QM im Wandel - Benedikt Sommerhoff - E-Book

QM im Wandel E-Book

Benedikt Sommerhoff

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Beschreibung

Zukunftsfähig in der VUCA-Welt!

Ohne Qualität geht nichts! Doch das bisherige Qualitätsmanagement findet keine Antwort auf die Veränderungen der Zeit. Hohe Flexibilität und Komplexität, immer kürzere Zykluszeiten, Globalisierung, Vernetzung und gestiegene Anforderungen der Stakeholder sind nur einige Aspekte, die ein Umdenken erforderlich machen.
Dieses Werk zeigt, wie ein zukunftsfähiges Qualitätsmanagement aussieht, das wirklich den Menschen in den Mittelpunkt stellt und das Thema Innovation als zentrale Anforderung definiert.
Dabei werden Standardisierung und Agilität verbunden, eine Balance zwischen Stabilität und Veränderung hergestellt, die Beteiligten in den Mittelpunkt gestellt, aber auch die Prozesse berücksichtigt.

- Konkret und konsequent umsetzungsorientiert
- Unverzichtbar für alle, die auch in Zukunft Qualität liefern wollen!

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Benedikt Sommerhoff

QM im Wandel

Personenzentriertes Innovations- und Qualitätsmanagement

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de/> abrufbar.

Print-ISBN   978-3-446-45573-3E-Book-ISBN   978-3-446-45993-9ePub-ISBN   978-3-446-46957-0

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Alle in diesem Buch enthaltenen Verfahren bzw. Daten wurden nach bestem Wissen dargestellt. Dennoch sind Fehler nicht ganz auszuschließen.

Aus diesem Grund sind die in diesem Buch enthaltenen Darstellungen und Daten mit keiner Verpflichtung oder Garantie irgendeiner Art verbunden. Autoren und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und werden keine daraus folgende oder sonstige Haftung übernehmen, die auf irgendeine Art aus der Benutzung dieser Darstellungen oder Daten oder Teilen davon entsteht.

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Die Rechte aller Grafiken und Bilder liegen bei den Autoren.

© 2021 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, Münchenwww.hanser-fachbuch.deLektorat: Lisa Hoffmann-BäumlHerstellung: Carolin BenedixCoverrealisation: Max KostopoulosTitelmotiv: © Max Kostopoulos

Dieses Buch widme ich den für Qualität, das Qualitätsmanagement und für deren Weiterentwicklung so engagierten Leiterinnen, Leitern und Mitgliedern der DGQ-Fachkreise sowie all denen, die mir bei meinen Blogbeiträgen, Artikeln und Vorträgen und in Diskussionen so klug widersprochen und eigene Impulse eingebracht haben, sodass meine Analysen stimmiger, meine Thesen schlüssiger und meine Schlussfolgerungen reifer und brauchbarer werden konnten.

Inhaltsverzeichnis

Titelei

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1 Worum es geht

2 Herausforderungen

2.1 Welt 4.0

2.1.1 Welt im Umbruch

2.1.1.1 Vertraut, aber vergangen – die schwere Moderne

2.1.1.2 Kaum zu fassen – die flüchtige Moderne

2.1.2 Paradigmenwechsel

2.1.3 Dynamiken der Welt 4.0

2.1.4 Herausforderungen der Welt 4.0

2.1.5 Herausforderungen für das Innovationsmanagement

2.1.6 Herausforderungen für das Qualitätsmanagement

2.2 Wirksamkeit

2.2.1 Wirkungsverlust durch Überformalisierung

2.2.2 Grenzen der Wirksamkeit von Standards

2.2.3 Managementsysteme an der Leistungsgrenze

2.2.4 Wirksamkeitsverlust einst wirksamer Programme

2.2.5 Herausforderungen zur Wirksamkeit

2.3 Akzeptanz

2.3.1 Akzeptanz des Innovationsmanagements

2.3.2 Akzeptanz des Qualitätsmanagements

2.3.3 Herausforderungen zur Akzeptanz

2.4 Antwort: Personenzentriertes Innovations- und Qualitätsmanagement

3 Wissensgebiete Mensch und Organisation

3.1 Qualität und Innovation

3.1.1 Was ist Qualität?

3.1.2 Was ist Innovation?

3.1.3 Die Verbindung von Qualität und Innovation

3.1.4 Qualitäts- und Innovationsrisiken

3.1.5 Innovationstreiber Nichtqualität – Ambivalenz des Fehlers

3.2 Mensch

3.2.1 Schöpfer von Qualität und Innovation

3.2.2 Rezipient von Qualität und Innovation

3.2.3 In unterschiedlichen Rollen

3.2.4 Der Mensch als Kompetenzträger

3.2.5 Der Mensch als Ressource

3.2.6 Der Mensch als sozialer Interakteur

3.2.7 Der Mensch im Qualitäts- und Innovationsmanagement

3.2.7.1 Der Mensch im Qualitätsmanagement

3.2.7.2 Der Mensch im Innovationsmanagement

3.3 Organisation

3.3.1 Organisationsstruktur

3.3.1.1 Aufbauorganisationsformen

3.3.1.2 Rechtsformen

3.3.2 Organisationskultur

3.3.3 Die drei Seiten der Organisation

3.3.4 Organisation als Ort sozialer Vernetzung und Interaktion

3.3.5 Das Ökosystem der Organisation

3.3.6 Alternative Arbeitsweisen und Organisationsformen

3.3.7 Organisationsentwicklungsziele Resilienz und Reifegrad

3.4 Führung und Management

3.4.1 Führen und geführt werden

3.4.2 Entscheidungsfindung und Problemlösung

3.4.3 Managen und Governance

3.4.4 Prägung durch Managementschulen

3.4.5 Strategie

3.4.6 Kritik der Managementkonzepte

4 Elemente eines PersonenzentriertenInnovations- und Qualitätsmanagements

4.1 Das PIQ-Modell

4.2 Die vier Eckpunkte des PIQ-Modells

4.2.1 Fokus Mensch

4.2.2 Fokus Kultur

4.2.3 Fokus Struktur

4.2.4 Fokus Fachlichkeit

4.3 Die vier Seiten des PIQ-Modells

4.3.1 Organisations-DNA

4.3.2 Performanz

4.3.3 Kollaboration

4.3.4 Qualitäts- und Innovationsstreben

4.4 Die sechs Kanten des PIQ-Modells

4.4.1 Organisatorische Infrastruktur

4.4.2 Wertschöpfungsprozesse

4.4.3 Fachethos

4.4.4 Kompetenz

4.4.5 Werte

4.4.6 Rolle

5 Redesign zum Personenzentrierten Innovations- und Qualitätsmanagement

5.1 Auf- und Ausbau des Innovationsmanagements

5.2 Integration

5.2.1 Kooperation von Innovations- und Qualitätsmanagement

5.2.2 Integriertes Management

5.3 Organisationsentwicklung

5.4 Differenzierung zwischen Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement

5.5 Agiles Qualitätsmanagement

5.6 Deformalisierung

5.7 Digitalisierung der Qualitätssicherung: QS 4.0

5.7.1 Automatisierung und Autonomisierung

5.7.2 Virtualisierung

5.7.3 Qualitätssicherung digitaler Produkte und Prozesse

5.8 Integration der Qualitätssicherung in die Wertschöpfung

5.9 Kollektive Qualitätssicherung des Liefernetzes

5.10 Wie uns das Redesign gelingt – die Transformation

5.10.1 Transformation der Fachgebiete

5.10.2 Transformation in der Organisation

6 Glossar und Definitionen

8 Literatur und Links

Literatur

Links

Der Autor

Vorwort
1Worum es geht
2Herausforderungen

Jede Zeit hat ihre Herausforderungen. Zeiten des Wandels, wie wir sie heute durchleben, schaffen neue Herausforderungen und lösen Paradigmenwechsel aus, also Wechsel unserer grundlegenden Erklärungs- und Lösungsmodelle. Wir stellen unser bisheriges Wissen, unsere Erfahrung, die uns vertrauten Werkzeuge und Methoden infrage.

Herausforderung

Eine Herausforderung ist eine anspruchsvolle Aufgabe, deren Erfüllung eine Errungenschaft bedeuten würde. Sie kann selbst gewählt oder von anderen auferlegt sein.

Das Problem ist eine Spezialform der Herausforderung.

Paradigmen sind unser Blick auf die Welt. Oder präziser gesagt, sie sind geeignete Beschreibungen dessen, was wir beim Blick auf unsere Welt als wichtig und handlungsleitend erkennen.

Paradigma, Paradigmenwechsel

Ein Paradigma ist eine Grundauffassung, ein grundlegendes Denk- und Erklärungsschema. Paradigma bedeutet auch gültige Lehrmeinung in einem Fachgebiet.

Ein Paradigmenwechsel (Bild 2.1) ist ein Wechsel unserer grundlegenden Erklärungs- und Lösungsmodelle. Er findet statt, wenn wir ein Paradigma durch ein neues ablösen.

Die Herausforderungen, Paradigmen und Paradigmenwechsel für das eigene Fach- und Aufgabengebiet zu erkennen und benennen zu können, sind Schlüsselkompetenzen und die Voraussetzungen dafür, im Wandel bestehen zu können, und mehr noch, ihn im eigenen Sinne zu gestalten.

Besonders wichtig ist es, die eigenen Herausforderungen klar benennen zu können, denn Herausforderungen sind die Ausgangspunkte für Lösungen.

Es gibt drei verschiedene Auslöser für Paradigmenwechsel (Bild 2.1). Diese sind:

       Wissenszuwachs, der Zugewinn von Wissen, das uns neue Erklärungen ermöglicht,

       Perspektivenwechsel, wir schauen aus einer anderen Perspektive auf die Dinge und sehen Neues, anderes, verstehen Zusammenhänge anders oder besser,

       der Wandel unserer Welt, der einen neuen Blick darauf erfordert.

Bild 2.1Paradigmenwechsel: der andere Blick auf die Welt und der Blick auf eine andere Welt

Die folgenden Beispiele aus Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement sollen Paradigmen als unseren Blick auf die Welt und Paradigmenwechsel als Wesensmerkmal des Wandels veranschaulichen:

       Wissenszuwachs:

Wir erkennen, dass wir durch die statistische Steuerung von Prozessparametern Produktparameter gezielt beeinflussen können.

Das löst einen Paradigmenwechsel von der 100-%-Produktprüfung zur statistischen Prozessregelung aus.

       Perspektivenwechsel:

Wir erkennen die Bedeutung der Prozesse, das verschafft uns einen neuen Blickwinkel auf die Organisation. Wir sehen nicht mehr nur die Aufbauorganisation, sondern richten unseren Blick auf die Ablauforganisation.

Das löst einen Paradigmenwechsel von der Bereichsoptimierung zur bereichsübergreifenden Prozessoptimierung aus.

       Wandel der Welt:

Fortschreitende Automatisierung und insbesondere der Einsatz künstlicher Intelligenz entkoppelt erstmalig die Prozesse vom Menschen. Dadurch entsteht eine „neue Welt“, und wir erhalten erstmalig einen Blick darauf.

Das löst einen Paradigmenwechsel hinsichtlich der Rollen von Menschen in Organisationen aus. Waren Menschen bisher unbedingt als Steuerer der Prozesse erforderlich, sind sie es jetzt nicht mehr. Haben Menschen bisher jeden Aspekt eines Prozesses designt, entstehen jetzt „Blackboxes“, für die wir nicht mehr wissen, was darin passiert.

Dem Paradigmenwechsel entgegen steht die unterschiedlich bei uns Einzelnen angelegte menschliche Neigung, an Vertrautem festzuhalten und den Wandel selbst und die Notwendigkeit dafür zu negieren und zu leugnen. Das führt dazu, neue Herausforderungen nicht zu erkennen oder zu negieren. Auch das Tagesgeschäft der Problemlösung, wie es im Qualitätsmanagement und auch im Innovationsmanagement so prägend ist, vernebelt den Blick auf die großen Herausforderungen. Über das viele dringliche Kleine übersehen wir leicht das wichtige Große.

Unsere Welt verändert sich rapide. Wir stehen vor neuen Herausforderungen und Paradigmen. Wir müssen diese kennen und benennen können. Dazu gilt es, neues Wissen zu berücksichtigen, neue Perspektiven einzunehmen und zu verstehen, ob und wie sich unsere Welt verändert und welche Konsequenzen das für unser berufliches Handeln hat.

Dieses Kapitel zeigt, wie sich die Welt bereits verändert hat und wie tief sie in einem Prozess fortgesetzten grundlegenden Wandels steckt. Daraus ergeben sich drei Herausforderungen des Qualitätsmanagements:

       Wie können wir das Qualitätsmanagement so gestalten, dass es den neuen Anforderungen und Möglichkeiten der Welt 4.0 gerecht wird?

       Wie können wir die Wirksamkeit des Qualitätsmanagements und der Qualitätssicherung verbessern, damit Menschen als Mitarbeiter mehr Qualität erbringen und als Nutzer mehr Qualität erhalten können?

       Wie können wir dem Qualitätsmanagement und der Qualitätssicherung zu mehr Akzeptanz verhelfen, damit Führungskräfte, Mitarbeiter und wir selbst gerne gemeinsam daran und damit arbeiten?

2.1Welt 4.0

Wir befinden uns in der vierten industriellen Revolution. Das ist eine Aussage von gravierender Bedeutung. Industrielle Revolutionen sind Phasen zahlreicher und systemischer Disruptionen. In den heißen Phasen industrieller Revolutionen finden regelrechte Disruptionsexzesse statt. Sie sind trotz ihres Namens nie auf die Industrie beschränkt, sondern umfassen zunächst die nationale und dann die globale Gesellschaft.

Disruption

Eine Disruption ist eine Innovation von solcher Tragweite, dass sie Paradigmenwechsel und gravierende Umbrüche auslöst. Disruptionen beenden bisherige Entwicklungspfade und eröffnen neue.

Der Wandel unserer Welt erfolgt oft auf der Basis von technologischen Innovationen, lässt sich in seinen Auswirkungen aber nicht allein auf technologischer Ebene verstehen. Führungskräfte und Organisationsentwickler müssen die gesellschaftlichen Prozesse des Wandels beobachten und reflektieren. Die Geisteswissenschaften, allen voran die Soziologie, begleiten durch ihre Begriffe und Erklärungsmodelle den Wandel der Gesellschaft. Wir sollten uns mit ihnen befassen.

Die erste industrielle Revolution hat das Gesicht der gesamten Welt in so kurzer Zeit so gravierend verändert wie keine Phase der Menschheitsgeschichte zuvor. Die Industrialisierung der Wirtschaft, das Aufkommen neuer, schneller und zuverlässiger Verkehrsmittel, wie Eisenbahn und Dampfschiff, die Landflucht, die Proletarisierung in den Städten, die Industrialisierung des Krieges, die erzwungene Öffnung Chinas und Japans für den Westen sowie das Aufkommen neuer politischer Konzepte sind einige der resultierenden Entwicklungen. Im Blick darauf stellen die zweite und dritte industrielle Revolution, die eine gestützt auf Elektrifizierung und tayloristische Techniken der Massenproduktion, die andere auf Computerisierung und Automatisierung, eher technologische und konzeptionelle Weiterentwicklungen sowie Zwischenhochs der ersten industriellen Revolution dar.

Die vierte industrielle Revolution hingegen hat das Potenzial, die globale Gesellschaft genauso grundlegend zu verändern wie die erste. Das ist darauf zurückzuführen, dass deren Paradigmenwechsel ebenso radikal sind wie die der ersten.

Ein besonderer Begriff im Kontext der vierten industriellen Revolution ist Industrie 4.0. Der 2011 vom Präsidenten der Deutschen Akademie für Technikwissenschaften (acatech) und früheren SAP-Vorstand Henning Kagermann erstmalig benutzte Begriff wurde in Twitterschnelle zum „deutschen Brand“, zu einer starken Marke für die vierte industrielle Revolution. Inzwischen ist alles 4.0, die Logistik, die Fabrik, die Arbeitswelt, das Qualitätsmanagement usw.

Doch nicht nur die Industrie, sondern die globale Gesellschaft, die ganze Welt, die Welt 4.0 sind im Umbruch. Die Innovation steht ohnehin im Zentrum dieses Umbruchs. Das Qualitätsmanagement gerät in dessen Sog.

Industrie 4.0

Industrie 4.0 ist ein unspezifischer Sammelbegriff für moderne Technologien, darunter viele digitale. Weil der gegenwärtige Umbruch nicht allein ein Umbruch der Industrie, sondern der globalen Gesellschaft ist, ist Industrie 4.0 auch nicht die geeignete Überschrift für die evolutionären, revolutionären und disruptiven Entwicklungen unserer Zeit. Der Industrie- und Fabrikfokus der Industrie 4.0 ist typisch deutsch und zu eng gefasst. Es lässt sich jedoch erahnen, dass wir uns mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Anfangsphase der vierten industriellen Revolution befinden.

2.1.1Welt im Umbruch

Die Welt hat sich immer verändert. Jede Generation erlebt Umbrüche. Oft waren es Kriege, die sie auslösten, hinzu kommen Naturphänomene, gesellschaftliche, politische, wirtschaftliche und technologische Ereignisse. Für die meisten von uns war es bis vor kurzem noch unvorstellbar, wie schnell und tief eine Pandemie die weltweite Wirtschaft trifft, obwohl genau derartige Szenarien vorhergesagt waren und, mehr noch, bereits in den letzten Jahren Pandemien auftraten, allerdings für viele Regionen und Gesellschaften mit so geringem Effekt, dass sich insbesondere die Gesellschaften mit hohem Wohlstandsniveau, zu denen Deutschland gehört, unangreifbar fühlten.

Doch bereits vor 2020, als ein Virus die Menschen weltweit vor massive Umbrüche stellte, hatte bereits schleichend eine Entwicklung begonnen, bei der viele Menschen zunächst nicht realisierten, wie sehr sie uns in Umbrüche geführt hat und noch führen wird. Denn seit wenigen Jahrzehnten gibt es eine nie da gewesene Innovationsdynamik, die sich in den letzten Jahren immer weiter beschleunigt hat. Noch nie in der Menschheitsgeschichte gab es so viele Innovationen in so kurzer Zeit, darunter so viele Disruptionen, und noch nie eine so hohe weltweite Innovationsverbreitungsgeschwindigkeit. Die jetzige globale Krise, deren Auswirkungen uns noch viele Jahre beschäftigen werden, führt sogar zu einem weiteren Anstieg der Beschleunigung. Krisen sind Trendbeschleuniger. Was zuvor schon schwächelte, kann die Krise weiter beeinträchtigen oder gar hinwegfegen. Was bereits aufkeimte, kann einen Schub erfahren. Beispiele sind der beschleunigte Niedergang der klassischen Mobilitätskonzepte sowie die Zunahme digitaler Kollaboration und die Konversionen analoger in digitale Produkte und Geschäftsmodelle in der ersten Jahreshälfte 2020.

Der Soziologe Zygmunt Bauman hat schon vor dem Aufkommen der Diskussion um die vierte industrielle Revolution den Begriff der flüchtigen Moderne (liquid modernity) eingeführt, die die schwere Moderne

3Wissensgebiete Mensch und Organisation

Sowohl Innovationsmanagement als auch Qualitätsmanagement sind Disziplinen, die sich auf viele Wissensgebiete aller Wissenschaftszweige stützen müssen. Im Kern steht Produkt- und Prozesswissen, das Wissen um die Produkte des Unternehmens, seien sie physisch oder Dienstleistungen. Das dafür notwendige Fachwissen bezieht sich je nach Branche und Unternehmen auf Technologie, Material, Fertigungsprozesse, Dienstleistungsprozesse, Bildung, Medizin, Handel, Logistik und vieles mehr.

Qualitäts- und Innovationsmanagement greifen beide tief in die Strukturen und Kulturen des Unternehmens ein. Dafür brauchen beide Gebiete Wissen über Mensch und Organisation, darunter Organisationsentwicklung, Führung und Management, Verhalten. Dazu bedarf es eines Grundwissens über Psychologie, Soziologie, Pädagogik und Recht.

Beide Disziplinen haben auch ihr eigenes I- & Q-Fachwissen, qualitätsmanagement-, qualitätssicherungs- und innovationsmanagementspezifisches Wissen. Das ist für das Qualitätsmanagement das Wissen über allgemeine und branchentypische Regelwerke, Methoden und Werkzeuge. Für das Innovationsmanagement ist es das Wissen über Kreativität, Start-up-Mechanismen, Geschäftsmodell- und Geschäftsentwicklung.

Bild 3.1 zeigt die relevanten Wissensgebiete entlang der Klassifizierung FOS (Fields of Science and Technology) der OECD [FOS 2007]. Je nach Unternehmen und Branche sind im inneren Kreis andere Wissensgebiete oder auch Wissenschaftsgebiete relevant. Auch in den äußeren Kreisen gibt es branchenspezifisches Wissen, dort steht allerdings auch ein branchenübergreifendes, universales Wissen zur Verfügung.

Bild 3.1Wissensgebiete

Sowohl das Innovationsmanagement als auch das Qualitätsmanagement nutzen ein Portfolio von Teilgebieten aus allen Wissensgebieten. Die Qualitätswissenschaft und auch die Innovationswissenschaft sind Querschnittswissenschaften, die Erkenntnisse aus vielen, wenn nicht allen Wissenschaftsgebieten verwenden können. Sie müssen deshalb interdisziplinär angelegt sein. Kein Mensch kann diese Wissensgebiete allein überblicken, geschweige denn beherrschen. Allerdings ist es auch nicht erforderlich, die gesamte Psychologie, die gesamte Mathematik oder die gesamte Messtechnik zu beherrschen. Es gibt Teildisziplinen, die für das Innovations- und Qualitätsmanagement besonders relevant sind. Welches Wissen relevant ist und welches nicht ist auch von der Branche und dem Kontext des Unternehmens abhängig.

Dieses Kapitel richtet es den Fokus auf Mensch und Organisation. Der Fokus auf Mensch und Organisation ist auch deshalb wichtig, weil die Qualitätswissenschaft, bei aller Notwendigkeit zur Interdisziplinarität, den Charakter einer technischen Wissenschaft, einer Ingenieurwissenschaft hat.

Überblick über die Themen dieses Kapitels

Was müssen wir für das Personenzentrierte Innovations- und Qualitätsmanagement wissen über

       Qualität und Innovation,

       Mensch,

       Organisation,

       Führung und Management?

3.1Qualität und Innovation

Ständig fallen die Begriffe Qualität und Innovation. Dennoch gib es ein unterschiedliches Verständnis, was Qualität und was Innovation ist.

3.1.1Was ist Qualität?

Eine Schlüsselfrage für das Qualitätsmanagement ist: Was ist Qualität? Es stellt sich auch die Frage, ob der jahrzehntealte Qualitätsbegriff in Zukunft noch passt. Und darüber hinaus, welche neuen Begriffe mittlerweile außerhalb des Fachgebiets im Gebrauch sind.

Wie gehört dieses Thema in das Kapitel Mensch und Organisation? Qualität ist von Menschen für Menschen, und Qualitätsmanagement ist eine herausfordernde Aufgabe für die Organisation.

Das Befassen mit dem Begriff Qualität und der Definition dessen, was Qualität denn sei, beschäftigt viele Wissensgebiete. Sie steht im Zentrum der Qualitätswissenschaft, die selbst eine Querschnittswissenschaft durch viele Wissensgebiete ist.

Der Begriff Qualität bereitet einigen Aufwand für diejenigen, die sich beruflich mit ihm auseinandersetzen. Er ist im allgemeinen Sprachgebrauch positiv belegt. Allerding sind Kombinationen mit negativ belegten Begriffen wie „eine neue Qualität des Terrors“ oder „neue Qualität der Zerstörung“ dann wieder irritierend. Auch hier zeigt allerdings die Hinzunahme des Begriffs Qualität die Steigerung von etwas an. Im Alltag gibt es eine vielschichtige Verwendung des Begriffs Qualität. Er hat mehrere Arten von Bedeutungen. Zum einen ist Qualität Güte, was sich auch als Klasse, Niveau und Wert ausdrücken lässt. Qualität in einem solchen Verständnis geht immer mit einer positiven Beurteilung oder Bewertung einher. Darüber hinaus ist Qualität Eigenschaft, synonym auch Eigenart, Eigenheit, Eigentümlichkeit, Art, Beschaffenheit oder Zustand. Qualität ist im Alltag für Konsumenten etwas Positives und Erstrebenswertes.

Eine intensive Auseinandersetzung mit dem Begriff Qualität findet in vielen Fachgebieten statt, gute Beispiele bilden die Pädagogik, die Medizin und die Gesundheitswissenschaften sowie die Agrarwissenschaften. Sie sind Teil einer Diskussion in Gesellschaft und Politik, allerdings nicht um den Begriff als solchen und seine Definition, sondern um das, was Qualität der Altenpflege, Qualität der Gesundheitsversorgung, Lebensmittelqualität oder Qualität der Bildung ist. Immer stoßen diese Diskussionen an moralische Grundsatzfragen. Ein Beispiel dafür ist die Diskussion um das Tierwohl in der industriellen Landwirtschaft.

Moral, Ethik, Werte

Da diese drei Begriffe im weiteren Verlauf immer wieder fallen werden, seien hier ihre Definitionen genannt. Das ist wichtig, weil sie, insbesondere Ethik und Moral, immer wieder synonym verwendet werden. Erschwerend kommt hinzu, dass sie im Englischen und Amerikanischen anders als im Deutschen definiert sind, was bei englischsprachiger Fachliteratur und ihren Übersetzungen nicht immer Berücksichtigung findet.

Unter einer Moral versteht man ein Normensystem, dessen Gegenstand das richtige Handeln von vernunftbegabten Lebewesen ist und für sich das Anrecht auf Allgemeingültigkeit erhebt [Philopedia 2020].

Ethik ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Moral [Philopedia 2020].

Werte sind erstrebenswerte, handlungsleitende Attribute.

Bereits in den 1960er-Jahren hat Avedis Donabedian für Medizin und Pflege eine Definition beigesteuert, die insbesondere in den Gesundheits- und Sozialwissenschaften den Qualitätsbegriff nachhaltig geprägt hat [Donabedian 1966]. Er unterschied zwischen

       Strukturqualität, die Qualität der Rahmenbedingungen und Ressourcen,

       Prozessqualität, die Qualität der Leistungserbringung und damit die des professionellen Handelns,

       Ergebnisqualität, die Güte dessen, was letztlich entsteht.

Idealerweise lässt sich zeigen, dass und wie stark Strukturqualität auf die Prozessqualität und beide auf die Ergebnisqualität wirken. Zudem hat Donabedian am Beispiel der Pflege Qualität als „Übereinstimmung zwischen dem Pflegeergebnis und den zuvor formulierten Zielen“ deklariert. Insoweit die Ziele auch auf Anforderungen eingehen, liegt diese Definition nah bei der, die seit Jahrzehnten die ISO-9000-Familie für das Qualitätsmanagement bereitstellt.

David Garvin war Professor an der Harvard Business School, als er 1984 einen Artikel veröffentlichte, der bis heute beachtenswert und bezüglich des Qualitätsbegriffs inspirierend und klärend ist [Garvin 1984]. Allerdings befasst sich sein Beitrag nicht mit Dienstleistungen. Einige, aber nicht alle Aspekte sind dennoch darauf übertragbar. Er identifiziert fünf verschiedene Ansätze, Qualität zu definieren. Er verwendet den Begriff approaches, hier mit Ansätze übersetzt, der allerdings ebenso mit Annäherungen übersetzt werden kann. Von fünf Seiten sieht Garvin die Menschen sich der Qualität annähern, listet und beschreibt fünf Ansätze:

       der philosophische Ansatz (bei Garvin „The Transcendent Approach“, der transzendentale Ansatz),

       der produktbasierte Ansatz (The Product-based Approach)

       der nutzerbasierte Ansatz (The User-based Approach)

       der produktionsbasierte Ansatz (The Manufacturing-based Approach)

       der wertbasierte Ansatz (The Value-based Approach).

Tabelle 3.1 stellt Garvins Definitionen sowie seine zentralen ergänzenden Betrachtungen kurz und übersichtlich dar.

Tabelle 3.1 Fünf Ansätze der Qualitätsdefinition nach Garvin

Ansatz

Bedeutung/Definition Qualität

Ergänzende Betrachtungen

Philosophisch (transzendental)

Immanente Exzellenz (innate excellence)

„Nicht analysierbare Eigenschaft, die wir nur durch Erfahrung erkennen“

Vergleichbar mit dem Attribut Schönheit in Platons Diskussion der Schönheit, ein Begriff, der nicht definiert werden kann

Produktbasiert

Je mehr, desto besser

Güter können je nach Menge/Ausmaß des gewünschten Attributs, das sie besitzen, in eine Rangfolge gebracht werden

Nutzerbasiert

Qualität liegt im Auge des Betrachters

Eigene (idiosyncratic) und persönliche Auffassung (view) von Qualität, hochgradig subjektiv

Produktionsbasiert

Konformität mit Anforderungen (conformance to requirements)

Der primäre Fokus ist betriebsintern (internal)

Betonung des Zuverlässigkeitsingenieurwesens (reliability engineering) sowie Statistischer Prozessregelung zur Reduktion von Abweichungen und Prozessstreuungen

Wertbasiert

Ein Qualitätsprodukt ist eines, das Leistung zu einem akzeptablen Preis oder Konformität (conformance) zu akzeptablen Kosten bietet

Qualität, ein Maß (measure) für Exzellenz, wird gleichgesetzt mit Nutzen (value), einem Maß für Wert (worth)*

* Um zwischen „value“ und „worth“ unterscheiden zu können, wird value-based mit wertbasiert, value aber mit Nutzen übersetzt. Nutzen kann wiederum mit use übersetzt werden.

Mittlerweile dominiert im Qualitätsmanagement eine Definition, die seit Jahrzehnten die ISO-9000-Familie für das Qualitätsmanagement bereitstellt. Garvin hat sie als produktionsbasiert charakterisiert. Allerdings, wenn wir davon ausgehen, dass bedeutende Kunden bedeutende Anforderungen formulieren, umfasst sie auch Aspekte von Nutzerorientierung.

Qualität in der ISO-9000-Familie

Qualität ist der Grad, in dem ein Satz inhärenter Merkmale Anforderungen erfüllt.

Inhärent heiß innewohnend.

Diese Definition leistet eine wichtige Abgrenzung, ist sie aber auch ausreichend klar? Fachliche oder wissenschaftliche Begriffsdefinitionen sind nicht immer alltagstauglich. Die Zweifel an dieser Klarheit und Gebrauchstauglichkeit hatten den Lehrstuhl Qualitätswissenschaften der TU Berlin 2012 dazu veranlasst, unter fachöffentlicher Beteiligung eine neue Definition finden zu wollen [Jochem 2013]. Die damalige über ein Jahr geführte Online-Diskussion zeigte allerdings die Schwierigkeiten dieses Unterfangens auf. Im Ergebnis führte sie nicht zu einer neuen, im Fachgebiet akzeptierten Definition.

In der Kunden-Lieferanten-Beziehung ist die ISO-Definition von geringer Bedeutung, vermutlich ändert eine bessere Definition daran nicht viel. Denn zwischen Kunde und Lieferant muss mit Blick auf Kundenzufriedenheit und Markterfolg eine spezifische Konkretisierung des Qualitätsbegriffs für das konkrete Produkt stattfinden. Kunde und Lieferant (auch Dienstleister) müssen aus ihrer Perspektive jeweils klären:

       Welches ist die konkret von mir als Lieferant eingeforderte Qualität und welche Merkmale beschreiben sie?

       Was ist die konkret von mir als Kunde und von meinem Nutzer benötigte Qualität und welche Merkmale beschreiben sie?

Im Geschäftsleben ist Qualität demnach nicht Definitions- sondern Verhandlungssache. Wenn Qualität aber Verhandlungssache ist, ist das Anforderungsmanagement einer der wesentlichen Bausteine des Qualitätsmanagements. Anforderungsmanagement bedeutet die Übersetzung der aus vielen Quellen stammenden Anforderungen in Qualitätsmerkmale des Produkts oder der Dienstleistung sowie der Prozesse, die sie erzeugen. Sie sind damit maßgeblich für jedes Qualitätsmanagementsystem.

Das Anforderungsmanagement muss berücksichtigen:

       Anforderungen an das Produkt oder die Dienstleistung,

       Anforderungen an die Leistungsprozesse,

       Anforderungen an unterstützende und Führungsprozesse,

       Anforderungen an die Organisation,

       Anforderungen an das Verhalten von Repräsentanten und Mitarbeitern des Unternehmens.

Anforderungen formulieren dabei sowohl Kunden, Behörden und Gesetzgeber, Branchenverbände als auch sonstige Organisationen. Sie sind in Verträgen, Gesetzen, Verordnungen, Branchenstandards und Normen schriftlich niedergelegt. Oder die Unternehmen erheben sie dort, wo der Kunde sich an der Vertragsgestaltung nicht beteiligt, wie im Massengeschäft mit Endverbrauchern, mittels der Werkzeuge der Marktforschung. Darüber hinaus gibt es auch einen eigenen Anspruch, eine eigene Ambition, eigene Anforderungen der Unternehmer, Manager und Mitarbeiter an das, was Qualität sein soll.

Die Bedeutung der Anforderungen für die Qualität ist ein Grund dafür, warum das Qualitätsmanagement ein so ausgeprägt regelwerksdominiertes Fachgebiet ist.

Die im vorherigen Kapitel beschriebenen Paradigmenwechsel, Dynamiken und Herausforderungen der Welt 4.0 stellen weitere, neue Anforderungen an einen modernen Qualitätsbericht. Die etablierte Definition der ISO-9000-Familie ist dabei nicht falsch oder überflüssig geworden, reicht aber nicht mehr aus. Qualität hat in der Welt 4.0 mehr Facetten:

       Minimum Viable Product (MVP): Qualität ist auch dann gegeben, wenn ein Produkt einzelne oder viele Anforderungen nicht erfüllt, solange es fundamentale Funktionen erfüllt. Das gilt besonders bei komplexen Produkten, die viele Funktionen und Eigenschaften haben und weitere haben könnten.

       Qualität der Perzeption: Die individuelle Perzeption der Qualität eines Produkts oder seiner Merkmale kann sich von der objektiviert messbaren Qualität unterscheiden. Die Perzeption lässt sich in einem gewissen Rahmen durch das anbietende Unternehmen lenken.

       Emotionale Qualität: Qualität hat individuelle emotionale Komponenten, die weitgehend oder ganz unabhängig von inhärenten Merkmalen sein können. Dazu kann auch das Image eines Produkts oder des es anbietenden Unternehmens gehören.

Ein neuer Qualitätsbegriff ist Minimum Viable Product, abgekürzt MVP (englisch ausgesprochen).

Minimum Viable Produkt (MVP)

Ein MVP, übersetzbar mit „minimal (über-)lebensfähiges Produkt“, ist ein Produkt, das im Rahmen seiner Entwicklung gerade den Reifegrad überschritten hat, die für den Nutzer relevante(n) Basisfunktionalität(en) zu erfüllen.

Die Bezeichnung MVP stammt aus dem Lean Startup-Ansatz und wird Frank Robinson, dem Chef (CEO) einer US-amerikanischen Unternehmensberatung, zugeschrieben. Lean Startup ist das Prinzip der Entwicklung eines Geschäftsmodells oder einer Produktinnovation, bei dem die Entwickler so schnell wie möglich ein MVP auf Kunden- und Marktakzeptanz testen und je nach Feedback iterativ weiterentwickeln. Sie stellen die Entwicklung ein, wenn vorab formulierte Nutzen- und Wachstumshypothesen im Markexperiment trotz Iteration widerlegt werden. Eric Ries, wie Robinson im Umfeld der Start-up-Szene des Silicon Valley aktiv, hat das Prinzip analysiert, selbst angewandt und dann beschrieben [Ries 2011].

MVP ist auch ein Begriff für Qualität oder ein Qualitätsbegriff, allerdings ein Begriff, der den Qualitätsmanagern oft nicht bekannt ist, den sie nicht in den Kontext von Qualität stellen oder den sie sogar als Begriff für Nichtqualität einstufen. Bei vielen widerspricht dieses Minimalkonzept sogar ihrem Verständnis von Qualität. Dadurch wird auch deutlich, wie sehr sich die heutige amerikanisch-asiatische Innovations- und Qualitätskultur von der deutschen unterscheidet. Gemessen an den Erfolgen US-amerikanischer und chinesischer Unternehmen scheint deren Kultur die für die Welt 4.0 geeignetere zu sei.

Start-up

“A startup is a human institution designed to deliver a new product or service under conditions of extreme uncertainty.” (Ein Start-up [es gibt keine deutsche Übersetzung, die in einem Wort ausdrücken kann, was wir heute unter Start-up verstehen] ist eine menschliche Institution, geschaffen, um ein neues Produkt oder eine neue Dienstleistung unter Rahmenbedingungen extremer Unsicherheit bereitzustellen.) Eric Ries, Begründer des Lean-Startup-Ansatzes

Zusätzlich zum Aushandeln dessen, was für ein Unternehmen und seine Produkte oder Dienstleistungen konkret Qualität ist, ist für das Qualitätsmanagement und für die Qualität von zentraler Bedeutung, welche Assoziationen und Wirkungen einerseits die Qualität selbst und andererseits die ihr zugehörigen Begriffe auslösen, welche Perzeption sie erfahren (Perzeption heißt Wahrnehmung und kann sowohl den Prozess des Wahrnehmens als auch den Inhalt der Wahrnehmung bezeichnen. Bezüglich Qualität geht es eher um Letzteres.). Wie wirken der Begriff Qualität und die auf ihn gestützten verwandten Begriffe Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung auf Kunden, aber auch auf Führungskräfte und Mitarbeiter?

Die Kundenperzeption von Qualität beeinflussen viele Faktoren, die dem Produkt nicht innewohnen: das Image des Unternehmens, die Präsentation des Produkts, der Sozialstatus, den es verleiht. Wie Mitarbeiter und Führungskräfte Qualität wahrnehmen, fußt aber zusätzlich auch darauf, wie sie das Qualitätsmanagement, seine Regelwerke und Methoden sowie das Personal des Qualitätsmanagements wahrnehmen. Perzeption basiert zu einem Gutteil auf Emotionen. Das kann auch dazu führen, dass Qualitätsentscheidungen von Kunden hochgradig irrational erscheinen, wählen sie doch oft nicht die Lösung, die am besten funktionsbezogene Anforderungen erfüllt, sondern die, die bei vergleichsweise schlechterer Anforderungserfüllung ihre emotionalen Bedürfnisse besser befriedigt. Doch ist das nicht auch als Anforderung, als emotionale Anforderung interpretierbar?

Eine weitere Dimension der Qualität ist gesamtgesellschaftlicher Art. Unsere Erde hat in vielerlei Hinsicht begrenzte Ressourcen, und unser Lebensraum ist verletzlich. Die Verschwendung von Ressourcen und die Vergiftung und sonstige Beeinträchtigung des Lebensraums von Menschen, Fauna und Flora sind für einzelne Menschen, Teile regionaler Gesellschaften und für uns alle, die globale Gesellschaft, lebensgefährlich und überlebensgefährdend.

Wie ist es um die Qualität von Produkten und Dienstleistungen bestellt, die zwar Kunden real nutzen und ihre emotionalen Bedürfnisse befriedigen, dies aber um den Preis leisten, dass andere dadurch geschädigt werden? Was bedeutet es, wenn eine gleich gute Anforderungs- und Bedürfniserfüllung mit Produkten und Dienstleistungen möglich wäre, die nicht oder signifikant weniger schaden?

Nun ließe sich sagen, dass dazu der Gesetzgeber, wirkmächtige Verbände oder Kunden selbst diesbezügliche Anforderungen formulieren könnten. Und dann funktioniert die klassische Definition wieder: Qualität ist der Grad der Anforderungserfüllung. Derartige Anforderungen formulieren die genannten Gruppen auch in inzwischen ansehnlichem Umfang und unter dem Druck von Konsumenten und gesellschaftlichen Gruppen. Doch in der Realität haben Regelgeber, darunter auch die Gesetzgeber, keine Chance, ein in allen Aspekten nachhaltiges Wirtschaften einzufordern. Dafür ist die Lage insgesamt zu komplex und daher in Teilen auch noch nicht ausreichend verstanden. Oft entstehen ungewollte negative Effekte gut gemeinter Interventionen. Zudem gibt es zu viele Ziel- und Interessenkonflikte. Immer wieder weichen Gesetzgeber bestehende Regeln auf oder verweigern neue Regelsetzungen, weil sie Interessen der einen Klientel zulasten der anderen begünstigen, weil sie Wirtschaftswachstum nicht gefährden wollen oder aus anderen politischen und sonstigen Motiven. So bestehen auch Anforderungen an die Qualität, die sogar für einzelne Gruppen oder die Gesamtgesellschaft schädlich sein können. Ist dann Anforderungserfüllung wirklich Qualität?

Auch viele Konsumenten entscheiden und handeln nicht nachhaltig. Manche aus Unwissenheit, viele gegen besseres Wissen und zum eigenen Vorteil, wieder andere sind in Lebensumständen, die eine Wahrnehmung dieser Verantwortung erschweren oder unmöglich machen.

Für die Gesellschaft ist die Gesamtbilanz aus Nutzen und Wertschöpfung sowie Schaden und Ressourceneinsatz relevant, die den kompletten Lebenszyklus, von der Idee bis zur Entsorgung, umfasst. Allerdings gibt es keinen Konsens darüber, wie das eine oder das andere aus gesellschaftlicher Sicht zu bewerten ist.

Sowohl Konsumenten als auch Hersteller haben weitreichende Verantwortung. Es liegt in der ethischen Verantwortung von Konsumenten, Produkte zu fordern und zu bevorzugen, deren Bilanz für die Gesellschaft akzeptabel ist. Es gehört zur ethischen Verantwortung der Hersteller und Anbieter, die gesellschaftliche Gesamtbilanz ihrer Produkte und Dienstleistungen zu verbessern, mehr noch, zu optimieren. Das Bestehende verstärkt und schafft neue Zielkonflikte.

Die Entwicklung einer neuartigen Qualitäts- und Innovationskultur sowie die Berücksichtigung von irrational wirkenden, wahrnehmungsabhängigen, emotionalen Aspekten stellen die Tauglichkeit des klassischen Qualitätsbegriffs der ISO-9001-Familie infrage:

       Das Prinzip der Inhärenz, dass Qualität nur innewohnende Merkmale umfasse, ist zu stark einschränkend und für viele heutige Produkte nicht mehr tauglich. Eine moderne Qualitätsdefinition darf sich nicht auf inhärente Merkmale beschränken.

       Das Prinzip der Anforderungserfüllung ist zumindest für Innovationen bestenfalls eingeschränkt tauglich, wenn diese neue Bedürfnisse adressieren oder bestehende Bedürfnisse neu adressieren, zu denen Nutzer keine Anforderungen formulieren können. Eine moderne Qualitätsdefinition darf sich nicht auf Anforderungen beschränken, sie muss auch Bedürfnisse adressieren.

       Es gibt bezogen auf die Qualität eine globale ethische Dimension, die über Anforderungs- und Bedürfniserfüllung weit hinausgeht. Eine moderne Qualitätsdefinition muss die gesellschaftliche Gesamtbilanz berücksichtigen.

Wie kann gestützt auf diese Betrachtungen und Schlussfolgerungen eine moderne Qualitätsdefinition aussehen? Ein pragmatischer Ansatz ist, die bestehende Definition zu nehmen und sie so anzupassen, dass sie die drei hergeleiteten Aspekte berücksichtigt. Dieser Prozess erfolgt in drei Stufen:

Ausgangssatz: Qualität ist der Grad, in dem ein Satz inhärenter Merkmale Anforderungen erfüllt.

1.      Erste Iteration, Wegfall „inhärent“:

Qualität ist der Grad, in dem ein Satz von Merkmalen Anforderungen erfüllt.

2.      Zweite Iteration, Berücksichtigung der Bedürfnisse:

Qualität ist der Grad, in dem ein Satz von Merkmalen Anforderungen und Bedürfnisse erfüllt.

3.      Dritte Iteration, Berücksichtigung der gesellschaftlichen Gesamtbilanz (Nachhaltigkeit):

Qualität ist der Grad, in dem ein Satz von Merkmalen Anforderungen und Bedürfnisse erfüllt sowie eine günstige Gesamtbilanz für die Gesellschaft erzeugt.

Anmerkung: Günstig ist, sowohl eine weniger negative als auch stärker positive Bilanz zu schaffen.

Es gibt einiges zu beachten, zu tun und zu koordinieren, damit Qualität entsteht. Kurzum, es gilt, Qualität zu managen. Das umso mehr, je komplexer Produkte sind. Um die heutige dominierende und mittlerweile als klassisch anzusehende Ausprägung des Qualitätsmanagements zu verstehen und die Brücke zu einer modernen Interpretation zu schlagen, ist es wichtig, eine auf wesentliche Aspekte verkürzte historische Betrachtung anzustellen.

Schon bevor Menschen begonnen haben, Produkte zu erzeugen, war Qualität für sie relevant: die Qualität gesammelter Früchte, die Qualität von Fleisch, die Qualität eines Unterschlupfs. Das ist besonders der Fall, seit der Mensch produziert, denn das Produzierte musste gut funktionieren: Werkzeuge, Jagdwaffen, Kleidung, Behältnisse. Auch Dienstleistungen mussten Qualitätsansprüchen genügen: das Pflegen der Kranken, das Erbringen kultischer Handlungen, das Reparieren von Kleidung, das Hüten des Feuers. Zunächst konnte jeder Mensch fast alles davon selbst, dann allerdings kam es zu einer immer ausgeprägteren Arbeitsteilung. Dass Arbeitsteilung entstand, hat viel mit Qualität zu tun. Es ist sinnvoll, dass die- oder derjenige die steinernen Pfeilspitzen für die Jäger herstellt, der sie besonders gut macht, besser als die anderen. Es ist sinnvoll, dass der jagt, der besonders gut Wild aufspüren kann und zudem besonders treffsicher mit Stein, Speer oder Bogen ist. Strukturqualität, Prozessqualität, Ergebnisqualität waren schon zu prähistorischen Zeiten überlebenswichtig. Je weiter die Zivilisation gedieh, desto komplizierter wurden Produkte und Dienstleistungen. Der Kompetenzbedarf wuchs an, Berufe bildeten sich heraus. Die Berufsinhaber entwickelten immer bessere Praktiken und ein Berufsethos. Zünfte formulierten Qualitätsanforderungen, an die sich ihre Mitglieder zu halten hatten. Verstöße wurde hart bestraft, diskreditierten sie doch die gesamte Zunft. Die heutigen Zünfte sind die zahlreichen Berufsverbände, die ebenfalls fast durchweg eine Qualitätsdiskussion für die Kernleistung ihrer Tätigkeit führen und oft ihre fachliche und berufliche Qualität definieren und Qualitätskriterien benennen.

Dass das Managen der Qualität selbst zu einem Beruf wurde, ist der weitergehenden Arbeitsteilung im Kontext der Industrialisierung geschuldet. Das heutige Qualitätsmanagement ist aus der Güteprüfung erwachsen. Zunächst ging es darum, am Ende von Prozessen gut von schlecht zu unterscheiden. Dazu diente die sogenannte Güteprüfung, auch Qualitätskontrolle oder (Qualitäts-)Inspektion genannt. Dann verlagerten die Unternehmen das Managen der Qualität immer weiter an den Beginn von Prozessen bzw. erstreckten es über den gesamten Prozess. Das war nicht neu und entspricht dem Vorgehen der Handwerker, es musste aber für die Fabrikarbeit mit Angelernten wiederentdeckt werden. Nun galt es, durch geeignete Methoden und Werkzeuge bereits das Entstehen von Fehlern zu verringern oder ganz einzuschränken und das Entstehen von Qualität zu begünstigen. So kamen vermehrt präventive Ansätze ins Spiel. Die Statistik, speziell die Statistische Qualitätskontrolle (SQK) auch Statistische Qualitätsregelung (SQR) genannt, bekam eine zentrale Funktion und Bedeutung. Diese Entwicklung zur Prävention ist durch die immer aktiven Mechanismen der Ergebnisverbesserung ausgelöst. Es ist kostensparend und ertragssteigernd, Fehler von vorneherein zu vermeiden. Aus Güteprüfung, Qualitätskontrolle, Inspektion wurde die Qualitätssicherung.

Bei komplexen Produkten und Prozessen und auch begünstigt durch ein zunehmendes Verständnis der systemischen Vernetztheit der Organisation rückte das Systemische der Qualitätssicherung ins Bewusstsein. Der Gedanke vom ganzheitlichen Qualitätsmanagement war geboren, und spätestens jetzt bekam das Qualitätsmanagement einen organisationsentwicklerischen Impetus. Diesen Übergang zur systemischen Organisationsentwicklung beschreiben die Begriffe Total Quality Control (TQC) und Total Quality Management (TQM). Armand Vallin Feigenbaum schuf den Begriff und das Konzept des TQC während seiner Tätigkeit als Director Manufacturing Operations bei General Electrics und veröffentlichte es 1961. Als Begründer des TQM gilt William Edwards Deming, als Statistiker ein Schüler von Walter Andrew Shewhart, einem Pionier der statistischen Prozessregelung. Shewhart entwickelte um 1920 die erste Qualitätsregelkarte. Nach ihm ist die Shewhart-Regelkarte benannt. Deming half nach dem Zweiten Weltkrieg in US-amerikanischem Auftrag den Japanern, den bisherigen Feinden des Weltkriegs und neuen Verbündeten im Ost-West-Konflikt, beim Wiederaufbau ihrer Industrie. Er wurde dort zum hochverehrten Mitbegründer der modernen japanischen Qualitätsmanagementphilosophie. Deming hatte einen großen Anteil an der Entwicklung Japans vom belächelten Kopisten westlicher Produkte zur Wirtschaftsmacht und zum globalen Qualitätsführer der 1980er- und 1990er-Jahre.

TQC und TQM waren in der Fertigungsindustrie und für Fabrikbetriebe entwickelte Qualitätsmanagementkonzepte. Auch die 1987 erstmalig in Verkehr gebrachte und Jahrzehnte das Qualitätsmanagement dominierende DIN EN ISO 9001 war spezifisch für die Fertigungsindustrie verfasst. Ihre Inhalte und vor allem ihre Sprache spiegelten das eindeutig wider. Dienstleistungsunternehmen haben in den 1980er- und 1990er-Jahren versucht, TQM-Konzepte zu adaptieren und die ISO 9001 für sich nutzbar zu machen. Moderne Weiterentwicklungen des TQM-Gedankens z. B. in Form des EFQM-Modells (früher EFQM Excellence Modell) sowie auch die konzeptionelle und sprachliche Weiterentwicklung der ISO 9001 machten es Dienstleistern etwas leichter, ans TQM anzuschließen. Mit der ISO 9004 entstand ein stark am EFQM-Modell orientierter Qualitätsmanagementleitfaden. Bis heute haben die vielen zueinander unterschiedlichen Branchen der Dienstleistung keine vergleichbare Durchdringung mit formalem Qualitätsmanagement erfahren wie die Unternehmen der Fertigungsindustrie. Das heißt nicht, dass es dort kein oder weniger Qualitätsmanagement gibt. Es ist typischerweise viel stärker integriert und erfolgt unter anderen Namen und in anderen internen Strukturen.

Die massiven Interventionen in die Unternehmen bei der Einführung von Statistischer Prozesskontrolle und Total Quality Management lassen sich als Organisationsentwicklungsprojekte klassifizieren. Sie waren gravierende Change-Projekte, haben mit bestehenden Kulturen interagiert, in ihrem Namen wurden Prozesse, Prozesslandschaften und Managementsysteme, Ablauf- und Aufbauorganisationen verändert. Auch die mit wachsendem Reifegrad und sich verändernden Märkten anzugehenden Themen und Potenziale erforderten zunehmend eine professionell organisationsentwicklerische Vorgehensweise. Das revidierte EFQM-Modell 2020 [EFQM 2019] geht viel stärker als seine früheren Modellversionen, die ISO 9001 (2015) oder das damalige TQM auf die Gleichzeitigkeit von Transformation in einer sich schnell verändernden Umwelt und Leistungserbringung im Alltagsgeschäft ein.

Total Quality Management gilt vielen Qualitätsmanagern und -managerinnen als Idealzustand eines wirksamen und akzeptierten Qualitätsmanagements, der Name wirkt kraftvoll, das Konzept erscheint so, als könne es nur noch modern ausgestaltet, aber nicht mehr übertroffen werden.

Total Quality Management − klingt zwar gut für die einen, für andere allerdings nicht. Für die historische Entwicklung des Qualitätsmanagements war die Idee des Total Quality Management bahnbrechend. Die historischen Meilensteine, die zu ihm führten, gilt es zu würdigen. Doch wie stehen Begriff und Konzept heute da? Für die, für die schon Qualitätsmanagement ein Reizwort ist, und das sind aktuell nicht wenige, ist die Ankündigung eines Total Quality Management eine Kampfansage. Wir müssen verstehen, wann und warum viele Organisationen, Mitarbeiter und Führungskräfte das Qualitätsmanagement als problematisch ansehen. Eine Ursache liegt in zunehmendem wirkungslosem Aktionismus.

Zudem wird der Begriff seit jeher von vielen Qualitätsmanagern falsch verstanden. Statt Total Quality Management haben sie Total Qualitymanagement interpretiert, haben nicht das bessere und ganzheitliche Management der Qualität, sondern den Ausbau der Macht des Qualitätsmanagements vorangetrieben. Vielen ist der Begriff zu einseitig. Sollen jetzt die Finanzer das Total Finance Management, Vertriebler das Total Sales Management, Umweltbeauftragte das Total Environmental Management ausrufen?

Ein Namenswechsel allein hilft nicht, auch das Konzept selbst ist überholt, denn es unterstellt, dass es einen globalen, strategieunabhängigen Fokus auf Qualität geben muss. Wir haben erlebt, dass die Beschäftigung mit TQM-Konzepten, z. B. mit dem EFQM-Modell, Qualitätsmanager dazu verleitet hat, alles in der Organisation als qualitätsrelevant zu deklarieren und sich dann konsequent für alles in der Organisation zuständig zu fühlen. Sie bekamen die Rollendifferenzierung zwischen Qualitätsmanager und Geschäftsführung nicht mehr hin. Überspitzt gesagt, wenn alles in der Organisation qualitätsrelevant ist, müssen Qualitätsmanager alles mitgestalten, in alles eingebunden werden – Total Qualitymanagement eben. Das dürfen verantwortliche Topführungskräfte nicht akzeptieren. So ganzheitlich wie behauptet waren viele TQM-Ansätze nicht.

Welche Strategierelevanz das Thema Qualität in der Organisation aktuell hat und zukünftig haben muss, ist Entscheidung der Strategieverantwortlichen, nicht der Total Quality Manager.

So haben viele Qualitätsmanager bis heute, unter anderem auch wegen meistens fehlender eigener Erfahrung mit Verantwortung für Geschäftsergebnisse, relevante Aspekte, Treiber und Mechanismen für die Erreichung der Unternehmensergebnisse nicht verstanden. TQM hilft da nicht weiter; Führungs-, Management-, Finanz-, Controlling-, Marketingkompetenzen durchaus.

Damals, zwischen 1960 und 1990, waren Total Quality Control und Total Quality Management erfolgsinduzierende Konzepte für viele Firmen. Doch das Wissen über damalige Erfolgsmechanismen ist heute wenig relevant. Die Welt 4.0 erfordert neue Mechanismen. Auch das Qualitätsmanagement und die Qualitätssicherung haben sich signifikant weiterentwickelt. Die Ausgangslage und Herausforderungen der heutigen Zeit verlangen nach anderen Konzepten als dem TQM. Vergessen wir also TQM, dann wird der Kopf frei für die heute relevanten Lösungsansätze. Beispiele für konkrete Herausforderungen sind:

       Wie bauen wir angemessene ganzheitliche Managementsysteme für zunehmend digitalisierte Organisationen oder für neuartige digitale Geschäftsmodelle?

       Wie managen wir neuartige Qualitätsanforderungen an digitale Daten, Produkte, Prozesse und Geschäftsmodelle?

       Wie bringen wir mehr Qualitätskompetenz und Qualitätsverantwortung in die wertschöpfenden Bereiche?

Unabhängig davon, ob Total Quality Management ein geeigneter Name ist und wie man Qualitätsmanagement nennt. Das Managen der Qualität ist und bleibt eine Aufgabe, die viele Stellhebel kennen und bedienen muss. Bild 3.2 zeigt modellneutral die vielen und unterschiedlichen Voraussetzungen und Treiber dafür, dass Dienstleistungs- bzw. Produktqualität entstehen kann. Es illustriert die zwei Ebenen der dafür notwendigen Ursache-Wirkungs-Mechanismen. Unmittelbar wirkt die Qualität der Leistungsprozesse und des Designs auf die Produkt- und Dienstleistungsqualität. Auf Letztere wirkt sich maßgeblich auch das Mitarbeiterverhalten aus. Ein Konglomerat miteinander verwobener Einflussfaktoren wiederum beeinflusst die Qualität der Leistungsprozesse und des Designs sowie das Mitarbeiterverhalten. Wesentliche Stellhebel am Beginn der Ursache-Wirkungs-Kette sind dabei Führungskompetenz und Führungshaltung. Je kompetenter die Führung, desto besser ist z. B. die Strategie, je konsequenter die Führungshaltung, desto leichter kann sich Mitarbeiterengagement entfalten [Sommerhoff 2017].

Mit der Entwicklung von der Güteprüfung zum ganzheitlichen Qualitätsmanagementsystem ging auch eine Veränderung der Rollen der im späteren Verlauf Qualitätsmanager genannten Funktion einher. Die Leiter Güteprüfung waren Ingenieure oder Naturwissenschaftler. Sie wurden zu Leitern der Qualitätssicherung, die nun entlang des ganzen Leistungsprozesses arbeiteten. Ihre Mitarbeiter hatten Funktionen als Qualitätsingenieure, Auditoren und Prüfer. Mit Ausgestaltung des TQM und dem Aufkommen der Managementsystemnormen kamen zu den ursprünglichen Ingenieuraufgabenstellungen weitere systemgestalterische und organisationsentwicklerische Aufgaben hinzu, die psychologische, soziologische und pädagogische Kompetenzen erforderten. Der Qualitätsmanager wurde immer mehr zur Eier legenden Wollmilchsau mit dem Nachteil, nicht mehr allen so unterschiedlichen Aufgabenstellungen gleich gut gerecht zu werden. Das lag aber nicht allein an einer Aufgabenüberfrachtung, sondern an einer zu großen Rollen- und Kompetenzspreizung. Geniale Qualitätsingenieure scheitern in der Rolle als interne Berater und Change Manager, hervorragende Organisationsentwickler sind mit den technischen Details des Qualitätsingenieurwesens überfordert. Wer talentiert und qualifiziert für systemische Gestaltung des Managementsystems ist, muss noch längst kein guter forensischer Analytiker von Fehlerursachen beim Produkt sein und umgekehrt.

Bild 3.2Treiber für Qualität [Sommerhoff 2017]

Die zunehmende Bedeutung der Organisationsentwicklung in Verbindung mit den Notwendigkeiten systemischen Qualitätsmanagements und der bleibenden Wichtigkeit einer guten technischen Qualitätssicherung führt zu dem Schluss, das Qualitätsmanagement und die Qualitätssicherung, die Rollen als Qualitätsmanager und als Qualitätssicherer zu differenzieren und zu trennen.

3.1.2Was ist Innovation?

Eine Schlüsselfrage für das Innovationsmanagement lautet: Was ist Innovation?

Wie gehört dieses Thema in das Kapitel Mensch und Organisation? Innovation ist von Menschen für Menschen, und Innovationsmanagement ist eine herausfordernde Aufgabe für die Organisation.

Dieser Abschnitt befasst sich mit

       dem Innovationsbegriff des Fachgebiets und anschließend

       mit dem Managen der Innovation.

Bei der Innovation und dem Innovationsmanagement sind ebenso viele Wissensgebiete relevant wie beim Qualitätsmanagement.

Für den Begriff Qualität erfolgte eine Unterscheidung zwischen einem etablierten und einem modernen Qualitätsbegriff sowie die Herleitung einer modernen Neudefinition des Begriffs Qualität. Für den Begriff Innovation gibt es keinen Modernisierungsbedarf, er ist geradezu immanent modern, bezeichnet er doch selbst das Neue, Neuartige, nie Dagewesene, Moderne.

Innovation

Innovation bedeutet die Realisierung von etwas Neuem bzw. Neuartigem.

Anmerkung: Der Aspekt der Realisierung ist zentral, denn reine kreative Ideenfindung ist noch keine Innovation, solange und wenn die Ideen nicht realisiert werden.

Besonders häufig kommt das Adjektiv innovativ zur Anwendung; es bedeutet „von hoher Innovation“. Anders als das Adjektiv qualitativ, das „hinsichtlich der Qualität“ bedeutet und nicht „von hoher Qualität“, weshalb es z. B. oft qualitativ besser (oder schlechter) oder qualitativ hochwertiger (oder minderwertiger) heißt. Für Letzteres gibt es viele verschiedene Eigenschaftswörter, gut, edel, hochwertig, erlesen und viele mehr. Im Unterschied zum Substantiv Qualität gibt es für das Substantiv Innovation auch ein Verb: innovieren.

Die Innovation stellt oft eine fortschrittliche Lösung für ein Problem, eine Herausforderung oder ein noch nicht erfülltes Bedürfnis dar. Die höchste Form der Innovation, sozusagen die Innovation ersten Grades, ist etwas noch nie Dagewesenes zu realisieren, das Allererste seiner Art. Innovativ, eine Innovation zweiten Grades, ist jedoch auch, in einem Unternehmen etwas dort, in diesem Kontext oder in diesem Setting noch nicht Dagewesenes einzuführen, auch wenn es anderswo schon existiert. Als innovative Unternehmen bezeichnen Menschen also sowohl die, die selbst das Neue erfinden, als auch die, die Bestehendes erstmalig in ein neues Setting oder in einen neuen Kontext bringen. Und dann gibt es noch die, die schnell anderswo erfundene Innovationen bei sich früh umsetzen, sogenannte Fast Follower, schnelle Innovationsfolger.

Innovation bezeichnet keine Produkteigenschaft, sondern entweder

       den Prozess des Erschaffens von etwas Neuem (Innovation als Prozess) oder

       die Wirkung, die etwas Neues hat (Innovation als Wirkung), oder

       das Neue an sich (Innovation als Objekt).

Hingegen bezeichnet Qualität eine Eigenschaft oder die Summe mehrerer Eigenschaften eines Produkts (Qualität als Eigenschaft). Das zusammengehörige Begriffspaar müsste somit Innovation und Qualitätssicherung oder Innovation und Qualitätsmanagement heißen.

Der Wirtschaftswissenschaftler Joseph Schumpeter hat bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts erstmalig den Begriff Innovation in sein Fachgebiet eingeführt. Er war auch derjenige, der die Wucht der Innovation beschrieb, als er von der schöpferischen Zerstörung sprach. Er erkannte diese Zerstörung nicht nur als zu duldende Begleiterscheinung, sondern vielmehr als Notwendigkeit und sogar Voraussetzung an, damit etwas Neues entstehen kann. Diese Wucht der Innovation verbindet sie unausweichlich mit Wandel, Veränderung, Disruption. Das unterscheidet Qualität und Innovation signifikant.

Qualität braucht und bietet Stabilität, Innovation ist Veränderung.

Die Geschäftsmodellinnovation, mit der sich bereits Schumpeter befasste, rückt heute, in Zeiten digitaler Disruption, in bisher noch nicht da gewesener Intensität in den Vordergrund. In seiner Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung [Schumpeter 1912] sprach Schumpeter von „fünf Fällen neuer Kombinationen“, heute würden wir von fünf Arten Innovation sprechen. Die fünf Fälle umfassen Produkt-, Prozess- und Geschäftsmodellinnovationen:

       Produktion eines neuen Gutes oder einer neuen Qualität eines Gutes (Produktinnovation),

       Einführung einer neuen Produktionsmethode (Prozessinnovation),

       Erschließung eines neuen Absatzmarktes (Marktinnovation/Geschäftsmodellinnovation),

       Eroberung neuer Bezugsquellen von Rohstoffen oder Halbfabrikaten (Beschaffungsinnovation/Geschäftsmodellinnovation),

       Neuorganisation der Marktposition, z. B. Schaffung oder Durchbrechung eines Monopols (Geschäftsmodellinnovation).

Im Januar 2020 starb Clayton Christensen, Professor für Betriebswirtschaft an der Harvard Business School. Er gilt als einer der Väter des Silicon Valley, seitdem er 1997 sein Buch The Innovator’s Dilemma [Christensen 1997] veröffentliche und den Begriff der Disruption in die Diskussion um die Innovation einführte.

Eng verwandt mit der Innovation ist die Kreativität. Kreativität ist die Fähigkeit des Menschen, ideenreich, fantasievoll und schöpferisch zu sein. Kreativität ist als Disposition (Eigenschaft) eines Menschen ein Talent, kann aber auch als Fähigkeit durch Lernen und Üben weiter ausgebaut werden.

Auch die Kreativität von Menschen, die als nicht kreativ gelten und die vielleicht auch eine geringere Disposition zur Kreativität haben, kann durch geeignete Stimuli erhöht werden. Insbesondere in Teams entfaltet sich Kreativität besonders gut.

Wichtig ist, die Begriffe Kreativität und Innovation voneinander abzugrenzen. Zur Innovation gehört immer die Verwertbarkeit, mehr noch, die Verwertung. Innovativ ist, was Wirkung erzielt, also das neue Produkt, das der Markt annimmt, der neue Prozess, der effizienter ist als der vorherige. Kreativität kann absichtslos und wirtschaftlich gesehen auch nutzlos sein, wenn sie nicht zur Innovation führt. Weil aber Kreativität meistens eine notwendige Voraussetzung für Innovation ist, genießt sie im Innovationsmanagement einen hohen Stellenwert. Ein Unternehmen, das zwar kreativ, aber nicht innovativ ist, erzielt dadurch keinen Vorteil im Wettbewerb, abgesehen von wenigen Unternehmen, wo die Positionierung als kreativ zum Markenkern gehört und zur Mitarbeiter- und Kundengewinnung genutzt werden kann. Wer die Innovationsfähigkeit steigern will, muss sowohl kreativ als auch umsetzungsstark sein, um die potenzielle Innovation marktreif und gewinnträchtig auszugestalten.

Wenn der Ursprung des Qualitätsmanagements auf den Beginn der Arbeitsteilung in Gruppen prähistorischer Sammler und Jäger datiert werden kann, so reicht die Geschichte der Innovationen Hunderte Millionen Jahre weiter zurück.

Die Evolution ist ein Prozess der Innovation. Die Evolution des Menschen lässt sich als Abfolge physiologischer, physisch-morphologischer, mentaler, sozialer und dann sogar technologischer Innovationen beschreiben. Zunächst verlief dieser Prozess ohne aktives und bewusstes Zutun der tierischen Vorfahren und des Menschen selbst. Ein Innovationsmechanismus ist im Leben angelegt. Zufällige Mutationen des Reproduktionscodes, des Genoms, erzeugen beim Reproduzieren viele Varianten. Entstehen dabei zufällig Vorteile fürs Überleben und Vermehren, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass eine vorteilhafte Variante sich mehr als andere fortpflanzt. Nachteilige oder auch nur weniger vorteilhafte Varianten verschwinden. Über Jahrmillionen testete die Evolution Zehntausende, eher Hundertausende oder Millionen Varianten. Dabei entwickelte sich nicht nur eine Art linear weiter. Vielmehr entstanden parallel Millionen von Arten, die koexistieren konnten, weil sie unterschiedliche und manchmal sogar sich ergänzende Spezialisierungen, Anpassungen und Kompetenzen entwickelten.

Dieser Innovationsmechanismus ist dem irdischen Leben inhärent, innewohnend. Er erfolgt unbewusst und ohne aktives Zutun der Menschen. Er ist nicht zielgerichtet. Dieser Mechanismus hat den Menschen als bisher einzige irdische Art zusätzlich in die Lage versetzt, darüber hinaus seine Evolution selbst und bewusst mitzugestalten. Seit mehreren Hunderttausend Jahren können wir selbst und bewusst Innovationen kreieren, und zwar zielgerichtet. Wir haben dieses Können genutzt, um uns vor Umwelteinflüssen wie Kälte und Hitze zu schützen, die Kraft und Reichweite unserer Gliedmaßen und Sinne zu vergrößern oder Phasen von Trockenheit und ausbleibender Ernte und fehlender Beute zu überstehen. Die literarische Figur des Prometheus, der den Göttern das Feuer stiehlt, verkörpert diesen Akt der Selbstermächtigung zur Innovation. Die Götter haben Prometheus hart für seinen Diebstahl bestraft, ketteten ihn an einen Felsen, wo ein Adler fortwährend von seiner nachwachsenden Leber fraß. Eine weitere Metapher, die wir so verstehen können, dass die Selbstermächtigung zur Innovation auch dazu führt, dass Menschen Dinge schaffen und erschaffen, die schädlich und destruktiv sind oder so genutzt werden können.

Im Kontext des Innovations- und Qualitätsmanagements die Evolutionsgeschichte zu behandeln könnte etwas weit hergeholt anmuten. Allerdings führt sie uns ein mächtiges Innovationsprinzip vor Augen: das Generieren und Testen zahlreicher Varianten.

Das Prinzip, viele Varianten zu generieren und einzelne davon zum Erfolg zu bringen, findet sich inzwischen auch in der Wirtschaft wieder, im Kleinen, wenn es um Ideen, Kampagnen und Produkte geht, aber auch im Großen, wenn es um Geschäftsmodelle oder Start-up-Unternehmen geht. Im Design Thinking, einem Konzept zur Ideengenerierung, gibt es für die Phase der Ideation, der Ideenfindung, einen Leitsatz „Quantität geht vor Qualität“, der die Erzeugung vieler Varianten und Alternativen begünstigen soll. Später erst erfolgt dann die Fokussierung auf einzelne Ideen und dann auf eine Idee. Im Rahmen einer Praxiserprobung in mehreren iterativen Schleifen, dem Prototyping, werden sie getestet und erfahren weitere Ergänzungen und Konkretisierungen. Dabei muss eine Option sein, sie auch wieder zu verwerfen, wenn sie sich nicht bewähren, und in die Iteration des Prozesses zu gehen und eine andere Variante auszuwählen und zu testen. Idealerweise lernen die Innovatoren auch aus dem Nichtfunktionieren von Prototypen.

Im Falle des Verwerfens einer zunächst favorisierten Idee nach dem Prototyping ist es eine bewährte Strategie, eine der vorab rigoros abgelehnten besonders exotischen Ideen aus dem Pool der vielen Ideenvarianten wieder hervorzuholen und zu testen, sogenannte „dark horses“, benannt nach den Außenseitern auf der Pferderennbahn, Pferde mit Potenzial, das aber noch nicht für alle erkennbar ist. Ihre Gewinnwahrscheinlichkeit ist gering, falls sie gewinnen, verschaffen sie denen, die auf sie setzen, aber immense Gewinne.

US-amerikanische Venture Capitalists, die große Vermögen investieren, stellen ein Portfolio vieler Start-ups zusammen. Die Auswahl basiert nicht auf der Annahme oder Einschätzung, dass jedes einzelne, viele oder sogar die meisten erfolgreich sein werden. Sondern darauf, dass einzelne darunter sind, die ein Hyperwachstum zu sogenannten Unicorns, Einhörnern, absolvieren werden. Als solche bezeichnet man Unternehmen, die in kurzer Zeit den Wert einer Milliarde US-Dollar überschreiten. Welche das sein werden, ist unmöglich vorherzusagen. Zwar lässt sich anhand von Kriterien eine Einschätzung treffen, wer das Potenzial dazu hat. Aber dann sind zu viele Unwägbarkeiten im Spiel. Im Nachhinein sehen die Erfolgsgeschichten der Unicorns und Gigacorns, Unternehmen, deren Wert zehn Milliarden US-Dollar übersteigt, wie vorgezeichnet aus. Ein schlüssiger, geradezu folgerichtiger Weg aus der Garage in den S&P 500, die Liste der wertvollsten US-amerikanischen börsennotierten Unternehmen.

Tabelle 3.2 zeigt die unterschiedlichen Ausprägungen zweier unterschiedlicher Innovationsphilosophien, der zielgerichteten Innovation und der richtungsoffenen Innovation.

Tabelle 3.2 Zwei Innovationsphilosophien

Zielgerichtete Innovation

Richtungsoffene Innovation

Zielgerichtet (hin zu)

Richtungsoffen (ausgehend von)

Fähigkeit zur Fokussierung

Fähigkeit zum Ergreifen von Opportunitäten (Nuggeting*)

Die Art des Ergebnisses ist determiniert

Es kann irgendein Ergebnis entstehen

Im Rahmen des bestehenden Geschäftsmodells

Neue Geschäftsmodelle begründend

Risiko des Übersehens von Innovationen

Risiko des Verzettelns

* Ein Nugget ist ein Goldklumpen, Nuggeting bedeutet, in der Lage zu sein, (zufällig) gefundene wertvolle Dinge zu erkennen.

Die Betrachtungen zur Innovation, insbesondere der richtungsoffenen, machen deutlich, dass obwohl Innovation und Qualität sowie deshalb Innovationsmanagement und Qualitätsmanagement zusammengehören, sie dennoch unterschiedliche Grundlagen benötigen und Notwendigkeiten entwickeln.

Innovation benötigt Raum für opulente und mehr oder weniger streuende Kreativität, wohingegen Qualitätsmanagement nicht unkreativ sein darf, allerdings eine zielgerichtete, effiziente Kreativität an den Tag legen muss.

Innovation benötigt Kreativität, aber Kreativität ist noch nicht Innovation. Eine Innovation ist eine umgesetzte Neuerung. Nach dieser Definition ist eine neue, vielleicht sogar geniale Idee eben noch keine Innovation. Die Idee ist der Ursprung der Innovation, und es braucht Prozesse der Ausgestaltung und Realisierung, damit aus der Idee die Innovation werden kann.

Die Kreativphase der Ideenerzeugung unterscheidet sich grundlegend von der Realisierungs- oder Umsetzungsphase eines Innovationsprozesses, wie Bild 3.3 zeigt. Wie bei der Unterscheidung zwischen Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung lässt sich das am besten an den unterschiedlichen Typen zeigen, die die Kreativität und die die Umsetzung benötigen. Kreative sind schwer zu steuern, sie sind oft ungehorsam, verspielt und können sich verzetteln. Sie agieren unabhängig und mutig, zeigen Spürsinn und sind offen für Neues und anderes. Gute Umsetzer sind Macher, sie ticken deutlich anders, sie sind organisiert, fokussiert und diszipliniert. Sie arbeiten systematisch und stringent. Um Innovation zu erzeugen, braucht es die Symbiose dieser so unterschiedlichen Persönlichkeiten. In der frühen Kreativphase prägen die Eigenschaften der Kreativen den Prozess, in der Umsetzungsphase die der Macher. Auch die jeweilige Subkultur unterscheidet sich. Beide müssen ineinandergreifen, und die Phasen gehen fließend ineinander über. Auch in der Umsetzung wird noch Kreativität gebraucht, ebenso erfordert auch die kreative Phase systematische Vorgehensweisen.

Bild 3.3Unterschiede zwischen Kreativ- und Umsetzungsphase des Innovationsprozesses

Wenn Kreativität etwas so Buntes und Volatiles ist, ist sie dann als Prozess zu gestalten und zu managen, durch Managementsystemregeln zu steuern? Ja, wenn der Prozess und wenn die Regeln dafür spezifisch geeignet sind. Sie werden sich vom Umsetzungsprozess und seinen Regeln unterscheiden müssen. Kreativität ist systematisch stimulierbar und auch auf Ziele hin kanalisierbar. Dazu bedarf es geeigneter Eckpunkte und eines angemessenen Methodenportfolios. Frameworks wie Design Thinking, konkrete Methoden wie die Persona-Methode oder spezifische Werkzeuge wie Brainwriting verbindlich vorzuschreiben engen den Kreativprozess zu stark ein.

Kreativteams müssen aus Dutzenden Methoden und Werkzeugen auswählen und diese situativ und intuitiv anwenden können, um voranzukommen.

Die Besonderheiten der Kreativität lassen dazu verleiten, die Kreativphase oder den gesamten Innovationsprozess außerhalb des Managementsystems anzusiedeln. Das ist jedoch nicht nützlich, weil diese Inselbildung eine Kluft zwischen Innovationsgeschehen und Tagesgeschäft erzeugt. Eine dosierte Zweigleisigkeit ist sinnvoll und hat zum Ziel, einerseits das Tagesgeschäft stabil zu halten sowie andererseits die Innovation nicht durch die Belastungen des Tagesgeschäfts zu begrenzen oder zu stören. Kreativteams oder sogar Innovationsteams deshalb in eigenen Räumen und sogar an eigenen Standorten unterzubringen steht nicht im Widerspruch dazu, dass die Kreativphase und der gesamte Innovationsprozess innerhalb des Managementsystems gut integriert sind.

Die Innovation löst häufig Veränderungsnotwendigkeit aus. Neuartige Produkte, neuartige Prozesse und neue Geschäftsmodelle erfordern, dass Leitung, Führungskräfte und Mitarbeiter ihre Organisation selbst verändern. Auch wenn die Innovation zunächst noch auf Basis vorhandener, stabiler Prozesse erzeugt werden kann, erfordern ihre Folgen oft eine Neuorganisation oder eine neue Organisation. Unter Umständen beginnt aber bereits schon zu Beginn der Konkretisierung der Idee zu einer Innovation der notwendige Umbau der Organisation.

3.1.3Die Verbindung von Qualität und Innovation

Innovation und Qualität sind miteinander verbunden, Innovationsgrad und Qualitätsgrad von Produkten entwickeln sich allerdings typischerweise gegenläufig, wie Bild 3.4 zeigt. Die Abbildung ist eine Prinzipskizze und stellt der Einfachheit halber lineare Verläufe dar. Mit der Zeit nimmt der Innovationsgrad ab, denn die Neuerung hört auf, neu zu sein. Zum einen steigt die Wahrscheinlichkeit, dass alternative Lösungen entstehen und schnelle Innovationsfolger auftreten. Zum anderen sinkt durch ihre zunehmende Bekanntheit die gefühlte Innovativität. Der Qualitätsgrad der Innovation steigt mit der Zeit, weil die Produktverantwortlichen gestützt auf eine wachsende Felderfahrung und kontinuierliche Verbesserung zunächst die Kinderkrankheiten heilen und dann darüber hinausgehende Qualitätsverbesserungen leisten. Hier kommt der Satz „Qualität braucht Stabilität“ zur Geltung, der besagt, dass eine gewisse Prozessstabilität und über einen längeren Zeitraum gesammelte Erfahrung die Grundlage für kontinuierliche Verbesserung des Qualitätsniveaus sind. Die Prozesseigner stabilisieren und verbessern die Herstell- und Leistungserbringungsprozesse, sodass sie Qualitätsmerkmale besser beherrschen und die Prozessstreuung weiter reduzieren. So kann der Qualitätsgrad ein Optimum erreichen. Ein theoretisches Maximum zu erreichen, ist zumeist nicht sinnvoll, weil Aufwand und Kosten dafür überproportional zum Nutzen steigen.

Bild 3.4Gegenläufige Entwicklung von Innovations- und Qualitätsgrad einer Innovation

Die Minimalschwelle für die Markteinführung einer Innovation muss das Minimum Viable Product (MVP) sein, das minimal lebensfähige Produkt. Je häufiger Produktinnovationen an den Markt gehen, also bei steigender Innovationsfrequenz, was das Ziel vieler Unternehmen unter Marktdruck ist, desto deutlicher zeichnen sich zwei Niveaus ab, ein niedriges Qualitätsniveau aktueller Innovationen und ein hohes Qualitätsniveau etablierter Produkte, deren Innovationsgrad gesunken ist, wie Bild 3.5 zeigt.

Bild 3.5Zwei Qualitätsniveaus bei hoher Innovationsfrequenz

Gelingt es nicht, diese Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Qualitätsniveaus und Innovationsgrade integriert zu managen, wird kein stimmiger Marktauftritt gelingen, und in der Organisation kann es immer wieder zwischen Qualitätsmanagement und Innovationsmanagement harte Auseinandersetzungen geben. Oder beide Bereiche arbeiten aneinander vorbei, was aufgrund der Verwandtschaft der Themen schädlich wäre.

3.1.4Qualitäts- und Innovationsrisiken