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Leonid Wolkow

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Beschreibung

Was der Westen nicht wissen wollte: die brisante Analyse des »Außenministers der russischen Opposition« Unter Putin hat sich Russland zu einer imperialistischen Diktatur verwandelt, die die Werte und das Lebensmodell des Westens bedroht. Wie das passiert ist und warum Europa es bis zuletzt ignoriert hat – das analysiert Leonid Wolkow, ein enger Vertrauter des inhaftierten Dissidenten Alexei Nawalny. Anhand persönlicher Erfahrungen im Kampf gegen Korruption und Willkürherrschaft legt er die brutale imperialistische Dynamik in Putins Reich offen und zeigt, was man in Deutschland und Europa nicht wahrhaben wollte. Wer Russland, Putin und den Angriffskrieg gegen die Ukraine verstehen will, kommt an seiner brisanten Analyse nicht vorbei. Noch zu Beginn der ersten Amtszeit von Wladimir Putin war Russland ein Land bis dahin ungeahnter Möglichkeiten und Entwicklungschancen. Junge Menschen, unter ihnen auch Leonid Wolkow, begannen, sich politisch zu engagieren, forderten Teilhabe und waren bereit, die Zukunft mitzugestalten. Doch Putins Ziel war nie die offene Gesellschaft. Spätestens, als er 2012 seine Rückkehr ins Präsidentenamt verkündete, brach sich der Autoritarismus vom Kreml ausgehend Bahn. Nach der Annexion der Krim, der Zerschlagung der Opposition und dem Giftanschlag auf Alexei Nawalny eskalierte diese Entwicklung 2022 mit dem völkerrechtswidrigen Überfall auf die Ukraine. Als Wahlkampfmanager, enger Mitarbeiter und Freund Nawalnys hat Wolkow die Entstehung der russischen Diktatur hautnah miterlebt und war selbst mehrfach inhaftiert. Aus dem Exil heraus analysiert er nun, was in Deutschland und Europa aufgrund wirtschaftlicher Interessen und geopolitischer Naivität geflissentlich ignoriert wurde. Doch trotz aller Gefahr, die von Moskau für die freie Welt ausgeht, so Wolkow: Putins Zeit läuft ab. Und Russlands Zukunft liegt in Europa. Wolkow ist politischer Direktor der von Alexei Nawalny begründeten Antikorruptionsstiftung FBK. Seit 2009 ist er politisch aktiv, als er für vier Jahre zum Abgeordneten der städtischen Duma von Jekaterinburg gewählt wurde. 2013 leitete er die Kampagne Alexei Nawalnys bei der Moskauer Bürgermeisterwahl und 2018 als Stabschef dessen Präsidentschaftswahlkampf. Seit 2019 lebt er in Litauen.

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Seitenzahl: 376

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Leonid Wolkow

PUTINLAND

Der imperiale Wahn, die russische Opposition und die Verblendung des Westens

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine ist klar: Moskau bedroht die Freiheit und das Lebensmodell Europas. Aber wieso wollte der Westen so lange nicht sehen, was in Putins Russland passiert? Das analysiert Leonid Wolkow, ein enger Vertrauter des seit Januar 2021 inhaftierten Dissidenten Alexei Nawalny, mit dem er seit Jahren gegen Korruption und Willkürherrschaft in Russland kämpft. Mit Augen öffnenden Analysen und anhand persönlicher Erfahrungen legt Wolkow die brutale imperialistische Dynamik in Putins Reich offen und zeigt, was man in Deutschland und Europa nicht wahrhaben wollte. Wer Russland, Putin und die Vorgeschichte der Invasion in die Ukraine wirklich verstehen will, kommt an diesem brisanten Buch nicht vorbei.

Inhaltsübersicht

Widmung

Vorwort zur erweiterten Taschenbuchausgabe

Einführung

Russlands »wilde Neunziger«

Die Errichtung der Machtvertikale

Widerstandsgeist und Protestbewegung

Bürgermeisterwahl in Moskau

Nach der Annexion der Krim

Nawalnys Präsidentschaftswahlkampf

Die Schlagkraft vernetzter Opposition

Der Giftanschlag

Russland überfällt die Ukraine

Medienmacht und Meinungsbildung

Angriffsziel Internet

Andersdenken verboten

Putins Oligarchen

Wir gehören zu Europa

Nach Putin: Szenarien und Hoffnungen

Wie hat sich die russische Gesellschaft verändert?

Nawalny

Der Kult des Sieges

Protestbewegung

Nach Prigoschin

Dank

Mit Vertrauen

in die europäische Zukunft

Russlands

Vorwort zur erweiterten Taschenbuchausgabe

Als ich im Mai und Juni 2022 das Buch Putinland schrieb, war nicht abzusehen, welchen Charakter der drei Monate zuvor von Putin losgebrochene Krieg in der Ukraine annehmen würde. Niemand konnte ahnen, wie lange er dauert. Ich konzentrierte mich damals auf die Frage nach den Ursachen dieses Krieges, wie es dazu kommen konnte, dass Russland seinen traurigen Weg von einer Fast-Demokratie zu einem aggressiven Totalitarismus gegangen war. Der Verlag und ich meinten, dies sei für westliche Leserinnen und Leser besonders interessant. Trotzdem wollte ich nicht nur erzählen, wie der Putinismus entstand, ich wollte auch einige Prognosen für die weitere Zukunft wagen. Unter anderem sagte ich, dass dieser Krieg ein langer Krieg werden würde. Und ich sprach davon, welche Aufgaben der Zivilgesellschaft in einem künftigen demokratischen Russland bevorstünden.

Im Juni 2022 mochten solche Prognosen gewagt wirken. Aber als ich das Buch zur Vorbereitung dieser erweiterten Ausgabe noch einmal las, sah ich, dass es an dem, was ich damals geschrieben hatte, nichts Wesentliches zu verändern gab. Meine Einschätzungen erwiesen sich im Großen und Ganzen als zutreffend. Schien es damals, in der dynamischsten Phase von Putins Krieg gegen die demokratische Ukraine, vielleicht nicht der rechte Zeitpunkt, darüber nachzudenken, auf welchen Fundamenten Putins Machtsystem errichtet ist, so hat diese Frage jetzt, da der Krieg sich festgefahren hat, umso größere Aktualität.

Putin hat den schnellen Sieg, mit dem er so fest rechnete, nicht bekommen. Aber auch die Ukraine hat keinen schnellen Sieg errungen. Der Krieg dauert nun schon sehr lange und wird leider, leider noch viel länger dauern. Das bedeutet, dass sein Ausgang in hohem Maße nicht auf dem Schlachtfeld entschieden werden wird, sondern abhängt von der Reife der gesellschaftlichen Institutionen, der Wendigkeit der politischen Systeme, der Anpassungsfähigkeit der Wirtschaft beider Kriegsparteien. Deshalb bleibt die Frage, wie »Putinland« aufgebaut ist, weiterhin sehr wichtig und aktuell.

Diesem Buch, das Sie gerade in der Hand halten, wurden für seine zweite, aktualisierte Ausgabe fünf Kapitel hinzugefügt, die ich im Frühherbst 2023 geschrieben habe. Darin erzähle ich, was in diesen anderthalb Jahren des Krieges geschehen ist, mit Putin und seinem Umfeld, in der russischen Politik, mit der russischen Zivilgesellschaft. Es hat Veränderungen gegeben, die so tiefgreifend sind, wie sie vorhersehbar waren. Putin hat sich und sein System an den Rand der Katastrophe gelenkt. In dieser Katastrophe, davon bin ich überzeugt, werden er und seine Schergen untergehen. Uns aber wird sie die Chance für einen Neuanfang bieten, sie wird Russland den Weg in eine demokratische Zukunft ebnen. Um diese demokratische Zukunft wirklich aufbauen können, müssen wir das gegenwärtige Russland verstehen – damit wir den Weg in die richtige Richtung gehen und die Fehler, die wir in unserer jüngsten Geschichte begangen haben, die Fehler, die den Putinismus möglich gemacht haben, nicht noch einmal begehen.

Vilnius, im Oktober 2023

Einführung

Im November 2021 fuhr ich nach Washington zu Gesprächen mit US-amerikanischen Politikern. Wir diskutierten, wie Alexei Nawalny frei zu bekommen sei, auf welche Weise sich der Druck auf Putins Regime erhöhen ließe, wie ein Wandel in Russland bewirkt werden könnte. Wir besprachen ein mögliches Szenario für die Zukunft Russlands. Ab einem bestimmten Moment fiel mir jedoch auf, dass meine Gegenüber nicht mehr recht bei der Sache waren, dass ihre Gedanken abschweiften. Sie fragten mich stattdessen immer wieder, was ich zum unmittelbar bevorstehenden, unvermeidlichen Krieg in der Ukraine dächte. Ich wunderte mich. Ich glaube, ich musste sogar lächeln. Was für ein Krieg? Wovon reden die?

Für einen Krieg gebe es in der russischen Gesellschaft keine Unterstützung, antwortete ich. Und es herrsche auch nicht die propagandistisch herbeigeführte Hysterie, die notwendig wäre, um einen Krieg zu beginnen. Die Tatsache, dass Putin an der ukrainischen Grenze Truppen zusammenzog, bedeutete meiner Meinung nach nicht, dass er die Ukraine tatsächlich angreifen wollte. Militärische Drohkulissen waren ihm schon öfter als probates Mittel erschienen, um die westlichen Staatsoberhäupter zu beunruhigen und an den Verhandlungstisch zu zwingen, das war immer eine Art Erpressungsmethode gewesen. Aber im 21. Jahrhundert einen richtigen Krieg anzufangen, das wäre doch purer Wahnsinn.

Was dort gerade vor unseren Augen geschehe, entgegneten meine Gesprächspartner, seien definitiv Kriegsvorbereitungen. Es bestehe kein Zweifel daran, dass Putin einen Angriff auf die Ukraine plane, sie hätten verlässliche Informationen darüber. Ich hörte mir das an und dachte: Was für ein Unsinn. Ihr habt Putin offenbar all die Jahre hindurch nicht verstanden. Ihr begreift nicht, dass er nicht von irgendwelchen wahnsinnigen geopolitischen Ambitionen getrieben ist, sondern allein von dem Wunsch, sich grenzenlos zu bereichern und auf ewig an der Macht zu bleiben.

Putin ist ein kleines Licht, er folgt niederen Beweggründen. Das belegt zum Beispiel die Geschichte seines Schlosses am Schwarzen Meer. Als im Januar 2021 der Dokumentarfilm »Ein Palast für Putin« herauskam, eine Recherche der Antikorruptionsstiftung FBK von Alexei Nawalny, war Putin rasend vor Wut. Er ließ die Demonstrationen und Protestaktionen, die daraufhin in vielen russischen Städten stattfanden, mit beispielloser Härte unterdrücken. Nawalny selbst ließ er ins Gefängnis werfen aufgrund eines »Gerichtsurteils«, das nur eine Verhöhnung des Rechtsprinzips zu nennen ist.

Warum hatte dieser Film Putin buchstäblich ins Mark getroffen? Von der Existenz des Schlosses wusste man längst, bereits 2010 wurde darüber berichtet. Aber dieser Film ermöglichte dem Publikum einen direkten Blick in Putins Kopf. Wir hatten öffentlich gemacht, was für ein armseliger und lächerlicher Mensch Russlands Präsident ist. Man sieht einen Mann, der seit zwanzig Jahren unvorstellbare Macht besitzt, der über endlose Dollar-Milliarden aus Öl- und Gasverkäufen verfügt und damit über die Möglichkeit, in seiner Heimat blühende Landschaften zu erschaffen. Was hätte ein ambitionierter Staatschef mit solch unbegrenzten Ressourcen in dieser Zeit nicht alles bewirken können! Wissenschaft und Technik, Industrie und Landwirtschaft, das Gesundheitssystem, das Bildungssystem, die gesamte Infrastruktur hätte er auf ein internationales Spitzenniveau heben können. Und was tut er? Lässt sich einen gigantischen, nutzlosen, unfassbar kitschigen Palastklotz bauen, ein Monstrum aus Gold und rotem Samt – womit sich der kleine Wolodja Putin aus dem zwielichtigen Leningrader Bezirk Ligowka offenkundig einen Kindheitstraum erfüllt hat.

Keinen Staatsmann historischen Formats zeigte dieser Film, keinen großen Politiker, der mit visionärem Blick und schöpferischer Kraft die Zukunft seines Landes gestaltet, sondern einen schlichten Geist, der die Gunst des Zufalls genutzt hatte, um sich die Macht über eines der reichsten Länder der Welt anzueignen, und dem nichts Besseres einfiel, als diese Macht zur Erfüllung privater Bedürfnisse zu verwenden. Jetzt stand für alle sichtbar der Putin da, den wir in unserer oppositionellen Arbeit schon seit Langem gesehen hatten.

Unsere westlichen Freunde wollten nicht verstehen, wie Putin tickte, deshalb schätzten sie die Vorgänge in seiner Machtzentrale oft falsch ein. Aber nun lagen sie richtig, und wir hatten uns geirrt, schrecklich geirrt. Am 24. Februar 2022 begann der größte Krieg auf europäischem Boden seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Alle unsere Prognosen stellten sich als falsch heraus. Wir dachten, wir hätten den Putinismus verstanden, wir glaubten zu wissen, wie er funktioniert. Wir sagten, Putin wird keinen Krieg gegen die Ukraine anfangen, weil er deren Armee nicht besiegen kann und weil solch ein Krieg die russische Wirtschaft in den Ruin treibt. Wir dachten, er ist zwar ein Verbrecher, ein Mensch ohne Skrupel, aber er ist nicht verrückt, er weiß Nutzen und Schaden einer Handlung rational gegeneinander abzuwägen und macht letztlich, was ihm und seinen Freunden die Möglichkeit gibt, sich weiter zu bereichern und für immer an der Macht zu bleiben.

Am 24. Februar 2022 beging Wladimir Putin den größten Fehler seines Lebens. Er hat sich katastrophal verrechnet. Putin wollte innerhalb von 72 Stunden Kiew erobern und die ukrainische Armee zerschlagen. Das hat nicht geklappt. Er dachte, dass die russischsprachigen Städte der Ostukraine seine Soldaten mit Brot und Salz empfangen, ihnen Blumen vor die Panzer streuen. Das Gegenteil war der Fall. Er dachte, er könne alle überrumpeln, und der Westen würde wie schon so oft passiv verharren. Auch darin hat er sich getäuscht. Der Westen hat mit nie da gewesenen Sanktionen reagiert, die Konsequenzen für die russische Wirtschaft sind verheerend. Ja, Putin hat sich verrechnet, aber inzwischen wissen wir auch, dass er im Rahmen seines Denksystems völlig rational entschieden hat, nur auf der Grundlage vollkommen falscher Informationen.

Die Schuld an dieser Tragödie, die sich seit Beginn des Jahres 2022 in Osteuropa abspielt, hat vor allem Wladimir Putin zu verantworten. Trotzdem wäre es zu einfach zu sagen, nur Putins Handeln habe zu dem Krieg und in die heutige Katastrophe geführt. Nach einem Treffen mit Putin 2014 soll Angela Merkel einen Satz gesagt haben, der berühmt wurde: Sie sei nicht sicher, ob er noch »in touch with reality« sei, er habe womöglich den Bezug zur Realität verloren.

Das war eine absolut zutreffende Diagnose. Aber ihr folgte keine Therapie. Einfach zu konstatieren, dass eine Nuklearmacht mit ständigem Sitz im UN-Sicherheitsrat von einem Mann geführt wird, der den Bezug zur Realität verloren hat, war zu wenig. Man akzeptierte Putin weiterhin als legitimes Staatsoberhaupt, man traf sich mit ihm, redete mit ihm, Russland nahm an allen möglichen internationalen Formaten teil, auch am G20-Gipfel, man drückte ihm die Hand und versuchte, den Dialog aufrechtzuerhalten. Als ließe sich mit einem Mann, der in einer Parallelwelt lebt, ein wirklicher Dialog führen.

Nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 wurden Sanktionen gegen Russland beschlossen, die eher symbolische Bedeutung hatten und praktisch wirkungslos blieben. Ich denke, dass man im Kreml bei jeder neuen Sanktion damals die Korken knallen ließ, hieß das doch nur neues Futter für die Propaganda. Da seht ihr ja, konnte man sagen, der Westen will uns die Luft abschnüren, jeden Tag rückt der Feind näher an unsere Grenzen heran. Jetzt müssen wir zusammenhalten, unsere Reihen schließen, uns hinter unserem großen Führer versammeln, denn nur Putin weiß, wie wir uns wirksam verteidigen können gegen die immer größer werdende Gefahr aus dem Westen! Der Westen bedroht unsere Existenz, wegen ihm verdienen die Menschen bei uns so wenig und bleibt der Lebensstandard so niedrig. Für jedes Problem, mit dem der einfache russische Bürger zu kämpfen hat, kennt die Propaganda die Universalantwort: Der Westen mit seinen Sanktionen ist schuld.

Währenddessen entfernte sich Putin immer weiter von der Wirklichkeit. Besonders kritisch wurde es seit Beginn der Corona-Pandemie. Aus Angst vor dem Virus isolierte er sich praktisch vollständig von der Außenwelt. Seine Kontakte beschränkten sich bald auf den engsten Kreis weniger hochrangiger Generäle und ausgewählter Funktionäre, mit denen er sich, wie wir inzwischen wissen, vor allem mit der Planung seines Krieges beschäftigte. Der Westen kaufte unterdessen weiterhin fleißig Öl und Gas von Russland, ließ weiterhin Tag für Tag Milliarden Dollar, Euro und Pfund in Putins Kassen fließen und finanzierte ihm seinen persönlichen Luxus genauso wie seine Kriegsvorbereitungen.

Und so landeten wir da, wo wir heute sind. Weil wir Putin eben doch nicht wirklich verstanden haben und weil wir die Entwicklung, die in Russland vor unseren Augen vonstattenging, nicht ernst genug genommen haben. Der Westen hat verschlafen, was direkt vor seinen Augen passierte: die Metamorphose eines halbwegs demokratischen Landes zu einem vollständig faschistischen System, einen Aggressor, eine Gefahr für die gesamte Welt.

 

Dieses Buch sucht nach Antworten auf die Frage, wie all dies möglich wurde. Wie konnte dieses Russland, auf das wir nach dem Zerfall der Sowjetunion so viele Hoffnungen gesetzt hatten, das anfangs einen so vielversprechenden Weg der Demokratisierung eingeschlagen hatte, zu einem so leichten Opfer eines blassen politischen Emporkömmlings werden, dessen einzige herausragende Qualitäten seine diktatorischen Allüren und sein Drang nach Selbstbereicherung sind? Wie konnte es geschehen, dass maßlose Korruption zum Fundament des russischen Regierungssystems wurde, die das Land in Willkür, Repression und schließlich in den Krieg trieb?

Ich habe den Zerfall des russischen Rechtsstaats aus nächster Nähe miterlebt, an der Seite von Alexei Nawalny, dem Begründer der stärksten Oppositionsbewegung Russlands. Wir haben in den vergangenen zehn Jahren darum gekämpft, ein Gegengewicht zum System Putin zu schaffen. Wir arbeiteten an politischen Strukturen, die es möglich machen sollten, nach Putins Ende die Entwicklung einer demokratischen Gesellschaft voranzutreiben.

Vieles, was wir uns vorgenommen hatten, blieb ohne Erfolg, denn Putin ist noch immer an der Macht. Aber unsere Arbeit war nicht sinnlos. Ich möchte davon erzählen, wie tiefgehend sich die russische Gesellschaft in den letzten zehn Jahren tatsächlich verändert hat, sodass man trotz allem mit Optimismus in die Nach-Putin-Zeit schauen kann. Ich denke, ich kann zeigen, dass dem Russland nach Putin nicht ein neues Chaos wie nach dem Zerfall der UdSSR bevorsteht, dass es keine neue Diktatur geben wird.

Ich wehre mich gegen den Gedanken, die russischen Bürger seien nicht fähig zur Demokratie. Ich weigere mich zu glauben, dass auf dem riesigen Territorium der Russischen Föderation kein normales europäisches Land entstehen könne, ein Land mit einer echten Demokratie, mit funktionierenden Institutionen und einer Rechtsstaatlichkeit, die diesen Namen auch verdient. Der Gedanke, dass sich mein Land niemals in diese Richtung entwickeln könne, ist reine Russophobie. Vor allem hat er nichts mit der Realität zu tun. Er gründet nicht auf Fakten, sondern auf sehr falschen Vorstellungen von den politischen Gegebenheiten der russischen Gesellschaft.

Ich bin Mathematiker, nach dem Studium habe ich mehrere Jahre als IT-Spezialist gearbeitet. Als Diplomat, Journalist oder Politiker wurde ich nicht ausgebildet. Mein Weg in die Politik hat sich zufällig ergeben, weil ich in einem bestimmten Moment den Wunsch verspürte, mich für den demokratischen Wandel in meinem Land zu engagieren. Nach vielen turbulenten Wendungen war ich gezwungen, Russland zu verlassen. Heute lebe ich im Ausland und erfülle gewissermaßen die Aufgaben eines Außenministers der russischen Opposition. Ich bin auf Reisen, treffe westliche Politiker, diskutiere mit Experten, berate mich mit Politologen, spreche mit Journalisten.

80 Prozent meiner Tätigkeit besteht darin, Fragen zu beantworten. Ich weiß, dass man die richtigen Fragen stellen muss, wenn man treffende Antworten bekommen will. Oft erlebe ich, dass Menschen die falschen Fragen stellen. Zum Beispiel, warum die Russen sich das alles gefallen lassen, warum sie nicht massenweise auf die Straße gehen und Putin davonjagen. Wer so fragt, geht schon davon aus, dass die Russen schwach und feige und willenlos seien, der tut so, als könne man eine Diktatur einfach so stürzen. Manche fragen auch direkt, warum denn alle Russen Putin unterstützen, als wüssten sie, dass es tatsächlich so ist, als ließe sich methodisch zuverlässig messen, welchen Grad der Unterstützung Putin bei der russischen Bevölkerung tatsächlich genießt.

Dieses Buch kann sicher nicht alle Fragen über Russland beantworten. Aber es will die richtigen Fragen stellen und bei der Suche nach Antworten helfen, für ein besseres Verständnis dessen, was mit meinem Land passiert ist. Wladimir Putin hat in Russland eine faschistische Diktatur errichtet, und die Welt hat es geschehen lassen. Sie hat es verschlafen, ihm rechtzeitig Grenzen aufzuzeigen und Widerstand zu leisten. Das ist tragisch. Aber wie ein Blick in die Menschheitsgeschichte zeigt: Vieles lernt man nur durch schmerzhafte Erfahrung. Das Grauen der beiden Weltkriege hat in Europa vieles zum Positiven verändert. Die Menschen haben daraus gelernt. Nicht nur für die ukrainische Gesellschaft wird es eine Zeit nach dem Krieg geben, sondern auch für die russische. Eine Zeit, in der man sich daranmachen wird, Zerstörtes zu heilen, und sich neu auf ein Zusammenleben in Frieden besinnt.

Russlands »wilde Neunziger«

Als im Jahr 1991 die Sowjetunion zerfiel, verschwand mit ihr neben dem System der Planwirtschaft auch das totalitäre politische System. Im Leben der russischen Bürger, die bis eben noch »Sowjetmenschen« gewesen waren, kamen plötzlich fremdartige Begriffe wie Glasnost, Demokratie, Pluralismus und Konkurrenz auf und beanspruchten Geltung. Die Gesellschaft erlebte somit kardinale Veränderungen in zwei zentralen Lebensbereichen zugleich, in Politik und Wirtschaft. Diese Parallelität musste sich nicht zwangsläufig ergeben. Es gibt Länder mit totalitärer politischer Struktur, die von der Plan- zur Marktwirtschaft übergingen, ohne ihr politisches System zu ändern, China etwa. Und es gibt Länder mit funktionierender Marktwirtschaft, die ihre pluralistische Gesellschaft zu einem totalitären oder semi-totalitären System umgebaut haben, in dem divergierende Meinungen nicht geduldet werden; das klassische Beispiel dafür ist Singapur.

Die Menschen jedoch, die Anfang der 1990er-Jahre auf dem Gebiet der Sowjetunion lebten, erfuhren die systemischen Veränderungen in Wirtschaft und Politik als einen einzigen zusammenhängenden Kollaps, und vermutlich war das eine zu große Erschütterung. Man führe sich vor Augen, was allein der abrupt, ja schockartig vollzogene Wechsel von der staatlich gelenkten Planwirtschaft zur freien, konkurrenzgesteuerten Marktwirtschaft für die Menschen bedeutete. Sie, die bis eben noch diktatorisch beherrscht wurden, mussten sich rasend schnell ihnen bis dahin völlig unbekannte Zusammenhänge erschließen. Sie mussten fast den gesamten Erfahrungsschatz ihres bisherigen Lebens innerlich entsorgen und mühsam Dinge lernen, die ihren westlichen Zeitgenossen in Fleisch und Blut steckten. Solch elementare Dinge wie: Was ist eigentlich Geld?

Moment mal, höre ich Sie sagen, Geld gab es doch auch vorher schon! Es gab die sowjetischen Rubel, das stimmt. Es gab auch Geschäfte, in denen man mit ihnen einkaufen konnte. Es gab vieles, was äußerlich aussah wie im Westen. Aber was heißt das schon? So gesehen, gab es in der Sowjetunion auch politische Wahlen. Alle paar Jahre fand eine Veranstaltung statt, bei der die Leute in ein Wahllokal gingen, dort gab es Wahlurnen und Wahlkabinen für die Stimmabgabe, und man bekam einen Wahlzettel, darauf musste man sein Kreuzchen machen und ihn dann in die Urne einwerfen. Aber bekanntlich waren das keine Wahlen, die ihren Namen verdienten. Auf dem Zettel stand nur ein einziger Kandidat, und man konnte nicht einmal mit Nein stimmen. An einen Machtwechsel durch Wahlen war selbstredend nicht zu denken. Das Ganze war eine Theateraufführung, die die Regierung aus unerfindlichen Gründen weiter auf dem Programm beließ, obwohl man sie auch gleich ganz hätte absetzen können.

Genauso war es mit dem Geld. Äußerlich gesehen hatten diese bunten Scheinchen, bedruckt mit unterschiedlichen Zahlen, große Ähnlichkeit mit Zahlungsmitteln. Aber kaufen konnte man sich damit spätestens seit den Achtzigerjahren eigentlich nichts mehr. Um in den Besitz gewöhnlicher Konsumgüter zu gelangen, half Geld nicht allzu sehr, man brauchte gewisse Bezugskarten oder, sehr wichtig, einen guten Platz in der Warteschlange oder, noch besser, gute Beziehungen. Wenn ich sage, dass ein Sowjetmensch im Grunde nicht wusste, was Geld ist, übertreibe ich nicht. Und als er im Jahr 1991 urplötzlich in der Marktwirtschaft aufwachte, hatte er absolut keine Ahnung, wie das funktionierte. Er fand sich einer komplett neuen Realität gegenüber und musste lernen, und zwar schnell. Denn es ging um elementare Fragen. Was ist Privatwirtschaft? Wie geht Unternehmertum, Preisgestaltung? Was ist meine Arbeitsleistung wirklich wert? Und es gibt da diese Banken, dort lagert mein Geld, aber es lässt sich anscheinend auch mittels Aktien vermehren. Klingt gut, wie funktioniert das?

Dieser Lernprozess war für viele Menschen ziemlich schmerzhaft. Die frühen Neunziger waren ein Eldorado für Trickbetrüger. Kleine und große Gauner arbeiteten nach dem berüchtigten Ponzi-Schema, einem Schneeball- oder Pyramidensystem. Sergei Mawrodi, der mit seiner Aktiengesellschaft MMM geschätzt an die 15 Millionen Menschen um ihr Erspartes brachte, war wohl der bekannteste und virtuoseste Finanztrickser in Russland. Da die Leute keinerlei Vorstellung davon hatten, wie ein freies Finanzsystem funktioniert, kam es ihnen nicht weiter seltsam vor, dass man irgendwo 100 Rubel einzahlte und eine Woche später 300 Rubel zurückbekam. Für sie war das ganz logisch: Man kauft Aktien, die Aktien steigen im Kurs, und dann verkauft man sie für das Dreifache, so muss es sein, so hatten sie es irgendwo gelesen.

Die Bürger landeten aber nicht nur über Nacht in einem neuen Wirtschaftssystem, in das sie sich von null an hineindenken mussten. Sie verloren zugleich das Wirtschaftssystem, mit dem sie aufgewachsen waren, das ihr Leben, ihr Bewusstsein geprägt hatte. Für den normalen Sowjetbürger hatte die Planwirtschaft Stabilität bedeutet, Verlässlichkeit und Vorhersehbarkeit. Man ging jeden Tag zur Arbeit in seine Fabrik, leistete seine Stunden ab und ging wieder nach Hause. Man hatte gewissermaßen die Sicherheit eines Beamtendaseins. Die Fabrik stellte natürlich auch etwas her, irgendein Produkt. Was das für ein Produkt war, konnte dem Arbeiter egal sein. Man hatte seine Norm zu erfüllen, sagen wir 100 Stück am Tag, damit hatte man seinen Teil erledigt. Wer ehrgeizig war, fertigte 110 Stück und erhielt eine Prämie oder eine Belobigung. Ob es für dieses Produkt eine Nachfrage gab, ob es sich verkaufen ließ und wie, das spielte für den gewöhnlichen Arbeiter keine Rolle. Er produzierte für den Fünfjahresplan, der in den schummrigen Büros der staatlichen Planungskommission geschrieben wurde.

Dort interessierte man sich auch nicht immer für die realen Bedürfnisse der Bürger. So konnte es passieren, dass Produkte aus der einen Fabrik in der einen kleinen Stadt in einer anderen Fabrik in einer anderen kleinen Stadt von anderen Arbeitern wieder auseinandergebaut und entsorgt wurden, weil sich herausgestellt hatte, dass dieses Produkt gar nicht in dieser Stückzahl gebraucht wurde. Trotzdem lief die Produktion weiter, weil sich erst mit dem nächsten Fünfjahresplan etwas daran ändern ließ. Aber für den Arbeiter war das nicht wichtig. Er hatte seinen sicheren Arbeitsplatz, den ihm der Staat garantierte, egal ob die Arbeit gebraucht wurde oder nicht.

Und auf einmal kam die Marktwirtschaft, plötzlich herrschten die Gesetze des Marktes, nach denen nur eine Existenzberechtigung hat, wofür es eine Nachfrage gibt. Und all diese kleinen Fabriken in all diesen kleinen Städten, die nach bürokratisch aufgestellten Fünfjahresplänen irgendwelche Produkte herstellten, verloren mit einem Schlag ihre Existenzberechtigung. Das war die totale Katastrophe, zumal es viele »Monostädte« mit nur einer einzigen produzierenden Fabrik gab, von der alle Bewohner abhingen. So verloren etliche Millionen Menschen ihre Arbeit und ihre Existenzgrundlage. Sie blieben ohne jede Perspektive, ohne Aussicht, eine andere Arbeitsstelle zu finden, denn in den Monostädten gab es keine andere Arbeit. Millionen junger Menschen wurden in den Alkoholismus oder in die Kriminalität getrieben. Hunderttausende starben in den Kämpfen rivalisierender Banden, die sich vor allem in den großen Städten auf den Trümmern der sowjetischen Wirtschaft rasch ausbreiteten und die neu entstehenden Wirtschaftsunternehmen unter ihre Kontrolle zu bringen versuchten. Von daher kommt das Wort von den »wilden Neunzigern«, das im Vokabular der russischen Bürger fest verankert ist. In dieser Zeit machten viele Millionen Menschen traumatische Erfahrungen: Sie sahen ihr Leben scheitern und konnten nicht einmal begreifen, wodurch sie das verschuldet hatten.

Natürlich gab es auch solche, die sich der Realität sehr schnell anpassten, die die neuen Regeln sofort begreifen und anwenden konnten, die sehr gute Geschäfte machten und sehr viel Geld verdienten. In dieser Zeit entstand der Begriff vom »Neuen Russen«. Er steht für die besondere Spezies, die sich in diesem weitgehend konkurrenzlos bespielbaren Feld wunderbar zurechtfand, die sich grenzenlos bereicherte und ihr leicht und schnell zusammengerafftes Geld benutzte, um sich mit grotesker Pracht zu umgeben.

Neben der Planwirtschaft war, wie gesagt, auch das Staatswesen zusammengebrochen. Das System des totalitären Monopolismus in den Händen einer kommunistischen Einheitspartei war zerfallen. Am 4. März 1990 fanden die ersten freien Parlamentswahlen der Russischen Föderation statt. Es gab konkurrierende Kandidaten und sogar einen richtigen Wahlkampf. Die Städte waren mit Plakaten nur so zugepflastert, Menschen aller Altersklassen, auch viele junge Leute, drängten in die Politik, bewarben sich um ein Abgeordnetenmandat im Obersten Sowjet oder um einen Sitz in einem Regionalparlament. Für eine erfolgreiche Bewerbung brauchte es nicht viel, man musste nur gut reden können und ein halbwegs sinnvolles Wahlprogramm schreiben, mit dem man die Leute beeindruckte. Das reichte vollkommen, schließlich hatten alle etwa die gleichen Voraussetzungen, alle waren mehr oder weniger unbeschriebene Blätter ohne jede Demokratieerfahrung. Die Vorstellungen davon, wie demokratisch legitimierte Politik funktionieren sollte, waren unter den aktiven Politikern genauso naiv wie unter den Menschen, die sie wählen sollten. Die frisch aus der Taufe gehobenen Parteien waren keine ideologisch grundierten Verbände, sondern eher spontane Zusammenschlüsse um eine charismatische Persönlichkeit. Die neue politische Realität war also ähnlich chaotisch wie die wirtschaftliche.

Das wirtschaftliche und das politische System kollabierten zur gleichen Zeit, was nicht heißt, dass hier ein ursächlicher Zusammenhang bestand. Den postsowjetischen Massen haben sich beide Ereignisse gleichwohl als eine einzige Katastrophe ins Bewusstsein eingeschrieben. Die Neunzigerjahre sind ihnen in Erinnerung geblieben als die schwerste Zeit ihres Lebens – als Phase eines existenzbedrohenden wirtschaftlichen Chaos wie der politischen Unsicherheit. Die gerade geborene Demokratie bedeutete ihnen nicht neu gewonnene Freiheit, sondern sie stand für Unwägbarkeit und Schrankenlosigkeit und wurde als bedrohlich empfunden. Überall sprossen Parteien aus dem Boden, ständig erschienen unbekannte, schillernde Politikergestalten, die lautstark miteinander konkurrierten. All das verwob sich im Bewusstsein der Bürger zu der bleibenden Empfindung eines katastrophischen Traumas. Und das eben machte es später Wladimir Putin so leicht, der russischen Bevölkerung sein politisches Mantra zu verkaufen: Demokratie ist schlecht, Demokratie ist eine Katastrophe, Demokratie heißt Armut, Demokratie heißt Finanzpyramide, Bandenkämpfe, Demokratie ist Chaos, Demokratie ist etwas, das ihr nicht braucht.

In der Sowjetunion lebten 280 Millionen Menschen, in Putins Russland leben noch 140 Millionen Staatsbürger. Der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums war eine Folge seiner Niederlage im Kalten Krieg. Diese Niederlage empfanden viele Menschen als eine Kränkung, für die es keine Revanche gab. Ich denke, man kann das, was in den Köpfen vieler Russen geschah und von Putin für den Aufbau seiner Diktatur leider so erfolgreich genutzt werden konnte, mit einigem Recht als Versailles-Syndrom bezeichnen. Man fühlte sich, ähnlich wie die Deutschen nach ihrer Niederlage im Ersten Weltkrieg 1918, schuldlos gekränkt und ungerecht behandelt. Nachdem der Westen die Sowjetunion im Kalten Krieg besiegt hatte, vergaß er Russland für einige Zeit, ließ das zerfallende Imperium mit seinen Problemen allein. Es gab keinen Marshallplan, der geholfen hätte, die russische Wirtschaft wiederaufzubauen und in die Weltwirtschaft zu integrieren.

Natürlich hatte die Welt genug eigene Probleme und akute Konfliktherde. Und anscheinend dachte man, das große Russland mit seinem riesigen Territorium und all seinen natürlichen Ressourcen, mit seinen begabten Ingenieuren und agilen Unternehmern werde schon allein zurechtkommen. Das tat es ja zunächst auch. In den Nullerjahren gab es ein enormes Wachstum, das Russland unter die führenden fünf Wirtschaftsnationen der Welt katapultierte. Viele Städte blühten wieder auf, die russische IT-Branche drängte in den Weltmarkt. Die magische Hand des Marktes, auf die die liberalen Reformer der Neunziger vertraut hatten, tat also doch das Ihre. Aber das einmal erlittene nationale Trauma war aus dem kollektiven Gedächtnis der Russen nicht auszulöschen: Wir wurden ungerecht behandelt, unser Land ist in Stücke zerbrochen, keiner hat uns geholfen, man hat uns in schwierigster Zeit allein gelassen, wir sollten verrecken. Und zweifellos hatte die Zeit der schwersten Entbehrungen in der Seele vieler Russen tiefe Narben hinterlassen. Fast zum Symbol dieser Zeit wurde die karierte Jumbo-Falttasche aus Plastik. So mancher schlecht bezahlte Lehrer fuhr mit solchen Monstertaschen in die Türkei, kaufte dort billige Klamotten ein und verscherbelte sie in Russland mit marginalem Gewinn auf irgendeinem dieser trübseligen improvisierten Straßenmärkte, die das ganze Land überzogen.

Sicher ist nur allzu verständlich, dass die Mehrheit der Bevölkerung nach den ersten euphorischen Jahren der Demokratisierung, in denen so mancher wendige Neupolitiker mit ein wenig Schwung und vielen schönen Worten Karriere machte, angesichts jahrelanger Stagnation nichts mehr auf schöne Worte geben wollte und sich kompetentere Entscheider, vor allem fähige Ökonomen, in der politischen Verantwortung wünschte. Die Menschen wollten Sicherheit und Berechenbarkeit, sie wollten, dass ihr Lohn pünktlich bezahlt wurde, sie wollten Stabilität. Das alles konzentrierte sich im Begriff des »starken Wirtschaftsführers«, deshalb gewannen bei den Wahlen auf einmal Leute, die offen sagten: Ich bin kein Politprofi, ich halte keine schönen Reden, aber ich bin ein erfahrener Manager, bei mir wird Ordnung herrschen.

 

Wladimir Putin begann seine politische Karriere als Assistent und später Stellvertreter eines der großen Polit-Tribunen der Neunzigerjahre. Anatoli Sobtschak, studierter Jurist, war ein brillanter Redner, dessen Reden das ganze Land im Fernsehen oder im Radio hörte und in den Zeitungen las. Sobtschak war Bürgermeister von Sankt Petersburg, der zweitgrößten Stadt des Landes. Als 1996 erneut Wahlen anstanden, ging er fest davon aus, dies werde für ihn ein gemütlicher Spaziergang sein, denn der einzige ernst zu nehmende Konkurrent war sein Stellvertreter Wladimir Jakowlew, ein Ingenieur und farbloser Technokrat. Jakowlews Wirkungsbereich in der Stadtverwaltung war der kommunale Wohnungsbau, ein unspektakuläres Betätigungsfeld, weit entfernt von den großen Fragen politischer Gestaltung.

Erster Stellvertreter von Anatoli Sobtschak und damals sein Wahlkampfleiter war Wladimir Putin. Was niemand erwartet hatte, geschah: Sobtschak verlor die Wahl gegen den langweiligen Pragmatiker Jakowlew. Putin wurde arbeitslos, und eine Weile überlegte er, wie er später einmal erzählte, als Taxifahrer anzufangen. Diese Niederlage war für ihn eine äußerst schmerzhafte Erfahrung. Doch er zog seine Lehren daraus, auch wenn seine Stunde noch nicht gekommen war.

Als Putin beschloss, seine politische Konkurrenz aus dem Feld zu räumen, lagen die Neunzigerjahre schon eine Weile zurück. Im Volk jedoch hatte sich die kollektive Erinnerung an eine schwere und traumatische Zeit festgesetzt, und Putin und seine Propagandisten hatten es leicht, diese Erzählung für sich nutzbar zu machen. Die Befreiung vom Erbe der wilden Neunziger und die Behauptung nunmehr erlangter Stabilität: Das sind die zentralen Narrative, auf denen die Popularität von Wladimir Putin gründet. Zu Hilfe kam ihm die Erholung der russischen Wirtschaft nach der Krise von 1998 und vor allem der schnell steigende Ölpreis. Die Reallöhne stiegen spürbar an, die Menschen verdienten wieder Geld, sie kamen allmählich in der neuen Realität an. So hatte Putin es leicht, die gute Gegenwart mit markanten Parolen gegen die schrecklichen Neunzigerjahre abzuheben, in der Art: Damals habt ihr gehungert, heute sind die Läden voll, damals herrschte schlimmstes Chaos, heute Stabilität, früher war alles finster, heute liegt vor euch eine lichte Zukunft.

Im Jahr 2008 kam die nächste Finanzkrise, und mit dem Wachstum war es vorbei. Tatsächlich war in Russland der Gipfel der Entwicklung insgesamt erreicht, die Wirtschaftsleistung späterer Jahre blieb stets dahinter zurück. Von heute aus gesehen tritt die russische Wirtschaft nun schon seit fünfzehn Jahren auf der Stelle, auf sehr unsicherem Grund. Aber im Vergleich zu den Neunzigerjahren hat auch Stagnation den Anschein von Stabilität, und die Propaganda konnte damit arbeiten. Die Neunzigerjahre waren eine Zeit extremer Turbulenzen gewesen, in der es für die Menschen permanent auf und ab ging; manche machten über Nacht ein riesiges Vermögen, andere, manchmal auch dieselben, stürzten genauso schnell in schlimmste Armut. Es war die reinste Achterbahnfahrt. Dagegen bot sich Putin als eine Art Plateau dar, überschaubar und trittsicher, und mit dem Signet der Stabilität konnte er sich sehr erfolgreich verkaufen. Wollt ihr etwa zurück in die wilden Neunziger? Seit 2008, als das Wirtschaftswachstum keine Früchte mehr abwarf, die man politisch nutzen konnte, orientierte sich die Propaganda der putinschen Agitatoren und der Regierungspartei Einiges Russland vollständig an dieser Schwarz-Weiß-Malerei: Neunzigerjahre-Chaos versus neue Stabilität.

Diese Methode funktioniert noch heute, obwohl inzwischen eine neue Generation herangewachsen ist. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind mehr als dreißig Jahre vergangen. Die Menschen, die damals im Arbeitsleben standen und am schwersten zu kämpfen hatten, sind heute Rentner. Aber die Erinnerung ist tief im Bewusstsein der Massen verwurzelt und wird von Generation zu Generation weitergegeben. Selbst Kinder und Jugendliche, die nach dem Jahr 2000 geboren wurden, die nur die Putin-Zeit kennen, reden mit Schaudern über die wilden Neunziger. Hier hat sich das Gefühl nationaler Kränkung dauerhaft und auf gefährliche Weise mit imperialer Nostalgie vermischt.

Putins Rhetorik war anfangs nicht antiwestlich, nicht antieuropäisch. Im Gegenteil, sein Programm, mit dem er 2004 nach Ablauf seiner ersten Amtszeit zur Wiederwahl antrat, nennt als politische Ziele den Beitritt zur NATO und zur Europäischen Gemeinschaft. Aber schon im Februar 2007 klang, was er in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz sagte, ganz anders. Es sei an der Zeit, die alte Weltordnung zu verändern. Das monopolare Modell sei nicht nur ungeeignet, sondern auch unmöglich. Und er stellte fest, dass seine Worte bei vielen Bürgern seines Landes auf offene Ohren stießen, dass sein Kurswechsel ihm viel Popularität einbrachte. Von einer Integration Russlands in EU und NATO war fortan keine Rede mehr. Putins Rhetorik wurde immer kämpferischer, er ging zunehmend auf Konfrontationskurs. Sein Propaganda-Apparat hämmerte den Bürgern pausenlos ein, wie verfault der Westen sei, wie moralisch zerrüttet, wie durch und durch verdorben und schädlich. Die NATO sei eine Bedrohung für Russland, alle müssten sich um den nationalen Führer scharen, um Russlands historische Einzigartigkeit zu verteidigen, seine Stabilität zu schützen, denn – zum hundertsten Mal – man wolle und dürfe nicht in die schlimmen Neunzigerjahre zurückfallen.

Das war im Grunde eine sehr schlichte Form der Manipulation, aber sie bewirkte effektiv die Zunahme und Konsolidierung der persönlichen Macht Wladimir Putins und ermöglichte den Aufbau einer Diktatur in Russland, die schließlich auf direktem Weg zur Tragödie des russischen Angriffs auf die Ukraine im Februar 2022 führte.

Es mag paradox erscheinen, aber dies veranlasst mich auch, mit einem gewissen Optimismus in die Zukunft zu schauen. Ja, es ist Putin gelungen, vielen, wenn auch nicht allen Russen einzureden, die Demokratie sei ungeeignet für sie. Aber die Generation, die die Neunzigerjahre noch in Erinnerung hat, wird nach und nach von einer jüngeren Generation abgelöst, die keine große Furcht hat vor dem Schreckgespenst des politischen Wettbewerbs. Im Gegenteil, diese Generation, deren ganzes Leben unter Putins Herrschaft verlief, wünscht sich einen Wechsel, sie möchte neue Persönlichkeiten sehen, sie wünscht sich den politischen Wettbewerb.

Dazu kommt, dass die russische Wirtschaft, so abstrus verfilzt und so stark abhängig sie vom Verkauf von Gas und Öl ist, immer noch eine Marktwirtschaft ist. Und auch wenn das politische System nach einer kurzen halbdemokratischen Phase inzwischen wieder in einer Weise autoritär ist, die dem in der Sowjetunion herrschenden Totalitarismus kaum nachsteht: Eine Rückkehr zur Planwirtschaft hat nicht stattgefunden. Allen Schwierigkeiten zum Trotz gibt es in Russland viele fähige Unternehmer in vitalen Branchen. Auch im Bereich der Finanztechnologie können die Russen mit den Westeuropäern mithalten. Die Zahl der Privatinvestoren auf dem Aktienmarkt ist vergleichbar mit normalen europäischen Ländern. Die Menschen verstehen inzwischen sehr gut, was Geld ist und woher es kommt und wie man es verdienen kann. Gerade viele junge Leute möchten irgendwann ein eigenes Geschäft eröffnen, das Kleinunternehmertum gilt in der Gesellschaft als sehr attraktiv. Man bedenke, noch vor wenigen Jahrzehnten, in den letzten Jahren der Sowjetunion, konnte man für privatwirtschaftliche Initiative sehr schnell im Gefängnis landen.

Vielleicht erscheint es seltsam, wenn ich das sage, aber ich glaube tatsächlich, dass Russland bald bessere Zeiten bevorstehen. Einen Totalzusammenbruch des wirtschaftlichen Systems wird es nicht geben, und deshalb muss man vor der Zukunft keine Angst haben. Wenn die Ära Putin vorbei ist, wird es einen demokratischen Wandel geben, und der wird nicht mehr so schmerzhaft sein wie der erste, denn die Veränderung, die uns bevorsteht, haben viele Länder im östlichen Europa schon sehr erfolgreich durchlaufen. Der finstere Mythos der Neunzigerjahre gründet auf falschen Prämissen, auf der den Menschen untergejubelten Behauptung, Demokratie bedeute Armut und Krise. Aber so ist es nicht. Und deshalb werden viele Russen, auch die, die jetzt immer noch Angst vor den wilden Neunzigern haben, schließlich und endlich, wenn Putins Zeit vorbei ist, feststellen, dass sie all diese Jahre hindurch betrogen wurden, dass sie gar keinen Grund zur Angst hatten.

Die Errichtung der Machtvertikale

Da ich von meiner Ausbildung her Mathematiker bin, denke ich manchmal in mathematischen Begriffen. Ein interessantes Prinzip aus der Theorie der stetigen Funktionen ist der sogenannte Satz von Bolzano und Cauchy. Der geht, anschaulich formuliert, so: Wenn eine stetige Funktion zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Wert unter null annimmt und zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Wert über null, dann muss sie auch zu einem bestimmten Zeitpunkt durch null gehen. Stellt man sich dies grafisch in einem Koordinatenkreuz vor, ergibt sich ein einfaches und klares Bild, das sich sehr gut auf das Leben übertragen lässt. Es hilft mir dabei, einige Dinge in der konkreten Realität besser zu verstehen.

Putins Russland ist heute ein totalitärer Staat. Im Frühjahr 2000 aber fanden bei uns noch relativ demokratische Präsidentschaftswahlen statt, bei denen sogar mehrere Kandidaten gegeneinander antraten. Nun hat in den vergangenen 24 Jahren aber durchaus keine Revolution stattgefunden, das Land hat sich vielmehr ganz allmählich verändert. Es ist wie bei der stetigen Funktion in unserer Grafik. Die Kurve steigt behutsam, aber stetig an, irgendwann geht sie durch null, und die Werte wechseln das Vorzeichen. Auf die politische Entwicklung Russlands übertragen heißt das: Irgendwann hat diese Entwicklung den Punkt erreicht, an dem die Demokratie endgültig in Autoritarismus umschlug. Wann das genau gewesen ist, darüber sind sich die Experten und Politologen nicht einig, sie bestimmen diesen Punkt unterschiedlich.

Für mich lässt sich mit einiger Bestimmtheit sagen, dass er dem Jahr 2000 deutlich näher liegt als dem Jahr 2022. Ich glaube, Putin hatte entweder von Anfang an vor, die Demokratie zu demontieren, oder ihm war schon sehr bald nach Beginn seiner Präsidentschaft klar, dass er das tun konnte und wollte. Für viele Beobachter war der symbolische Moment, der für das endgültige Ende der Demokratie steht, die faktische Verstaatlichung des Senders NTW, des letzten großen privaten russischen Fernsehsenders, im Jahr 2001. Natürlich war das ein schwerer Schlag gegen die Meinungsvielfalt. Aber NTW wurde vom Oligarchen Wladimir Gussinski finanziert, der Sender war kommerziell nicht erfolgreich und deshalb eine zu leichte Beute.

Zuvor gab es den tragischen Vorfall mit dem Atom-U-Boot »Kursk« im Jahr 2000, bei dem 118 Seeleute starben. Nur fünf Monate nach Amtsantritt war Putin mit der ersten Krise nationalen Ausmaßes konfrontiert. Er reagierte sehr ungeschickt, hielt es nicht für nötig, seinen Urlaub zu unterbrechen, sprach kein Wort des Trostes an die Nation, kurz, er zeigte keine Führungsqualitäten. Aber ich denke, auch das war nicht der entscheidende Punkt, an dem der Totalitarismus begann. Der Untergang der »Kursk« war eine schreckliche Tragödie, aber eben ein Unfall, ein zufälliges Ereignis.

Wirklichen Vorsatz im Hinblick auf die Schaffung der politischen Machtvertikale mit einem starken Herrscher an der Spitze sehe ich in der Reform des Staatshaushalts. Denn erst durch den Aufbau der wirtschaftlichen Machtvertikale, mit dem Putins Regierung schon ganz zu Anfang seiner ersten Amtszeit begann, wurde es faktisch möglich, den Föderalismus in Russland zu demontieren.

Laut Verfassung ist Russland nach wie vor ein föderaler Staat, so wie die USA oder Deutschland. Ursprünglich gab es 89 Gebietseinheiten als »Föderationssubjekte«, später waren es 83, jetzt, nach der Annexion der Krim mit Sewastopol, sind es 85 (22 Republiken, 9 Regionen, 46 Gebiete, 4 autonome Kreise, ein autonomes Gebiet und 3 Städte mit föderaler Bedeutung). Formal sind diese Föderationssubjekte so unabhängig wie die US-amerikanischen Bundesstaaten, sie haben eine eigene Legislative, die Republiken sogar eine eigene Verfassung, sie können ein eigenes Budget aufstellen usw. – formal, denn faktisch ist das alles Makulatur. In der Realität wird das Land zutiefst zentralistisch regiert. Doch das war nicht immer so. In den 1990er-Jahren waren die Regionen tatsächlich in hohem Maße unabhängig und selbstständig, sie wurden von starken Persönlichkeiten geführt, die in freien Wahlen bestimmt wurden. So mancher von ihnen trug, wie man sagte, einen Marschallstab im Tornister und blickte selbstbewusst in Richtung Premierministeramt als mögliche Fortsetzung seiner Karriere.

Die Spitze der Regierung jedoch – in Gestalt des relativ liberalen Ministerpräsidenten Michail Kassjanow und seines relativ liberalen Ministers für wirtschaftliche Entwicklung und Handel Herman Gref – beendete 2001 mit einem einfachen, aber wirksamen Manöver die Selbstständigkeit der Regionen. Mit der Schutzbehauptung, gegen die »Ineffektivität der Mittelverwendung auf regionaler und kommunaler Ebene«, mit anderen Worten, gegen Korruption anzukämpfen, vollzogen sie eine radikale Steuerreform, mit der sie die Staatsfinanzen maximal zentralisierten. In ihrer Folge war die überwiegende Zahl der Regionen, von den Städten gar nicht zu reden, fortan nicht mehr in der Lage, ihre laufenden Ausgaben selbst zu finanzieren.

Konkret sah das so aus: Als ich im Jahr 2009 in meiner Heimatstadt Jekaterinburg, der viertgrößten Stadt des Landes, als Abgeordneter in die Stadtduma einzog, entfiel der Großteil des städtischen Steueraufkommens auf die Einkommensteuer. Sie wurde von den im Stadtgebiet lebenden natürlichen Personen eingezogen. Von der Gesamtsumme dieser Steuer flossen 40 Prozent in die Stadtkasse, die übrigen 60 Prozent wurden an die höhere Ebene des Haushaltssystems abgeführt. Alle anderen Ortssteuern wie Gewinnsteuer der ansässigen Unternehmen, Mehrwertsteuer usw. flossen nicht in das Budget der Stadt ein.

Dieses für die Städte schon nicht besonders vorteilhafte Verhältnis von 40 zu 60 Prozent wurde in den folgenden Jahren weiter verschoben. 2013, als ich die Stadtduma verließ, war der Satz, der in der Stadtkasse verblieb, schon auf 30 Prozent gekürzt worden, und heute liegt er je nach Region zwischen 12 und 16 Prozent der Einkommensteuer.

Der Finanzbedarf der Regionen ist natürlich weit höher. Sie sind also auf Transfers oder Subventionen aus den oberen Etagen des Steuersystems angewiesen. Das bedeutet zweierlei. Zum einen haben die Regionen keine besondere Motivation, lokale Unternehmen zu fördern, was zwar Arbeitsplätze schaffen würde, aber wenig Geld in die Stadtkasse brächte. Zum anderen sind die Regionen und Städte gezwungen, bei der Zentralregierung im Kreml zu antichambrieren. Sie müssen buchstäblich betteln gehen: Bitte gebt uns Geld für dieses und für jenes.

Damit hat sich die Position der regionalen Regierungen natürlich radikal verändert. Charismatische, kreativ denkende Politiker, die eine eigene, unabhängige Politik gestalten wollen, kann es nicht mehr geben. So wurde die ökonomische Machtvertikale zur Basis der politischen Machtvertikale. Indem die Zentralregierung den Geldhahn beliebig auf- und zudrehen kann, wird jeder unbotmäßige Regionalpolitiker schnell in die Knie gezwungen. Er steht vor der Wahl: Entweder du tust, was man dir sagt, oder wir drehen dir den Geldhahn zu, dann kannst du deine Gehälter nicht mehr zahlen, die Straßen nicht reparieren, die Kindergärten müssen dichtmachen; dann ist es schnell vorbei mit deiner Karriere.

Dieses extrem zentralisierte Haushaltssystem stammt im Grunde noch aus sowjetischer Zeit, es ist letztlich ein Bestandteil der Planwirtschaft. Und es ist, neben allen anderen Nachteilen, enorm korruptionsanfällig. Hängt die Mittelbewilligung von der Gnade Moskaus ab, kann sich die dafür zuständige Person die Gewährung leicht materiell entgelten lassen. Die Staatsbeamten haben das sehr schnell gelernt.

Ich erzähle ein Beispiel aus meiner Zeit als Stadtverordneter, ich staunte selbst nicht schlecht darüber. Das System der Wasserversorgung von Jekaterinburg war völlig marode, eine Generalsanierung war unabdingbar geworden. Die Kosten dafür wurden auf rund 60 Milliarden Rubel kalkuliert. Das gesamte Jahresbudget der Stadt belief sich zu der Zeit auf 35 Milliarden Rubel, es war klar, dass die Stadt diese Ausgabe allein nicht stemmen konnte. Es bestand aber dringender Handlungsbedarf, die Versorgung brach immer öfter zusammen. Uns stand das Wasser bis zum Hals.

Die Stadtverwaltung schickte also ihre Abgesandten nach Moskau, um eine Sonderfinanzierung aus dem Staatshaushalt zu erbitten. Sie wurde gewährt, das Geld würde in die Stadtkasse von Jekaterinburg fließen – aber 10 Prozent der bewilligten Summe mussten durch ein Löchlein in der Kasse wieder nach Moskau zurückfließen, in bar. Die Stadt sollte ihre 60 Milliarden für die Sanierung bekommen, aber ganze sechs Milliarden davon musste sie irgendwie den Beamten zukommen lassen, die über die Finanzierung entschieden.

Man sieht, die wirtschaftliche Machtvertikale war die Basis nicht nur der politischen, sondern auch der Korruptionsvertikale. Das war die logische Kette: Der russische Föderalismus war beseitigt, die ehemals starken und einflussreichen Regionalpolitiker waren kaltgestellt oder verschwunden, und die erfolgreich vollzogene Zentralisierung der Geldströme läutete das große Projekt der hemmungslosen Ausplünderung des Landes ein.

 

Ich halte Präsident Putin nicht für besonders klug oder gebildet, und bekanntlich war »ausreichend« die häufigste Note in seinem Abgangszeugnis. Seine Zulassung an der angesehenen juristischen Fakultät der staatlichen Universität von Sankt Petersburg erhielt er nur über eine Sportquote, nicht wegen seiner schulischen Erfolge. Aber auch im KGB machte er keine besonders eindrucksvolle Karriere, nicht einmal seine späteren Biografen konnten aus diesem Lebensabschnitt viel Saft herauspressen, obwohl sie sich alle Mühe gaben, Putins Dienstzeit mit einer Aureole des Heldentums zu umgeben. Mit 35 Jahren war er immer noch Major, was gemessen am Alter und der Zahl der Dienstjahre kein besonders hoher Rang ist, und seine Funktion war die Leitung des Hauses der Deutsch-Russischen Freundschaft in Dresden. Viele seiner Kameraden und Kollegen vom KGB waren die Karriereleiter längst höher hinaufgestiegen, einige bereits im Generalsrang, wovon Putin nicht einmal träumen konnte. Aber der große Weitblick war von ihm wohl auch nicht zu erwarten, wo hätte das herkommen sollen? Er hatte eine schwierige Kindheit und Jugend in einem Problemviertel von Sankt Petersburg durchlebt, verbrachte seine freie Zeit vor allem mit Sport, und auch seine Arbeit beim KGB bestand wohl im Wesentlichen darin, jede Menge operative Berichte zu schreiben, die kein Mensch jemals wirklich las. Das alles ist nicht unbedingt förderlich für die Entwicklung einer Persönlichkeit.

Aus den ersten Biografien über Putin aus den 2000er-Jahren, die in ziemlich schmeichelhaftem Ton gehalten sind, erfahren wir nichts über vielseitige Interessen oder eine Neugierde für Phänomene der Weltkultur. Die Personen, die ihn vor seiner Zeit als Präsident kannten, bezeugen jedoch, dass er ein Mensch ist, der an einer Sache dranbleibt, der seine Lektionen gründlich, teils zwanghaft lernt. Dieses Muster lässt sich bei ihm immer wieder beobachten. Putin bekommt seine Lektion, paukt die Regeln und hält sich dann strikt daran.

Ein Beispiel aus jüngster Zeit: Im Frühjahr 2020