Radicals - Jamie Bartlett - E-Book

Radicals E-Book

Jamie Bartlett

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Beschreibung

In "Radicals" nimmt Jamie Bartlett, einer der weltweit führenden Denker zu radikaler Politik und Technologie, die Leser mit in die fremdartigen und aufregenden Welten der Innovatoren, Disruptoren, Idealisten und Extremisten, die der Auffassung sind, dass im Kern der modernen Gesellschaft etwas falsch ist – und glauben, dass wir es besser können. Bartlett stellt einige der wichtigsten Bewegungen unserer Zeit vor: Techno-Futuristen, die Unsterblichkeit anstreben; extrem rechte Gruppen, die Grenzen schließen wollen; militante Umweltaktivisten, die den Planeten mit allen notwendigen Mitteln retten wollen; psychedelische Pioniere, die die Gesellschaft mithilfe starker Halluzinogene heilen wollen. Der Erfolg demokratischer Gesellschaften hängt von unserer Fähigkeit ab, den radikalen Bewegungen in unserer Mitte zuzuhören – und in manchen Fällen von ihnen zu lernen. Ihre Ansichten mögen extrem sein, aber in der Verfolgung ihrer Utopien stellen diese Gruppen infrage, was möglich ist, und nehmen die künftige Welt vorweg.

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Radicals

Wie Außenseiter die Welt verändern wollen und weshalb wir ihnen zuhören sollten

Jamie Bartlett

Autor von The Dark Net

Die Originalausgabe erschien unter dem TitelRadicals: Outsiders changing the worldISBN 9781785150371

Copyright der Originalausgabe 2017:Copyright © Jamie Bartlett 2017. All rights reserved.

First published by William Heinemann.

Copyright der deutschen Ausgabe 2018:© Börsenmedien AG, Kulmbach

Übersetzung: Matthias Schulz

Gestaltung Cover: Johanna WackGestaltung, Satz und Herstellung: Martina KöhlerLektorat: Karla SeedorfDruck: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-86470-555-7

eISBN 978-3-86470-556-4

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks,der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbankenoder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Postfach 1449 • 95305 Kulmbach

Tel: +49 9221 9051-0 • Fax: +49 9221 9051-4444

E-Mail: [email protected]

www.plassen.de

www.facebook.com/plassenverlag

Für die beste Kritikerin, Unterstützerin, Rezensentinund Rückendeckerin, die man sich nur denken kann.Sie weiß, von wem die Rede ist.

Der vernünftige Mensch passt sich der Welt an.

Der unvernünftige besteht auf dem Versuch,die Welt sich anzupassen.

Deshalb hängt aller Fortschrittvon unvernünftigen Menschen ab.

– George Bernard Shaw,

Maxims for Revolutionists

Inhalt

Prolog

1. Die transhumanistische Wette

2. Festung Europa

3. Auf dem Trip

4. Intermezzo: Prevent

5. Grillo gegen Grillo

6. In Duhms Welt

7. Das Aktivisten-Paradoxon

8. Auf der Suche nach Liberland

Epilog

Quellen/Erläuterungen

Leseempfehlungen

Danksagung

Prolog

Jede Generation erliegt dem Irrglauben, sie habe den Höhepunkt erreicht und ein besseres Leben sei nicht möglich. Ihre Gesetze, ihre Normen, ihre Gepflogenheiten sind natürlich, unvermeidlich und sogar naheliegend.

Doch was wir heutzutage für selbstverständlich halten, all die modernen Weisheiten, die für uns auf der Hand liegen, all das wurde einst als gefährlich abgetan und als fehlgeleiteter radikaler Denkansatz gebrandmarkt. Der liberale Philosoph und Parlamentarier John Stuart Mill wollte 1867 den Text der Wahlrechtsreform in Großbritannien ändern lassen – er wollte, dass nicht von „Männern“, sondern von „Personen“ die Rede sei. Der Aufschrei war enorm, Mill wurde angefeindet und verspottet. Die englische Männlichkeit sei bedroht, schimpften seine Gegner, außerdem würde sein Vorschlag Frauen erniedrigen. Mill musste eine klare Niederlage einstecken. „Mister Mill täte gut daran, seine Argumente um etwas mehr gesunden Menschenverstand zu ergänzen“, urteilte damals ein Parlamentarier. 1928, 60 Jahre später, war es den Anstrengungen einer anderen radikalen Gruppe, den Suffragetten, zu verdanken, dass das Wahlrecht in Großbritannien geändert wurde und Frauen fortan genauso wählen durften wie Männer. Will jemand daran etwas ändern? Das käme einem vermutlich genauso lächerlich und gefährlich vor, wie den meisten Menschen 1867 Mills Vorschlag erschien.

Wir befinden uns in einem Zeitalter eines Fortschritts, wie ihn die Welt noch nie erlebt hat. Durchschnittlich leben die Menschen in mehr Wohlstand, gesünder und länger als je zuvor. Dennoch stehen wir gleichzeitig vor vermeintlich gewaltigen Problemen. Die Fähigkeit der Nationalstaaten, sich Geld zu beschaffen, die Einhaltung von Gesetzen zu erzwingen und ihre Grenzen zu schützen, ist stärker denn je beeinträchtigt. Die Globalisierung – im Grunde nichts anderes als die uneingeschränkte Bewegungsfreiheit von Waren, Dienstleistungen und Arbeitskraft – hat Gewinner hervorgebracht, aber auch jede Menge Verlierer. Historisch gewachsene Gemeinden wurden einem radikalen Wandel unterzogen und an einigen Stellen konnten die öffentlichen Dienste nicht Schritt halten. Seit 30 Jahren nimmt in sämtlichen liberalen Demokratien die Einkommensungleichheit spürbar zu und vielen Menschen ergeht es nicht besser als ihren Eltern.1 Der Klimawandel verändert unseren Planeten dauerhaft. Depressionen, Angstzustände und Unzufriedenheit sind auf dem Vormarsch, parallel zu diesen Megatrends kommen Tausende kleinerer Probleme – Engpässe bei den öffentlichen Versorgungsbetrieben, Überalterung, ein Mangel an bezahlbarem Wohnraum, Frauenfeindlichkeit, Rassismus, religiöser Fundamentalismus und so weiter. Und dann ist da noch das Internet, Cheerleader und Verstärker disruptiver Entwicklungen.

Dank des Internets war es noch nie so einfach, neue Ideen und Bewegungen zu entwickeln oder mit ihnen in Kontakt zu treten. Das kann gut sein oder schlecht. Es sind neue, schwierig zu kontrollierende Informationsquellen und brandneue Machtzentren entstanden. Repräsentative Demokratie ist ein langsamer, träger Prozess voller Kompromisslösungen. In einer Welt der sofortigen Bedürfnisbefriedigung fühlt sie sich plötzlich absurd langsam an. Über uns bricht eine Flut digitaler Informationen herein, ein Sturzbach an Daten, Fakten, Tabellen, Memes, Hashtags, ausführlichen Kommentaren, Infografiken, Retweets … Besser informiert und nachdenklicher sind wir dadurch noch lange nicht geworden. Stattdessen wurden wir anfälliger für Nonsens, wir sind emotionaler geworden, unvernünftiger und wir rotten uns schneller zu einem Mob zusammen. Uns stehen mehr Informationen zur Verfügung, raschere Computer und clevere Analysten, die diese Probleme begreifen, dennoch scheinen wir immer weniger dazu imstande, diese Schwierigkeiten vorherzusehen oder auszuräumen.

In den meisten westlichen Demokratien gibt es einen allgemeinen Konsens, was die gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Ordnung anbelangt. Es ist eine Art allgemeiner Leitfaden, wie man am besten mit den Herausforderungen umgeht, vor denen wir stehen. Natürlich gibt es Meinungsverschiedenheiten, was Einzelheiten und Umsetzung anbelangt, aber seit dem Zweiten Weltkrieg sind die zentralen Fragen im Grunde genommen geklärt: Wir sprechen über einen Nationalstaat mit einem einzelnen Rechtssystem, geleitet von Beamten und professionellen Parteien, die im Zuge einer repräsentativen Demokratie gewählt werden. Der Staat bestimmt also, was die Bürger sehen, tun und kaufen dürfen und was sie mit ihren Körpern anstellen dürfen. Die Wirtschaft basiert auf Privatbesitz und freien (aber regulierten) Märkten; öffentliche Dienstleistungen werden durch eine erzwungene allgemeine Besteuerung finanziert. Menschenrechte schützen die Bürger, die ungestört ihren jeweiligen religiösen Glauben praktizieren dürfen, sofern andere durch diesen Glauben und diese Praktiken nicht Schaden nehmen.

Diese allgemeinen Ideen, die die Öffentlichkeit mehrheitlich respektiert und als normal akzeptiert, heißen auch „Overton-Fenster“. Der amerikanische Politikforscher Joseph Overton beschrieb die politische Bandbreite, welche sowohl die politische Linke als auch die Rechte akzeptieren müsse, wollte sie gewählt werden. Oberflächliche Abweichungen sind kein Problem, aber alles außerhalb dieses Fensters ist zu ungewöhnlich, undurchführbar oder zu unrealistisch, um von der Öffentlichkeit akzeptiert zu werden – zu radikal halt.

Das Overton-Fenster hat sich seit Jahren kaum bewegt. Als ich Ende 2014 mit der Arbeit an diesem Buch begann, mehrten sich die Anzeichen, dass das Fenster breiter werden könnte. Weniger Menschen gingen zur Wahl und die, die sich die Mühe machten, drifteten von den Mitte-rechts-Parteien und insbesondere von den Mitte-links-Parteien weg an die Ränder.2 Es gibt im Englischen sogar ein Wort dafür, wenn das Zentrum auf diese Weise in sich zerfällt – Pasokifikation.3 Namensgeber ist die griechische sozialdemokratische Partei Pasok. Die ehemalige Regierungspartei brach 2015 bei den Wahlen von 45 Prozent der Stimmen auf vier Prozent ein. In anderen Ländern waren ähnliche Muster zu beobachten. Diverse Meinungsumfragen zeigten, dass das Vertrauen der Bürger in ihre gewählten Vertreter, in das Parlament, in die Justiz und sogar in die Demokratie selbst seit Jahren beständig schrumpft und inzwischen so gering ist wie nie zuvor. Für Menschen, die 1980 geboren wurden, ist die Vorstellung, in einer Demokratie zu leben, deutlich weniger wichtig als für Menschen, die 1960 geboren wurden.

Es hatte den Anschein, als würden sich neue politische Räume öffnen. Die Menschen waren auf der Suche nach Wandel. Sie begannen, Leuten zuzuhören, die dem akzeptierten Konsens wider-sprachen.4 Sie begannen, Radikalen zuzuhören.

Der Begriff „Radikale“ beschreibt Menschen, die sich für grundlegende gesellschaftliche oder politische Reformen starkmachen. Das Wort kommt vom lateinischen radix, was „Wurzel“ bedeutet. „Radikale“ sind Leute, die der Auffassung sind, dass mit der modernen Gesellschaft etwas Grundlegendes nicht stimmt, und die zu wissen glauben, wie man die Dinge wieder ins Lot bringt. Heute sind radikale Ideen und Bewegungen wieder auf dem Vormarsch. Immer mehr Menschen versuchen, die Welt zu verändern – auf den Straßen, in den Sälen, auf den Feldern, in den Chaträumen, ja, sogar in den Parlamenten. Während der vergangenen zwei Jahre habe ich versucht, sie zu finden. Das Leben am politischen Rand kann schwierig sein, manchmal sogar extrem gefährlich, aber es ist auch ziemlich aufregend. Ich habe in Kalifornien einen Transhumanisten begleitet, der amerikanischer Präsident werden wollte. Ich bin in das größte Kohletagewerk Großbritanniens eingedrungen und habe es zum Stillstand gebracht. Ich bin von dänischen Anarchisten angegriffen worden. Ich bin mit Einwanderungsgegnern europaweit durch die Straßen und die Kneipen marschiert. Ich habe mich der Psychedelic Society auf der Suche nach dem „Einssein“ angeschlossen. Ich habe in Moscheen gesessen und gehört, wie Imame gegen den „Islamischen Staat“ wetterten. Ich war nur noch wenige (feuchte) Meter davon entfernt, Fuß auf das neueste und freieste Land der Welt zu setzen, aber dann versuchte die kroatische Polizei, mich zum Kentern zu bringen. Ich habe herausgefunden, warum freie Liebe der Weg zum Weltfrieden ist. Ich habe erlebt, welche Absurditäten man hinter sich bringen muss, um eine Partei zu gründen. Und ich weiß jetzt, wie wahrscheinlich es ist, dass ich 150 Jahre alt werde. Ich kenne den genauen Unterschied zwischen „schwerem Landfriedensbruch“ und „Landfriedensbruch“, zwischen Psilocybin und LSD und zwischen Anarchisten, Anarchokapitalisten und Kryptoanarchisten.

In Radicals gehe ich der Frage nach, wie und warum neue politische Gruppen und Ideen entstehen und Gehör finden. Natürlich gibt es keine saubere Trennlinie zwischen radikalen Ideen und Mainstream-Ideen. Die allgemeine Meinung verändert sich im Laufe der Zeit stetig und der politische Konsens wandelt sich wie ein träge dahinfließender Fluss. Doch inzwischen laufen die Prozesse rascher ab. Als ich Anfang 2017 mein Buch fertigstellte, war der Unterschied zwischen „radikal“ und „Mainstream“ deutlich weniger klar als zu Beginn meiner Recherche.

Hunderte Bewegungen hätten es verdient, dass ich sie in diesem Buch bespreche. Ich konnte mich nicht mit allen von ihnen befassen, einige habe ich auch vorsätzlich außen vor gelassen. Ich habe mich beschränkt auf Bewegungen in liberalen westlichen Demokratien, denn die Definition von Radikalismus ändert sich kontextabhängig sehr stark (vor allem an Orten, in denen es keine freie Meinungsäußerung und keine Versammlungsfreiheit gibt. In Saudi-Arabien etwa wäre ein liberaler Demokrat zweifelsohne ein Radikaler.). Auf antikapitalistische Bewegungen wie Occupy gehe ich nur am Rande ein, denn es gibt reichlich Bücher über sie, und obwohl sie wichtig sind, haben sie schließlich kein Monopol darauf, Frustrationen zu kanalisieren.1 Es fehlen auch Bewegungen, die sich auf Identitätsmerkmale wie sexuelle Orientierung, Rasse oder Geschlecht fokussieren, denn ich war mir nicht sicher, ob ich ihnen auf einigen wenigen Seiten gerecht werden würde.

Ich habe mich bemüht, mich mit einer großen Bandbreite an zeitgenössischem radikalem Denken zu befassen, das ich für gleichermaßen interessant und wichtig halte.

Ich bin an jede Gruppe in der Absicht herangetreten, sie so ehrlich und objektiv zu bewerten, wie ich nur kann. Ich wollte ihren Ideen zuhören und in ihre Welt eintauchen, um ihre Geschichte möglichst wahrheitsgemäß erzählen zu können. Gleichzeitig habe ich mich bemüht, mir ein gewisses Maß an Skepsis zu bewahren. Außerordentliche Behauptungen erfordern außerordentliche Beweise. Dieses Buch erhebt nicht den Anspruch, jede einzelne Idee einer sorgfältigen Kritik zu unterziehen, und es ist auch kein Plädoyer für oder gegen bestimmte politische Argumente. Erwarten Sie bitte keine tiefgehenden polittheoretischen Abhandlungen oder ein sorgfältig ausformuliertes Manifest für die Zukunft. Politik ist unvorhersehbar und chaotisch – niemand kann verlässlich erklären, warum manche Ideen vom Rand in den Mainstream rutschen. Dies ist nur mein bescheidener Versuch zu begreifen, wie und warum sich die Politik verändert – nicht vom Standpunkt des nervösen Mainstreams aus, sondern aus der Perspektive derer, die einen Wandel herbeiführen wollen. Das Overton-Fenster könnte demnächst Geschichte sein. Der Wahlsieg von Donald Trump und die Entscheidung der britischen Bevölkerung, die Europäische Union zu verlassen, sind nur Vorboten einer weiterreichenden Neuordnung. Unsere Vorstellungen davon, was in der Politik „normal“ ist, werden sich wandeln. Dieses Buch ist gewiss kein umfassender Leitfaden für die politischen Normen von morgen, aber ich möchte hier zumindest einige Ideen und Trends vorstellen, die diesen Wandel beeinflussen könnten. Ich überlasse es Ihnen, Ihre eigenen Schlüsse zu ziehen, aber wenn es mir mit diesem Buch gelingt, dass Sie Ihre Gewissheiten darüber, was möglich ist, auch nur ein klein wenig infrage stellen, würde ich das als Erfolg verbuchen.

Radikale Ideen sind eine mächtige Kraft, sie können Millionen Menschen zum Handeln bewegen. Wohin sie führen, lässt sich jedoch nicht sagen. Radikalismus erfordert oftmals einen grundlegenden und disruptiven Wandel, deshalb kann er zerstörerisch sein, aber auch produktiv. Im selben Jahr, in dem Mill auf eine Gesetzesänderung drängte, veröffentlichte Karl Marx Das Kapital. Auch hier fand sich eine radikale, kühne Idee, nämlich dass der Kapitalismus unvermeidlich und unaufhaltsam die Arbeiterklasse erwürgen und versklaven wird. Karl Marx sagte einen gewaltsamen Klassenkampf voraus. Die Ideen in dem Buch verbreiteten sich in alle Welt. In Russland waren die Zensoren zwar besorgt, entschieden sich aber gegen ein Veröffentlichungsverbot, weil sie der Meinung waren, dieses Buch würde ohnehin niemand lesen. Tausende taten es dennoch und eine von Karl Marx’ Ideen inspirierte Untergrundbewegung erhielt steten Zulauf.

Nicht alle heutigen Radikalen sind Pioniere, Idealisten und kühne Helden. Und nicht alle werden eines Tages im selben Licht wie John Stuart Mill oder Karl Marx gesehen werden (sofern sich die Geschichte überhaupt ihrer erinnert). Aber sie sind auch nicht allesamt Fundamentalisten oder Spinner. Weil sie die geläufige Meinung ablehnen, werden Radikale von den Medien immer wieder in ein falsches Licht gerückt oder schlicht ignoriert und ihre Ideen werden in Bausch und Bogen verworfen. Wenn wir jedoch eines aus der Geschichte lernen können, dann dieses: Oft genug erwiesen sich die Radikalen von heute als Mainstream von morgen.

Egal, ob Sie mit diesen Radikalen einer Meinung sind oder nicht, radikale Ideen verändern die Gesellschaft. Selbst wenn sie scheitern oder destruktiv sind, zwingen sie uns doch zumindest dazu, nachzudenken – und noch einmal nachzudenken. Die Art und Weise, wie wir heutzutage unsere Gesellschaft organisieren, ist keineswegs die einzig denkbare oder in Stein gemeißelt. Die Welt von morgen wird sich gewiss von der heutigen Welt unterscheiden. Dieses Buch ist eine Entdeckungsreise mit dem Ziel, herauszufinden, wie die Welt von morgen aussehen könnte.

1 Wenn Sie mehr über antikapitalistische Bewegungen und ihre Ziele lesen wollen, empfehle ich Ihnen unter anderem folgende Werke: Necessary Trouble von Sarah Jaffe, Why It’s Kicking Off Everywhere von Paul Mason und Wages of Rebellion von Chris Hedges. Manuel Castells und Clay Shirkey sind zwei Vertreter der optimistischen Social-Media-Schule. Autoren, die über antikapitalistische Bewegungen schreiben, gehen davon aus, dass die Zukunft heldenhaften antikapitalistischen Demonstranten gehört, die sich erheben und mithilfe der Technologie und insbesondere der sozialen Netzwerke das System zum Einsturz bringen werden. Vielleicht hängt das auch damit zusammen, dass Leute, die Bücher schreiben, oft aus einem ähnlichen Milieu stammen (Universitätsabschluss, im Umgang mit Technik versiert, sozialliberal und wirtschaftlich gut gestellt) wie diejenigen, die sich üblicherweise an antikapitalistischen Bewegungen beteiligen.

Die transhumanistische Wette

Ein amerikanisches Rouletterad enthält 38 Felder – 18 schwarze, 18 rote und zwei grüne. Beim Roulette wettet man darauf, auf welcher Zahl oder welcher Farbe oder welcher Zahlenspanne die kleine weiße Kugel nach dem Drehen des Rades zum Liegen kommt. Und genau diese Frage stellen wir uns, Zoltan, Jeremiah, Dylan und ich, während wir im Harrah’s Casino auf dem Las Vegas Boulevard an einem Rouletterad stehen. Es ist Anfang September und kurz vor Mitternacht, aber dennoch herrscht draußen eine unglaubliche Hitze. Hier drinnen bekommt man davon überhaupt nichts mit, denn das Harrah’s bläst wie jedes andere Kasino per Klimaanlage sauerstoffangereicherte Luft durch seine Räume, um die Besucher wach zu halten.

Wie Hunderte anderer hoffnungsvoller Spieler im Harrah’s haben auch wir leider verloren. Wir beschließen, alles auf eine Karte zu setzen – wir packen unsere restlichen Chips im Gesamtwert von etwa 250 Dollar auf Schwarz. Landet die Kugel auf Schwarz, verdoppeln wir unser Geld und gehen mit plus minus null aus der ganzen Sache heraus. Aber da ist ja noch die Sache mit den beiden grünen Feldern, der Null und der Doppelnull. Sie sorgen dafür, dass die Chancen auf Schwarz nicht bei 50 Prozent stehen, sondern bei 47,4 Prozent. Dieser sogenannte Bankvorteil bedeutet, dass man zwar eine Weile lang gewinnen kann, die Verlustwahrscheinlichkeit jedoch steigt, je länger man spielt. Spielt man nur lang genug, ist es geradezu unvermeidlich, dass man verliert. Dieser Fakt ist nur schwer verdaulich, weshalb die Kasinos sich bemühen, ihn mit Gratisgetränken, Musik, Klimaanlagen mit extra Sauerstoff und „Verändere dein Leben“-Postern zu übertünchen. Doch es ändert nichts daran: Letztlich gewinnt immer die Bank.

„Enden wir als Verlierer?“, sagt Dylan, während der Croupier „Nichts geht mehr“ ruft. „Wir enden immer als Verlierer“, erwidert Zoltan.

Wir vier waren einen Tag zuvor in Las Vegas eingetroffen – in einem 15 Meter langen Bus, der so umgebaut war, dass er einem riesigen Sarg auf Rädern ähnelte: der „Unsterblichkeits-Bus“. Zoltan ist Transhumanist und will der nächste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika werden.

Transhumanismus ist eine wachsende Gemeinschaft mit Tausenden Mitgliedern, die davon überzeugt ist, dass Technologie uns in körperlich, intellektuell und sogar moralisch bessere Menschen verwandeln kann. Außerdem glauben sie, dass wir Technologie dazu nutzen können und sollten, die Grenzen zu überwinden, die uns unser biologisches und genetisches Erbe auferlegt, und die Fesseln des Menschseins abzustreifen. Das gilt insbesondere für die Sterblichkeit. Wie die meisten Transhumanisten denkt Zoltan, dass der Tod nichts als eine biologische Schrulle der Natur ist und wir ihn nicht einfach als unvermeidlich hinnehmen sollten.

Auf dem Weg zu diesem Ziel nutzen Transhumanisten eine atemberaubende Vielfalt modernster Technologien. Sie befassen sich mit Altershemmung, Genforschung, die Alterungsprozesse stoppt und umkehrt, mit Robotik, künstlicher Intelligenz, Kybernetik, Weltraumkolonisierung, virtueller Realität und Kryonik. Für Transhumanisten gibt es keinen „natürlichen“ Zustand des Menschen. Wir verändern uns ständig und passen uns an. Lassen wir uns auf die Technologie ein, betreten wir damit einfach nur die nächste Stufe auf der Evolutionsleiter. Das könnte letztlich bedeuten, dass Menschen sich in etwas verwandeln, das nicht wirklich human ist, sondern posthuman. Nicht jede existierende technologische Möglichkeit zur Verbesserung des Menschseins auszuloten und zu erforschen, erachten Transhumanisten als unlogisch und unmoralisch. Können wir durch Technologie Leiden lindern und das Wohlergehen steigern, dann müssen wir das auch tun, sagen die Transhumanisten.

Das Streben nach Unsterblichkeit findet sich schon im Gilgamesch-Epos, dem ältesten erhaltenen literarischen Werk der Menschheit.1 Das 4.000 Jahre alte Gedicht schildert, wie Gilgamesch versucht, hinter das Geheimnis des ewigen Lebens zu kommen. Die modernen Wurzeln des Transhumanismus dagegen gehen auf Ideen von Science-Fiction-Autoren des frühen 20. Jahrhunderts wie Isaac Asimov und den Biologen Julian Huxley (den Bruder von Aldous) zurück, der den Begriff „transhuman“ 1957 in seinem Buch New Bottles for New Wine prägte. Huxley war, was religiöse Dinge anbelangte, ein Agnostiker und vertrat die Ansicht, bei der natürlichen Weiterentwicklung des Menschen erreiche dieser ein immer größeres Maß an Komplexität. Das Ziel sei die „größtmögliche Realisierung der dem Menschen angeborenen Möglichkeiten“, selbst wenn dies bedeute, über das Menschliche hinauszuwachsen. In den 1960er- und 1970er-Jahren wurde der Einfluss von Wissenschaft und Technologie auf die Gesellschaft immer stärker und diese „angeborenen Grenzen“ wurden immer weiter verschoben. Oftmals von Huxleys oder Asimovs Schriften inspiriert, gründeten Menschen Organisationen in der Absicht, Forschung in Sachen Altershemmung voranzutreiben und sich für radikales futuristisches Denken stark zu machen. Mitte der 1980er-Jahre hielten in Kalifornien erstmals kleinere Gruppen selbsternannter Transhumanisten formelle Treffen ab, um darüber zu diskutieren, ob und wie Technologie die menschliche Existenz verändern könne. 1990 – das Jahr der ersten Versuche in Sachen Gentherapie, der ersten Designerbabys und der Anfänge des World Wide Web – skizzierte Max More in seinem einflussreichen Papier Transhumanism: Towards a Futurist Philosophy eine zusammenhängende Philosophie der Bewegung. „Der Transhumanismus enthält viele Elemente des Humanismus, unter anderem Respekt für Vernunft und Wissenschaft“, schrieb More und erklärte den Unterschied so: „Transhumanismus erkennt und erwartet die aus unterschiedlichen Wissenschaftszweigen und Technologien erwachsenden radikalen Veränderungen im Wesen und den Möglichkeiten unseres Lebens.“1 Diese Truppe von Akademikern, Forschern und Science-Fiction-Nerds verschmolz langsam zu einer weltumspannenden Bewegung. 1998 gründeten Nick Bostrom und David Pearce die World Transhumanist Association in der Absicht, Transhumanismus als legitimen Bereich der wissenschaftlichen Forschung und des ordre public etablieren zu können.

Technischer Fortschritt hat den Anhängern des Transhumanismus im Lauf der vergangenen zehn Jahre Möglichkeiten eröffnet, die noch vor nicht allzu langer Zeit ins Reich der Science-Fiction verwiesen wurden: An führenden Universitäten werden ernsthafte Untersuchungen zum Thema Altershemmung durchgeführt, gleichzeitig pumpen Investoren Millionensummen in die Robotik und die Forschung zu künstlicher Intelligenz. Weltweit gibt es heutzutage Zehntausende selbsternannter Transhumanisten, darunter einflussreiche Persönlichkeiten aus dem Zentrum der globalen Technologieszene. Einer davon ist Ray Kurzweil, Leiter der technischen Entwicklung bei Google. Kurzweil ist fest vom Kommen der Singularität überzeugt, also dem Punkt, an dem künstliche Intelligenz so weit entwickelt ist, dass sie anfängt, neue und immer bessere Versionen von sich selbst herzustellen. Ein weiterer prominenter Transhumanist ist der Milliardär Peter Thiel, Mitgründer von PayPal, einflussreicher Silicon-Valley-Investor und Mitglied im Übergangsteam von Präsident Donald Trump. Thiel hat Millionen Dollar in Projekte investiert, die an Altershemmung und künstlicher Intelligenz forschen. Sehr rasch entwickelt sich Transhumanismus zum Kreuzungspunkt von Wissenschaft und Science-Fiction.

Zoltan ist besessen von statistischen Wahrscheinlichkeiten. Sein Leben hat er einer Wette verschrieben – der transhumanistischen Wette. Sie ist eine Abwandlung der berühmten Pascal’schen Wette, wonach jeder vernünftige Mensch an Gott glauben sollte. Existiert er, erhält man als Lohn die Unsterblichkeit im Paradies. Existiert er nicht, beläuft sich der zu zahlende Preis nur auf einige Unannehmlichkeiten, die hier während einiger Erdenjahre entstehen. Die transhumanistische Wette besagt, dass jeder vernunftdominierte Mensch jeden wachen Augenblick mit dem Streben nach Erhalt und Verlängerung seiner Lebenszeit verbringen sollte:

„Die Wette und das wesentliche Motto der Transhumanisten-Bewegung besagen: Wenn du das Leben liebst, dann wirst du dieses Leben schützen und danach streben, es so lang wie möglich zu verlängern und zu verbessern. Alles andere, was du tust, während du lebst, alle anderen Meinungen, die du hast, alle anderen Entscheidungen, die du fällst, dieses Leben nicht zu sichern, zu verlängern und zu verbessern – all das ist Betrug an diesem Leben. […] Es ist eine historische Entscheidung, die jeder Mann und jede Frau auf dem Planeten treffen muss.“2

Zoltan richtet sein Leben nach dieser strengen Doktrin aus. Seine „historische Entscheidung“ bestand darin, 2015 und 2016 einen offensichtlich von vornherein zum Scheitern verurteilten Versuch zu unternehmen, sich zum Präsidenten der USA wählen zu lassen. Als mich Zoltan Mitte 2015 anrief und einlud, ihn während des Wahlkampfs zu begleiten, erklärte er, es werde kein gewöhnlicher Präsidentschaftswahlkampf werden. Ihm sei bewusst, dass er einen ungewöhnlichen Wahlkampf führen müsse, um die Menschen dazu zu bringen, ihm zuzuhören. Also wolle er vier Monate lang in seinem 1978er Wanderlodge, einem Bus, der zu einer Art fahrendem Sarg umgebaut worden war, durchs Land fahren. Er werde evangelische Kirchen besuchen und die Gemeinden auffordern, den Himmel aufzugeben und stattdessen für immer hier auf Erden zu leben. Er werde Demonstrationen und Märsche mit Robotern abhalten. Er werde sich in einem „Biohacker“-Labor einen Chip in die Hand implantieren lassen und in Arizona eine Kryonik-Einrichtung besuchen. Er werde generell Unruhe stiften und vermutlich verhaftet werden, sagte er. Sein großes Finale hatte er auch schon geplant: Ganz im Geist des radikalen Reformers Martin Luther werde er an das Kapitol in Washington eine transhumanistische Bill of Rights nageln. Diese besage, dass Roboter und künstliche Intelligenz über dieselben Rechte wie Menschen verfügen sollten. Er werde so viele Journalisten wie möglich mit auf diesen durchgeknallten Wahlkampf nehmen und es gebe keine Einschränkungen, worüber wir schreiben oder was wir filmen.

Zoltan setzt darauf, dass diese kostspielige, anstrengende und riskante PR-Nummer den Transhumanisten positive Schlagzeilen verschaffen wird. Vielleicht wird die junge Bewegung sogar zu einer ernst zu nehmenden politischen Kraft.

Und deshalb stehe ich hier in Las Vegas vor einem Rouletterad und werfe mein Geld zum Fenster hinaus: Ich will miterleben, ob er seine Wette gewinnen kann.

DER UNSTERBLICHKEITS-BUS

Zoltan Istvan Gyurko wurde 1973 in Los Angeles geboren. Sein Onkel war 1966 als politischer Dissident vor dem kommunistischen Regime in Ungarn geflohen, Istvans Vater folgte zwei Jahre später und stellte einen Asylantrag. Zoltan wuchs ganz gewöhnlich auf und war ein sehr guter Schüler, der es als Schwimmer bis in die Landesauswahl schaffte. Während andere Kinder spielten, war Zoltan meistens im Schwimmbad und trainierte. Die Liebe zum Wasser hat ihn bis heute nicht verlassen. Mit 21 brach er sein Philosophiestudium ab, um auf einem Boot mit 500 Werken der Literaturgeschichte an Bord die Erde zu umsegeln. Sieben Jahre dauerte die Reise insgesamt und unterwegs wurde er Kriegsberichterstatter für National Geographic und Vorstandsmitglied der Tierschutzorganisation Wild Aid, für die er zum Schutz bedrohter Tierarten in Südostasien mit Guerillataktiken arbeitete.

Als er 2003 für National Geographic aus Vietnams entmilitarisierter Zone berichtete, wäre Zoltan um ein Haar auf eine Mine getreten. Sein Führer schubste ihn in allerletzter Sekunde zur Seite, bevor er auf den größtenteils vergrabenen Sprengsatz treten konnte. Diese Nahtoderfahrung machte Zoltan schmerzlich bewusst, dass er eines Tages sterben wird – eine Aussicht, die ihm große Angst bereitete. Er erinnerte sich, einige Jahre zuvor einen Artikel über Transhumanismus gelesen zu haben, und ging online, um mehr über das Thema zu erfahren. Die Vorstellung, mithilfe modernster Wissenschaft dem Tod ein Schnippchen schlagen zu können, begeisterte ihn. „Von da an beschloss ich, mein Leben dem Transhumanismus zu widmen“, sagte Zoltan.

Mitte der 2000er-Jahre kehrte er nach Kalifornien zurück und gründete ein kleines Immobilienunternehmen. Er renovierte Häuser und verkaufte sie weiter. Im Zuge des Technologiebooms explodierten die Preise im Silicon Valley und Zoltan verdiente genug Geld, um sich zur Ruhe setzen zu können. Nun konnte er sich voll und ganz auf den Transhumanismus konzentrieren. Er zog ins nördlich von San Francisco gelegene Marin County und ließ sich dort mit seiner Frau Lisa und seinen beiden kleinen Töchtern Ava und Isla nieder. Von nun an investierte er zwölf bis 14 Stunden täglich in das Thema Transhumanismus: Er nahm an Konferenzen teil, schrieb Artikel, rekrutierte Mitstreiter und verfasste The Transhumanist Wager, eine Mischung aus Roman und philosophischer Abhandlung. Das Werk stieß in Transhumanistenkreisen auf positives Echo, Zoltan gelangte jedoch zu der Einschätzung, dass die Bewegung zu unattraktiv sei, zu akademisch, zu sehr auf die Wissenschaft fokussiert.

Um die breite Masse zu erreichen, müsse man die PR-Arbeit komplett anders aufrollen, fand Zoltan. Es müsste künftig weniger um Wissenschaft gehen und mehr um die großen Ideen. Die Menschen sollten leichter Zugang zum Transhumanismus finden können. Am einfachsten, so seine Überlegung, könnte das durch einen großen Mediencoup gelingen. Also verkündete Zoltan im Oktober 2014 in einem Blog-Eintrag auf der Nachrichten-Website Huffington Post, er werde für die neu gegründete Transhumanistenpartei in den Präsidentschaftswahlkampf ziehen.3

Er rief einen Ausschuss einflussreicher Berater aus dem Transhumanisten-Lager ins Leben. Nach mehreren Treffen und Diskussionen skizzierte er ein Aufmerksamkeit erregendes Manifest, mit dem er vor das amerikanische Volk treten wollte. Teil des Manifests war eine transhumanistische Bill of Rights. Darin wird die Regierung aufgefordert, sich für eine längere Lebenszeit mithilfe der Forschung und der Technologie einzusetzen. Roboter und Cyborgs erhalten Rechte. Alle Personensteuern werden schrittweise abgeschafft (Zoltan ist überzeugt, dass innerhalb der nächsten 20 Jahre Roboter ohnehin den Großteil der menschlichen Arbeit übernehmen werden). Es herrscht morphologische Freiheit (das Recht, mit seinem Körper alles anzustellen, was man möchte, solange niemand anderes dadurch Schaden nimmt). Gefängnisse werden aufgelöst, verurteilte Verbrecher werden stattdessen auf Schritt und Tritt von einer kleinen Staffel Drohnen verfolgt. Freizeitdrogen werden freigegeben (er möchte als erster Präsident im Weißen Haus kiffen2). Menschen werden von sämtlichen Einschränkungen befreit, denen sie unterliegen. Aber sein zentraler Punkt, sein ganz großer Wurf, ist es, einen „wissenschaftlich-bildungspolitisch-industriellen Komplex“ zu erschaffen. Der solle den militärisch-industriellen Komplex ersetzen und innerhalb einer Generation das Altern und den Tod besiegen.

Zoltan stieß auf eine Anzeige: Im nahegelegenen Sacramento wollte jemand ein Wohnmobil verkaufen, ein 1978er Blue Bird Wanderlodge. Er kaufte das Fahrzeug für 10.000 Dollar, fuhr es nach Hause und parkte in der Auffahrt. Dann bat er über die Crowdfunding-Website Indiegogo3 um 25.000 Dollar für den „Unsterblichkeits-Bus mit Präsidentschaftskandidat Zoltan“. 15.000 Dollar waren für den Umbau des Busses vorgesehen, 5.000 Dollar für einen interaktiven Roboter in Menschengröße und die restlichen 5.000 Dollar für „Benzin, Essen etc.“.

Bis August 2015 fanden sich 135 Geldgeber, die ihm halfen, das gesteckte Ziel zu erreichen. Ab Sommer arbeiteten Zoltan und eine Handvoll Freiwillige praktisch von morgens bis abends daran, den Bus in einen Sarg zu verwandeln. Sie zogen neue Reifen auf, verpassten dem Gefährt eine hölzerne Außenhülle und malten sie braun an.

Als ich ihn an einem wunderbar heißen und sonnigen Septembernachmittag aufsuche, ist er mit den Umbauarbeiten noch nicht ganz fertig. Zoltan, der sehr durchtrainiert ist und auch mit seinen 42 Jahren noch wie ein kalifornischer Surfer aussieht, kniet hämmernd auf dem Dach eines Busses, der vage einem Sarg ähnelt. Auf der Seite des Fahrzeugs steht in gewaltigen silberfarbenen Buchstaben „Unsterblichkeits-Bus“. „Willkommen im Unsterblichkeits-Bus!“, ruft er und wischt sich den Schweiß von der Stirn. „Wir sind fast fertig, ich brauche nur noch wenige Stunden.“

Ich bin der letzte aus der Gruppe. Dylan, 25 Jahre alt, ist ein superkluger und leicht nerdiger Journalist aus Washington, der für das Online-Magazin vox.com schreibt. Er verfasst tägliche Berichte. Dann ist da eine polnische Journalistin namens Magda, Ende 30, die als Auslandskorrespondentin in Kalifornien stationiert ist und vorhat, regelmäßig dabei zu sein. Jeremiah Hammerling, 31, ist ein einsamer Dokumentarfilmer und schon voll in seine Arbeit abgetaucht. Er saust im Bus herum und filmt jede Bewegung Zoltans aus experimentellen Winkeln.

Sie alle sind aus demselben Grund hier wie ich: Die Geschichte eines Präsidentschaftskandidaten, der Unsterblichkeit verspricht und in einem 1978er-Wanderlodge herumfährt, der wie ein Sarg auf Rädern aussieht, ist einfach zu gut, um nicht darüber berichten zu wollen. Und natürlich ist auch ein Roboter an Bord: Ein ein Meter großer, 400 Dollar teurer Roboter, den der Spielzeughersteller Meccano gebaut hat. Nach der Hauptfigur in seinem Buch hat Zoltan den Roboter Jethro getauft.

Und schließlich ist da noch Roen, einer von Zoltans Freiwilligen und ein „echter Anhänger“, wie er selber sagt. Roens Aufgabe besteht darin, Zoltan zu assistieren, das Erlebte zu dokumentieren und Zoltans zahlreiche Social-Media-Accounts damit zu füllen.4 Roen ist 28 Jahre alt, groß, schlaksig, hat langes, fettiges Haar und ein dünnes Bärtchen. Er hat eine Mordsangst vorm Sterben und sagt, das Thema Sterblichkeit beschäftige ihn, seit er neun Jahre alt war. Damals hatte er einen Fahrradunfall und erlitt einen Milzriss. Er lebt bei seinen Eltern und hat keinen Job, was bedeutet, er kann seine ganze Zeit auf seiner Social-Media-Seite Eternal Life Fan Club verbringen oder alles zum Thema Ernährung und Gesundheit lesen. Roen lernte Zoltan 2013 bei einer Transhumanisten-Konferenz in Kalifornien kennen und sie fingen an, online Kontakt zu halten. Als Zoltan überlegte, dass er für den Wahlkampf einen Assistenten brauchen könnte, fragte er Roen, ob er Interesse habe. „Es war die größte Ehre meines Lebens“, erinnert sich Roen. Er nahm sofort an.

Zoltan erklärt, der Wahlkampf werde etwa ein Dutzend Stationen von jeweils einigen Tagen Dauer umfassen und er wolle sich von der amerikanischen Westküste bis Washington durchkämpfen. In der ersten Etappe werden wir fünf Tage auf der Straße sein. Unser Ziel ist ein Biohacker-Labor in Zentral-Kalifornien. Dort lässt sich Zoltan einen Chip implantieren. Dann geht es weiter nach Las Vegas für eine Technologie-Messe und eine Rede. Den Großteil der Zeit werde man im Bus verbringen, erklärt Zoltan. Glücklicherweise ist der „Unsterblichkeits-Bus“ vergleichsweise gemütlich. In der Vorderhälfte gibt es zwei Sitzreihen, dahinter eine knapp bemessene Kochnische und dann zwei weitere Reihen von Sitzen/Betten. Der Bus ist nahezu komplett in Braun oder Beige gehalten. Auf geraden Strecken schafft er Tempo 90, aber ab 65 fangen Dinge an, laut zu klappern. Etwas Sorge bereitet die Hitze – leider hat Zoltan mit dem hölzernen Sarg, den er an das Dach genagelt hat, auch die Schlitze der Klimaanlage abgedeckt. „Leute, stellt bloß nicht die Klimaanlage an, ansonsten stehen die Chancen sehr gut, dass wir alle sterben werden“, warnt uns Zoltan beim Einsteigen.

ÖL!

Fünf Stunden später als geplant erklärt Zoltan, der Präsidentschaftswahlkampf könne nun beginnen. Er hüpft in den Fahrersitz, in der Hand eine kugelsichere Weste. „Das ist wichtig“, sagt er. „Die nehmen wir mit. Man weiß ja nie.“ Auf der Straße hat sich eine kleine Menschenmenge versammelt, um ihn zu verabschieden. Darunter sind auch Lisa, Ava und Isla.

Zoltan sitzt hinter dem Lenkrad, das so groß ist wie ein Hula-Hoop-Reifen. Er startet den Bus und murmelt dabei: „Hoffen wir, dass dieses Ding funktioniert.“ Es funktioniert. „Der Unsterblichkeits-Bus ist unterwegs“, spricht Roen aufgeregt in seine Kamera, während Zoltan langsam den Bus aus der engen Ausfahrt heraus steuert. „Lasst uns alle versuchen, ewig zu leben! Das ist der Augenblick, auf den ich gewartet habe. Ich spreche nicht von 100 Jahren oder 300 Jahren. Das ist bloß für Amateure. Ich spreche hier von Un-sterb-lich-keit!“

Langsam bahnt sich der Bus seinen Weg aus dem dank seiner hohen Preise entzückenden Marin County hinein nach San Francisco, wo das Herz der globalen IT-Branche schlägt. Dann fährt er auf die California State Route 1, die sich die Pazifikküste entlangschlängelt. Es sind ungefähr vier Stunden Fahrt bis zu unserem ersten Halt, einem Biohacker-Labor in der Mojave-Wüste in Zentral-Kalifornien. Zoltan hockt vorne hinterm Lenkrad, Jethro als Beifahrer neben sich. Wir anderen sitzen hinten und machen uns miteinander bekannt, während Zoltan erfolglos versucht, das Kassettendeck in Betrieb zu nehmen.

Nach zwei Stunden stoppen wir bei einem Starbucks an der Straße auf einen Kaffee. Zoltan inspiziert den auf dem Parkplatz stehenden Bus und sieht auf einmal sehr besorgt aus: „Oh Mann“, sagt er. „Wir haben ein Problem. Ein großes Problem.“ Überall tropft Öl heraus, es kommt von irgendwo vorne rechts. Zoltan öffnet die Motorhaube und leuchtet mit seiner Taschenlampe in den Motorraum.

„Entweder ist eine Dichtung geplatzt oder es ist eines von einem Dutzend kleinerer Lecks“, sagt er. Sollte es die Dichtung sein, wäre die Reise hier und jetzt vorbei, denn Dichtungen für einen 1978er-Wanderlodge zu finden, ist in etwa so aussichtlos, wie es klingt. Während wir warten, steigt Zoltan in den Bus ein, steigt wieder aus, drückt Knöpfe, inspiziert den Motor und die Ölpfütze, die sich auf der Straße bildet. „Wir hoffen darauf, dass es nach wiederholten Schwierigkeiten und Katastrophen irgendwann weitergeht“, sagt Dylan zu mir, während er sich an seinen Notizblock klammert.

Nach einer längeren telefonischen Diskussion mit seinem Vater verkündet Zoltan, wir könnten wohl doch weiterfahren, doch wir müssten jede Stunde Öl nachkippen. Inzwischen ist es schon sehr spät geworden und Motels sind weit und breit keine zu sehen. Also parken wir auf dem Parkplatz eines McDonald’s-Restaurants und beschließen, im Bus zu übernachten. Alle haben Hunger, aber das Wohnmobil passt nicht durch die Spur mit dem Drivethrough-Schalter, also stellt sich Zoltan hinter drei Autos zu Fuß an. Als er endlich drankommt, erklärt ihm der Mitarbeiter am Schalter, hier würden nur Autos bedient. Um die Stimmung zu heben, öffnet Zoltan eine Flasche Bourbon und gießt jedem einen Becher voll ein.

Er bringt einen Toast aus darauf, dass wir so weit gekommen sind (nun ja – wenn man bedenkt, dass wir mit einer Reisegeschwindigkeit von ungefähr 60 Kilometer pro Stunde gefahren sind, ist das nicht sonderlich weit). Er sei froh, dass wir alle hier zusammengekommen seien, und erleichtert, dass der Bus läuft. Ihm ist klar, dass er die Wahl nicht gewinne und zuletzt müsse er sich vermutlich geschlagen geben und die demokratische Kandidatin Hillary Clinton unterstützen. Wir heben unsere Tassen und kippen den Bourbon runter. Zoltan gießt uns noch einen ein.

BIOHACKER

Am nächsten Morgen scheint die Sonne durch die dünnen Vorhänge auf Körper, die in unterschiedlichen Wachheitsstadien quer durch den Bus verstreut sind. Zoltan ist bereits wach und läuft auf dem Parkplatz auf und ab. Er telefoniert mit seinem Vater und spricht über Dichtungen und Ölstände. Der „Unsterblichkeits-Bus“ hat zwar ein paar ominöse Geräusche von sich gegeben, doch die Nacht hat er überlebt. Nur vier Stunden, nachdem wir zu Bett gegangen sind, befinden wir uns schon wieder auf der Straße, unterwegs nach Tehachapi zum „Biohacker“-Labor.

Tehachapi hat etwas von einer Grenzstadt. Um dorthin zu kommen, müssen wir einen gewaltigen Sandhügel hinauffahren, eine Aufgabe, die der Bus gerade noch hinbekommt. Oben steht in den staubigen Dünen verteilt ein Dutzend Reihen Fertighäuser. Rund 25 sogenannte Grinder aus dem ganzen Land haben sich hier für das Grindfest versammelt, ein dreitägiges Treffen, bei dem man Ideen diskutiert, Tipps austauscht und chirurgische Eingriffe aneinander vornimmt.5

Biohacking, Bodyhacking oder auch Do-it-yourself-Biologie bezeichnet biologische Forschung oder Experimente, die außerhalb des formalen wissenschaftlichen Rahmens und außerhalb eines Unternehmens erfolgen. Wir sprechen hier über Do-it-yourself-Biologie der provisorischen Art, wie sie für gewöhnlich in Kellern oder Garagen praktiziert wird. Einer der ersten Biohacker war ein Mann namens Kevin Warwick, der sich 1998 einen Mikrochip einpflanzte, um zu sehen, was passieren würde.6 Zwei Jahre später ließ er sich kybernetische Sensoren in die Nerven seines Arms implantieren.7 So konnte er, relativ grobmotorisch, einen Roboterarm steuern. Schon bald fanden sich Nachahmer. 2008 wurde der internationale Dachverband DIYBio gegründet.8 Aktuell vertritt DIYBio 75 Biohacking-Organisationen oder Veranstaltungen aus aller Welt – aus Tel Aviv und New York, aus München und London, aus São Paolo und Sydney. Andere Beispiele sind das kalifornische Labor BioCurious, das „Gemeinde-Biolab“ Genspace in New York oder der London Biohackspace.

Grinder sind ein Zweig dieser Bewegung. Sie sind auf Modifizierungen des eigenen Körpers und auf self-focussing spezialisiert, was nichts anderes heißt, als dass sie an sich selbst herumoperieren. Sie lesen wissenschaftliche Abhandlungen, diskutieren Studien, formulieren Ideen, basteln sich mit Dingen aus dem Baumarkt oder dem Netz Sachen zusammen und probieren sie an sich selbst aus. Sie machen sich für Open-Source-Technologie stark, deshalb veröffentlichen und teilen sie auch alle Ergebnisse ihrer eigenen Unternehmungen.9 Einer der Grindfest-Organisatoren ist Rich Lee, der auch als „Biohacking-Berater“ der Transhumanistenpartei fungiert. Er schätzt, dass es in den USA rund 3.000 Grinder gibt und noch einmal deutlich mehr Biohacker.

Üblicherweise treffen sich die Grinder im Onlineforum www.biohack.me, aber an diesem Wochenende besteht die Möglichkeit, andere Grinder kennenzulernen und Experimente durchzuführen. Mehrere Bodyhacker wollen sich Mikrochips oder Magneten in ihren Körper einsetzen, einer hat eine Duellnarbe aus dem 19. Jahrhundert entworfen, die ihm quer über das Gesicht verlaufen soll. Zoltan hat beschlossen, sich einen RFID-Chip einsetzen zu lassen.10 Chips mit RFID-Technologie (Radio Frequency Identification) sind kleiner als ein Reiskorn und haben winzige Datenmengen gespeichert, die von entsprechend programmierten Geräten gelesen werden können.

Wir parken den Bus und steigen aus. Rich Lee begrüßt uns und führt uns in das Labor, in dem die Experimente stattfinden. „Labor“ ist hier allerdings ein großzügig ausgelegter Begriff – es handelt sich um die große Doppelgarage eines Hauses. Es gibt sterilisierte Nadeln und eine große Werkbank, um die sich mehrere Grinder versammelt haben, um Bakterienkulturen zu begutachten. Im Raum verteilt liegen Drähte, Werkzeug, Mikrochips und Laptops herum. In einem eigenen, möglicherweise leicht sterilen Raum, steht ein großer Zahnarztstuhl und dort wird Zoltan sich seiner Prozedur unterziehen.

Mit seinem rasierten Schädel und dem langen schwarzen Bart ähnelt Rich eher einem Rockstar als einem Forscher. Tagsüber ist er Vertreter für Pappen, nachts wird er zum Grinder. 2012 eröffnete ihm sein Arzt, dass er langsam erblinde, also beschloss Rich zu lernen, mittels Schallwellen zu navigieren, ein wenig wie eine Fledermaus. 2013 führte er zwei kleine Magneten in seine Ohren ein, dann entwarf er eine Spule, die er sich um den Hals legt und wodurch er ein Magnetfeld erzeugt. Die Magneten reagieren auf die Spule und generieren einen Ton. Eigentlich wollte Rich mit seiner Apparatur Ultraschall hören, doch schon bald fand er heraus, dass er alles anschließen kann, also „hört“ er jetzt Hitze, nimmt auf diese Weise Telefonanrufe entgegen und konsumiert Musik. „Die Klangqualität ist okay, etwa so wie bei einem billigen Paar Kopfhörer“, sagt er. Inzwischen arbeitet er an seinem nächsten Projekt – er will sich unter seinem Schambein ein Vibrationsgerät implantieren, damit sein Penis beim Geschlechtsverkehr vibriert. Er nennt die Vorrichtung den „Lovetron 9000“ und sagt: „Das ist ziemlich schwierig richtig hinzubekommen, aber ich denke, ich bin fast so weit.“

„Ausprobieren und sehen, was geschieht“, nach diesem Motto gehen Grinder vor. Steve ist ein 27-jähriger Hacker, der mit 16 von der Schule ging und sich das Hacken selbst beigebracht hat. Er hat ein Gerät entworfen und gebaut, das Signale in Geräusche umwandelt. Es ist so groß wie eine größere Briefmarke und er will sich das Gerät an der Schädelbasis einsetzen, damit sein Gehirn diese Geräusche direkt hören kann.

„Das wird großartig werden. Ich werde mein Gehirn direkt mit dem Internet verbinden können, ich werde Töne fühlen können. Und mein Gehirn wird anfangen, sich anzupassen. Ich werde ein Internetknoten sein“, sagt er.

„Und was, wenn sich jemand in dein System hackt und anfängt, dir schrecklichen Lärm zu schicken?“, frage ich.

„Das fände ich fantastisch.“

„Wieso?“

„Ich würde dann gerne erfahren, was dieser Jemand gemacht hat und wie er es gemacht hat.“

Nahezu alle Grinder tragen RFID-Chips unter der Haut. Einer hat sein Handy so eingestellt, dass es entsperrt wird, wenn er es über seinen Daumen hält. Eine andere scannt ihren Chip, um Kontaktinformationen mit mir auszutauschen. Julius, ein kluger 19-jähriger Texaner, der im Softwarebereich arbeitet, geht mit mir zu seinem Auto und öffnet es mit seiner Hand. Dann startet er den Wagen mit seiner Hand. Wie eigentlich alle Grinder hat er sämtliche erforderlichen Programmierungen selbst vorgenommen.

Zoltan trägt noch keinen Chip in sich, was für einen Mann, der der erste transhumanistische Präsident des Landes werden möchte, ein bisschen peinlich ist. Er läuft im Labor herum und unterhält sich mit Grindern, dann lässt er sich auf dem Zahnarztstuhl nieder. Er wirkt nervös.

„Ich bin nicht nervös – ich bin aufgeregt“, sagt er uns.

„Okay, Zoltan“, sagt David. Der rothaarige Grinder ist Anfang 30 und Krankenpfleger. Er wird die Prozedur durchführen. „Schön, dass du hier bist.“ Allein an diesem Wochenende hat er zwei Dutzend RFID-Chips eingepflanzt.

„Jetzt bin ich doch ein wenig nervös“, verkündet Zoltan, als David eine große Nadel zückt. „Ich hatte zwar gesagt, ich sei nicht nervös, aber das war gelogen.“

„Ich habe schon viel schlimmere Sachen gemacht“, sagt David.

Der Vorgang selbst ist ganz simpel. Zoltan beißt sich auf die Zähne, schaut weg und dann wieder auf seine Hand, während wir uns um ihn drängen, um das Ganze möglichst gut sehen zu können. Jeremiah filmt wieder aus sämtlichen Positionen, wobei die Kamera auf Zoltans besorgt dreinschauendes Gesicht gerichtet ist. „Los geht’s“, sagt David und platziert die Nadel zwischen Zoltans Daumen und Zeigefinger. Er drückt die Spritze ganz durch, wodurch der winzige Chip unter der Haut platziert wird. Der gesamte Eingriff ist nach einer halben Minute vorüber.4

„Und? Fühlst du dich jetzt übermenschlich?“, frage ich.

„Ich fühle mich, als würde ich gleich in der Matrix aufwachen“, lacht Zoltan, während er seine Faust ballt und lockert. „War gar nicht so schlimm.“

Schon heute sind Millionen RFID-Chips in unserem Alltag im Einsatz, beispielsweise als Schlüsselanhänger oder im Halsband von Haustieren. 2015 erreichte der Weltmarkt für RFID-Chips ein Volumen von etwa zehn Milliarden Dollar, innerhalb der nächsten zehn Jahre soll er fast doppelte Größe erreichen. Doch mit diesem RFID-Chip lässt sich nicht sonderlich viel anfangen, da er nicht kompatibel ist zu iPhones, wie Zoltan eines hat. Stattdessen ist sein Chip so programmiert, dass er „Sieg 2016“ sagt, wenn jemand sein (Samsung-)Handy darüber hält. Es ist schon ein wenig enttäuschend, dennoch ist der Chip den restlichen Trip über bei jeder Gelegenheit Gesprächsthema. In sechs Monaten werde er sich ein Upgrade holen, erklärt Zoltan: „Das ist erst der Anfang.“ (Als ich sechs Monate später nachfragte, hatte er noch keinen Chip, hegte aber noch immer die Absicht.) Tatsächlich verkündet er prompt, er wolle sich einen Chip in die Schädelbasis einpflanzen lassen, mit dessen Hilfe er in Kontakt mit künstlicher Intelligenz treten könne. „Dann wäre ich einer der ersten, der mit den Maschinen kommuniziert.“

Nach dem Eingriff legt sich Zoltan ins Zeug und versucht, die Grinder dafür zu begeistern, sich in der Transhumanistenpartei zu engagieren. Nur wenige können mit seinem Namen etwas anfangen und nicht einer sagt, er werde für Zoltan stimmen. Es stellt sich heraus, dass sich Biohacker und Transhumanisten unlängst verkracht haben. „Die Transhumanisten versprechen uns seit Jahren Jetpacks und Unsterblichkeit“, sagt mir Rich Lee, während Zoltan die Wählerschaft bezirzt. „Gesehen haben wir davon noch nichts. Ich bin zu dem Schluss gelangt, dass nur dann etwas passiert, wenn wir es selbst angehen. Die verkackten Versprechungen der Transhumanisten haben wir satt.“

Anfang 2015 gründeten vier Grinder die Forschungsgruppe Science for the Masses („Forschung für die Massen“), um zum Thema Infrarotsehen zu forschen. Ein Mitglied las einige wissenschaftliche Abhandlungen, stellte seine Ernährung mehrere Monate lang so um, dass sie möglichst wenig Vitamin A enthielt, und ließ sich dann eine Chlorin-E6-Insulin-Salzlösung in die Augen tropfen. Der Mann stellte fest, dass er in der Dunkelheit mehrere Stunden lang besser sehen konnte. Langzeitfolgen registrierte er keine. Einige Transhumanisten-Wissenschaftler aus dem traditionelleren Lager kritisierten die Methodik und die ethischen Grundlagen des Experiments sowie seine „Do it yourself“-Herangehensweise. „Alle wissen es zu schätzen, dass Zoltan vorbeigekommen ist“, sagt Rich, „aber das Urteil zu Transhumanismus fällt noch immer durchwachsen aus.“ Die Fortschritte mögen vergleichsweise klein sein, sind aber dennoch beeindruckend – vor allem, wenn man bedenkt, dass diese Leute in Garagen arbeiten. Unterdessen schreitet der Stand der Technologie rasch voran. Um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie rasant die Entwicklung voranschreitet, verlassen wir Tehachapi und die Grinder und fahren in Richtung Las Vegas. Hier findet gerade die Konferenz CTIA Super Mobility 2015 statt. In der Broschüre zur Veranstaltung wird mit einer enormen Zurschaustellung der allerneuesten Mobilfunktechnologie geworben. „Das ist riesig“, heißt es dort. „1.000 Milliarden Dollar riesig. Das-gesamte-mobile-Ökosystem-aneinem-einzigen-Ort-riesig. Lernen Sie die bahnbrechenden neuen Technologien kennen, die unsere Mobilfunkwelt von morgen antreiben werden.“

Zoltan wurde gebucht, um auf der Messe eine Keynote-Rede über Transhumanismus zu halten. Die Veranstalter rechnen mit 40.000 Besuchern und Zoltan hofft, dass ein guter Teil Interesse an dem zeigt, was er zu sagen hat.

STARBUCKS-POLITIK

Die Fahrt nach Las Vegas dauert mehrere Stunden. Je weiter wir uns von der Küste entfernen, desto heißer wird es und desto langsamer scheint der Bus zu werden. Glücklicherweise halten wir alle paar Stunden an einem Straßencafé. Zoltan und Roen wählen sich ins kostenlose WLAN ein und laden Geschichten von unserer Reise auf die Webseite hoch und auf Twitter. (Außerdem schütten sie Öl nach.)

„Ich muss dafür sorgen, dass meine Botschaft in einem aktiven Informationsumfeld gehört wird“, erklärt mir Zoltan über den dröhnenden Motor hinweg, während wir durch die Wüste fahren. „Also muss ich mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln Eigenwerbung betreiben.“ Er macht sich eine wichtige neue Entwicklung der modernen Politik zu eigen – über die sozialen Medien können neue Parteien den Eindruck von Substanz und Unterstützung vermitteln. Roens Aufgabe besteht vor allem darin, die Reise fotografisch und mit der Kamera festzuhalten und alles online zu stellen. „Wir schreiben hier Geschichte!“, ruft Zoltan Roen regelmäßig zu. „Wann immer du etwas in den sozialen Medien über den Trip hier postest, setz doch bitte den Link zur Crowd-funding-Seite darunter! Aber nicht wie ein Vertriebsheini. Wie ein Aktivist!“5 In jedem freien Augenblick laden die beiden Bilder, Blog-Einträge und Videos von den Abenteuern des Tages auf Zoltans Social-Media-Accounts hoch. Der Bus, in dem wir unterwegs sind, mag 40 Jahre alt sein, doch der Wahlkampf, der hier geführt wird, ist brandaktuell.

Es überrascht mich, dass all die hektische Betriebsamkeit sich tatsächlich bezahlt macht. Zoltan wird erkannt. Dylans erste „tägliche Depesche“ für vox.com wird online weiterverbreitet und vielfach geteilt. Während wir nach Las Vegas unterwegs sind, meldet sich ein Lokaljournalist und möchte ein Interview führen. In unserem Hotel in der Nähe vom Biohacking-Labor hat der Mann am Empfang auf Reddit über Zoltan gelesen. Und wo auch immer wir halten, starren die Leute unseren Bus an.

Unter vollen Segeln rauscht der „Unsterblichkeits-Bus“ hinein nach Las Vegas: „Jamie, wach auf! Sieh dir das an!“, sagt Zoltan, als die Wolkenkratzer auftauchen. „Ist das geil. Oh Mann, ich liebe Vegas!“

Die Stadt liegt am Beckenrand der Mojave-Wüste und ist von Bergketten umgeben. Das subtropische Klima ist der Grund dafür, dass hier gerade einmal 100 Millimeter Regen pro Jahr fallen. Im Grunde ist der Standort grotesk, dennoch ist Las Vegas eines der beliebtesten Reiseziele weltweit. Der Strip – die lange Straße der Mega-Kasinos, auf die wir gerade zuhalten – beheimatet die meisten der größten Hotels weltweit. Das Venetian, wo Zoltan seine Rede halten soll, verfügt über 7.128 Zimmer. Würde der Hoover-Damm nicht für Strom und Wasser sorgen, könnte hier nichts überleben. Der Damm ist ein gewaltiges Bauwerk und staut auf einer Fläche von 35.000 Quadratkilometern Wasser an. Um den Druck zu erhöhen, wird das Wasser durch Tunnel in den Canyon geleitet und treibt 17 gewaltige Turbinen an, die etwa 4,5 Milliarden Kilowattstunden erzeugen, ausreichend Strom für acht Millionen Menschen. Mit dem Wasser werden eine Million Hektar Land bewässert.

Keine andere Stadt kommt einer Transhumanisten-Stadt so nahe wie Las Vegas, nirgendwo sonst hat der Mensch die Natur so sehr seinen Launen unterworfen. Wie Blumen, die einfach nicht sterben wollen, schießen die lächerlichen Wolkenkratzer aus dem Wüstenboden. Hunderttausende Menschen aus allen Ecken der Welt kommen mitten in einer tropischen Wüste zusammen, um in einem von einer Klimaanlage heruntergekühlten und mit Sauerstoff versetzten Raum, für dessen Stromversorgung 50 Kilometer entfernt ein künstlicher Fluss Generatoren antreibt, zuzusehen, wie ein kleiner weißer Ball in einem Rad rotiert. Das ist der perfekte Rahmen, finde ich.

Wir fahren direkt zum Venetian Hotel, um unsere Presseausweise und Namensschilder abzuholen, anschließend geht es weiter zur Messe. Auf über 1.000 Ständen wird dort der State of the Art in Sachen virtuelle Realität, Roboter, Drohnen und anderen Geräten präsentiert. Wir probieren Virtual-Reality-Headsets und jagen auf Segways herum. Wir lernen Furo-I Series kennen, einen kleinen Roboter auf Rädern, der imstande ist, simple Haushaltsarbeiten zu erledigen und einfache Gespräche mit Kindern zu führen. Laut Broschüre leistet er sogar „emotionale Dienste“.

Zoltan ist ganz begeistert über diese Zurschaustellung technischen Könnens. Bei jedem bahnbrechenden Gerät nickt er zustimmend und immer wieder dreht er sich zu uns um und sagt: „Super.“ Aber bei einem weiteren Kaffee schränkt er sein Urteil ein – das sei nichts im Vergleich zu den Transhumanisten-Technologien, über die er später reden werde.

DAS VERKAUFSGESPRÄCH

Seine große Rede hält Zoltan in einem Raum, der ganz versteckt im dritten Stock des Venetians liegt und durch labyrinthische Korridore zu erreichen ist. Es ist ein großer, hallender Raum mit Platz für 200 Personen. Er ist reich verziert, verfügt über eine erhöhte Bühne, ein Podium und einen Projektor mit großer Leinwand. Wir sind extra 15 Minuten eher da, um einen Platz zu kriegen, aber als wir dort eintreffen, sitzen im Zuschauerbereich gerade einmal 30 Leute. Zoltan schaut um die Ecke und kommt zu uns herüber: „Tut mir leid, Leute. Ich hatte keine Ahnung, dass das Publikum nur so klein sein wird“, entschuldigt er sich. „Starten wir den Atheisten-Aufruf, normalerweise funktioniert das.“

Auf Twitter schreibt er:

„Zoltan Istvan, Präsidentschaftskandidat der Aetheisten [sic!] spricht in 30 Minuten … KOMMT DAZU.“

Es folgt noch ein Tweet:

„Stark Pro-LGBT eingestellter Präsidentschaftskandidat Zoltan Istvan spricht in 15 Minuten. @ rm 3104 Lido @ The Venetian @ CTIAShows#Supermobility KOMMT DAZU!“6

Bald darauf sitzen etwa 80 weitere Leute im Publikum und hören zu, wie der Präsidentschaftskandidat der Transhumanistenpartei eine wunderbare, aufregende Zukunft voller Technologie schildert. Zunächst erklärt Zoltan dem Publikum, dass er schon bald nicht mehr per Mikrofon zu ihm sprechen werde, sondern über einen im Schädel implantierten Chip („In der Hand habe ich bereits einen Chip“, erklärt er). Dann sagt er, es bestehe eine „sehr gute Chance“, dass wir innerhalb der nächsten 15 bis 25 Jahre den Tod besiegen werden. Tatsächlich würden wir innerhalb von 35 Jahren so weit sein, dass „wir uns auf das Alter verjüngen können, das wir haben wollen“. Die Chancen stünden nicht schlecht, dass wir innerhalb von 30 bis 50 Jahren imstande sein werden, Leichen wieder zum Leben zu erwecken. Es gebe nichts, was Technologie nicht leisten könne, verkündet Zoltan: Bereits heute gebe es Roboter mit „dem Schimmer eines Bewusstseins“. Schon bald besäßen wir allesamt Kochroboter und bionische Arme.

Roen nickt die ganze Zeit über zustimmend, Jeremiah geht mit seiner Kamera um die Bühne herum und läuft durch das Publikum. Dylan und ich sitzen in der letzten Reihe und machen uns Notizen.

„Was meinst du? Glaubt hier irgendjemand etwas davon?“, frage ich Dylan. „Keine Ahnung, eher nicht“, erwidert er.

Gebt mir eure Stimme, sagt Zoltan, und wir können das alles Realität werden lassen.

Die Forschung ist schon fast so weit.

Kein Zweifel: Transhumanistische Wissenschaft ist aufregend und entwickelt sich in großen Sprüngen. Schon jetzt hat Technologie die Gesellschaft auf eine Art und Weise verändert, wie es noch vor wenigen Jahren völlig undenkbar gewesen wäre. Warum sollte sich das nun ändern? Dank Technologie, die wir weder begreifen noch uns je erträumt hätten, führen viele von uns – allen voran Menschen wie Zoltan – ein längeres, gesünderes, zufriedeneres und bequemeres Leben. Insofern klingt die Vorstellung, dass wir eines Tages dank Biotechnologie stärker und klüger sein werden und unsere Lebensdauer verlängern, nicht völlig exotisch. Bereits heute verwenden Millionen Menschen Medikamente, die ihre Stimmung beeinflussen, nehmen Substanzen, die Muskelmasse aufbauen oder ausgewählte Erinnerungen löschen, führen pränatale Gendiagnostiken und Gentherapien durch. Dabei werden nicht nur Defizite eliminiert, wir werden auch optimiert. All diese Dinge wurden noch vor nicht allzu langer Zeit als unnatürlich und unmoralisch angesehen.

Die Forschung ist jedoch mitnichten fast am Ziel. Wie jeder Techno-Utopist scheint auch Zoltan mit irreführender Leichtigkeit zwischen Fakt und Fiktion zu wechseln. Jeder vielversprechende Forschungsansatz wird als Beweis für den Sieg herangezogen. Es sind vor allem drei transhumanistische Technologien, die Transhumanisten wie Zoltan begeistern – Altershemmung, Kryokonservierung und Mind-Transfer. In allen drei Bereichen werden rasche Fortschritte erzielt, aber sie sind gleichzeitig in hohem Maße spekulativ.

Bei radikaler Altershemmung wird versucht, mit einer Vielzahl medizinischer Neuerungen (Gewebeverjüngung, regenerativer Medizin, Gentherapie, Molekularreparatur) die Alterungsprozesse zu verlangsamen und schließlich völlig zu stoppen.

Altern ist letztlich nichts anderes als die Zunahme von Schäden an Zellen, Gewebe und Molekülen, insofern wäre es nur logisch, wenn es molekulare und zelluläre Lösungen dafür gäbe. Zoltan sieht das Altern nicht als unvermeidlichen Prozess, er plädiert vielmehr dafür, das Älterwerden wie eine beliebige Krankheit zu betrachten – eine Denkweise, die auch immer mehr ernsthafte Wissenschaftler vertreten. In der Gerontologie herrscht breiter Konsens, was die Alterungsprozesse in Tierzellen anbelangt und dass sich diese Prozesse durch Genmanipulation verlangsamen lassen. 2013 verabreichte David Sinclair, ein hoch dekorierter Genetik-Professor der Medizinischen Fakultät von Harvard, Mäusen ein Enzym namens NAD+ (Nicotinamidadenindinukleotid). NAD+ ist in der Zellreparatur aktiv und wie Sinclair feststellte, kehrte das Enzym die für Alterungsprozesse zuständige mitochondriale DNA der Mäuse um – so sehr, dass, auf den Menschen übertragen, ein 60-jähriger Körper in den eines 21-Jährigen zurückverwandelt würde.11 Ob diese Methode überhaupt auf den Menschen übertragbar ist, lässt sich schwer sagen und die amerikanische Gesundheitsbehörde FDA erlaubt derartige Experimente an Menschen nicht.12 Es haben sich jedoch einige Wissenschaftler zu Wort gemeldet und behauptet, die Alterung werde sich schon bald um zehn Prozent verlangsamen lassen. (Ein Weg, die Auflagen der FDA zu umgehen, bestünde darin, dass Freiwillige experimentelle Medikamente an sich selbst testen – einige Personen haben das auch bereits getan, aber es ist noch zu früh für Ergebnisse.13)

Dieses ehemalige wissenschaftliche Randgebiet hat sich zu einem zusehends lukrativen und gut finanzierten Forschungsfeld gemausert.14 Jedes Jahr fließen Milliarden Dollar in die Regenerative Medizin. Dass diese Summen in den vergangenen drei Jahren dramatisch angestiegen sind, liegt auch am wachsenden Interesse der großen Namen im Silicon Valley. 2013 beispielsweise rief Google das Anti-Aging-Forschungszentrum Calico ins Leben.15 Die Anschubfinanzierung von 750 Millionen Dollar sei dazu gedacht, „mithilfe moderner Technologie unser Verständnis der Biologie zu erweitern, die die Lebensdauer kontrolliert“, so das Unternehmen.

Zweiter Forschungsstrang ist die Kryonik. Das weltweit größte Kryonikzentrum Alcor steht in Arizona. Die rund 1.000 Mitglieder (darunter angeblich auch der britische Fernsehmoderator Simon Cowell) und 143 aktuelle „Patienten“ zahlen jeweils 200.000 Dollar plus jährliche Gebühren.16 Im Gegenzug werden sie nach ihrem Ableben in Stickstoff eingefroren und, so hoffen sie, eines Tages wieder aufgetaut. Diese Methode der Lagerung biete die besten Chancen, es bis zu dem Zeitpunkt zu schaffen, an dem wissenschaftliche Durchbrüche gelungen sind, sagen die Befürworter.17 Da bislang noch nie ein Mensch aufgetaut wurde, gibt es allerdings keinen glaubhaften Beleg dafür, dass die Methode überhaupt funktioniert. Wie sich das Einfrieren auf den Körper und vor allem auf das Gehirn auswirkt, ist völlig unklar und selbst das Cryonic Institute räumt ein, es sei „unbekannt“, ob Forscher irgendwann in der Zukunft imstande sein werden, kryokonservierte Personen erfolgreich wiederzubeleben.18 Auftrieb erhielt das Lager 2015: Bei einem Experiment wurde der Fadenwurm Caenorhabditis elegans in flüssigem Stickstoff kryokonserviert, anschließend zeigte sich, dass er seine Erinnerungen behalten hatte.

Das endgültige und am meisten nach Science-Fiction klingende Ziel aller transhumanistischen Technologien jedoch ist der sogenannte „Mind-Transfer“. Jedes menschliche Gehirn ist ein Unikat – es hat seine ganz eigenen Neuronen und Nervenbahnen, es ist geprägt durch all die Dinge, die diese Person gesehen, gehört, gefühlt und getan hat. Eine Kopie des gesamten Gehirns zu erstellen würde bedeuten, man müsste mithilfe hochmoderner Scan-Technologien einen detailgetreuen „Bauplan“ des Gehirns erstellen. Befürworter dieser Technik hoffen, vom Gehirn einer Person eine Kopie produzieren zu können, die vom Original nicht zu unterscheiden ist. Dieser Verstand einer Person könnte dann auf einem (vermutlich sehr großen) Speicherstick gespeichert werden. Stirbt man, lässt sich also jederzeit ein „Back-up“ des eigenen Verstands auf einen synthetischen Körper überspielen.19 Mehrere angesehene akademische Einrichtungen kartografieren das Gedächtnis. Sie wollen auf diesem Weg die Funktionsweise des Gehirns besser begreifen und vor allem neurologische Erkrankungen besser bekämpfen können.

Viel Geld floss bislang in diesem Feld und zahlreiche Anstrengungen wurden unternommen, trotzdem wissen wir nach wie vor erstaunlich wenig darüber, wie das Gehirn überhaupt funktioniert.20 Den Forschern ist es gelungen, die Verbindungen zwischen sämtlichen 300 Neuronen im Gehirn eines Wurms zu kartografieren (aktuell können neuromorphe Chips mehr als 1.000 synthetische Neuronen speichern). Allein jedoch diese Aufgabe nahm über ein Dutzend Jahre in Anspruch, dabei ist das Wurmhirn im Vergleich zum menschlichen Gehirn mit über 100 Milliarden Neuronen verschwindend winzig.21 Vielleicht ist es eines Tages möglich, ein Diagramm zu erstellen, das alle Verbindungen zwischen den Neuronen eines toten Gehirns zeigt, aber lebendige Gehirne verändern sich ständig und passen sich kontinuierlich an die einströmenden Informationen an.22

Es gibt noch zahlreiche Lücken und reichlich Fragezeichen, was das Versprechen angeht, den Menschen mithilfe der Technologie unsterblich zu machen. Und trotzdem: Als Zoltan seine Rede beendet (indem er alle Wohlhabenden im Publikum auffordert, in transhumanistische Technologie zu investieren), schaue ich mich im Raum um und stelle fest, dass niemand schallend lacht, in Zwischenrufe ausbricht oder bereits gegangen ist. Tatsächlich wirkt es so, als seien einige Zuhörer geradezu ergriffen von der Rede. Ein behinderter Kriegsveteran bedankt sich bei Zoltan dafür, dass er diese Themen bekannt macht, denn eines Tages könnten sie ihm, dem Veteranen, helfen. „Was für ein Präsidentschaftskandidat!“, ruft der Moderator, als Zoltan unter Applaus von der Bühne geht. „Meine Stimme hat er … solange er Stoff hat!“

Natürlich bezieht der Transhumanismus seinen Reiz nicht nur aus der Wissenschaft. Richard Jones, Autor einer kritischen Analyse des Transhumanismus und Professor an der Uni Sheffield, erläutert, die Wurzeln des Transhumanismus ließen sich nicht in der Science-Fiction-Literatur oder den Informatikfakultäten finden, sondern gingen auf religiöse apokalyptische Vorstellungen des Mittelalters und des wissenschaftlichen Marxismus zurück, der Pläne entwickelte, wie die Menschheit zu formen und zu verbessern sei.23

Die Transhumanisten glauben, Wohlstand und Harmonie stünden kurz bevor und ein wie auch immer gearteter dramatischer wissenschaftlicher Durchbruch werde uns aus den Klauen des Todes, des Alterns, der Armut und des Leids befreien – ein Glaube, bei dem eine seltsam religiöse Note mitschwingt.24 Es steht außer Frage, dass Zoltan an etwas glaubt. Es ist kein Glaube an eine Gottheit oder ein himmlisches Wesen, sondern der Glaube an eine abstrakte Idee von Wissenschaft und Technologie als magische, mysteriöse Kraft. Auf die Beweislage wird hier keine Rücksicht genommen. Man müsse nur Nanotechnologie, Biotechnologie, Informationstechnologie und kognitive Wissenschaften irgendwie kombinieren oder „verschmelzen“, dann werden daraus schon Wunder der Wissenschaft resultieren, glaubt Zoltan. Dass so viele Transhumanisten aus Kalifornien kommen, überrascht nicht – der amerikanische Bundesstaat ist die Heimat des weltweit modernsten Technologiesektors, gleichzeitig ist er der Hauptsitz von Amerikas alternativen Religionen.25

Es ist eher dieser spirituelle Aspekt und nicht der wissenschaftliche, der die Popularität des Transhumanismus erklärt. Organisierte Religion hat den Menschen lange dabei geholfen, mit dem traurigen Fakt ihrer eigenen Sterblichkeit umzugehen, aber in den Vereinigten Staaten befindet sich die Religion auf einem absteigenden Ast.26 Der Anteil von Amerikanern steigt, die sich als Atheisten oder Agnostiker bezeichnen, und das gilt insbesondere für jüngere Menschen.27