Quentin Tarantino Unchained - Michael Scholten - E-Book

Quentin Tarantino Unchained E-Book

Michael Scholten

4,8

Beschreibung

Reservoir Dogs, Pulp Fiction, Jackie Brown, Kill Bill, Death Proof, Inglourious Basterds und Django Unchained: Mit nur sieben Filmen verpasste Quentin Tarantino dem US-amerikanischen Popcorn-Kino einen Adrenalinstoß wie kein zweiter Filmemacher. Hollywoods wüstes Wunderkind schuf sein eigenes Genre, das auf einem unwiderstehlichen Mix aus Filmzitaten, blutiger Gewalt und einzigartigen Dialogen basiert. Die erste deutschsprachige Biografie über den ultimativen Kino-Popstar zeichnet den unkonventionellen Weg eines Problemschülers und Videothekars zum Kultregisseur und zweifachen Oscar-Gewinner nach. Gönner und Neider aus Hollywood kommen ebenso zu Wort wie die deutschen und österreichischen Schauspieler, mit denen Quentin Tarantino in Brandenburg und Sachsen sein Meisterwerk Inglourious Basterds drehte, denn Deutschland fühlt sich der Ausnahmeregisseur ganz besonders verbunden.

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.
Für Fragen und Anregungen:
[email protected]
1. Auflage 2016
© 2016 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,
Nymphenburger Straße 86
D-80636 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Redaktion: Birgit Walter, München
Umschlaggestaltung: Pamela Machleidt, München
Umschlagabbildung: imago
Satz und E-Book: Daniel Förster, Belgern
ISBN Print: 978-3-86883-698-1
ISBN E-Book (PDF): 978-3-86413-947-5
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86413-948-2

Inhalt

Kapitel 1 Abbott and Costello Meet Frankenstein
Kapitel 2 Foxy Brown
Kapitel 3 My Best Friend’s Birthday
Kapitel 4 True Romance
Kapitel 5 Reservoir Dogs
Kapitel 6 Pulp Fiction
Kapitel 7 Natural Born Killers
Kapitel 8 Four Rooms und From Dusk Till Dawn
Kapitel 9 Jackie Brown
Kapitel 10 Kill Bill
Kapitel 11 CSI: Las Vegas
Kapitel 12 Grindhouse
Kapitel 13 Inglourious Basterds
Kapitel 14 Django Unchained
Kapitel 15 The Hateful Eight
Kapitel 16 Kill Bill – Volume 3?
Quellen
Filmografie

Kapitel 1Abbott and CostelloMeet Frankenstein

Es geschah 1995, nur ein Jahr nachdem Quentin Tarantino mit Pulp Fiction das westliche Kino revolutioniert hatte. Hollywoods neues Wunderkind saß in einem Coffeeshop am Santa Monica Boulevard. Er kam oft hierher, um zu frühstücken. Auch alte Schauspieler, deren letzte Erfolge viele Jahre zurücklagen, schätzten das Lokal. Sie unterhielten sich am Tresen und an den Tischen über ruhmreichere Zeiten. Tarantinos Blick war auf seinen Teller gerichtet, als sich ihm ein Mann näherte. Der Mann war elegant gekleidet, Mitte 50 und lief direkt auf Tarantinos Tisch zu. »Darf ich mich setzen?«, fragte er. Tarantino sagte »Nein«. Er schaute nur kurz auf, vermied jeden Augenkontakt und bewegte seine rechte Hand, als wolle er eine lästige Fliege verscheuchen.

Wortlos verließ der Mann den Coffeeshop. Es war Tony ­Tarantino, Quentin Tarantinos Vater, den er seit 1965 nicht mehr gesehen hatte. Damals war Quentin zwei Jahre alt, seine Mutter Connie war 18. »Ich wusste immer, dass mir dieser Kerl irgendwann über den Weg laufen würde«, erzählte Quentin Tarantino einige Jahre später dem Radiomoderator Howard Stern, »doch außer ›Danke für das Sperma‹ hätte ich ihm nichts sagen können. Er bedeutete mir nichts. Ich wusste 30 Jahre lang nicht einmal, ob er überhaupt noch lebte.«1

Der Zeitpunkt, zu dem Tony Tarantino die Nähe seines Sohnes suchte, war denkbar schlecht gewählt. Als gefeierter Regisseur von Reservoir Dogs und Pulp Fiction war Quentin Tarantino zum Rockstar der Kinowelt aufgestiegen. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, der gescheiterten Schauspielkarriere seines glücklosen Vaters Schwung zu verleihen. Er hätte ihm lediglich eine Rolle in einem seiner nächsten Filme geben müssen. Doch warum hätte er das tun sollen? Wo war Tony Tarantino in den letzten 30 Jahren gewesen, als sein Sohn in der Schule scheiterte, für wenig Geld erst in einem Pornokino, dann in einer Videothek jobbte und keines seiner Drehbücher verkaufen konnte?

Doch Tony Tarantino wusste die neue Prominenz seines Sohnes auch ohne dessen Hilfe auszubeuten. Er ließ sich vom Magazin Premiere interviewen und im schwarzen Anzug fotografieren, während er im coolen Stil von Reservoir Dogs eine Pistole in die Kamera hielt. Diese Boulevardgeschichte ist der Grund, warum Quentin Tarantino den Premiere-Redakteuren bis heute kein Interview gibt. Allzu gern wurde Tony Tarantino auch Mitglied der »Silver Foxes«. Das von dem Produzenten David Krieff gegründete Unternehmen vereint die Eltern mehrerer Hollywood-Größen, darunter Al Pacinos Vater Sal Pacino, Patrick Swayzes Mutter Patsy Swayze, Cindy Crawfords Mutter Jenny Crawford und eben Tony Tarantino, vor der Kamera, um Fitnessanleitungen für die ältere Generation und Trashfilme zur Unterhaltung unters Volk zu bringen. Dank der fett gedruckten Familiennamen Pacino und Tarantino auf den Hüllen verkaufen sich die Direct-to-Video-Filmchen recht ordentlich. Quentin Tarantino, der in seinem Leben fast jeden Film gesehen hat, boykottiert die »Silver Foxes«-Werke seines Vaters konsequent: »Ich will ihn nicht sehen, ich will ihn nicht hören.«2

Das Aussehen hat Quentin Tarantino von seiner Mutter Connie geerbt, die Liebe zum Film dürfte ihm sein leiblicher Vater in die Wiege gelegt haben. Tony Tarantino, geboren 1940 im New Yorker Stadtteil Queens und aufgewachsen in Brooklyn, kam als Zwölfjähriger mit seinen italienischstämmigen Eltern Elizabeth und Dominic James Tarantino nach Los Angeles. 1960 begann er am Pasadena Playhouse ein Schauspielstudium. Schon sein Vater Dominic hatte in den frühen 1930er-Jahren kleine Rollen in Western gespielt. Parallel zum Schauspielstudium tingelte Tony Tarantino als Gitarrist und Sänger durch die Nachtklubs von Los Angeles und South Bay. Er machte einen Pilotenschein, war ein versierter Schütze mit Pfeil und Bogen, Handfeuerwaffen und Gewehren und erwarb einen schwarzen Gürtel in Kung-­Fu und Karate. Dass der 21 Jahre alte Draufgänger im Sommer 1962 die 15 Jahre junge Schwesternschülerin Connie McHugh schwängerte, hatte nichts mit bewusster Familienplanung zu tun, sondern war ungewollte Folge des Vergnügens. Connie, deren Stammbaum irische Einwanderer und Cherokee-Indianer aufweist, kam aus schwierigen Verhältnissen. Geboren am 3. September 1946 in Tennessee, wuchs sie bei ihren Adoptiveltern Elizabeth und Ellis Shaffer in Ohio auf.

Am 27. März 1963 kam Quentin Jerome Tarantino in Knoxville, Tennessee, zur Welt. Seine Mutter Connie liebte nicht nur Elvis Presley, sondern auch die Cowboys aus der Fernsehserie Gunsmoke (Rauchende Colts), vor allem den jungen Quint Asper, der von Burt Reynolds gespielt wurde. Sie gab ihrem Sohn einen Namen, der wie Quint klingen sollte: Quentin. »Ich wollte, dass der Junge einen Namen hat, der groß genug ist, um eine ganze Leinwand zu füllen«, sagt Connie Tarantino.3

Zwei Jahre nach der Geburt des Sohnes reichte Tony Tarantino die Scheidung ein. Die kleine Familie zerbrach. Connie Tarantino zog mit Quentin nach Torrance, ein auf dem Reißbrett entworfenes, von trostlosen Ölraffinerien und Bohrtürmen umgebenes Industrie- und Wohngebiet im Südwesten von Los Angeles. Die alleinerziehende Mutter heiratete Curtis Zastoupil, einen Musiker mit tschechischen Wurzeln. Er wurde in den folgenden acht Jahren, in denen die Ehe hielt, für Quentin zur Vaterfigur. Die Familie hatte nicht viel Geld. Zu den wenigen Freizeitaktivitäten, die sie sich leisten konnte, gehörten Kinobesuche. Quentin kam mit, weil erstens kein Babysitter zur Verfügung stand und sich zweitens kein Kinobetreiber ernsthaft darüber Gedanken machte, inwiefern Sex und Gewalt auf der Leinwand die Entwicklung eines Kindes nachhaltig beeinflussen könnten.

Die großen bunten Bilder brannten sich in die Erinnerung des Jungen ein, auch die riesigen Filmplakate und die in Großbuchstaben geschriebenen Namen der Schauspieler zogen ihn magisch an. Wenn er mit seinem Stiefvater ins Kino ging, sagte Curtis Zastoupil Sätze wie »Siehst du diesen Typen? Der hat in der Originalversion von Swiss Family Robinson(Die Insel der Verlorenen) mitgespielt. Nicht in der Disney-Version, die wir kürzlich gesehen haben, sondern im Original von 1940. Da war er der Vater.«4 Quentin dachte, dass jeder Erwachsene ein Filmexperte sei. Deshalb wollte auch er alle Details wissen. Er verinnerlichte alles, was er durch Kinobesuche, Fernsehen und Zeitschriften über Filme erfahren konnte. »In der Schule war ich total schlecht, ich konnte kaum richtig schreiben, konnte mir nichts merken. Aber ich wusste genau, wer in welchem Film mitspielte, wer Regie führte und wie die Handlung aufgebaut war«5, erzählt Tarantino. Sport, Skateboards, Surfen und all die anderen Dinge, die kalifornische Jungs in seinem Alter interessierten, ließen ihn kalt. Sein Tunnelblick war auf Filme und Fernsehserien gerichtet. Die Szene in Pulp Fiction, in der Butch als kleiner Junge ganz allein vor einem klobigen Fernseher sitzt, schrieb Quentin autobiografisch. Er sah Bonanza, Bugs Bunny, TheMuppet Show, Speed Racer, Kung Fu und The Three Stooges, aber auch Universal-Horrorklassiker wie Frankenstein und Dracula sowie die deutschen Edgar-Wallace-Filme Der Bucklige von Soho und Die toten Augen von London, die nachmittags von den lokalen Fernsehsendern in Los Angeles ausgestrahlt wurden. Am prägendsten erwies sich jedoch die 1948 gedrehte Horrorkomödie Abbott and Costello Meet Frankenstein (Abbott und Costello treffen Frankenstein): »Mir gefiel, dass zwei völlig verschiedene Genres miteinander verbunden wurden. Die Szenen mit Bud Abbott und Lou Costello waren lustig, aber sobald das Monster auftrat, bekam ich es mit der Angst zu tun. Dracula will Costello das Gehirn herausoperieren und es Frankensteins Monster einsetzen lassen. Und dann wirft das Monster die Krankenschwester aus dem Fenster. Sie ist wirklich tot!«6

Mit fünf Jahren wollte Quentin Tarantino Schauspieler werden. Wenn er in seiner Fantasie bildstarke Szenarien entwickelte, sah er sich selbst als Filmstar. »Ich weiß noch, dass meine Mutter anderen erzählte: ›Wenn Quentin groß ist, wird er Regisseur.‹ Ich wusste aber nicht genau, was ein Regisseur macht. Mit fünf Jahren sieht man nur die Schauspieler auf der Leinwand und will so sein wie sie.«7 Als er in die Schule kam und mühsam Schreiben lernte, verfasste er zum Muttertag eine Kurzgeschichte, die sehr dramatisch mit Connie Tarantinos Tod endete. Der Sohn entschuldigte sich wortreich: »Du bleibst für mich die beste Mama der Welt, aber so, wie die Geschichte verläuft, musstest du am Ende einfach sterben.«8 Stets war die erdachte Handlung für ihn wichtiger als das wahre Leben. Als seine Mutter ihm verbieten wollte, beim Spielen mit G.I. Joe-Actionfiguren zu fluchen, entgegnete er: »Das bin ich nicht. Die Figuren sagen solche Sachen.«9 Er wollte so cool sein wie Charles Bronson und die anderen harten Männer, die er aus Filmen kannte, die an Erwachsene gerichtet waren. Als er elf Jahre alt war, sah Quentin eine Doppelvorführung von Deliverance (Beim Sterben ist jeder der Erste, 1972) und Sam Peckinpahs Spätwestern The Wild Bunch (The Wild Bunch – Sie kannten kein Gesetz, 1969).

Kurz zuvor hatte Curtis Zastoupil die Familie verlassen. Connie Tarantino durchlebte im Alter von 26 Jahren ihre zweite Scheidung. Der zehn Jahre alte Quentin wurde vorübergehend zu seinen Großeltern Elizabeth und Ellis Shaffer nach Tennessee geschickt. Die Tatsache, dass es in dem kleinen Ort, in dem die beiden lebten, kein Kino gab, ließ für Quentin den Aufenthalt zu einer Art Strafe werden. Gelegentlich fuhren die Großeltern mit ihm ins Autokino, aber dort wurden nicht die Kung-Fu-Filme gezeigt, die in den frühen 1970er-Jahren die Leinwände eroberten. »Die ganze Welt feierte die Kung-Fu-Party, nur ich durfte nicht dabei sein«10, blickt Tarantino zurück. Er musste sich mit den Werbespots im Fernsehen begnügen und war fasziniert von den krachenden Toneffekten, den fliegenden Menschen und den aufregenden Schwertkämpfen. »Ich war auch ein großer Comicfan, aber hier schien das Kino die Comics zu überflügeln«, sagt Tarantino. »Doch meine Großeltern waren weiße Unterschicht. Sie gingen nicht ins Kino oder in ein Restaurant, weil ihnen das zu fein erschien.«11 Ersatzweise suchte Quentin einmal pro Woche die Schulbücherei auf und studierte in den Zeitungen die reißerisch gemachten Kino-Annoncen für Kung-Fu-Filme. Es sollte noch Jahre dauern, bis er die von den Shaw Brothers geschaffenen Meilensteine des Martial-Arts-Genres, darunter Shào Lín san shí liù fáng (Die 36 Kammern der Shaolin, 1978) und die Filme mit Bruce Lee zu sehen bekam.

Kapitel 2Foxy Brown

Quentin kehrte zu seiner Mutter zurück, deren Männerbekanntschaften zu jener Zeit häufig wechselten. Die meisten Partner seiner Mutter waren schwarz. Quentin fand das cool, zumal die große Mehrheit seiner Nachbarn und Mitschüler ebenfalls schwarz war. In Quentins Teenagerjahren erreichte die Welle der Blaxploitation-Filme ihren Höhepunkt. Die Bezeichnung »Blaxploitation« war eine beliebte Verschmelzung der Wörter »black« (schwarz) und »Exploitation« (Ausbeutung), weil das Genre ein schwarzes Publikum anlocken und ihnen das Geld für den Kauf vieler Kinotickets aus den Taschen ziehen sollte.

Farbige Schauspieler mussten sich nicht länger mit Nebenrollen als Sklaven, Diener oder Kleinkriminelle zufriedengeben. Sie wurden zu coolen Cops und Helden, die unter korrupten weißen Beamten, Zuhältern und rassistischen Großstadtgangstern aufräumten. Die Filme waren actionreich und schickten überzeichnete Figuren durch eine schlichte Handlung von Gut gegen Böse. Die Blaxploitation-Filme waren auf den Geschmack des schwarzen Publikums zugeschnitten. In Zeiten, in denen Rassengesetze ausgehebelt wurden und die Black Panther Party auf politischer Ebene gegen die Unterdrückung von Afroamerikanern kämpfte, schmeichelten die Filme dem schwarzen Selbstbewusstsein.

Quentin Tarantino lernte die Blaxploitation-Welt auf Umwegen kennen. 1971 belauschte er ein Gespräch zwischen seiner Mutter und seinem Stiefvater Curtis, nachdem die beiden im Kino den Thriller SweetSweetback’s Baadasssss Song (SweetSweetbacks Lied) gesehen hatten. Der mit einem Budget von nur 150.000 Dollar gedrehte Independent-Film, in dem Regisseur und Autor Melvin Van Peebles auch die Hauptrolle spielt, erzählt die Geschichte des Strichers Sweetback, der sich gegen brutale Polizisten und die Hells Angels durchsetzen muss. 1971 kam auch der wegweisende Kultkrimi Shaft des Regisseurs Gordon Park in die Kinos. Quentin war acht Jahre alt und sah die Tonight Show, in der der Moderator Johnny Carson den Hauptdarsteller Richard Roundtree zu Gast hatte. Aufgrund der von Roundtree verkörperten Figur eines New Yorker Privatdetektivs, der überwiegend in dem von Afroamerikanern geprägten Viertel Harlem ermittelt, galt Shaft als schwarze Antwort auf die James-Bond-Filme. MGM hatte mit geschätzten 1,25 Millionen Dollar ein stolzes Budget zur Verfügung gestellt und freute sich über das zehnfache Einspielergebnis sowie über zwei Oscars für die beste Filmmusik und den besten Song. »Ich war wütend, dass ich den Film nicht sehen durfte«12, erinnert sich Quentin Tarantino, der sich zu jener Zeit mit Filmausschnitten begnügen musste. Das änderte sich, als sein Stiefvater Curtis 1973 das Haus verließ und neue Männer einzogen. Eine Zeit lang war Connie Tarantino mit einem schwarzen Footballspieler zusammen, der sie und den jungen Quentin an den Broadway in Downtown Los Angeles ausführte. Dort schlug das Herz der Blaxploitation-­Bewegung. Namen wie Bernie Casey und Max Julien prangten in großen schwarzen Lettern an den beleuchteten Fassaden der heruntergekommenen Kinopaläste. »Welchen Film willst du sehen?«, fragte Quentins nächster potenzieller Stiefvater, während er seinen Wagen über den Broadway lenkte. Quentin hatte im Fernsehen Werbespots für den Actionthriller Black Gunn (Visum für die Hölle, 1972) gesehen, in dem Jim Brown einen integeren Nachtklubbesitzer mimt, der gegen die Mafia kämpft, die seinem kriminellen Bruder auf den Fersen ist. Der Drittklässler Quentin Tarantino saß auf dem Balkon des Kinos, als Black Gunn im Doppelpack mit The Bus is Coming gezeigt wurde, in dem ein schwarzer Vietnam-Heimkehrer seinen von rassistischen Cops getöteten Bruder rächt. Er prägte sich jeden Dialog und jede Kameraeinstellung ein.

Connie zog mit Quentin in eines der größten Schwarzenviertel von South Bay.13 Auch hier reihten sich Blaxploitation-Kinos wie Perlen einer Kette aneinander. Quentin verbrachte jedes Wochenende dort. Er fieberte mit den Filmhelden mit und verliebte sich in schwarze Schauspielerinnen, die einen wilden Afrolook trugen und kurvenreiche Körper hatten. Ein Poster von Pam Grier, die in Coffy (Coffy – Die Raubkatze) (1973) und Foxy Bown (1974) die Hauptrollen spielte, hing über Quentins Kinderbett.

In der Schule war er ein Versager. Wann immer möglich, schwänzte er den Unterricht und verbrachte die Zeit lieber in Kinos und Comicläden. Je mehr Fehltage er hatte, desto größer war die Versuchung, gar nicht mehr hinzugehen, um dem Ärger mit den Lehrern und seiner Mutter auszuweichen. »Ich hasste die Schule, sie war wie ein Gefängnis«14, erklärt Tarantino. Zwar hatte er Probleme mit der Rechtschreibung, dennoch las er gern Bücher und schrieb eigene Geschichten. Seine Lektüre waren Taschenbücher, Kinoliteratur und die Werke seiner Lieblingsautoren J. D. Salinger, Larry McMurtry und vor allem Elmore Leonard. Als er 13 Jahre alt war, stahl Quentin in der Buchabteilung einer Filiale der Kaufhauskette Kmart den Leonard-Roman The Switch (Wer hat nun wen aufs Kreuz gelegt?). Er wurde erwischt, die Polizei brachte ihn zu seiner Mutter, er bekam gewaltigen Ärger, Hausarrest und Fernsehverbot. Um die bevorstehende fernsehfreie Zeit zu überbrücken, ging er zur Kmart-Filiale zurück und stahl den Roman ein zweites Mal. Diesmal erwischte ihn keiner.15

»Ich habe fast mein ganzes Autorenhandwerk von Elmore Leonard gelernt«, sagt Quentin Tarantino. »In seinen Büchern fand ich zum ersten Mal Charaktere, die sich über Filme unterhielten.«16 Tarantino fragte sich, warum es nicht auch in Filmen Figuren gab, die sich über Alltagsthemen unterhielten. Zudem beeindruckte ihn Leonards nonlinearer Erzählstil. Der Schriftsteller ließ das erste Kapitel eines Romans oft mitten in der Geschichte spielen und erzählte die vorangegangenen Ereignisse in Rückblenden.

Als er in der siebten Klasse war, begann Tarantino, Drehbücher zu schreiben. Alle blieben unvollendet. »Ich machte damals den gleichen Fehler wie viele andere Drehbuchautoren«, gesteht er. »Ich schrieb coole Szenen, aber kümmerte mich nicht so sehr um die Geschichte. Nach dem guten Einstieg war es richtig harte Arbeit, den Film zu Ende zu schreiben. Deshalb habe ich immer nach knapp 30 Seiten aufgehört und mit einem neuen Drehbuch begonnen, das mir besser erschien.«17 Inspirationen sammelte er in den Grindhouses genannten Kinos seines Wohnviertels. Das waren schäbige kleine Filmtheater, die in Doppel- oder Dreifachvorstellungen billige Horror-, Zombie-, Surfer-, Softsex- und Kung-Fu-Streifen zeigten. Auch bekanntere Produktionen, deren Filmspulen vorher monatelang durch die Projektionsräume vieler Kleinstadtkinos gewandert waren, erlebten hier eine letzte Vorführung, bevor sie auf Super 8 vermarktet wurden. Das Angebot war international: Martial-Arts-Klassiker aus Hongkong, japanische Samurai-Epen, Spaghettiwestern von Sergio Leone. Der deutsche Edgar-Wallace Film Die blaue Hand lief unter dem englischen Titel Creature with the Blue Hand im Doppelpack mit Eddie Romeros Beast Of The Yellow Night. Über die Leinwand flimmerten auch Auswüchse der Filmindustrie wie Ilsa, She Wolf of the SS oder Russ Meyers Faster, Pussycat! Kill! Kill! (Die Satansweiber von Tittfield) mit Tura Satana. Die mit üppiger Oberweite ausgestattete Schauspielerin, halb Japanerin, halb Cheyenne, brachte den pubertierenden Quentin beinahe um den Verstand.

Die als Schundfilme verschrienen Produktionen, die in Zeitungen und Magazinen mit sensationsheischenden Slogans und Illustrationen beworben wurden, zogen Quentin Tarantino magisch an. Seine Mutter mied solche Filme und verbot auch ihrem Sohn, diese anzusehen. Doch Quentin kletterte heimlich über den Zaun und stahl sich in die Vorführsäle. Als er alt genug war, um die Grindhouses legal zu besuchen, suchte er sich bald einen neuen Kick. Den größten Nervenkitzel boten die »All-Night-Movie-Theaters«, in denen rund um die Uhr Filme gezeigt wurden und in denen der Bodensatz der Gesellschaft anzutreffen war. »Dort drückten sich jede Menge Penner, Gangster, Zuhälter und Huren herum«, erinnert sich Tarantino. »Der Vorführraum war geschwängert mit Zigarettenrauch, es roch nach Whiskey und Sperma. Oder es versteckten sich Verbrecher auf der Flucht vor der Polizei in diesen Kinos. Ich habe mehr als einmal Handschellen klicken gehört. Es lag immer eine ungeheure Anspannung in der Luft. Und wenn man das dann überlebt hatte, war man absolut cool. Ich hätte auch vormittags gehen können, da wäre es viel sicherer gewesen. Aber für mich musste es der Samstag kurz vor Mitternacht sein. Ich hätte draufgehen können. Aber das war der Beweis meiner Filmleidenschaft.«18

In der neunten Klasse brach Quentin Tarantino die Middle School ab, ohne einen Schulabschluss vorweisen zu können. Heute bereut er diesen Schritt: »Zwar kann man mit dem, was ich getan habe, kräftig angeben, aber eigentlich glaube ich, dass es Spaß gemacht hätte, aufs College zu gehen. Damals dachte ich allerdings, Schule wäre immer so schlimm wie in der neunten Klasse.«19 Er war 16 Jahre alt, log den Betreibern der Pornokinokette Pussycat Theaters aber vor, er wäre schon 18. Er arbeitete als Platzanweiser und fühlte sich völlig fehl am Platz: »Ich war jeden Tag in einem Kino, das nur Filme zeigte, die mich nicht interessierten. Ich fand Pornos schon immer ekelhaft.«20 Als in den frühen 1980er-Jahren der Siegeszug von Videorekordern und VHS-Kassetten begann, brachen die Besucherzahlen ein. Die Kunden konsumierten die Pornos lieber zu Hause auf Video.

Den kargen Stundenlohn aus dem Pussycat Theater investierte Quentin Tarantino in privaten Schauspielunterricht. Drei Jahre lang belegte er Kurse bei James Best, der den Sheriff Rosco P. Coltrane in der Fernsehserie The Dukes of Hazzard (Ein Duke kommt selten allein) spielte. Es folgten weitere drei Jahre Unterricht bei dem Schauspieler Allen Garfield, der vor allem durch seine Rollen in The State of Things (Der Stand der Dinge, 1982) und Beverly Hills Cop II (1987) bekannt werden sollte. Schnell merkte Tarantino, dass es seinen Mitschülern in erster Linie darum ging, berühmt zu werden und an der Seite von Filmstars wie Robert De Niro und Al Pacino zu drehen. Er selbst hatte andere Ziele: »Meine Helden waren die großen Regisseure. Ich wollte nur noch Schauspieler werden, um mit Francis Ford Coppola, Brian De Palma und Martin Scorsese zu arbeiten. Ich hätte auch Italienisch gelernt, um mit Dario Argento zu arbeiten, oder Japanisch für einen gemeinsamen Film mit Akira Kurosawa.«21

Der Schauspielunterricht langweilte Quentin Tarantino. Er wollte nicht das Seelenleben der Figuren ausloten und realitätsferne Dialoge herunterbeten, sondern bizarre und actionreiche Szenen seiner Lieblingsfilme interpretieren. Die Besuche in den Grindhouses waren weiterhin sein liebster Lebensinhalt. Im Alter zwischen 17 und 21 Jahren sah er jährlich mindestens 200 ­Filme und führte sorgfältig Buch darüber. Dazu kamen ungezählte Stunden vor dem Fernseher, weil die vielen Sender von Los Angeles rund um die Uhr Klassiker und Serien ausstrahlten. Für Kinotickets und Schauspielunterricht gab er Monat für Monat mehr Geld aus als für Essen und Trinken. Er überraschte seine Lehrer mit nachgespielten Szenen aus Jackie-Chan-Filmen oder aus Flash Gordon, obwohl er nie Fan von Science-Fiction-Filmen war. Dabei übernahm er den Part von Timothy Dalton und mimte Flash Gordons Freund Prinz Barin.

Zu dieser Zeit hatte er weder einen Videorekorder noch Zugriff auf Drehbücher. Wenn er schrieb, ergänzte er Szenen aus der Erinnerung um eigene Ideen. So lernte er, Dialoge zu verfassen. Ein anderer Schauspielschüler wies ihn auf sein Talent hin. »Als ich 19 oder 20 war, schrieb ich eine Szene, die mir in Delbert Manns Marty gefallen hatte, und packte noch einen komplett eigenen Monolog dazu«, erinnert sich Quentin Tarantino. »Dann gab ich die Texte meinem Schauspielpartner, der nach dem Lesen meinte: ›Der Monolog kommt zwar in Marty gar nicht vor, aber er ist genauso gut wie das Zeug, das Paddy Chayefsky geschrieben hat.‹ Das war für mich die erste Bestätigung, dass ich die Schreiberei ernst nehmen sollte.«22 In dieser Zeit reifte auch der Wunsch, eigene Filme zu drehen. Der Gedanke, die Worte »Ein Film von Quentin Tarantino« auf der Leinwand zu sehen, war verlockend. Auf ein bestimmtes Genre wollte er sich nicht festlegen, er wollte so vielseitig sein wie eines seiner großen Vorbilder: Howard Hawks, den er im Alter von 17 Jahren für sich entdeckt hatte. »Ich habe schon als Kind Rio Bravo [1959] gesehen, auch wenn ich damals natürlich nicht wusste, wer der Regisseur war. Ich sah den Film noch einmal in einem Programmkino und ich liebte ihn. Ich dachte, das sei der beste Film der Welt. Kurz darauf war ich auf einem Film-Marathon, bei dem von früh bis spät nur Komödien liefen. Einer der Filme war Hawks’ His Girl Friday [Sein Mädchen für besondere Fälle, 1940]. Und wieder dachte ich: Das ist der witzigste Film, den ich je gesehen habe. Ein paar Wochen später lief im Fernsehen Barbary Coast [San Francisco im Goldfieber, 1935]. Er hatte den gleichen Stil wie die anderen beiden Filme. Da wusste ich: Oh mein Gott, ich muss alles sehen, was dieser Mann gedreht hat. Ich habe mir seine Filme aus Enzyklopädien zusammengesucht und jede Woche im ›TV Guide‹ danach gesehen. Damals wollte ich, dass in 20 oder 30 Jahren ein Jugendlicher zufällig einen meiner Filme sieht und sich denkt: ›Das ist gut. Wer ist dieser Typ?‹«23 Doch die Bastion Hollywood wartete nicht darauf, von einem Schulabbrecher und Schauspielschüler erobert zu werden. Quentin Tarantino gab die Arbeit im Pornokino auf und hangelte sich von einem Gelegenheitsjob zum nächsten. Eine Zeit lang war er sogar Headhunter in der Luftfahrtindustrie, obwohl er nicht die geringste Ahnung von Flugzeugen hatte und auch noch nie geflogen war. Die Branche interessierte ihn nicht, brachte neben Langeweile aber auch Geld ein, von dem er sich einen Videorekorder kaufen konnte.

Kapitel 3My Best Friend’s Birthday

In der Kleinstadt Manhattan Beach, die an den Pazifik grenzt und im Einzugsbereich der South Bay von Los Angeles liegt, existierte seit den frühen 1980er-Jahren die Videothek Video Archives am 1822 Sepulveda Boulevard. Quentin Tarantino wurde Stammkunde, weil er die große Abteilung mit Klassikern und internationalen Produktionen, die nach Ländern sortiert waren, schätzte. Den Mitarbeitern entging nicht, dass fast täglich ein wandelndes Filmlexikon den Laden betrat, und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie dem verarmten Schauspielschüler eine Stelle anboten. Der Mindestlohnjob wurde nur mit vier Dollar pro Stunde bezahlt, aber für Quentin Tarantino war der kostenlose Zugriff auf alle Filme der Videothek ein Geschenk des Himmels.

Den ganzen Tag über sprach er den Kunden Empfehlungen aus, berechnete einen Dollar Strafgebühr für nicht zurückge­spulte VHS-Kassetten und schaute ansonsten jede Menge ­Filme. Auf dem Großbildschirm, der prominent in der Video­thek stand, liefen nicht die aktuellen Blockbuster, sondern alles, was Quentin Tarantino mochte: Roger Cormans Horrorfilme, Tobe ­Hoopers TheTexas Chain Saw Massacre (Blutgericht in Texas, 1974), ­George A. Romeros Dawn of the Dead (Zombie, 1978), Sergio Leones bildgewaltige Spaghettiwestern, französisches Edelkino von Eric Rohmer und Jean-Luc Godard, die japanische Streetfighter-Trilogie mit Sonny Chiba und die deutschen Winnetou-Filme mit Pierre Brice. Tarantino unterschied nicht zwischen Hochkultur und Trash. »Ich mag jede Art von Film«, betont er und konstatiert unter Bezugnahme auf den Regisseur Joe Dante: »Er hat einmal gesagt, es gebe zwei Arten von Filmfans: Leute, die Filme lieben, und Leute, die nur Filme lieben, die sie lieben. Ich gehöre zur ersten Gruppe. Ich liebe Filme.«24

Quentin Tarantino wurde zum Star unter den Video-Archives-­Angestellten, zu denen auch sein späterer Pulp Fiction-­­Koautor Roger Avary gehörte. Kunden kamen in den Laden und fragten ihn: »Welchen Film will ich heute sehen, Quentin?« Tarantino formulierte verlässliche Kurzkritiken und organisierte jede Woche in der Videothek ein kleines Filmfestival zu einem bestimmten Genre. Ab und zu ging er mit einer Kundin aus, doch außer einem gemeinsamen Abendessen und dem ein oder anderen Kuss lief nichts. Der Minimallohn des redseligen Film-Nerds schreckte das andere Geschlecht ab. So verbrachte Quentin Tarantino den größten Teil seiner Zeit vor dem Fernseher und mit gleichaltrigen Kumpels, die ebenfalls kein Geld und keine Frauen hatten. Die Collegeerfahrung des Anbandelns mit dem anderen Geschlecht und der gemeinsam mit Freunden bei Chips und Bier verbrachten Abende holte Tarantino, der sich durch seinen Schulabbruch um diese Option gebracht hatte, in den fünf Jahren nach, in denen er bei Video Archives arbeitete.

Er wollte jedoch nicht nur untätig auf dem Sofa sitzen, sondern die Filmfestivals im Sturm erobern. Parallel zu seinen Anfangsjahren bei Video Archives drehte er den Schwarz-Weiß-Film My Best Friend’s Birthday. Er arbeitete dreieinhalb Jahre daran, weil er das Budget von 5000 Dollar nicht auf einmal aufbringen konnte, sondern das Projekt immer dann fortsetzte, wenn er ein paar Dollar übrig hatte. Die 16-Millimeter-Kamera lieh er stets an Freitagen aus, damit er sie ohne zusätzliche Gebühr für den Sonntag über die Wochenenden nutzen konnte. Erst montagmorgens brachte er sie, völlig übermüdet von den schlaflosen Drehtagen, zurück. Roger Avary war einer der Kameramänner, Quentin Tarantino führte Regie nach eigenem Drehbuch und einer Idee von Craig Hamann, der ebenfalls bei Video Archives arbeitete. Craig Hamann spielt in dem Film Mickey Burnett, der gerade von seiner Freundin verlassen wurde. Mickeys Kumpel Clarence (Quentin Tarantino) beschließt, ihm gegen die Trübsal einen unvergesslichen Geburtstag zu bereiten. In Nebenrollen erscheinen Quentin Tarantinos Schauspiellehrer Allen Garfield und Rich Turner, der später kleine Parts in Tarantinos Reservoir Dogs und Pulp Fiction, in Roger Avarys Killing Zoe und in Craig Hamanns Boogie Boy (Hard Proof, 1998) erhielt. Linda Kaye, die in My Best Friend’s Birthday Mickeys Exfreundin spielt, wurde später Stuntfrau und ließ sich für eine Szene in Reservoir Dogs von einem Auto anfahren.

My Best Friend’s Birthday blieb unvollendet. Nach einem von Quentin Tarantino gestreuten Gerücht sind die letzten beiden Akte bei einem Laborbrand zerstört worden. Dagegen behauptet Roger Avary, Tarantino habe 1987 einfach keine Lust und kein Geld mehr gehabt, um den Film zu beenden. Wohl aber sei der schwarz-weiße Kurzfilm Love Birds in Bondage Opfer von Flammen geworden. In der unvollendeten Komödie von 1983, dem Vorläuferprojekt zu My Best Friend’s Birthday (1987), spielten Quentin Tarantino und sein befreundeter Video-Archives-Kollege Scott McGill die Hauptrollen und führten gemeinsam Regie. Tarantino, der in dem Film eine unbeholfene Sexszene zum Besten gab, beschuldigte McGill, den schlichten Streifen bewusst verbrannt zu haben. McGill versicherte allerdings, seine Mutter habe das Feuer gelegt. Die Wahrheit nahm Scott McGill mit ins Grab, als er 1987 Selbstmord beging.

Die 36 Minuten, die heute noch von My Best Friend’s Birth­day existieren, wirken dilettantisch und holprig. »Nach dem Schnitt wusste ich: Das war nichts, ich kann den Film nicht auf Festivals zeigen«, gibt Tarantino zu und sagt: »Jeder Mensch, den ich zu diesem Zeitpunkt persönlich kannte, hätte nach dieser Erfahrung aufgegeben.«25 Auch er litt einige Wochen lang unter einer Depression, doch er beschloss, weiterhin sein Glück im Filmgeschäft zu versuchen. Rückblickend empfindet er die Low-Budget-Dreharbeiten als beste – und günstigste – Filmschule, die er absolvieren konnte.

My Best Friend’s Birthday lässt deutlich Quentin Tarantinos Handschrift erkennen: Es werden andere Filme zitiert, die Wände in Clarences Apartment sind voller Filmposter, anstelle eines komponierten Soundtracks werden Songs von Johnny Cash, Elvis Presley und Chuck Berry verwendet, die Dialoge scheinen aus dem Leben gegriffen zu sein. Der Monolog, in dem Quentin Tarantino als Clarence Pool über Sex mit Elvis Presley sinniert, ist nahezu identisch mit dem Monolog, den Christian Slater als Clarence Worley in Tony Scotts True Romance hält, zu dem Tarantino das Drehbuch beisteuerte.

Kapitel 4True Romance

Die lange Vorgeschichte von True Romance begann 1986. Roger Avary überreichte seinem Video-Archives-Kollegen Quentin Tarantino ein selbst verfasstes Drehbuch für eine wilde Komödie namens Pandemonium Reigns. Auf 40 Seiten entfalteten sich die Abenteuer eines frisch verheirateten junges Paares und eines Trampers, die gemeinsam in eine surreale Stadt kommen. Tarantino gefielen der Stil und einzelne Ideen, aber weder er noch Avary mochten das Ende der Geschichte. Tarantino bat darum, das Drehbuch umschreiben zu dürfen, damit er den Figuren mehr Tiefe verleihen konnte. Er war fest entschlossen, die Geschichte diesmal bis zum Ende zu erzählen. Erstmals wollte er die 30-Seiten-Hürde nehmen, an der er schon bei den vielen anderen Drehbüchern gescheitert war, die er als Teenager und Schauspielschüler verfassen wollte. Am Ende wurden es mehr als 500 handgeschriebene Seiten. Tarantino bezeichnet das Drehbuch, dem er den Titel The Open Road gab, als seinen »großen amerikanischen Roman«, Roger Avary spricht von der »Bibel der Popkultur«.26

Das nie veröffentlichte Werk ist eine Mischung aus True Roman­ce und Natural Born Killers. Als Tarantino und ­Avary erkannten, dass eine auf 500 Seiten ausgedehnte Geschichte jeden Kinofilm sprengen würde, teilten sie das Drehbuch in zwei eigenständige Teile auf.

Tarantino nennt True Romance den »­autobiografischsten Film«, den er je geschrieben hat: »Man findet mich überall. Als ich mit 25 Jahren das Drehbuch schrieb, war ich wie Clarence.«27 Der Antiheld Clarence Worley arbeitet gegen Mindestlohn in einem Comicladen (nicht in einer Videothek), seine Behausung, die er sich mit einem faulen Mitbewohner teilen muss, gleicht einer Film- und Elvis-Presley-Gedächtnisstätte, er sieht sich im Kino und im Fernsehen mit Vorliebe brutale Martial-Arts-Filme an, seinen Geburtstag verbringt er bei einem Triple-Feature der japanischen Streetfighter-Reihe. Auch Quentin Tarantino verbrachte seine Geburtstage stets im Kino.

In True Romance lernt Clarence bei einem Kinobesuch die junge Prostituierte Alabama Whitman kennen. Die beiden verlieben sich, heiraten spontan und geraten in einen Strudel aus Gewalt und Drogen. Die Liebesgeschichte entsprang Tarantinos Fantasie: »Als ich 25 Jahre alt war, hatte ich noch nie eine Freundin gehabt. Zwar hatte ich Dates, aber keine Freundin. So gesehen war Alabama meine Traumfrau. Nicht, dass ich eine Frau wie Alabama haben wollte. Ich fühlte mich von klugen Frauen angezogen, sie sollten schlauer sein als ich. Mein Traum war, überhaupt eine Frau zu haben. Und die sollte wie ein Kumpel sein, mit dem man ins Kino geht, Musik hört und abhängen kann.«28

Der Name Alabama ist eine Hommage an Tarantinos Jugendidol Pam Grier, die in Women in Cages (Frauen hinter Zuchthausmauern, 1971) eine sadistische Aufseherin namens Alabama spielte. Das Originaldrehbuch von True Romance enthält eine Szene, in der Clarence zu Alabama sagt, sie heiße wie die von Pam Grier verkörperte Figur in jenem Film. Indem Tarantino seine Hauptfigur Clarence aus Detroit stammen lässt, erweist er seinem Lieblingsschriftsteller Elmore Leonard Reverenz, dessen Kriminalgeschichten oft in Detroit spielen. Er kopierte auch Leonards Markenzeichen, die Figuren ausschweifend über Filme und die Nichtigkeiten des Lebens diskutieren zu lassen, und die Geschichte nicht linear, sondern in Rückblenden und Zeitsprüngen zu erzählen, die am Ende eine überraschende Auflösung ergeben. So wie sein Vorbild Jean-Luc Godard alle Regeln des französischen Erzählkinos gebrochen hatte, so wollte auch Quentin Tarantino die festgefahrenen Regeln des amerikanischen Kinos durchbrechen.

Die 1980er-Jahre waren jedoch der denkbar schlechteste Zeitraum für eine cineastische Revolution, da Hollywood ausschließlich genormte Zelluloidware, sympathische Helden und familiengerechte Gewaltdarstellungen in die Kinos brachte. Überraschende Wendungen fand Tarantino nur in den Handlungen der europäischen und asiatischen Filme, die bei Video Archives in den Regalen standen. So sah er 1986 Matador, den fünften Film des spanischen Regisseurs Pedro Almodóvar. »Die Szene, in der die Hauptfigur zu Horrorfilmen masturbiert, war meine absolute Lieblingsszene«, sagt Tarantino. Als er einem Video-Archives-Kollegen erklärte: »So einen Filmanfang möchte ich auch drehen«, entgegnete dieser lapidar: »Das würde dir hier keiner erlauben.«29

Trotzdem schrieb Quentin Tarantino das Drehbuch für True Romance ohne Schere im Kopf. Er wollte die Geschichte nicht verkaufen, um sie von einem anderen Regisseur inszenieren zu lassen. Er wollte den Film selbst realisieren. Sein Vorbild waren die Brüder Joel und Ethan Coen, die für ihr Regiedebüt Blood Simple (Blood Simple – Eine mörderische Nacht, 1984) bei Anwälten, Ärzten und anderen reichen Investoren hausieren gegangen waren und innerhalb eines Jahres ein Budget von 750.000 ­Dollar erbettelt hatten. Kein Hollywood-Studio wollte den fertigen Film in die Kinos bringen, doch nach positiven Reaktionen auf dem New York Film Festival und dem Toronto International Film Festival begann die Erfolgsgeschichte des Films und der Coen-Brüder. Quentin Tarantino beschloss, True Romance