sich auch in Deutschland (Voderholzer 2013; Zimmermann et al. 2016; Wabnitz et al 2017). Von Cushing (1913) soll die Aussage stammen: »Alle Ärzte sind Psychotherapeuten«. Im Wörterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie von 1990 wird Psychotherapie als die Behandlung von abnormen Seelenzuständen, psychischen und Körperkrankheiten durch gezielte seelische Einflussnahme, genauer gesagt durch bewusste Ausnutzung der Beziehung zwischen Arzt und Patient definiert (Peters 1990). Ausgeschlossen werden hier die unbewussten oder unbeabsichtigten Beeinflussungen des Kranken, z. B. durch Erklärungen bei der Verabreichung von Medikamenten oder durch die Hoffnungen eines Kranken auf den Erfolg einer Operation. Aber gerade die richtige »psychotherapeutische« Begleitung einer ärztlichen Maßnahme wird zur ihrer Wirkung beitragen.

Bei der Erfassung des komplexen Geschehens in einer psychiatrischen oder psychosomatischen Klinik ist zu bedenken, dass »psychotherapeutische Interventionen« auf unterschiedlichen Ebenen stattfinden können. Auf einer basalen Ebene sind Selbsthilfe und Peer support, z. B. der Austausch mit Mitpatienten, zu sehen. Psychoedukation und kognitive Verhaltenstherapie könnten auf einer höheren Qualifikationsstufe durch einen Berater vorgenommen werden, während eine evidenzbasierte Psychotherapie inklusive einer Biographiearbeit dem ausgebildeten Psychotherapeuten vorbehalten wäre (Fava 2009). Bereits in den 1970er Jahren wurden in England Pflegekräfte zu Verhaltenstherapeuten ausgebildet (Marks et al. 1978). Auch wenn der Fokus der Psychotherapie in den letzten Jahren auf der Entwicklung und Verbreitung neuer Therapieverfahren lag, sollte der therapeutische Einfluss allgemeiner Faktoren in der Psychotherapie nicht unterschätzt werden (Wampold 2015). Sie sind bei der Entwicklung eines theoretischen Konzepts, bei der Beforschung und der praktischen Anwendung gleichermaßen zu berücksichtigen.

Meyer und Hautzinger kennzeichnen Psychotherapie zutreffend als eine »systematische, theoriegeleitete Anwendung von psychologischen Änderungswissen zur Linderung von subjektivem Leiden und Problemen in einem Setting…, in dem mindestens ein Therapeut und ein Patient miteinander kommunizieren« (Meyer und Hautzinger 2004). Die Definition von Senf und Broda (2007) beinhaltet u. a.:

•  Professionelles Handeln

•  mit einem empirisch abgesicherten Verfahren

•  durch eine ausgebildete Berufsgruppe.

Um professionell handeln zu können, sind Kenntnisse in Psychologie, Psychiatrie, Neurobiologie, Medizin und anderen Grundlagenwissenschaften erforderlich.

Merke

Psychotherapie ist eine Behandlung von Krankheiten mit psychologischen Mitteln. Die Interventionen beziehen sich auf eine definierte Theorie und sind zumeist wissenschaftlich begründet. Sie unterscheiden sich von alltäglichen Formen der Einflussnahme. Die Kompetenzen werden in einer anerkannten Ausbildung erworben.

 

1.5       Wirkfaktoren und Wirksamkeit einer Psychotherapie

 

Die Erfahrungen, welche ein Mensch mit seinen frühen, wichtigen Bezugspersonen macht, führen zu Vorstellungen über sich selbst und anderen in nahestehenden Beziehungen. Als bewusste und unbewusste Erinnerungen werden sie verinnerlicht und bilden bei gehäuftem Auftreten entsprechende Repräsentanzen. Diese prägen als innere Arbeitsmodelle Annahmen bezüglich der Vertrauenswürdigkeit und Sicherheit zwischenmenschlichen Verhaltens und bestimmen die Erwartungen an zukünftige Beziehungen (Bowlby 1976). Letztendlich werden sie zu Bestandteilen der Persönlichkeit. Verletzungen von Grundbedürfnissen durch wichtige Bezugspersonen in der frühen Entwicklung sollen für die Ätiologie psychischer Störungen bedeutsam sein (Grawe 2004).

Aus der Untersuchung der wesentlichen Wirkfaktoren der Psychotherapie wird abgeleitet, dass der Gestaltung der therapeutischen Beziehung eine besondere Bedeutung zukommt (Grawe et al. 2001; Grawe 2004). Über die Berücksichtigung früher Bindungserfahrungen werden korrigierende Beziehungserfahrungen möglich. Ungünstige bindungsbezogene Muster können in der Psychotherapie erkannt, verstanden, durchgearbeitet und verändert werden. Die motivationale Klärung führt zur Bewusstmachung impliziter mentaler Prozesse und trägt zur Verbesserung der Mentalisierungsfähigkeit bei. Mit geeigneten Maßnahmen fördert die Therapie, dass der Patient ein klares Bewusstsein der Ursprünge, Hintergründe und aufrechterhaltenden Faktoren seines problematischen Erlebens und Verhaltens gewinnt. Zu den weiteren Wirkfaktoren einer Psychotherapie nach Grawe et al. (2001) zählen die Problemaktualisierung und die Problembewältigung. Bei der Problemaktualisierung werden biographisch geprägte Schemata, d. h. komplexe neuronale Netzwerke aktiviert, um bei der Problembewältigung eine emotionale Verankerung der herausgearbeiteten kognitiven Erkenntnisse zu bewirken (Auszra und Herrmann 2012).

Mit der Veröffentlichung von Kandel (1998) wird verbunden, dass Psychotherapie die Genexpression beeinflussen und darüber auch zu strukturellen Hirnveränderungen führen kann. Durch Real-Time fMRI Untersuchungen an z. B. schwer depressiven Menschen ist bekannt, dass Neurofeedback bereits nach wenigen Anwendungen emotionale Areale aktivieren und nach weiterer Anwendung außerhalb des Scanners zu einer nachhaltigen Verbesserung der Symptomatik beitragen kann (Linden et al. 2012).

 

1.6       Evidenzbasierte Psychotherapien

 

Versuche, das beste Psychotherapieverfahren zu entdecken, haben dazu beigetragen, dass es gegenwärtig rund 400 unterschiedliche Psychotherapiemethoden gibt. Jede Schule beschreibt die Vorteile ihres Verfahrens und beansprucht gerne eine überlegene Wirksamkeit gegenüber anderen Verfahren. Doch selbst die Überprüfung von Metaanalysen zeigt auf, dass die Aussage, eine Therapieform sei der anderen überlegen, nicht mit ausreichender Evidenz zu treffen ist (Wampold et al. 2017). Es ist davon auszugehen, dass die Wirksamkeit einzelner Verfahren auch von der spezifischen Indikationsstellung und der entsprechenden Zuordnung abhängig ist (Watzke et al. 2010; 2012). Abgesehen von Einzelfällen bleibt es trotz zahlreicher Untersuchungen unklar, wie und warum Psychotherapie zu Veränderungen führt (Kazdin et al. 2009).

Seit Mitte der 1980er Jahre hat sich die Studienlage zur Wirksamkeit der Psychotherapie deutlich verbessert. Mittlerweile liegen auch für psychiatrische Störungen mit psychotischer Symptomatik positive Nachweise vor, auch auf Basis von Metaanalysen. Die meisten Verfahren und Wirksamkeitsnachweise sind für die unipolare (Meister et al. 2018; Härter et al. 2018) oder bipolare Depression (Stamm et al. 2018) beschrieben worden, seltener für die Manie (Stamm et al. 2018) oder die schizophrenen Erkrankungen (Klingberg und Hesse 2018). Auch die bei schizophrenen Störungen angewandten Verfahren unterscheiden sich nicht grundsätzlich von Psychotherapien anderer Störungen.

In der Akutbehandlung Behandlung depressiver Störungen ist die kognitive Verhaltenstherapie das am häufigsten untersuchte Verfahren mit sehr gut belegter Wirksamkeit. Auch für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und die interpersonelle Therapie, gefolgt von der systemischen Therapie und der Gesprächstherapie liegen zahlreiche Belege vor. Die Evidenz ist aber weniger robust (Meister et al. 2018).

Menschen mit einer bipolar affektiven Störung können von einer psychotherapeutischen Behandlung profitieren. Einer Metaanalyse zufolge beträgt der zusätzliche Effekt einer Psychotherapie hinsichtlich der Verringerung der Rückfallrate rund 40 % (Scott et al. 2007). Schaub und Neubauer geben in ihrer Arbeit einen gelungenen Überblick über Therapiekonzepte, ihre Inhalte und Wirksamkeit bei bipolaren Störungen (2013). Die vorgestellten deutschsprachigen Behandlungsansätze umfassen kognitive Verhaltenstherapie zur Rückfallprophylaxe (Meyer und Hautzinger 2004), kognitiv-psychoedukative Therapie (Schaub et al. 2004), Psychoedukation (Wagner und Bräunig 2004), handlungsorientierte Psychoedukation (Jelley und Elmer 2005) und Kurzpsychoedukation (Erfurth et al. 2005), einschließlich Anregungen zur Angehörigenarbeit. Weiterhin gibt es Übersichten zu Evaluationsstudien bei kognitiven, familienfokussierten und psychoedukativen Interventionen (Meyer und Hautzinger 2012; Miklowitz et al. 2000; 2003; Rea et al. 2003; Colom et al. 2003; 2009; Lam et al. 2003; 2005; Castle et al. 2011), bei interpersonellen, lebenszielorientierten und kognitiven Interventionen (Frank et al. 2005; 2008; Simon et al. 2005; 2006; Ball et al. 2006; Scott et al. 2006) sowie bei familienbezogenen Interventionen (Miklowitz et al. 2007; Reinares et al. 2008; Perlick et al. 2010).

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass psychoedukative, kognitiv-behaviorale, interpersonelle und familienbezogene Interventionen in Kombination mit Pharmakotherapie durchgeführt werden können. Die Modifikation dysfunktionaler Kognitionen bezüglich Krankheitskonzept und Selbstwert, erhöhtem Autonomie- und Zielstreben sowie Symptommanagement und Strategien zur Rückfallprophylaxe sind zentrale Behandlungsbestandteile. Weitere Therapieansätze wie Social Rhythm Therapy, Schematherapie, emotionsfokussierte und achtsamkeitsbasierte Therapie scheinen wirksam, der Nachweis einer Überlegenheit gegenüber der klassischen kognitiven Verhaltenstherapie steht aber noch aus. Andere wichtige therapeutische Strategien sind die Veränderung der familiären Einstellung und der Kommunikationsformen, das Erkennen und der adäquate Umgang mit Frühwarnsignalen sowie die Etablierung eines ausgeglichenen Lebensstils. Das störungsspezifische Behandlungskonzept sollte weiterhin Selbsthilfegruppen, Unterstützung in der Arbeitssituation und Angehörigenarbeit umfassen. Das therapeutische Angebot sollte mit den Lebensbedingungen der Patienten im Einklang sein. Supervision und die Kenntnis von Deeskalationsmaßnahmen sind für die Behandler wichtig. Die Mehrzahl der kontrollierten randomisierten Studien im englischen Sprachraum zeigt insbesondere die Wirkung der kognitiven Einzeltherapie auf depressive Symptome, das soziale Funktionsniveau und die Rückfallrate während der aktiven Behandlung. Eine längere Behandlungsdauer und Auffrischsitzungen zur Stabilisierung der Therapieeffekte werden empfohlen (Schaub und Neubauer 2013). Patienten mit Komorbiditäten wie Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen oder Achse-II-Störungen waren in den meisten Studien ausgeschlossen, obwohl diese bei 30-50 % der Patienten diagnostiziert werden (Scott et al. 2006).

Auch für die psychotherapeutische Behandlung der Schizophrenie konnten wissenschaftlich fundiert positive Wirkungen nachgewiesen werden. Wykes et al. (2008) fanden für eine kognitive Verhaltenstherapie bei schizophrenen Patienten eine mittlere Effektstärke (d = 0,4) in ihrer Metaanalyse von 1964 Patienten. Eine vergleichbare Effektstärke wurde bei dem Training der kognitiven Leistungsfähigkeit in einer anderen Metaanalyse beschrieben (McGurk et al. 2007). Einem Cochrane-Review zu Folge soll es den größten Effektivitätsnachweis für den rezidivprophylaktischen Effekt der Familieninterventionen geben (Pharoah et al. 2010). Durch die Einbindung der Familie konnte die Rückfallrate um 20 % gesenkt werden (Pitschel-Walz et al. 2001). Jede Art von Psychoedukation soll nach einem anderen Cochrane-Review die Rückfall- und Wiederaufnahmeraten im Zeitraum von 9-18 Monaten nach der Intervention verringern (Xia et al 2011). Auch eine ältere Metaanalyse konnte belegen, dass durch Psychoedukation sich die Rückfallrate über ein Jahr senken ließ, wobei die Einbeziehung der Familien trotz des therapeutischen Mehraufwandes als lohnend eingeschätzt wurde (Lincoln et al. 2007). In einer weiteren Metaanalyse konnte die Wirksamkeit eines sozialen Kompetenztrainings bei schizophrenen Patienten gezeigt werden, v. a. bezüglich der Alltagsfähigkeiten, des sozialen Funktionsniveaus sowie der Negativsymptomatik (Kurtz und Mueser 2008). Die konzeptionelle Ausrichtung auf sozialkognitive Aspekte erwies sich ebenfalls als wirksam (Kurtz und Richardson 2012). Psychodynamisch orientierte Verfahren haben eine lange Tradition und wesentlich zum besseren Verständnis psychotischer Erkrankungen beigetragen. Gemäß der Richtlinienpsychotherapie gehören sie zu den Hauptverfahren und haben durch den wissenschaftlichen Beirat auch die Anerkennung für die Indikation Schizophrenie bekommen. Die empirische Datenlage ist hingegen begrenzt, in einem älteren Cochrane-Review fand sich keine Evidenz für irgendeinen positiven Effekt (Malmberg und Fenton 2001).

Viele Therapieansätze sind auch im deutschen Versorgungssystem in klinischen Studien positiv evaluiert (Bäuml et al. 2006; Bechdolf et al. 2004; 2005; Buchkremer et al. 1997; Klingberg et al. 2010; Leichsenring et al. 2005; Dümpelmann et al. 2013). Eine Reihe von Psychotherapiestrategien können ergänzend zur antipsychotischen Medikation eingesetzt werden und beeinflussen positiv den Krankheitsverlauf. Aber auch ein alleiniger Einsatz sollte erwogen werden. So kann eine kognitive Verhaltenstherapie eine vergleichbar wirksame Alternative darstellen bei Patienten, die keine Medikation einnehmen wollen (Morrison et al. 2014).

Merke

Psychotherapie bei Psychosen ist wirksam. Der beste Wirksamkeitsnachweis liegt bislang für klassische kognitiv-behaviorale Verfahren, aber auch interpersonelle und familienbezogene Interventionen vor. Aufgrund fehlender randomisierter klinischer Studien können die Verfahren Tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie und Psychoanalyse nicht als evidenzbasiert gelten.

 

1.7       Leitlinien und psychosoziale Versorgung

 

Psychotherapie bei Menschen mit psychotischer Symptomatik ist wirksam, wobei für sämtliche Verfahren eine Modifikation der klassischen Therapie vorgenommen wird. Psychotherapie kann gut mit einer Pharmakotherapie kombiniert werden. Die Effektstärke ist vergleichbar einer medikamentösen Behandlung.

Die Empfehlung, z. B. bei Patienten mit einer schizophrenen Störung eine Psychotherapie durchzuführen, findet sich dementsprechend in den wesentlichen internationalen Leitlinien wie vom National Institut of Clinical Excellence (NICE) in Großbritannien, dem Schizophrenia Patient Outcomes Research Team (PORT) in den USA oder der S3-Leitlinie Schizophrenie von der DGPPN in der Bundesrepublik. Der höchste Empfehlungsgrad wird v. a. für kognitive Verhaltenstherapien, Familieninterventionen und Frühinterventionsangebote ausgesprochen (S3-Leitlinie Schizophrenie). Die Studienlage zu psychodynamischen oder psychoanalytischen Therapien beruht im Wesentlichen auf Einzeluntersuchungen. Daher haben diese Verfahren bislang keinen Eingang in die Leitlinien gefunden.

Auch die S3-Leitlinie zur Behandlung akuter depressiver Episoden bei bipolar affektiver Störung empfiehlt, eine Psychotherapie anzubieten. Empirische Nachweise liegen für die Kognitive Verhaltenstherapie, die Familienfokussierte Behandlung sowie die Interpersonelle und Soziale Rhythmustherapie vor. Für andere psychotherapeutischen Verfahren wie z. B. die tiefenpsychologisch fundierte Therapie oder die Psychoanalyse fehlen gegenwärtig noch empirische Studien entsprechend den methodischen Anforderungen einer S3-Leitlinie. In der S3-Leitlinie wird deswegen keine spezifische Empfehlung zum Einsatz dieser Verfahren bei Patienten mit bipolaren Störungen getätigt. Für die akute manische Episode gibt es bislang keine empirischen Belege, dass eine spezifische Psychotherapie oder eine Psychoedukation wirksam ist (S3-Leitlinie Bipolare Störungen).

Insgesamt lässt sich für die psychiatrische Versorgung in Deutschland konsternieren, dass es weniger ein Evidenz-, denn ein Implementierungsproblem gibt (Bechdolf und Klingberg 2014). Die hierfür verantwortlichen Hemmnisse sind vielschichtig zu sehen, u. a.:

•  ein Fachkräftemangel,

•  eine unzulängliche haftungs- und sozialrechtliche Klärung der Zuständig- und Verantwortlichkeiten,

•  die Fragmentierung des Gesundheitswesens,

•  eine monomethodal ausgerichtete Richtlinienpsychotherapie mit Kommstruktur und fehlenden Kooperationsmöglichkeiten,

•  eine verbreitete Unkenntnis zur psychotherapeutischen Behandlung schwerer psychiatrischer Erkrankungen,

•  eine unzureichende Berücksichtigung der Thematik in der psychiatrischen und psychotherapeutischen Weiter-/Ausbildung.

Die derzeitige psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung findet in einem Spannungsbogen zwischen steigendem Behandlungsbedarf und anhaltendem Fachkräftemangel statt (Jordan et al. 2011a). Die rechtliche Klärung, wer am Patienten was machen darf, ist im psychiatrisch-psychotherapeutischen Fachgebiet nicht durchdekliniert und teilweise in den unterschiedlichen Versorgungsbereichen der Sozialen Gesetzbücher (SGB) auch widersprüchlich gelöst (Jordan et al. 2011d).

Die Fragmentierung der gesundheitlichen Versorgung mit unterschiedlichen Zuständigkeits- und Leistungsbereichen (z. B. SGB V, X, XI, XII, VIII), unterschiedlichen Sektoren (z. B. psychiatrische und psychosomatische Krankenhäuser, vollstationäre, teilstationäre, ambulante, komplementäre Versorgung, rehabilitative Einrichtungen, Einrichtungen der Eingliederungshilfe) und unterschiedlichen Abrechnungssystemen (z. B. BPflV, PEPP/OPS, DRG, PIA [Bayerisches Modell, Fallpauschalen], Notfallversorgung, Ermächtigungen, vor- und nachstationär, Hochschulambulanz, MVZ, Vertragsärzte/-psychotherapeuten, EBM, GOÄ) stellt für psychiatrische Patienten oft ein unüberwindbares Hindernis dar, begründete Leistungsansprüche erfüllt zu bekommen (Jordan 2014).

Merke

Im stationären Sektor haben sich multimodale methodenintegrierte Ansätze der Psychotherapie entwickelt, wohingegen im ambulanten Sektor unverändert an dem Konstrukt einer psychotherapeutischen Behandlung, welche auf eine einzige Methode beruht, festgehalten wird. Spätestens seit der dritten Welle der Verhaltenstherapie lässt sich die oft postulierte Notwendigkeit einer schulenspezifischen Trennung nicht mehr aufrechterhalten.

Gerade für Patienten mit einer schweren psychiatrischen Erkrankung ist es erforderlich, ein bedarfsgerechtes, regionales psychiatrisch-psychotherapeutisches und psychosoziales Versorgungssystem aufzubauen, welches patientenzentrierte und lebensweltbezogene Behandlungsformen ohne wesentliche Schnittstellen ermöglicht (Jordan 2017a). Die Patienten sind oft nicht in der Lage, sich selbst aktiv einen Therapieplatz bei einem niedergelassenen Psychotherapeuten zu suchen ( Kap. 5.1 »Integrative Versorgungsmodelle«).

Im stationären Bereich haben sich Tandem- und Teamkonzepte zwischen der ärztlich-psychiatrischen und der psychologisch-psychotherapeutischen Berufsgruppe bewährt (Jordan et al. 2011d). Sie tragen nicht nur zu einer höheren Rechtssicherheit bezüglich der fallführenden Tätigkeit am Patienten bei, sondern eignen sich ausgezeichnet, für Patienten mit einer schweren Psychose eine abgestimmte psychotherapeutische Behandlung umzusetzen. Durch die gemeinsame verzahnte Behandlung wird die interdisziplinäre Ausbildung beider Berufsgruppen wesentlich verbessert. Der Ärztemangel im psychiatrischen Fachgebiet birgt die Gefahr, dass die vorhandenen Ärzte vorrangig zur Absicherung der Notfallversorgung und des Bereitschaftsdienstes eingesetzt werden müssen und so ihre psychotherapeutische Kompetenz nicht erwerben können oder verlieren. Andererseits sind psychiatrische Kenntnisse und Fertigkeiten in der theoretischen Ausbildung zum psychologischen Psychotherapeuten nur unzureichend berücksichtigt und werden zumeist erst während der praktischen Ausbildung in einer psychiatrischen Klinik angeeignet. Daher ist es nicht verwunderlich, dass selbst in der stationären Versorgung oft die Auffassung besteht, dass eine psychotherapeutische Behandlung erst beginnen kann, wenn eine medikamentöse Einstellung vorgenommen wurde. Die gegenseitige Unkenntnis bezüglich psychiatrischer Erkrankungsbilder und psychotherapeutischer Behandlungsmöglichkeiten dürfte zu dieser Vorstellung beitragen. Eine häufige Sorge wird dabei sein, den Patienten mit einer psychotischen Störung durch die affektive Beteiligung in der Psychotherapie zu überfordern und eine Exazerbation oder ein Rezidiv zu befördern.

Die klassischen Nebenwirkungen einer Psychotherapie beinhalten unmittelbar oder zeitverzögert auftretende negative Ereignisse, z. B. eine Verschlechterung der akuten Symptomatik, eine Chronifizierung bestehender Beschwerden, das Auftreten neuer Beschwerden, bleibende unvorteilhafte Persönlichkeitsveränderungen sowie unerwünschte Veränderungen im psychosozialen Umfeld. Unter dem Aspekt der Sicherheit sind schwere Exazerbationen der paranoid-halluzinatorischen Symptomatik, suizidale Krisen, Suizidversuche einschließlich möglicher körperlicher Folgen sowie Selbsttötungen zu nennen. Eine Untersuchung an schizophrenen Patienten mit einer Negativsymptomatik konnte das Vorurteil widerlegen, dass eine Psychotherapie bei Psychosen besonders gefährlich ist. Die Anzahl der schweren unerwünschten Ereignisse war vergleichbar zwischen den Patienten, die eine kognitive Verhaltenstherapie (CBT) oder ein kognitives Training bekommen haben (Klingberg et al. 2012). Trotzdem erscheint es sinnvoll, Patienten, welche ausgeprägte Schwankungen in ihrer Symptomatik zeigen, engmaschig zu betreuen.

Merke

Es ist ein Irrglaube, dass eine Psychotherapie für Menschen mit einer Schizophrenie zu gefährlich ist.

Problematisch für das geringe Interesse der psychologischen Psychotherapeuten an einer Behandlung von Menschen mit psychotischen Störungen war sicherlich auch, dass die alte Psychotherapie-Richtlinie viele Jahre eine Abrechenbarkeit psychotischer Störungen selbst nicht vorsah. Lediglich Begleit-, Folgeerkrankungen und eine Residualsymptomatik wurden als Indikation angegeben. Zwar ist mittlerweile die Abrechenbarkeit in der aktuell gültigen Psychotherapie-Richtlinie gegeben (s. § 26 Indikationen zur Anwendung von Psychotherapie) (Psychotherapie-Richtlinie 2017), in den Köpfen sämtlich Beteiligter ist jedoch die Vorstellung entstanden, dass Menschen mit Psychosen keine Psychotherapie bekommen und dass diese gar kontraindiziert ist.

Die psychotherapeutische Behandlung von Menschen mit psychotischer Störung kann sich nicht immer auf die reine Durchführung einer Psychotherapie beschränken. Entsprechend dem Konzept des »Ethischen Therapeuten« wird der Psychotherapeut mitunter auch gefragt sein, eine aktivere Rolle im Sinne der Fürsorge für den Patienten einzunehmen (Jordan 2017a). Unzulängliche Kooperationsstrukturen mögen dann in der Niederlassung dazu beitragen, einen entsprechenden Praxisschwerpunkt nicht aufzubauen, zumal die Sorge vor erhöhten Ausfallkosten bei unzuverlässigen, störungsbedingt gering motivierten und instabilen Patienten besteht.

Merke

Psychotherapie sollte auch für Menschen mit Psychosen ein selbstverständliches Angebot in der Behandlung sein. In Abhängigkeit von dem individuellen Störungsbild und der aktuellen Lebenssituation sind verhaltenstherapeutische, psychodynamische und systemische Methoden sinnvoll. Sie können auch integrativ angewendet werden.

 

2         Diagnostik

 

 

2.1       Klinische Diagnostik

 

2.1.1     Allgemeines Vorgehen

Psychosen können

•  exogen substanzinduziert,z. B. durch psychotrope Substanzen (u. a. Drogen) und bestimmte Medikamente, besonders bei älteren Menschen und Polypharmazie,

•  somatopsychisch,z. B. durch Exsikkose und Elektrolytveränderungen, endokrinologische Störungen (u. a. Schilddrüsenfunktionsstörungen, Thyreotoxikose, Phäochromozytom, Blutzuckerentgleisungen, Diabetes mellitus), Fieber,

•  hirnorganisch,z. B. durch Hirnverletzungen, Infektionen des zentralen Nervensystems (ZNS), demenzielle Erkrankungen, andere neurodegenerative Erkrankungen, nicht durch psychotrope Substanzen hervorgerufene Delirien, symptomatische Psychosen, Epilepsien, Migräne,

•  entwicklungspathologisch,z. B. »endogener« Anteil schizophrener, schizoaffektiver, bipolarer und depressiver Störungen, schwere Persönlichkeitsstörungen auf niederem Strukturniveau i. S. sog. Frühstörungen,

•  konfliktpathologisch,z. B. Persönlichkeitsstörungen auf mittlerem und höherem Strukturniveau,

•  erlebnisreaktiv,z. B. Traumatisierung,

•  ereignisreaktiv,z. B. physiologisch, Verliebtsein, nach Schlafentzug, Schlaftrance, Oneiroid,

bedingt sein.

Die mögliche Verursachung psychotischen Erlebens ist in einem stufenweisen Vorgehen sorgsam zu klären.

Das psychiatrisch-psychotherapeutische Erstgespräch dient der Anamneseerhebung, der Erfassung des psychopathologischen Befundes und dem Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung. Der Eingangsteil wird eher offen geführt und gibt dem Patienten die Gelegenheit, seine persönliche Sicht und Vorstellungen auf die Entstehung der beklagten Symptomatik einzubringen. Der nachfolgende Teil wird strukturierter geführt, um ggf. offen gebliebene Fragen zu klären und gezielt psychopathologische Phänomene zu erfassen. Mögliche Auslösefaktoren am Geschehen sollen erkannt werden, inhaltlich werden wichtige frühere und aktuelle Bezugspersonen, deren Bindung, die gegenwärtige soziale und berufliche Situation einschließlich möglicher Probleme, psychiatrische und somatische Vorerkrankungen, auch in der Familie sowie bisherige psychotherapeutische und medikamentöse Vorbehandlungen betrachtet. Die frühzeitige Einbindung von Angehörigen kann unter Beachtung der ärztlichen Schweigepflicht wichtige Aufschlüsse erbringen. Für die Diagnosestellung ist das gesprochene Wort dem beobachtbaren Verhalten gleichwertig. Das eigene Erleben, die Reaktion des Therapeuten auf den Patienten, ist als ergänzendes diagnostisches Instrument einzusetzen. Die möglichst exakte Erfassung des psychopathologischen Befundes stellt das Kernstück der psychiatrischen Diagnostik dar, da sie wichtige Aufschlüsse zur diagnostischen Einordnung liefern kann. Einige Symptome sind nahezu pathognomisch hinweisend auf eine zugrundeliegende Störung. Eine gezielte Explorationstechnik und Beobachtung sind die Voraussetzung, die richtigen Rückschlüsse aus dem Berichteten und dem Erlebten zu ziehen und darüber diagnostisch verwertbar zu machen.

Der Ausschluss einer somatisch oder hirnorganisch bedingten Symptomatik erfolgt über eine körperliche klinisch-neurologische Untersuchung, ggf. wird diese von einer laborchemischen und apparatetechnischen Diagnostik ergänzt. Eine weitergehende Psychometrie kann im psychotherapeutischen Setting, v. a. stationär oder teilstationär, zur Objektivierung psychischer Symptome oder besonderer Persönlichkeitsakzentuierungen durchgeführt werden (Jordan 2016a) ( Abb. 2.1 Diagnosestellung).

Abb. 2.1: Diagnosestellung (Jordan 2016a)

Bei der Erstmanifestation einer schizophrenen oder schweren affektiven Erkrankung sollte neben einer laborchemischen Untersuchung des Blutes immer eine kernspintomographische Bildgebung des Gehirns vorgenommen und bei Auffälligkeiten um eine Liquoranalyse ergänzt werden. Organische Verursachungen lassen sich phänotypisch mitunter nicht von »endogenen Störungen« trennen. Einige Verlaufsformen der NMDA-Rezeptor-Antikörper-Enzephalitis sind z. B. klinisch nicht unterscheidbar von klassischen schizophrenen Störungen (Steiner et al. 2013; Kovac et al. 2018).

2.1.2     Pathognomische Psychopathologie

Im psychopathologischen Befund finden sich die subjektiven Beschwerden des Patienten, selbst spontan vorgetragen oder auf Nachfrage berichtet, und die zugehörigen objektiven Verhaltensbeobachtungen des Untersuchers wieder. Die richtige Erfassung und Benennung der psychischen Erscheinungen sind essentiell für eine korrekte Diagnosestellung und damit verbunden, überhaupt eine passende Therapie einleiten zu können. Die Erhebung begründet sich zunächst auf ein freies Gespräch, um beweglicher zu sein, Symptome ggf. vorlocken zu können und der Spontanität und den Selbstvorstellungen des Patienten nicht entgegenzustehen. Der Informationsgehalt ist wesentlich von der Erfahrung und der angewandten Explorationstechnik des Untersuchers abhängig, weiterhin spielen seine Motivation, die Situation des Patienten wirklich nachvollziehbar verstehen zu wollen, und sein Interesse an der Lebensgeschichte des Patienten eine große Rolle. Die Untersuchungssituation ist so zu gestalten, dass der Patient sich mit seinen Vorstellungen angenommen fühlt und möglichst angstfrei und entspannt berichten kann. Die Beziehungsgestaltung und das Setting müssen sich den individuellen Erfordernissen einer krisen- und ggf. auch erkrankungsbedingten Beeinträchtigung der Kommunikation und des Erlebens anpassen (Jordan 2016a). Items des psychopathologischen Befundes, welche im freien Gespräch nicht erfasst oder aus dem Kontext nicht erschlossen werden konnten, werden nachträglich gezielt exploriert. Zu den Items gehören Störungen des Bewusstseins, der Orientierung, der Aufmerksamkeit und des Gedächtnisses, formale Denkstörungen, Befürchtungen und Zwänge, Wahn, Sinnestäuschungen, Ich-Störungen, Störungen der Affektivität, des Antriebs und der Psychomotorik, circadiane Besonderheiten sowie andere Störungen (Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie (AMDP) 1995). Für die diagnostische Verwertbarkeit ist die Fremdbeurteilung durch den Untersucher jeweils bedeutsamer als die Selbstbeurteilung durch den Betroffenen. Aus dem Vorhandensein oder dem Nichtvorhandensein bestimmter Symptome bzw. deren Ausprägung können Rückschlüsse auf eine Syndromdiagnose gezogen werden ( Tab. 2.1).

Tab. 2.1: Pathognomische Psychopathologie (Jordan 2017b)

SymptomSyndrom, Diagnose

Merke

Paranoid-halluzinatorisches Erleben allein ist unspezifisch, in Kombination mit den passenden Ich- oder Affektstörungen jedoch hinweisend auf eine Schizophrenie!

Wahn kann als eine inhaltliche Denkstörung angesehen werden. Wahninhalte reichen von Verarmungs-, Versündigungs-, Schuld-, Größen-, Beziehungs-, Beeinträchtigungs- und Verfolgungsthemen auch zu köperbezogenen Vorstellungen. Die Themen können Hinweis auf die Syndromdiagnose geben. Ein bizarrer Wahn liegt vor, wenn er gänzlich unmöglich, vor dem kulturellen Hintergrund nicht nachvollziehbar und aus den üblichen Lebenserfahrungen nicht herleitbar ist (AP Association 2015). Mit Ausnahme des bizarren Wahns ist weniger der konkrete Inhalt als vielmehr das feste, unverrückte Festhalten des Betroffenen an seiner Ansicht trotz gegenteiliger Hinweise ausschlaggebend für eine psychotische Erlebnisdimension (Knorr und Hoffmann 2018). Scharfetter definiert den Wahn als eine private lebensbestimmende starre Wirklichkeitsüberzeugung, die den Wahnkranken isoliert und der mitmenschlich gemeinsamen Welt entrückt. Aus seiner Sicht ist der Mensch grundsätzlich wahnfähig (Scharfetter 2002). Es ist davon auszugehen, dass in der Allgemeinbevölkerung wahnhafte Überzeugungen relativ häufig vorkommen (Eaton et al. 1991; Freeman et al. 2005), so dass ein Kontinuum anzunehmen ist.