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Manchmal muss man in Bewegung kommen, um etwas zu bewegen. Sichtbar werden, ein Zeichen setzen für die queere Community – das ist Brix Schaumburgs Mission, als er aufs Rad steigt, um quer durchs Land zu fahren: Um, als Deutschlands erster geouteter trans Schauspieler, Menschen und Organisationen zusammenzuführen, sich mit anderen auszutauschen, seinen Blickwinkel für die Lebensrealitäten queerer Menschen zu erweitern. Um Hürden zu überwinden, Grenzen zu durchbrechen – seine eigenen, aber auch die Begrenzungen seiner Mitmenschen, in Form von Vorurteilen und selbstauferlegten Einschränkungen. Am Ende ist die Reise für Brix so viel mehr …
Es werden Erinnerungen wach, die er schon lange weggeschoben hatte und die ihn über seinen Lebensweg neu nachdenken lassen: Ein Weg, der immer wieder Mut erforderte, sein Glück selbst zu definieren, sich nicht in eine Schublade stecken zu lassen – und sich für die Dinge im Leben stark zu machen, für die das Herz schlägt.
»Ich bin nie gerade an irgendein Ziel in meinem Leben gelangt. Aber alles, was ich mir als Kind gewünscht habe, ist irgendwie eingetreten und noch viel besser geworden, als ich es mir je hätte erträumen können. Auf jedem extra Meter ,Umweg´ sind mir die wundervollsten Menschen begegnet und ich habe gelernt, gelitten, gelebt und geliebt.«
Ein Buch, das Mut macht, zu sich selbst zu stehen – unabhängig von allen Labels.
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Seitenzahl: 407
Veröffentlichungsjahr: 2025
Manchmal muss man in Bewegung kommen, um etwas zu bewegen. Sichtbar werden, ein Zeichen setzen für die queere Community – das ist Brix Schaumburgs Mission, als er aufs Rad steigt, um quer durchs Land zu fahren: Um, als Deutschlands erster geouteter trans Schauspieler, Menschen und Organisationen zusammenzuführen, sich mit anderen auszutauschen, seinen Blickwinkel für die Lebensrealitäten queerer Menschen zu erweitern. Um Hürden zu überwinden, Grenzen zu durchbrechen – seine eigenen, aber auch die Begrenzungen seiner Mitmenschen, in Form von Vorurteilen und selbstauferlegten Einschränkungen. Am Ende ist die Reise für Brix so viel mehr …
Es werden Erinnerungen wach, die er schon lange weggeschoben hatte und die ihn über seinen Lebensweg neu nachdenken lassen: Ein Weg, der immer wieder Mut erforderte, sein Glück selbst zu definieren, sich nicht in eine Schublade stecken zu lassen – und sich für die Dinge im Leben starkzumachen, für die das Herz schlägt.
»Ich bin nie gerade an irgendein Ziel in meinem Leben gelangt. Aber alles, was ich mir als Kind gewünscht habe, ist irgendwie eingetreten und noch viel besser geworden, als ich es mir je hätte erträumen können. Auf jedem extra Meter ›Umweg‹ sind mir die wundervollsten Menschen begegnet und ich habe gelernt, gelitten, gelebt und geliebt.«
Ein Buch, das Mut macht, zu sich selbst zu stehen – unabhängig von allen Labels.
Brix Schaumburg
Von der Vielfalt des Lebens und der Suche nach mir selbst
Unter Mitarbeit von Lena Schindler
Wilhelm Heyne Verlag München
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Originalausgabe 05/2025
Copyright © 2025 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
produktsicherheit@penguinrandomhouse.de
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Redaktion: Evelyn Boos-Körner
Umschlaggestaltung: Birgit Kohlhaas Buchgestaltung unter Verwendung der Motive von Gaby Gerster (Autorenfotos) und Birgit Kohlhaas (Illustration)
Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-33058-3V001
www.heyne.de
Warm-up
Aufsteigen und los
Wo geht es eigentlich lang?
Grenzgänger
Doch lieber umkehren?
Richtungswechsel
Dürfen wir ein Stück mitfahren?
Ankommen
Cool Down
Dank
Der Schützenkönig in mir
Nervös tigere ich vor meinem Hotel am Tegernsee auf und ab und frage mich: Kommt sie wohl wirklich? Wird Tessa Ganserer, damals noch Grünen-Landtagsabgeordnete und die erste trans Person, die sich während ihrer aktiven Amtszeit geoutet hat, es ernsthaft durchziehen und gleichzeitig mit mir in die Pedale treten? Es ist erst wenige Wochen her, dass ich sie bei meinem Podcast Herzfarben kennengelernt habe und mit ihr über das Selbstbestimmungsgesetz und die rechtliche Situation von trans Menschen gesprochen hatte. Als die Radtour in meinem Kopf herumzuspuken begann und ich mich immer mehr in die Idee verliebte, neue Räume zu eröffnen, sah ich mich vor meinem inneren Auge auf Marktplätzen stehen und solche Gespräche wie mit Tessa im Podcast weiterführen, um über die Lebenssituation von queeren Menschen in unserem Land aufzuklären und möglichst viele damit zu erreichen. Versammeln durfte man sich zu dieser Zeit nicht, aber allein oder in Minirunde loszuradeln, konnte mir schließlich keiner verbieten. Was würde passieren, wenn ich einfach losfuhr? Wer würde mir auf der Strecke begegnen? Wer würde seine eigene Geschichte mit mir teilen?
Seid ihr bereit? Gut, dann nehme ich euch mal mit auf diese Reise – und damit auch auf die große Reise meines Lebens. Los geht’s!
Bei der Geburt wurde mir das weibliche Geschlecht zugewiesen, aber ich maß dem nicht viel Bedeutung bei. Ich erzählte vielen Menschen, dass ich ein Junge sei. Dass mein Körper diese weiblichen Merkmale zeigte, war erst mal ziemlich egal. Mit fünf war ich für zwei aufeinanderfolgende Jahre Schützenkönig in der Mittelstadt Borken im Münsterland und niemand wunderte sich darüber. Auf dem Foto, das ich davon habe, strahle ich vor Freude und halte meine Schützenkönigin, stolz wie Oskar, in den Armen. Ich hinterfragte mich nicht – bis die Welt mich hinterfragte. Bis ich merkte, dass ich eben danach beurteilt wurde, ob ich ein Mädchen oder ein Junge bin. Und ab dem Moment schien all das, was vorher prima zusammenging, nicht mehr zu passen.
Und da sind wir schon mitten im Thema: bei Geschlechterbildern, Zuschreibungen, bei Schubladen und all dem Kram.
Ich bin Brix. Es gab eine Zeit, da hieß ich … anders. Eine Weile habe ich die Frage nach meinem früheren Namen beantwortet. Heute nicht mehr, schon lange nicht mehr. Den Namen, den meine Eltern mir bei meiner Geburt gegeben hatten, mochte ich nie, keiner durfte mich so nennen. Dass es ein Mädchenname war, stellte gar nicht das Grundproblem dar. Der Name passt nicht zu mir, so ganz und gar nicht. Namen wie Kim, Yves oder Jil, sogenannte Unisex-Namen, machen ein Kind ja auch nicht mehr oder weniger zum Mädchen oder zum Jungen. Warum sollten dies also andere Namen tun?
Vielleicht hast du den Begriff Deadnaming noch nie gehört, aber eines kann ich dir sagen: Deadnaming ist für die meisten Betroffenen ziemlich uncool. Es bedeutet, den alten, von der Person nicht mehr verwendeten Vornamen zu nennen oder sie danach zu fragen, obwohl die Person einen neuen Namen angenommen hat. Es fühlt sich deshalb so unangenehm an, weil es den Menschen das Gefühl vermittelt, dass ihre Identität nicht vollständig akzeptiert wird. Für viele aus der Community ist das wie ein Stich ins Herz. Nicht nach dem abgelegten Vornamen gefragt zu werden, macht vielen trans Personen, zu denen auch ich mich zähle, den Alltag schon mal ein kleines bisschen leichter.
Also: Ich heiße Brix. Meine Mama und viele andere haben gelernt, mich so zu nennen, und auch ich musste erst mal eins werden mit diesem Namen, hineinwachsen in diese vier schönen Buchstaben. Wer mich in dieser Phase, in der ich auch äußerlich zu Brix wurde, in größeren Abständen gesehen hat, wird die Veränderung am stärksten wahrgenommen haben. Meine Hülle ist tatsächlich eine ganz andere. Aber mein Herz hat sich nicht verändert.
Als kleiner Mensch wusste ich genau, wer ich war und was ich wollte, auch wenn ich es nicht immer klar formulieren konnte. Auf meiner Reise haben mich dieser Wille und dieses Wissen öfter wieder verlassen und das laute, selbstbewusste Kind ist mehr und mehr verstummt. Als ich in jenes Alter kam, in dem an Geschlechterbilder geknüpfte Erwartungen von außen an uns alle herangetragen werden, begann ich, mich selbst infrage zu stellen: Wer bin ich? Und warum passt das Innere mit dem Äußeren nicht zusammen?
Von meiner Transition zu dem Brix, der hier heute sitzt, erzähle ich in diesem Buch. Von der großen Reise meines Lebens, die ich unternommen habe, um bei mir anzukommen. Gleichzeitig möchte ich euch mit auf drei kleinere Reisen nehmen, bei denen ich quer durch Deutschland geradelt bin, mal allein, mal mit Begleitung. Kennt ihr das, dass einem oft die besten Gedanken kommen, wenn man sich bewegt? Dass Gespräche oft viel offener und freier sind, wenn man zusammen spazieren geht? Eben! Und genau deshalb ist es gut, gemeinsam in Bewegung zu kommen.
Es war gar nicht mein Plan, groß über mich nachzudenken oder darüber, wie ich der wurde, der ich eigentlich immer schon war, als ich mich 2021 zum ersten Mal aufs Fahrrad schwang. Ich wollte eine Spendenreise unternehmen und dabei Sichtbarkeit und Awareness für die queere Community schaffen. Mit Deutschlands größter Fahrrad-Pride »Qu(e)er durchs Land« ein Zeichen für Diversität setzen. Von den gesammelten Spendengeldern sollten gemeinnützige und ehrenamtliche Organisationen unterstützt werden, die sich für die LGBTQIA+-Community starkmachen. Es sollte Begegnungen mit Menschen aus der Politik, den Medien oder Vertretenden von Organisationen geben. Außerdem viele Stopps, Aktionen und Events, queere Wanderungen, Interviews, Lesungen, Performances, Karaoke, Treffs mit Kaffee und Apfelkuchen und vielleicht auch mal ein paar gute Drinks.
Die Idee zu meiner ersten Tour entstand mitten in der Pandemie. Die größte treibende Kraft war Clubhouse, eine App, die nur kurz verfügbar war, aber einen gigantischen Impact hatte. Dadurch hatte ich in kürzester Zeit wichtige Kontakte geknüpft und merkte, wie gut der Austausch tat. In den digitalen Räumen wurde diskutiert, geredet, sich weitergebildet oder sogar Musik gemacht. Doch draußen in der echten Welt herrschte mehr Einsamkeit denn je. Es waren Posts anderer Menschen, die ich auf Facebook oder Instagram las und die mich aufrüttelten: »Ich kann mich nicht überwinden, als ich selbst auf die Straße zu gehen … Ich ertrage diese Blicke nicht mehr, ich fühle mich so allein.« Es fehlten die Anlaufstellen; Einsamkeit und Isolation waren präsenter denn je.
Für uns alle. Mit dem Gefühl, dass sich Stammtische nicht treffen und Christopher Street Days (CSDs) nicht stattfinden dürfen, wollte ich mich nicht abfinden. In mir begann es zu arbeiten: Was wäre, wenn ich durchs Land gehen … laufen … wandern … hmhm, fahren würde? Wir uns unsere Geschichten live erzählen könnten? Wenn die Leute also nirgendwo hingehen konnten, um sich auszutauschen und gegenseitig zu supporten, würde ich eine mobile Anlaufstelle schaffen, um sie zu verknüpfen, um Brücken zu schlagen und Mut zu machen. Die Grenze, die Corona uns gesetzt hat, ließ in mir Ideen wachsen, mit dieser Beschränkung umzugehen. Alles war plötzlich dicht, keiner sollte mehr raus und in bestimmte Räume durfte niemand mehr rein. Gab es nicht irgendeinen Weg drum herum? Ich denke, den gibt es immer. Vielleicht war es genau das, was ich brauchte, um diese Vision zu entwickeln. Von der Planung bis zum Start sollten aber noch einige Monate vergehen, denn ich hatte zuvor einige tolle Jobs zu erledigen, aber vor allem hatten wir gerade ein Kind bekommen und diese warme Zuhause-Bubble wollte ich erst einmal nicht verlassen.
Schließlich ging es los. Wie viel ich auf zwei Rädern, vor allem durch all die wundervollen Begegnungen, die ich auf meinen Touren hatte, über das Ankommen und Grenzensetzen lernen würde, ahnte ich nicht. So viele Dinge sind unterwegs passiert, so viel Fantastisches, Erschütterndes, Trauriges und Lustiges habe ich erlebt, dass es mich vollkommen überwältigte. Als ich 2021 nach den 2180 Kilometern der ersten Tour zurückkam, wusste ich: Das war’s noch nicht! Andererseits war es so anstrengend, dass ich im selben Moment dachte: Das mache ich nie wieder! Ein kontroverser Twist von positiven Erlebnissen und totaler Erschöpfung.
2023 bin ich wieder gefahren, 2024 erneut, jedes Mal eine andere Strecke, aber immer qu(e)er durchs Land, von Süden nach Norden, jeweils einen Monat im Sattel. Inzwischen liegen drei Touren hinter mir. Mal regenbogenmäßig beflaggt, mal unauffällig in Schwarz (warum und was die AfD damit zu tun hat, dazu kommen wir noch), manchmal allein, manchmal wurde ich auf Streckenabschnitten begleitet, einmal auch auf der ganzen Tour. Durch peitschenden Regen und mit miesem Wind von vorne, bei Sonnenschein und blauem Himmel. Jede Tour hatte ihre Höhen und Tiefen. Jede war besonders. Jede machte mir die Vielfalt des Lebens und unserer Gesellschaft auf neue Weise bewusst. Jedes Mal überwältigte mich der Zusammenhalt unter den Menschen und wie viel wir gemeinsam erreichen und erschaffen können, wenn wir nur wollen. Im persönlichen Kontakt darüber zu lernen, wie die Lebensrealität für viele queere Menschen in Deutschland aussieht, hat mich manches Mal betroffen gemacht, mich aber auch wertschätzen lassen, in einem Umfeld groß werden zu dürfen, in dem ich der sein durfte, der ich war.
Viele der Menschen, die mir unterwegs begegneten, sind ein Teil meines Lebens geworden. Mit einigen queeren Zentren arbeite ich weiterhin sehr gerne zusammen und es fühlt sich ein wenig wie nach Hause kommen an, wenn wir uns sehen. In diesem Buch werde ich nicht chronologisch und im Detail jede Reise nacherzählen, sondern einzelne Situationen, Streckenabschnitte und Weggefährten herausgreifen, um anhand derer meine eigene Geschichte zu erzählen und Themen zu beleuchten, die mich beschäftigen.
Apropos: Auch wenn du keine Transition im trans Sinne durchlebst, so ist das Leben doch für uns alle irgendwie eine Transition, denn auf einer Reise befinden wir uns alle, aber eben jeder Mensch auf einer anderen, und die meine ist nicht die deine. Du musst nicht queer sein, um auf der Reise des Lebens ins Stolpern zu kommen, anderen Leuten zu begegnen, deren Bild du nicht entsprichst. Es ist wunderbar, etwas anders zu machen als das, was die Menschen von dir erwarten.
Wir starten alle als winziges, nacktes Wunderwesen. In den ersten Wochen der embryonalen Entwicklung gibt es keine sichtbaren geschlechtlichen Unterschiede. Am Anfang sind alle Embryonen gleich, egal, ob ihre Gene männlich (XY) oder weiblich (XX) geprägt sind. Zu Beginn unserer Reise gibt es also keine Zuordnungen, welcher Art auch immer. Darum: Hört auf, euch immer und überall zu vergleichen! Ja, genau das ist der Grund, warum ich Rad fahren wollte und manchmal mit viel zu hohem Puls im Gras am Straßenrand lag und gar nichts mehr ging. Eigentlich ist es so einfach. Gleichzeitig so verdammt schwierig: sich an den Händen zu halten, zusammen zu singen. Das Leben zu leben ohne Judgement. Das ist pure Magie in einer Welt, in der wir dauernd bewerten, urteilen und verurteilen. Ich wollte die Geschichten hören, die auf mich warten, dazulernen, in den Austausch gehen. Ich glaube, das ist das Einzige, was wir tun können: hinhören und füreinander da sein. Um am Ende festzustellen: Grenzen zwischen Menschen sind nichts, was natürlich entsteht; sie werden gemacht – und können jederzeit aufgehoben werden. Wir alle verändern uns dauernd, und wenn du dir deine Teenagerfotos ansiehst, wirst du feststellen: Auch du warst damals nicht dieselbe Person wie heute.
Auf meiner Reise durchs Leben, aber ganz besonders auf meinen Touren auf zwei Rädern, durfte ich vielen Geschichten anderer Menschen lauschen. Geschichten, die mir Bauchschmerzen vor Lachen verursachten, Geschichten, die mir bis heute einen Schauer der Angst und Besorgnis über die Haut laufen lassen. Meine eigene Entwicklung basiert auf allen Begegnungen meines Lebens, denn ich sehe Entwicklung nicht als einsamen Weg. Ein paar Wegbegleitende habe ich mitgebracht, die spannende Hintergrundinfos und berührende Momente schildern. Nur durch Austausch, Fragen und Diskussionen erweitern wir unser Blickfeld.
Nicht nur Grünen-Politikerin Tessa Ganserer, die inzwischen eine wundervolle Freundin geworden ist, trat mit mir im Mai 2021 ab Startpunkt Tegernsee in die Pedale. Mit Bundeswehrkommandeurin Anastasia Biefang traf ich mich in unserer gemeinsamen Heimat Nordrhein-Westfalen. Wir radelten am Rhein entlang, legten uns gemeinsam in die Kurven und redeten darüber, wie viel Kraft es kostet (und gibt!), traditionelle Rollenbilder zu sprengen. Beim Stopp bei meinem Musiker-Kumpel Jamie Knoblauch lag ich völlig fertig auf dem Fliesenboden und dankte ihm und dem Himmel für den besten Wrap, den ich in meinem Leben gegessen habe. Robin Scheerbaum, der 22 Jahre ungeoutet als Frau gelebt hat und nun seit vier Jahren als Mann durchs Leben geht und fährt, hat sogar über 1600 Kilometer mit mir durchschwitzt und durchlitten (doch, doch, gelacht haben wir auch, ziemlich viel sogar!), von der Zugspitze bis nach Berlin. In Berlin empfing mich Claudia Roth mit einer Umarmung. Ich wünsche mir, dass auch ihr mit aufsteigt und diese Menschen kennenlernt.
Ich habe in meinem Leben lange an unterschiedlichen Orten, auch im Ausland, gelebt. Zunächst auf der Suche nach mir selbst, später bereicherten die Geschichten anderer meine Reisen. Ich habe alle Stationen (es war auch oft ein Davonlaufen) gebraucht, um bei mir anzukommen, sei es in der Schweiz, in Neuseeland, London oder Hamburg. Von meinen vielen Urlauben und Reisen ganz abgesehen. Dabei habe ich nichts abgelegt oder mich von etwas verabschiedet, sondern gelernt, jeden alten und neuen Teil meiner Person zu akzeptieren. Eine Adaption meines Selbst mit all den Schatten und geborstenen scharfkantigen Stücken, die zu meinem Leben und meiner Identität dazugehören. All diese Teile, die in manchen Phasen meines Lebens so gar nicht zusammenzupassen schienen, ergeben heute ein vollständiges Puzzle, und wer mich schon etwas kennt, weiß, dass es voller pinkem Glitzer ist.
Seit ich vor ein paar Jahren mein öffentliches Coming-out hatte, bekam ich das Etikett »Deutschlands erster geouteter trans Schauspieler«. Dabei mag ich eigentlich gar keine Labels. Aber die meisten Menschen schon, jedenfalls wenn es nicht um sie selbst geht. Denn dann glauben sie zu verstehen: »Ah ja, das ist der Typ, der früher eine Frau war und jetzt ein Mann ist!« Aber dadurch schränkt man sich nur ein. Denn vielleicht war ich nie ein Mädchen, sondern immer schon ein Junge oder vielleicht immer noch ein bisschen von allem. Ich bin einfach Brix. Heute habe ich mich frei gemacht von allen Betitelungen und bin nur … ich. Und ich wäre nicht ich, würde ich mich auf diese Labels konzentrieren. Es geht auch um das Thema Menschsein mit all den Labels, die das Leben gerade zu bieten hat.
Der Mensch ist … Mensch. Lasst uns doch aufhören, immer alles zu labeln und zu benennen. Damit grenzen wir automatisch ab und nehmen die bunte Welt voller Möglichkeiten außerhalb dieser Grenzen gar nicht wahr. Mit der Neugierde eines Kindes können wir alles, was im Leben auf uns einprasselt, offen annehmen, ohne Urteile, ohne Wertung. Und sind wir doch ehrlich: Kinder sind (oft) die besseren Menschen. Kinder sind einfach. Dennoch so unfassbar beeinflussbar von der Welt, die auf sie wartet.
Dass Labels oder Guidelines auch an mancher Stelle guttun können, möchte ich trotzdem nicht ignorieren. Aber vielleicht ergibt es etwas mehr Sinn, wenn wir uns daran nur orientieren und nicht alle dasselbe Label wählen. Alles hat seine Daseinsberechtigung, aber die große Frage, die dahintersteht, ist doch immer: Was bringt dich zu deinem Kern oder zu deinem Herz?
Was ich immer wieder sage: Man kann mich alles fragen, nur die Art und Weise wie entscheidet! Was ich darauf antworte, darf ich selbst bestimmen. Und da auch ich aus meinen eigenen Fehlern lernen möchte, an dieser Stelle noch einmal ein kleiner Exkurs zu den Begrifflichkeiten: Ich benutze trans als Adjektiv und spreche von mir und über mich als »Mann«, und wenn ein Label dazukommt, dann nur »trans Mann« oder »trans Person«. Das ist wichtig zu betonen, denn ich schreibe nur über mich und wie ich meine Welt sehe. Meine Transition hat nur etwas mit mir zu tun und jede Transition sieht komplett anders aus.
Begrifflichkeiten sind nicht leicht zu benutzen, sie grenzen ab und schließen ein und damit auch aus. Wenn ich in diesem Buch eine Begrifflichkeit falsch genutzt haben sollte oder sich jemand ungerecht angesprochen fühlt, melde dich doch bitte bei mir. Ich freue mich daher immer über Rückmeldung und Austausch. Mein Credo ist ganz klar: Der Mensch ist Mensch in all seiner Vielfalt – und mit seinen vermeintlichen Fehlern. Ich bin davon nicht ausgenommen. Und ich entschuldige mich von ganzem Herzen, wenn ich dich mit einer Äußerung verletze. Wir haben so viele Begriffe, weil die Menschen so vielfältig innerhalb und außerhalb der heteronormativen binären Welt sind. Ich bin überwältigt von der Vielfalt an Menschen auf dieser Erde und mit diesem Buch möchte ich diese sichtbar machen.
In deinen Händen liegt eine bunte Geschichte über meine Reise und wie dieser Weg mein Leben bereichert hat. Vielleicht hast ja sogar du mich auf meinem Weg ein Stück weit begleitet. Und wenn wir uns noch nicht kennen, freue ich mich auf dich.
Nice to meet you. Ich bin Brix.
»Are you sure that’s you?«
Für mich hat so eine gemeinsame Radtour etwas von Camping. Man lernt sich gleich ganz pur kennen. Ich weiß nicht, ob du früher mal im Zeltlager warst oder heute Bulli-Besitzer:in bist oder es mal warst, aber irgendwie finde ich diesen Vergleich sehr passend. Wenn morgens alle verpennt aus dem Zelt oder Bulli krabbeln und in Badeschlappen zum Waschhaus schlurfen, gibt es kein Verstellen. Das ist auf zwei Rädern, vor allem bergauf und nach sechs Stunden Abrackern, genauso. Man lernt sich direkt in einer authentischen, nicht unbedingt vorteilhaften Phase seines Lebens kennen. Genau wie beim Camping macht man sich auch beim Radfahren nicht erst schön, bevor man sich anderen präsentiert. Genau das finde ich so toll daran. Denn woher man kommt, ob man im echten Leben Bademeister oder Chefärztin ist, das ist im klammen Schlafsack wie auf dem Sattel eines Fahrrades völlig gleichgültig. Ich erinnere mich an das Gefühl, wenn man in die Campingdusche nicht genug Münzen mitgenommen hat oder das Geld auf der Karte leer ist. Das Wasser bleibt plötzlich weg und man muss mit massenhaft Schaum im Haar und in den Ohren wieder zurück in sein Igluzelt, in das es die ganze Nacht reingeregnet hat. Oder, um beim Radeln zu bleiben: Alle schwitzen, alle wünschen sich in manchen Momenten nichts mehr als eine Toilette, und zwar meistens dort, wo es ganz sicher keine gibt. Alle sehen gleichermaßen bescheuert aus, wenn sie bei Gegenwind die Zähne zusammenbeißen und sich das Gesicht dabei wie ein alter Lappen zusammenknautscht. Ob man nun mit einem Fahrradhelm besonders geil aussieht, kann jeder Mensch für sich beantworten, denn ich finde, es hat etwas. Genauso wie Radlershorts, aber darüber lässt sich wohl auch streiten. Eitelkeiten kann man jedenfalls stecken lassen. Und, um das gleich mal zu sagen: Ich kann alle verstehen, die vor so einer langen Radtour zurückschrecken.
Tessa Ganserer gehörte jedoch nicht dazu. Während unserer Podcast-Aufnahme hatte ich ihr von meiner Idee erzählt und sie wünschte sich mehr Infos, die ich ihr gleich im Anschluss per Mail schickte. Ein paar Wochen gingen ins Land, ich plante gerade meine Route, als Tessa mich anrief und ganz direkt fragte: »Wann und wo soll ich hinkommen? Ich habe da noch so einiges zu planen.« Wenige Wochen zuvor war Tessa vom Parteitag als Bundestagskandidatin gewählt worden und gerade dabei, ihren Wahlkampf zu organisieren. So richtig konnte ich es nicht glauben, dass sie als Abgeordnete, den Schreibtisch immer voll, die Themen immer groß und gewichtig, sich wirklich Zeit nehmen wollte, um mich auf meiner Fahrradtour zu begleiten. Es gab mir aber den nötigen Aufwind, um jetzt erst recht Vollgas zu geben und alles in trockene Tücher zu bekommen.
Vor mir liegt nun der Tegernsee, platt wie ein Handtuch, glitzernd wie eine Discokugel. Ich selbst glitzere heute, rein äußerlich betrachtet, eher weniger. Ich habe eine viel zu dicke Fahrradtasche dabei und zum Glück eine gepolsterte Fahrradhose an. In einiger Entfernung hält auf einem Parkplatz ein Transporter und ich beobachte etwas ungläubig, wie zwei Menschen ein recht sperriges Tandem herauswuchten. Für mich ist und bleibt es eine komische Erfindung, so ein Tandem. Es ist irgendwie surreal, es in Bewegung zu sehen, und noch komischer, es nicht in Bewegung zu sehen. Jedenfalls dauert es einen Moment, bis ich realisiere: Eine der Personen, die da gerade mit dem Doppel-Drahtesel kämpft, ist wirklich Tessa! Sie hat noch eine weitere Person mitgebracht – und die zwei sehen so aus, als wollten sie es wirklich wissen. Ich juble innerlich, strahle jetzt auch äußerlich. Wie großartig ist das denn? Ganz ehrlich: Bis zum letzten Moment hätte ich nicht gedacht, dass sie wirklich kommt, um mit mir in die Pedale zu treten. Noch dazu ist sie nicht nur für eine kurze Etappe gekommen, sondern hat sich drei Tage freigenommen, um sich mit mir abzustrampeln – und es bestenfalls auch zu genießen. Schauen wir mal, wie es läuft.
Während ich mich in Bewegung setze, um mitzuhelfen, das Tandem aus dem Transporter zu befreien, das sich mit irgendetwas im Inneren hoffnungslos verkeilt zu haben scheint, kommt mir unsere erste und bisher einzige Begegnung wieder in den Sinn. Was für einen krassen Respekt ich vor dieser Podcast-Folge hatte, fast schon ein bisschen Schiss. Was kann ich sagen, was nicht? Politisch eine so einflussreiche Person, eine so kluge und starke Persönlichkeit!
Das Thema Transsexuellengesetz (TSG) kochte zu dem Zeitpunkt richtig hoch und es beschäftigte uns auch in diesem Gespräch. Das Gesetz aus dem Jahr 1980 wurde inzwischen abgeschafft. Die Freude darüber hielt aber nur kurz an, denn genau in dem Moment, in dem dieses Buch entsteht, nutzen Parteien den Vorschlag, das Selbstbestimmungsgesetz, das am 1. November 2024 in Kraft getreten ist, wieder zu kippen, denn trans Personen stehen politisch gerade im Fokus, und dies leider nicht im positiven Sinne. Mit Donald Trump als neuem Präsidenten drehen die USA in Lichtgeschwindigkeit die mühsam erkämpften Fortschritte zurück in die Steinzeit. So sollen trans Personen dort vom Militär ausgeschlossen werden, trans Athletinnen sollen nicht mehr am Frauensport teilnehmen dürfen. Zudem sollen keine geschlechtsneutralen Reisepässe mehr ausgestellt werden; bereits geänderte Pässe auf das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht zurückverändert werden. Auch können trans Frauen keinen Schutz mehr in Frauenhäusern bekommen. Werden sie zu Gefängnisstrafen verurteilt, müssen sie ins Männergefängnis. Wir dürfen nicht zulassen, dass eine einzelne Person wie Donald Trump, die lediglich zwei Geschlechter anerkennt und dadurch nicht nur die Existenz von Intersexualität ignoriert, sondern unser ganzes Sein verleugnet, alles zunichtemacht, wofür wir so lange gekämpft haben. Leider dürfte diese Entrechtung von trans Personen auch ganz im Sinne der AfD sein. Diese Entwicklung setzt mir sehr zu und macht mir mehr Angst, als ich mir eingestehen möchte.
Der Weg zur Selbstbestimmung war verdammt steinig. Schon an dem Old-School-Begriff »Transsexuellengesetz« lässt sich erkennen, dass es aus einer Zeit stammt, in der man nicht wirklich wusste, was trans sein eigentlich bedeutet. Denn der Begriff suggeriert, dass es um die sexuelle Orientierung geht, was jedoch nicht der Fall ist. Weil es vielmehr um die Geschlechtsidentität geht, identifizieren sich Menschen, die unter das Gesetz fallen, nicht als »transsexuell«, sondern als »transgender« oder »trans«. Der Begriff war aber nur einer der Aspekte, die problematisch waren. Das TSG verlangte für die Änderung aller personenbezogenen Dokumente, dass Betroffene einen langwierigen Prozess durchlaufen, der psychologische Gutachten von mindestens zwei Sachverständigen erforderte. Ein Prozess, der von den Betroffenen als entmündigend und diskriminierend empfunden wurde und auch noch extrem teuer war (die Kosten von oft mehreren Tausend Euro wurden von den Krankenkassen häufig nicht übernommen).
Einen Sinn in diesen Gutachten suche ich bis heute vergebens. Allein mein eigenes zu lesen, hat mich sehr daran zweifeln lassen, wie ernsthaft die Auseinandersetzung mit dem Thema überhaupt ist. Denn ob und wie sich jemand selbst berührt oder ob er lieber Fußball spielt oder kocht, hat nun wirklich nichts mit seinem Sein zu tun. Wie fest diese Vorurteile verankert sind und wie weit die damit einhergehende Diskriminierung reicht, haben viele von uns noch erlebt, und allein der Fakt, dass trans Menschen gemäß des WHO-Diagnosekatalogs bis 2018 als psychisch krank galten, sagt viel darüber aus, wie lang die Reise zur Selbstbestimmung war.
Viele Betroffene hatten schlicht nicht die Kraft, diese psychologischen Verhöre über sich ergehen zu lassen, in denen man sich immer wieder erklären und rechtfertigen musste. Um dem demütigenden Prozess zu entgehen, ihren Vornamen und ihr Geschlecht nach dem TSG offiziell ändern zu lassen, lehnten viele die amtliche Personenstandsänderung, so der Fachbegriff, damals ab. Aber sicher auch, um ein Zeichen gegen diese menschenunwürdige Behandlung zu setzen.
Jetzt ist Tessa tatsächlich hier. Wasserflasche, Regencape und Wechselklamotten werden in die Satteltaschen gestopft und wir steigen auf. Damit ihr es euch bildhaft vorstellen könnt: Drei nicht gerade fahrradaffine, glückliche Menschen radelten bei bestem Wetter am Tegernsee los. Eine traumhaft schöne Kulisse. Das, was weit gereiste Tourist:innen vermutlich im Kopf haben, wenn sie an Deutschland denken. Best of Bayern. Alpenkulisse, Kuhglockengeläut, Geranien auf den Balkonen. Es ist Mai und die Sonne scheint nur für uns. Erste Etappe: 67 Kilometer bis nach München. Wow, denke ich, es passiert wirklich, ich fahre jetzt tatsächlich los, und auch noch mit einer Landtagsabgeordneten, völlig absurd. Wir finden schnell einen gemeinsamen Takt, ein gemeinsames Tempo – und einen gemeinsamen Ton.
»Kommst du nicht irgendwo hier aus dieser Ecke?«, will ich wissen. In Zwiesel im Bayerischen Wald ist sie aufgewachsen, doch das liegt anscheinend ganze drei Stunden Autofahrt von hier entfernt. Bayern ist wirklich sehr, sehr groß! Sie erzählt mir, dass der Wald ihr »Kinderzimmer« war; sooft sie konnte, tauchte sie ein in diesen Kosmos aus Bäumen, Moos und Vogelstimmen. Die Liebe zur Natur wurde ihr in die Wiege gelegt. Im Wald, so sagt sie, durfte sie sein, wie sie war, wer sie war. Was können wir uns als Kinder anderes wünschen, als freundlich in dieser Welt aufgenommen zu werden? Der Wald gab ihr dieses Gefühl. Später studierte Tessa Forstwirtschaft, setzte sich neben Queer-Politik stark für Umweltthemen ein.
Wir radeln in gemächlichem Tempo und sprechen darüber, Frieden mit der eigenen Vergangenheit zu finden. Und müssen lachen, als Tessa in Bezug auf ihr spätes Outing 2018, kurz nach der bayerischen Landtagswahl, kommentiert: »Hätte, hätte, Fahrradkette.« Passender hätte sie es in diesem Szenario nicht formulieren können. Natürlich ist es um jeden Tag schade, an dem wir nicht wir selbst sein konnten und versuchten, uns einem Bild anzupassen, dem wir nicht entsprachen und nicht entsprechen wollten. Aber gerade auf dem Rad ist es gar keine gute Idee, zurückzuschauen … Alle haben ihre Zeit, um sich zu outen. Outing ist für mich ohnehin ein seltsames Wort und ich denke nicht, dass wir jemals das Gefühl haben sollten, etwas erzählen zu müssen, aber natürlich fühlt es sich manchmal einfach besser an, sich im Kreis enger Freund:innen, der Familie oder einer Gemeinschaft auszudrücken. Das viel passendere Wort wäre ein »Welcoming«, denn ich lade ein, etwas von mir mit anderen zu teilen. Es ist ein absolutes Privileg für andere, meine Geschichte erzählt zu bekommen und die Erlaubnis zu erhalten, mitzumachen und sie anzunehmen.
Als ich anfing, über dieses Buch nachzudenken, wollte ich eigentlich nur von meinen Fahrradtouren erzählen. Aber schon nach den ersten Kilometern mit Tessa auf dem Tandem neben mir, die Wangen rot, die Haare an der Stirn klebend, denke ich: Vielleicht gibt es noch ein paar Punkte, über die wir reden sollten. Könnte schon sein. Der Tegernsee ist gerade außer Sichtweite, und schon sind Tessa und ich bei lauter großen Themen gelandet, die mit unserem und aller Menschen Sein zu tun haben.
»Wie fing das eigentlich alles an?«, »Wie ging das los bei dir?« Das möchten manchmal Menschen von mir wissen.
Ja, was überhaupt? Als ob ich wüsste, was alles ist.
»Na, woher du wusstest, dass du trans bist? Wann hast du das zum ersten Mal bemerkt?«
Wo soll ich bloß anfangen? Geplant war es nicht, aber Tessa entpuppt sich als wundervolle Zuhörerin und so erzähle ich ihr meine Geschichte.
Geboren bin ich in Hattingen, doch wir sind sehr oft umgezogen. Mein längster Stopp war Kevelaer, ein Wallfahrtsort in Nordrhein-Westfalen. Wer nicht christlich ist, aber einen Hund hat, kennt es möglicherweise, weil dort ein bekanntes Hundefutter hergestellt wird. Was mittlerweile aber wirklich vielen ein Begriff ist: Irrland und Parookaville. Das Irrland ist ein Freizeitpark, der 1999 entstand und jährlich rund eine Million Besucher:innen zählt. Das Musikfestival Parookaville ist mittlerweile gigantisch groß geworden. Etwa fünf Kilometer Luftlinie von diesen Orten entfernt bin ich groß geworden. Bedeutet mir Kevelaer etwas? Na ja, irgendetwas sicherlich …
Meine Mama hat immer viel gearbeitet, erst als OP-Schwester, danach in verschiedenen anderen Jobs. Meist hatten diese etwas damit zu tun, Menschen zu unterstützen. Mein Papa hat Maschinendreher gelernt, aber blieb mit mir zuhause, als ich klein war. Ihn kannst du mit 20 Kindern allein lassen. Da ist er wirklich in seinem Element: Er putzt, er ist extrem ordentlich, er kann super kochen. Die Rollenverteilung bei der Kinderbetreuung war bei uns also klar. So war ich meist bei ihm und meiner Oma, wenn Mama arbeitete; wir wohnten alle unter einem Dach. Meine Mutter pflegte zu sagen: Jeder Job, der meine Familie ernährt, ist ein guter Job. Sie hatte nie Angst, sich die Finger schmutzig zu machen, das habe ich schon immer an ihr bewundert.
Heute weiß ich, dass sich damals bereits meine spätere Entwicklung angedeutet hat. Wenn wir Mutter-Vater-Kind spielten, war ich meist der Vater – nicht, weil ich das Klischee jetzt erfüllen will, sondern weil ich mich einfach so gesehen habe, wie ich bin. Außerdem wollte ich auf die Bühne und habe auf jedem Fest meiner Eltern und auch sonst bei jedem Anlass, der sich finden ließ, performt. Elvis, Lou Bega, Frank Sinatra, DerKönig der Löwen. Ob die Anwesenden wollten oder nicht, sie mussten Platz nehmen – und ab ging die Show. Frank Sinatra war mein großes Vorbild, so ein adretter, gut gekleideter Mann wollte ich gern sein … diesen Applaus und das Licht spüren. Doch gab es lange niemanden, der wirklich daran geglaubt hatte, dass ich mal auf der Bühne stehen würde – außer mir selbst. Ich sah eben auch nicht aus wie Frank.
Oft habe ich gesagt, ich sei ein Junge. Als wir einmal in Bayern im Urlaub waren, klingelte es an der Tür unserer Ferienwohnung und fremde Kinder, die mich draußen gesehen hatten, fragten: »Hallo, hat der Junge Zeit zum Spielen?« Meine Mama hat daraufhin geantwortet: »Klar, aber nehmt ihr auch ein Mädchen?« So lief es meistens bei uns. In den Ferien am Meer habe ich mich – das werde ich niemals vergessen – anderen als »Dennis« vorgestellt. Bevor meine Mutter sich einmischen konnte, habe ich sie beiseitegenommen und ihr zugeflüstert: »Mama, halt bitte die Klappe, ich heiße Dennis!« Mama hat einfach genickt, wie immer: »Ja, ja, mach mal.« Weil ich aussah wie ein Junge, hätte es mehr Stress bedeutet, etwas erklären zu müssen, also war ich in dem Moment Dennis. Aus dem Druck, es nicht erklären zu wollen, wurde ein befreiendes Gefühl, dies nicht mehr erklären zu müssen. Es hat sich gut angefühlt, Dennis zu sein, im besten Sinne selbstverständlich. Hat mich vielleicht endlich jemand so gesehen, wie ich bin? Am wohlsten habe ich mich dort gefühlt, wo mich keiner kannte; da konnte ich einfach so sein, wie ich bin. Im Urlaub, wenn wir in andere Welten eingetaucht waren, konnte ich frei sein – konnte ich Dennis sein. Da bin ich aufgeblüht – bis wir irgendwann wieder zurückkamen. Zu Hause auf dem Dorf als kleines Mädchen rumzurennen, das aussieht wie ein Junge, war richtig doof. Am blödesten hat es sich angefühlt, wenn ich als Junge angesprochen wurde – und dann jemand neben mir sagte: »Das ist gar kein Junge.«
Ich war jedoch sehr klar darin, wer ich war. So erklärte ich meinen Eltern schon mit fünf, was ich will und was ich nicht will oder warum etwas genau so sein musste, auch wenn es das Gegenteil von dem war, was die meisten so machten. Es war mein Glück, dass ich ein selbstbewusstes Kind war, mit einem festen Willen und einem sicheren Gefühl dafür, wer ich war. Wenn ich etwas entschieden hatte, versuchte bald niemand mehr, mich umzustimmen. Schlicht, weil es sinnlos gewesen wäre. Oder weil es mich nur darin bestärkt hätte, noch mehr an meiner Meinung festzuhalten. Meine Mama sagt bis heute, dass ich immer das Gegenteil von dem gemacht habe, was sie gesagt hat. Nicht unbedingt im rebellischen Sinne, aber auf jeden Fall bei allen kleinen Entscheidungen des Alltags. Niemals hätte sie mir irgendwelche Outfits rauslegen können, ganz egal was, ich hatte meine eigenen Vorstellungen, die eben oft darin bestanden, etwas komplett Konträres zu machen.
Vielleicht sind gerade daraus die besten Ideen entstanden. Ich erinnere mich noch an einen Malwettbewerb der Sparkasse im Jahr 1995. Alle sollten einen Osterkorb malen. Ich jedoch habe den Osterhasen gemalt, klar, irgendwo ganz am Rande, auch einen Korb, aber mein Fokus lag auf demjenigen, der den Korb trägt. Und auf seinem Outfit, das ich in allen Details ausgearbeitet habe. Damals habe ich den Wettbewerb gewonnen, obwohl ich mich nicht an die Vorgaben gehalten hatte. Aber so positiv war es nicht jedes Mal, denn in der Schule kamen meine »etwas anderen Sichtweisen« nicht so gut an: »Schön geschwafelt« oder »Leider am Thema vorbei«, waren häufige Kommentare. Im Kunst- und Textilunterricht war es ähnlich, denn künstlerisch war ich sehr talentiert, aber die Frage ist eben, ob das klassische Schulsystem Platz bietet für künstlerische Freiheiten und Talent oder ob es vielmehr Talent braucht, um in dem Rahmen dieses Systems irgendwie seinen Platz zu finden?
Ich habe sehr gern gelernt, aber auf meine Weise; das stand mir manchmal im Weg, manchmal nicht. So habe ich ein paar wenige gute und so einige schlechte Noten bekommen. Als Kind habe ich oft stundenlang auf dem Boden gesessen und gemalt. In der Schule habe ich auch gern gemalt, nur war am Ende nie das auf dem Blatt zu sehen, was vorgegeben war. Über Rechtschreibung reden wir erst gar nicht. Es fiel mir leicht, zu schreiben und zu dichten, aber die Grammatik war wild – dass es mal dieses Buch von mir geben würde, hätte mir damals sicherlich niemand zugetraut. Ich mir aber schon. Ein bisschen gegen den Strom zu schwimmen und an meine Ideen zu glauben, konnte ich schon immer gut. Den Traum, ein Buch zu schreiben, habe ich damals schon wahr werden sehen und zum Glück nie aufgegeben.
Seitdem ich klein war, musste ich mich diesem Satz stellen: »Das kannst du so aber nicht machen!«
Nun, ich habe versucht, meinen eigenen Weg zu gehen. Auch auf dem Fußballfeld. Seit ich acht Jahre alt war, spielte ich offiziell im Verein bei den Jungs. Für das Dorf an der holländischen Grenze, aus dem ich komme, war dies im Jahr 1998 schon recht fortschrittlich – ein Mädchen in der Fußballmannschaft. Bei den Jungs war ich als einziges Mädchen nicht sonderlich beliebt. Oder sagen wir mal so: mal mehr, mal weniger – es kam auf meine Performance an. Es war ein Versuch, denn vor mir hatte noch kein Mädchen die Aufnahme in die Jungenmannschaft durchgeboxt. Die Launen der anderen habe ich oft abbekommen. Kein Moment jedoch war uncooler als das Gespräch, das mit mir geführt wurde, als ich die Jungenmannschaft verlassen musste. Damals war ich zwölf Jahre alt. Mein Trainer erklärte mir, dass meine Zeit in der Mannschaft aus Mangel an einer weiblichen Betreuerin und Umkleidekabinen für Frauen bald zu Ende sein würde. Ich sollte also bei den Mädchen spielen. Dabei lautete die offizielle Regelung, dass Mädchen grundsätzlich bis einschließlich der B-Jugend, also bis zum Alter von 17 Jahren, in Teams mit Junioren spielen können. Theoretisch hätte ich schon umgezogen zum Platz kommen können, wo war also das Problem? Es standen Mauern vor mir, wo eigentlich keine hätten sein müssen oder ich eine Leiter aus Lösungen gebraucht hätte, um sie zu überwinden.
Bitte nicht falsch verstehen: Mädchen sind großartig, Frauenfußball ist großartig. Aber in dem Dorf, in dem ich groß geworden bin, gab es gar keinen Mädchenfußball und einige Kilometer weiter nur ein wild zusammengepuzzeltes, nicht mal vollständiges Team. Die meisten fingen bei null an. Du kannst dir vielleicht denken, wie ich mich zwischen Enttäuschung, Unterforderung und Ungeduld fühlte: völlig fehl am Platz.
Geträumt vom Fußballspielen hatte ich schon, seit ich rennen konnte. Auf dem Weg vom kleinen Träumer, der ich war, bis zu dem Zwölfjährigen, für den dann die Geschlechtertrennung stattfand, ist ganz schön viel passiert und ich habe mich auch auf dem Rasen sehr weiterentwickelt. Ob ich Talent hatte (und ich glaube, das hatte ich), spielte aber auf einmal keine Rolle mehr.
Häufig wurden mir solche Grenzen gesetzt, häufig wurde ich nicht so akzeptiert, wie ich eigentlich bin. Das hat tiefe Spuren bei mir hinterlassen. Denn es bedeutete, mir eine Grenze in meinem Sein zu setzen. Wenn du dich selbst siehst und gut fühlst und dabei von außen nur Negatives hörst, bricht es dir dein Herz.
Es gab einen Moment mit elf Jahren, da war ich gerade auf die weiterführende Schule gekommen. Neue Menschen und nur noch drei mir bekannte Kinder in meiner Klasse. Jeden Morgen musste ich mit dem Bus von meinem Dorf zur Schule in die Stadt Kevelaer fahren und in diesem Bus befanden sich 60 fremde Menschen. Jeden Tag war es für mich aufs Neue eine Qual, in diesen Bus einzusteigen – und in diese Schule zu gehen. Meine Rettungsinsel waren die Ferien. Da fühlte ich mich unbesiegbar. Ich war in den Herbstferien mit meiner Mama allein unterwegs, in Ostfriesland. Auf dem Marktplatz befand sich ein Friseur und wir gingen hinein. Ich sah mir die Kataloge mit den Haarschnitten für Jungs an– und ließ mir die Haare kurz schneiden. Dass mich nach den Ferien viele dumme Sprüche erwarten würden, war mir klar, aber in diesem Moment war es mir egal. Ich war frei, ich war glücklich und der Haarschnitt machte mein Sein und mein Outfit perfekt. Ich hatte eine coole Jacke an und eine Sonnenbrille auf. Meine Mama hatte für mich ein großes Kettcar ausgeliehen und ich war für die paar Tage im Urlaub einfach nur ich. Happy Brix mit meinen schönen kurzen Haaren. Dieses Glück hielt so lange an, bis die Schule wieder losging und ich mir anhören musste, dass man so nicht aussieht und dass das nicht richtig ist. So fröhlich und leicht ich vom Haareschneiden kam, so schlimm waren die Bauchschmerzen auf dem Schulweg. Im Spiegel sah ich ein stimmiges Bild; ich fühlte mich wohl – so lange, bis mich die ersten Kommentare spüren ließen, dass das, was ich fühlte, nicht sein durfte.
Trotz dieser Reaktionen habe ich in der Regel nicht das gemacht, was von mir erwartet wurde. Bis heute tue ich auch meist genau das Gegenteil von dem, was meine Mutter mir rät, und sie macht genau das Gegenteil von dem, was ich ihr rate. Das ist wie eine Art der Bestätigung. Rückblickend kommen mir die Erfahrungen aus der Kindheit wie ein mentales Training vor. Ich habe geübt und gelernt, auf das zu hören, was in mir vor sich ging, und mich nicht durch andere abbringen zu lassen von dem, was sich richtig anfühlte. Diese Motivation funktioniert auch heute noch. Wenn mir jemand sagt, dass eine Idee richtig bescheuert und niemals zu schaffen ist, sind alle meine letzten Zweifel ausgeräumt. Danke, Leute, jetzt erst recht! Den Geist habe ich sicherlich entwickelt, als sich mir schon als Kind andere in den Weg gestellt haben.
Wenn ich mir Bilder von früher ansehe, weiß ich: Das Kind hat schon immer gezeigt, was es wollte. Ich sehe damals genau aus wie heute, als hätte ich mich geklont. In den Jahren dazwischen habe ich versucht, mich anderen Rollenbildern anzupassen. So sieht das auch auf meiner Bildreihe aus, wenn ich die Fotos meiner Reise nebeneinanderlege. Immer im Wechsel: kleiner Junge. Jemand, der versucht, sich der Welt da draußen anzupassen. Etwas größerer Junge. Jemand, der versucht, sich noch mehr der binären Welt da draußen anzupassen. Teenage-Boy. Und so weiter. Bis es eben nicht mehr weiterging und die Pubertät mir die größten Steine in den Weg gelegt hat. Aber ein Happy End folgt, denn es gibt das aktuelle Foto von heute – es zeigt den Jungen vom ersten Bild, nur eben in seiner etwas größeren und älteren Ausgabe.
Mein Körper wies weibliche Merkmale auf und danach wurde ich auch beurteilt. Aber ich durfte mich so lange frei bewegen, entscheiden und sein, bis die Schule und gesellschaftliche Konventionen dazwischenkamen. Meine Eltern und meine Freund:innen in jungen Jahren haben mich immer machen lassen. Obwohl bei uns alles recht bodenständig war, gab es in meiner Familie eine große Offenheit. Als Fünfjähriger war ich Schützenkönig, und das war okay. Zehn Jahre später wollte ich Feldjäger werden, und das war genauso okay. Die Mentalität, dass man immer alles schafft, egal wie, habe ich von meiner Mama. Mit 14 habe ich in den Ferien in einer Gärtnerei gearbeitet. Nach der Schule folgte eine anderthalb Jahre lange Ausbildung zum Sport- und Fitnesskaufmann. Dort fand ich mich in einem toxischen Verhältnis mit meinem Arbeitgeber wieder, der mich um sechs Uhr das 2300 Quadratmeter große Fitnessstudio putzen ließ und mich penetrant oft fragte, ob ich mich nicht mal weiblicher zeigen möchte und/oder ich jetzt – mit meinem maskulineren Aussehen – auf Frauen stehen würde. Ich brach also die Ausbildung ab und ging als Au-pair in die Schweiz. Danach wollte ich kurz mal »solide« sein und beschloss, ein Abitur mit Schwerpunkt Maschinenbautechnik zu machen; dies war aber nur eine fixe Idee und ich ließ es schnell wieder bleiben. Kein so wahnsinnig stringenter Lebenslauf. Aber dennoch sehr lehrreich für mich. Ist es nicht wundervoll, sich ausprobieren zu dürfen? Woher soll ein Mensch denn wissen, was alles möglich ist, wenn es nicht gelebt wurde?
Meine Mutter machte mir keinen Druck, ließ mich meinen Weg finden. Was ich auch gerade für Pläne hatte, meine Mama hat mich in allem unterstützt, mich hingefahren, abgeholt, bei Bewerbungen geholfen, Mathenachhilfe organisiert (das Maschinenbau-Ding!). Auch meinen kreativen Ambitionen wurde nicht widersprochen, aber diese wurden eher mit einem »Ach süß!« abgetan. Wahrscheinlich haben sie es schlicht nicht ernst genommen, wenn ich sagte, dass ich mich im ZDF-Fernsehgarten auf einer großen Bühne sah; aber sie versuchten trotzdem nicht, mich in irgendeine Richtung zu drängen oder zu beeinflussen. Dennoch spürte ich, dass bei allem, was ich vorhatte, die finanzielle Absicherung für sie im Vordergrund stand. Auch wenn es nie ausgesprochen wurde, war mir klar, dass meine künstlerische Laufbahn sie nicht gerade ruhiger hat schlafen lassen. Sicherlich auch, weil sie genauso wenig wie ich wussten, wie so ein Karrierestart überhaupt ablaufen sollte.
Über Emotionales wurde bei uns nicht viel gesprochen, es war eher ein stilles Gefühl des Angenommenseins. Seit wir Handys haben, schreibt meine Mama mir jeden Tag, dass sie mich liebt und wie stolz sie auf mich ist. Im Gegensatz zu meinem Papa, dem es schwerer fällt, so etwas zu formulieren.
An die Grundschulzeit kann ich mich kaum erinnern. Doch ich weiß, dass das Leben dort anfing, seine Leichtigkeit zu verlieren. Als ich sieben Jahre alt war, trennten sich meine Eltern. In meiner Erinnerung ging alles sehr schnell. Dabei hat es sicher eine längere Vorgeschichte gegeben, von der ich zum Glück nichts mitbekommen hatte, jedenfalls nicht bewusst. An dem Tag, als wir auszogen, saß ich auf dem Schoß meiner Mutter am Tisch und sie erzählte mir, dass wir gehen. Sie und ich. Sicherlich entspricht meine Erinnerung nicht ihrer Wahrheit, aber es ist eben meine eigene. Ich war es gewohnt, die Tage mit Papa und Oma in unserem Haus in Borken zu verbringen, doch jetzt war plötzlich alles anders. Ich zog mit ihr in eine andere Wohnung an den Niederrhein und später kam dann auch Udo dazu, der neue Mann an ihrer Seite. Mir wurde nichts aufgezwungen, ich wurde spielerisch an die neue Situation herangeführt und wir haben viel mit Udo unternommen. Im Grunde sah ich nie, dass meine Mama und er ein Paar waren; es fühlte sich eher so an, als wäre er mein Freund. Das Vertrauen und die Bindung zwischen uns wurden allmählich stark. Plötzlich liebte uns eben noch jemand anderes. Ich sage hier ganz bewusst »uns«, denn Udo wurde mein auserwählter Vater und ist und bleibt es bis heute. Papa ist Papa, Udo ist mein Vater. Er war Reisebusfahrer und hatte später ein Taxiunternehmen, in dem auch meine Mutter arbeitete. Hätte ich Udo nicht gehabt, wäre in meinem Leben vieles nicht so gelaufen, wie es gelaufen ist. Durch ihn gab es Sicherheit, Geld und ein gutes Zuhause. Ich kann nichts anderes sagen, als dass er alles für mich getan hat und immer für mich da ist. Durch ihn lernte ich noch mal eine andere Variante davon kennen, was Familie bedeutet.
Meiner Mama und meinem Papa rechne ich es sehr hoch an, dass sie nie vor mir schlecht über den anderen geredet haben. Den größten Credit muss ich meiner Mama geben, die sich jeden negativen Kommentar verkniffen hat, auch wenn mein Papa wohl ziemlich viel, sagen wir mal, »anders« hätte machen können. Deswegen kann ich nur allen Eltern raten: Wenn die Beziehung zerbricht, macht euch nicht gegenseitig vor den Kindern runter, klärt das irgendwo anders. Natürlich darf man sich streiten, man darf auch Dinge klären; aber ihr kennt bestimmt auch Familien, in denen sehr schlecht übereinander geredet oder sogar manipuliert wird. Meine Mama dagegen hat versucht, immer alles geradezubügeln. An den Wochenenden hat sie mich oft zu Papa gefahren, wissend, dass er nicht viel Geld haben würde, um etwas mit mir zu unternehmen. Ohne dass ich es je mitbekommen hätte, hat sie uns auch manchmal Geld mitgegeben und gesagt: »Macht euch ein schönes Wochenende!« Erst als Erwachsener habe ich davon erfahren und bin beiden sehr dankbar dafür, dass sie ihre eigene Enttäuschung über den anderen vor mir zurückgehalten haben. Wer schon eine schmerzhafte Trennung hinter sich hat, weiß genau, wie schwer das ist. Was nicht heißt, dass nicht dennoch vieles nach hinten losging oder ich keine riesige Enttäuschung in mir tragen würde. Manche Entscheidungen meiner Eltern haben sehr viel in mir ausgelöst. Aber ich bin mir sicher, dass nicht nur mein Herz in dieser Zeit weh tat.
An den ersten Tag in der neuen Schule am Niederrhein kann ich mich sehr gut erinnern. Ich weiß noch genau, was ich trug, denn ich hatte ausgiebig darüber nachgedacht, um mich dann für eine Bundeswehrhose, ein weißes T-Shirt und ein Käppi zu entscheiden. Um mich herum im Halbkreis standen ein paar Mädels, die mich wahrscheinlich gleich süß fanden. Doch dann wurde ich der Klasse vorgestellt – als Mädchen. Mein Entree als Junge war super gewesen, aber dann einen Mädchennamen zu hören, war offenbar eine Enttäuschung. Seitdem war ich der »Weirdo«. Irgendwie cool, aber nicht immer gemocht, zumindest nicht offenkundig. Noch on top: Ohne meine Mama konnte ich nicht schlafen, sie kam so ziemlich als einzige Mutter mit auf Klassenfahrt und ich bin nachts trotzdem rüber in ihr Zimmer, weil ich kein Auge zubekam, ohne sie neben mir zu wissen.
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