Radikale Alternativen - Alberto Acosta - E-Book

Radikale Alternativen E-Book

Alberto Acosta

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Beschreibung

Der US-amerikanische Kulturtheoretiker Fredric Jameson sagte einmal, es sei leichter, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus. Entsprechend beherrscht der Wunsch nach Wachstum und die Orientierung am wirtschaftlichen Gewinn seit Jahrzehnten unser Denken. Alternativen zum kapitalistischen System werden meist als reine Utopien belächelt. Doch ist das wirklich so? Können wir nicht die verschiedenen Gegenentwürfe, die sich im Globalen Süden und Norden bilden, zu einer neuen Vorstellung verbinden, um aus dem Irrweg des Kapitalismus auszubrechen? In Ihrem neuen Buch laden Alberto Acosta und Ulrich Brand ein, diese Konzepte zu erkunden und entlang ihrer Gemeinsamkeiten eine vereinte Vorstellung von einer gerechteren, besseren Zukunft zu finden. Denn nur so lässt sich eine umfassende politische, sozio-ökonomische und kulturelle Wende einleiten und die zunehmende Vermarktung des Lebens stoppen.

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Alberto Acosta, Ulrich Brand
RadikaleAlternativen
Warum man den Kapitalismus nur mit vereinten Kräften überwinden kann
Aus dem Spanischen von Nadine Lipp
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© der Originalausgabe 2017: Rosa Luxemburg Stiftung, Quito sowie Alberto Acosta und Ulrich Brand.www.rosalux.org.ec
© der deutschen Ausgabe 2018: oekom verlag MünchenGesellschaft für ökologische Kommunikation mbHWaltherstraße 29, 80337 München
Lektorat: Laura Kohlrausch, oekom verlagKorrektorat: Maike SpechtUmschlaggestaltung: www.buero-jorge-schmidt.deSatz: Michael Peschke
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-96238-435-7
Wir danken der Rosa-Luxemburg-Stiftung für die Förderung der Übersetzung.
Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotive der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zug reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.Walter Benjamin1
Stephan LessenichTransformation im Dialog: Mehr Utopie wagen
Maristella SvampaDie schwierige Aufgabe, Alternativen zum Kapitalismus zu finden
Danksagung
Kapitel 1Der Kapitalismus – eine unhaltbare Lebensweise
Kapitel 2Warum brauchen wir radikale Alternativen?
Kapitel 3Zentrale Elemente der Degrowth-Perspektive
Kapitel 4Post-Extraktivismus als Bedingung für ein »Gutes Leben«
Kapitel 5Post-Extraktivismus und Degrowth gemeinsam gedacht
Kapitel 6Auswege aus dem kapitalistischen Labyrinth?
Anmerkungen
Über die Autoren

Vorwort

Transformation im Dialog: Mehr Utopie wagen
Stephan Lessenich
Die beiden in diesem Band verhandelten Konzepte, Post-Extraktivismus und Degrowth, gehen analytisch wie politisch dahin, wo es weh tut: An die Wurzeln einer Kritik des Gegenwartskapitalismus. Der Kapitalismus der Gegenwart basiert auf der Ausbeutung der Natur. Geradezu zwanghaft muss er alles, was in der Erde steckt, aus ihr herausholen. Und er muss dies tun, weil er ohne beständiges Wachstum nicht leben kann. Ohne seine materielle und stoffliche Reproduktion auf immer höherem Niveau ist er nichts. Wer daher von Post-Extraktivismus und Degrowth spricht, der spricht von nichts anderem als vom Ende des Kapitalismus.
Alberto Acosta und Ulrich Brand tun eben dies im Dialog, und das ist gut so. Mehr noch: Ein solcher Dialog ist, will man den Kapitalismus überwinden, unverzichtbar. So oft und unangemessen der Neoliberalismus eine Rhetorik der »Alternativlosigkeit« bemüht, hier ist sie tatsächlich einmal angebracht: Es gibt keine Alternative zu einem analytischen und politischen Dialog zwischen den verschiedenen Begriffen und Konzepten, Akteuren und Strategien, die eine Welt jenseits des Kapitalismus anstreben.
Post-Extraktivismus und Degrowth stellen den Kapitalismus nicht nur als Wirtschaftssystem in Frage. Sie thematisieren ihn vor allen Dingen als ein soziales Herrschaftsverhältnis, dessen Wirkungsmacht es zu brechen gilt. Ein Herrschaftsverhältnis, das einerseits ein globales ist: Die extraktivistischen »Entwicklungsstrategien« der rohstoffreichen Länder dieser Welt sind nicht zu verstehen ohne die Logik des Industrialismus, die seit mehr als zwei Jahrhunderten, von den Ländern des Westens ausgehend, die globale Ökonomie in ihrem Griff hat. Andererseits ist dieses Herrschaftsverhältnis auch ein subjektives: Denn die mit dem industriellen Kapitalismus einhergehende Wachstumslogik hat sich im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte den Menschen im globalen Norden und zunehmend auch jenen im globalen Süden eingeschrieben. Unter »Wohlstand« wird hier das permanente Mehr verstanden: mehr Produktion, mehr Konsum, mehr Ressourcenförderung, mehr Energieverbrauch. Ein ewiges Mehr, bei dem – so die fundamentale Paradoxie des Kapitalismus – am Ende doch nicht genug für alle da ist.
Post-Extraktivismus und Degrowth wenden sich gegen diese paradoxe, ja perverse Logik kapitalistischer Verhältnisse. Der Dialog zwischen beiden Konzepten, getragen von zwei Wissenschaftlern und politischen Aktivisten aus Lateinamerika und Europa, steht repräsentativ für jenen Begriff, ohne den eine radikale gesellschaftliche Transformation unmöglich sein wird: jenen der Relationalität.
Unsere wissenschaftliche Analyse muss relational sein, indem sie die Verhältnisse an einem Ort der Welt mit denen an anderen Orten zusammendenkt. Und ebenso relational muss unsere politische Aktion sein, indem sie das Handeln der Akteure an einem Ort der Welt mit dem von Akteuren an anderen Orten zusammenbringt. Anderes Denken und anderes Handeln entstehen nicht aus sich selbst heraus, sondern nur aus dem Austausch und in der Auseinandersetzung mit dem Denken und Handeln anderer.
Alberto Acosta und Ulrich Brand zitieren in ihrem Buch Eduardo Galeano: »La utopía sirve para caminar – Die Utopie dient dem Aufbruch.« Auch Utopien aber sind relational: Sie setzen das, was ist, in Beziehung zu dem, was sein könnte. Utopien weisen den Weg aus dem Labyrinth. Von Post-Extraktivismus und Degrowth zu sprechen bedeutet deshalb auch, mehr Utopie zu wagen.

Vorwort

Die schwierige Aufgabe, Alternativen zum Kapitalismus zu finden
Maristella Svampa
Mit Degrowth und Post-Extraktivismus behandelt dieses Buch zwei zeitgenössische Konzepte, die sozialen Bewegungen und der kritischen Wissenschaft entstammen und gewichtige Gemeinsamkeiten haben. Beide Konzepte kritisieren den Kapitalismus, und das nicht nur in Bezug auf Wirtschaft und Kultur. Sie diagnostizieren aus einer globalen Perspektive heraus die aktuelle Krise des Kapitalismus als »eine sozial-ökologische Krise von zivilisatorischer Tragweite«. Beide Konzepte haben die ökologischen Grenzen des Planeten vor Augen und betonen, dass die Modelle des imperialen Konsums, wie sie weltweit, sowohl im globalen Norden als auch im Süden, vorherrschen, nicht nachhaltig sind. Damit stellen sie Ausgangspunkte dar, um einen Wandel zu reflektieren und zivilisatorische Alternativen zu finden, die auf einem anderen Verständnis der Natur basieren als dem rein wirtschaftlichen, das darauf abzielt, alles Leben zu vermarkten.
Alberto Acosta und Ulrich Brand sind zwei anerkannte kritische Intellektuelle, die uns in diesem Buch die Konzepte Degrowth und Post-Extraktivismus vorstellen, Konzepte, die, trotz ihrer Wahlverwandtschaft, unterschiedliche politische und geografische Ursprünge haben. Die Diskussion um Degrowth entstand in Europa und hat vornehmlich akademische Wurzeln, auch wenn sie gegenwärtig von verschiedenen sozialen Protestorganisationen übernommen und weiterentwickelt wird. Die Diskussion um Post-Extraktivismus dagegen stammt aus Lateinamerika und entstand während der Kämpfe der letzten zwanzig Jahre gegen den zunehmenden Ressourcen-Extraktivismus.
Das vorliegende Buch leistet für die Debatte um den Kapitalismus große Dienste. Zunächst beleuchten die Autoren die verschiedenen Kontexte, in denen die beiden Konzepte entstanden sind, bevor sie zwischen ihnen Brücken schlagen. In Lateinamerika waren es zunächst die großen anti-neoliberalen Mobilisierungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, später die Pathologien des Extraktivismus, die während der progressiven Regierungen sichtbar wurden und die dazu beigetragen haben, dass angesichts der entstandenen Probleme politisch neu gedacht werden musste. Der Progressismus hat jedoch dem sich formierenden emanzipatorischen Denken neue Probleme beschert – insbesondere in Ländern wie Bolivien und Ecuador, in denen die Erwartungshaltung gegenüber einem politischen Wandel damals groß war, da erstmals der Vorschlag eines plurinationalen Staates sowie die Forderung nach Autonomie verhandelt wurde und das indigene Konzept des »Buen Vivir« (»Gutes Leben«) in die Politik integriert werden sollte.
In Europa hingegen gesellt sich durch die multiplen Dimensionen der Krise die zunehmende Infragestellung des Neoliberalismus zu dessen Scheitern dazu. Dies zeigt sich etwa in dem wachsenden Teil der Bevölkerung, dem die Vorteile der kapitalistischen Globalisierung nicht zugutekommen, einer Globalisierung, die immer ausgrenzender und ungerechter wird, und in der Etablierung einer imperialen Lebensweise, die immer stärker den gesellschaftlichen Metabolismus dem Kapital unterwirft (insbesondere durch den Bedarf an Rohstoffen und Energie). Der Begriff »Degrowth« genießt seit 2008 sozusagen ein »zweites Leben«: In Europa taucht der Begriff, der in den Siebzigerjahren entstand, zu einem Zeitpunkt wieder auf, da der Kontinent von einer politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Krise gezeichnet ist, und ist nun präsenter denn je.
Das zweite Verdienst des Buches besteht darin, dass die Autoren Degrowth und Post-Extraktivismus undogmatisch verwenden, in einem offenen und sich gegenseitig wahrnehmenden Dialog, der sich nicht scheut, die Schwierigkeiten und die Grenzen aufzuzeigen, die ein transformatives Denken mit sich bringt. Das Buch präsentiert anhand einer Vielzahl von alternativen gesellschaftspolitischen und ökonomischen Ansätzen auf kommunaler Ebene (etwa transition towns) innovative Erfahrungen in Europa, die einen realen und konkreten Einsatz für Degrowth demonstrieren. Auch im Blick auf Lateinamerika zeigt sich, dass sowohl die Bemühungen um eine »ökoterritoriale Wende« als auch die Bewegung der alternativen Ökonomie, die auf das traditionelle Wissen der Indigenen aufbaut, um das Prinzip des »Guten Lebens« (»Buen Vivir«) kreisen und damit einen Gegenpol zum Extraktivismus bilden, der Lateinamerika bisher noch klar dominiert.
Gleichwohl werden auch Bedenken gegen beide Konzepte geäußert, etwa dass in der Degrowth-Bewegung Herrschaftsverhältnisse zu wenig angefochten werden oder eine anthropozentrische Weltsicht, die die Spaltung von Gesellschaft und Natur nicht hinterfragt, weiterhin geduldet wird. Gleichermaßen wird thematisiert, dass in den aktuellen Vorschlägen für ein »Gutes Leben« (»Buen Vivir«) in Lateinamerika der Degrowth-Gedanke im Sinne einer Entmaterialisierung, einer Entmarktlichung und Dezentralisierung fehlt; darüber hinaus ist es ein provokanter Begriff, der es in Gesellschaften mit hohem Armutsanteil schwer hat, als ein Ausweg aus der Krise gesehen zu werden. Zudem werden in Lateinamerika alternative Lebensweisen im Gegensatz zur europäischen Debatte mehr auf globaler sozialer und kollektiver Ebene gedacht und nur wenig über Konsum oder individuelles Verhalten diskutiert.
So ist das Buch Radikale Alternativen weit davon entfernt, eine lineare Kritik an der hegemonialen Moderne zu erheben oder neue Dogmatismen zu propagieren. Es fordert uns auf, unser Unbehagen an den bestehenden Verhältnissen näher zu betrachten und uns den Ambivalenzen und der Komplexität zu stellen, vor die uns die scheinbar unlösbaren Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft stellen. Nichts deutet darauf hin, dass es einfach ist, einen Ausweg aus dem Extraktivismus, aus der Wachstums- und Verschwendungsgesellschaft zu finden. Ohne einen tiefen kulturellen Wandel der Denk- und Wahrnehmungsstrukturen, die mit den Produktions- und Konsummustern der imperialen Lebensweise verbunden sind und die sowohl im globalen Norden als auch im globalen Süden dominieren, wird dieser nicht möglich sein. Vor allem in Lateinamerika sind wir von der Entkolonialisierung des Konsumverhaltens – also der Abkehr von den herrschenden westlichen Konsumnormen – weit entfernt, da das Konsumverhalten so eng mit sozialen Strukturen verbunden ist. Darüber hinaus erfordert die Loslösung von Extraktivismus und Wachstumsgesellschaft eine unausweichliche Transformation der Strukturen der imperialen Herrschaft, die momentan durch ihre intensive Ressourcennutzung immer stärker in die Natur eingreift und die ökologischen Schulden, die der globale Norden historisch bei den peripheren Staaten des Südens hat, erhöht.
Das Ziel dieses Buches, das inhaltlich anregend und zugleich reich an Begriffen ist, besteht darin, uns kritische Werkzeuge zur Verfügung zu stellen, aber auch das Nachdenken darüber anzukurbeln, inwieweit die Konzepte Degrowth und Post-Extraktivismus gemeinsam einen Ausgangspunkt für den Ausweg aus dem kapitalistischen Labyrinth bilden können. Degrowth und Post-Extraktivismus sind notwendige Konzepte, aber sie werden nicht ausreichen. Um einen gemeinsamen Dialog zu fördern, zögern die Autoren am Ende des Buches nicht, die Frage zu stellen, ob wir uns von diesen Konzepten nicht lossagen müssen, da sie eine zu geringe Ausstrahlung haben, um uns jenen zuzuwenden, die, um es mit Ernst Bloch zu sagen, »ein Prinzip Hoffnung« darstellen, wie das Konzept des »Guten Lebens« (»Buen Vivir«) oder der globalen Gemeingüter.
In einer Epoche, in der die Utopien in der Krise stecken, in der es laut Fredric Jameson »viel einfacher ist, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus«, ist das Ziel, Möglichkeiten der Veränderung zu denken, ohne blind in Wiederholungen der Vergangenheit oder in neue Dogmatismen zu verfallen und auch nicht in der Entzauberung oder lähmenden Melancholie gewisser Linker stecken zu bleiben. Diese offene und in Beziehung zueinander stehende Wette als Dialog zwischen Nord und Süd ist keine kleine Herausforderung. Um es mit José Carlos Mariátegui – dem größten marxistischen Denker Lateinamerikas – zu sagen, zeigt uns dieses Buch nicht einen Weg, »sondern einen Kompass auf der Reise«, denn was wir zurzeit brauchen, ist, »frei zu denken«, und: »Um in Freiheit zu denken, ist die erste Voraussetzung, das Streben nach absoluter Freiheit aufzugeben. Das Denken braucht einen Kurs und einen Gegenstand. Gut zu denken ist zu einem großen Teil eine Frage der Richtung oder der Umlaufbahn.«2

Danksagung

Eine Konferenz über Degrowth im Jahr 2014 in Leipzig, an der die Autoren teilgenommen haben, und die dortigen Diskussionen bilden die Grundlage dieses Buches. Es stützt sich aber selbstverständlich auch auf die vorangegangenen Forschungen beider Autoren. Ulrich Brand bedankt sich bei Kristina Dietz, Miriam Lang und Markus Wissen sowie für die Diskussionen in der Forschungsgruppe des Kollegs Postwachstumsgesellschaften der Universität Jena, gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Sein Dank gilt insbesondere Klaus Dörre, Dennis Eversberg, Michael Hofmann, Steffen Liebig, Christine Schickert und Johanna Sittel von der Jenaer Arbeitsgruppe, die eine frühere Version dieses Textes kommentiert haben.
Die Autoren bedanken sich für die wertvolle Diskussion im Rahmen der Arbeitsgruppe für Alternativen zur Entwicklung der Rosa-Luxemburg-Stiftung, in der sich Menschen aus Lateinamerika und Europa seit 2011 engagieren. Der Text hat von den Reflexionen in den oben genannten Gruppen und in vielen anderen Kontexten stark profitiert. Sehr wertvoll waren für die Autoren die präzisen Beiträge der Wirtschaftswissenschaftler Jürgen Schuldt, David Barkin und John Cajas-Guijarro sowie die Anmerkungen des Soziologen José María Tortosa.
Dank gebührt ebenfalls Cordy Thöny, Sandra Ojeda sowie Karin Gabbert und ihrem Team aus dem Anden-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung für die große Unterstützung bei der Entstehung der spanischen Version dieses Buches und bei anderen Aktivitäten im Zusammenhang mit den Themen, die uns in diesen aufregenden Zeiten bewegen.
Für diese Ausgabe in deutscher Sprache sind wir Nadine Lipp für die gute Übersetzung, Laura Kohlrausch für das vorzügliche Lektorat und dem oekom verlag für die Unterstützung dieses Projekts dankbar.
Wir haben uns für die vorliegende deutschsprachige Version des Buches dafür entschieden, bei den Alternativen vor allem auf Beispiele aus Lateinamerika zu verweisen. Gleichwohl finden sich auch aktuelle progressive Ansätze aus Europa und dazu in den Anmerkungen einiges an weiterführender Literatur.

Kapitel 1Der Kapitalismus – eine unhaltbare Lebensweise

Der globale Kapitalismus durchlebt gegenwärtig eine multiple Krise.1 Bereits seit Längerem breitet sich diese Krise über alle Kontinente aus. Sie hat dabei viele Gesichter, die aber miteinander verbunden sind. Nie zuvor haben sich so viele kritische Aspekte gleichzeitig gezeigt, die sich nicht nur auf den Finanz- und Immobiliensektor beziehen. Die Krise manifestiert sich durch eine Art »mutierten Virus«2 längst auch in anderen Bereichen: in der Politik, Ethik, im Sozialen, in Fragen der Ökologie und Energie, der Lebensmittelproduktion und selbstverständlich der Kultur. Zusätzlich erleben wir auch eine ideologische Krise. Joseph Stiglitz, der 2001 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt, sah sie bereits am Vorabend der Krise von 2008 voraus, als er sagte: »Die meisten individuellen Fehler gehen auf einen einzigen zurück: den Glauben daran, dass die Märkte sich von selbst regeln und dass die Rolle der Regierung eine geringe sein sollte.«3
Der Kapitalismus ist nicht fähig, großen Bevölkerungsgruppen ein gutes und attraktives Leben zu garantieren.
In solchen Zeiten der wiederkehrenden Krisen zeigt sich immer mehr, dass der Kapitalismus nicht fähig ist, großen Bevölkerungsgruppen ein gutes und attraktives Leben zu garantieren.4 In Europa dominieren als Folge der Krise, die im Jahr 2008 begann, die Austeritätspolitiken und setzen sich sogar in Ländern durch, die sich zunächst dagegen gewehrt hatten (wie zum Beispiel Griechenland). In vielen der Länder wächst der Zuspruch für die extreme Rechte und ihre fremdenfeindlichen Diskurse. Dieser Trend hält an, ja er vertieft sich sogar – Donald Trumps Wahlsieg in den Vereinigten Staaten bestätigt diese These. Angesichts des weltweiten Rechtsrucks wird es immer dringender, radikale Alternativen aufzustellen, deren Durchführbarkeit sich im politischen Kampf herauskristallisieren muss.
Vor einigen Jahren tauchten in mehreren lateinamerikanischen Ländern »progressive« Regime als Alternative zum Neoliberalismus auf (der in einigen Ländern mit konservativen Regierungen dennoch fortbesteht). Doch hat sich diese Alternative, bei allen Unterschieden, mittlerweile in eine Art modifizierten Neoliberalismus verwandelt, indem Elemente eines harten Neoliberalismus vom lateinamerikanischen Progressismus instrumentalisiert werden. Die neoliberale Politik wird durch ebenjenen starken Staat durchgesetzt, den die progressiven Parteien wieder eingeführt haben. Um diesen Zusammenhang zu erkennen, genügt ein Blick darauf, wie aggressiv der Staat in einigen lateinamerikanischen Ländern eingreift, um den Ausbau und die Vertiefung des Extraktivismus in einem Maße voranzutreiben, der von früheren neoliberalen Regierungen nie erreicht wurde.
Zusammengefasst sind all diese Beispiele ein klares Indiz einer tiefen und langen Krise des Kapitalismus als vorherrschende Zivilisationsform. Es finden sich mehrere Hinweise darauf, dass die aktuelle Krise nicht konjunkturbedingt oder klein und deshalb auch nicht mit den bestehenden Institutionen und Konstellationen zu lösen ist. Sie ist eine große Krise, die eine tief gehende Umstrukturierung erfordert. Aber wie wird es nun weitergehen? Befinden wir uns derzeit in einer Phase der Transformation oder, um es mit Antonio Gramsci zu sagen, in einem Interregnum, einer Übergangszeit: »Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren«?5 Sind wir mitten in einer neuen Krise der Überproduktion und der finanziellen Blasen, weil die Möglichkeiten fehlen, das Kapital anzulegen und zu verwerten? Ist es eine letzte Krise des Neoliberalismus oder sogar eine existenzielle Krise des Kapitalismus?
Diese Fragen sind Gegenstand zahlreicher kontroverser Debatten. Und da die Krise sehr komplex ist, sind es die möglichen Lösungen auch. Es ist noch nicht klar, inwieweit die Wirtschaftskrise in eine politische Krise umschlägt, die den Staat an sich infrage stellt. Was beobachtet werden kann, ist eine intensive Diskussion über die vorwiegenden Formen der kurzfristigen konjunkturellen Krisenbewältigung wie etwa Sparprogramme sowie über ihre internationale Dimension – die Rolle Chinas und anderer seit Kurzem industrialisierter Länder zum Beispiel.
Wenn wir akzeptieren, dass es sich um eine Zivilisationskrise handelt, ist zu ihrer Überwindung eine wesentliche Transformation unumgänglich. Viele Beiträge zur aktuellen Debatte um Transformation beziehen sich auf Karl Polanyi, der brilliant den Aufstieg des industriellen Kapitalismus analysierte.6 Doch die aktuellen Beiträge meinen eine notwendige und wünschenswerte Transformation. Polanyi wollte in seiner Studie aber etwas anderes verstehen, was ziemlich aktuell ist: Warum kommt es in der Krise des liberalen Kapitalismus unter anderem zum Aufstieg des Faschismus als »Gegenbewegung« gegen die »Marktgesellschaft«, die ihre eigenen natürlichen und sozialen Grundlagen zerstört?
Uns geht es in diesem Buch um etwas anderes: nämlich um eine progressive, emanzipatorische, sozial-ökologische Transformation, von der wir nicht genau wissen, wie sie funktioniert. Doch das Bewusstsein, dass solch eine Transformation notwendig ist, wächst weltweit. Einerseits besteht die Aufgabe darin, bestehende Transformationsprozesse im Norden und Süden miteinander zu verknüpfen. Andererseits muss definiert werden, wo die Transformationen der gegenwärtigen sozialen und institutionellen Strukturen beginnen sollen – und wer sich dessen annehmen soll oder annehmen muss. Was zu tun ist und wie es zu tun ist, ist der Schlüssel, um herauszufinden, wer sich der Aufgabe annehmen sollte.
Das Bewusstsein, dass eine emanzipatorische, sozial-ökologische Transformation notwendig ist, wächst weltweit.
In Teilen der Transformationsdebatte geht es in normativ-strategischer Absicht primär darum, einen Weg aus der multiplen Krise zu finden, vor allem aus einer Perspektive der sozial-ökologischen Transformation.7 Denn vor dem Hintergrund jüngerer Krisenpolitiken zeigt sich immer mehr, dass die gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaften unfähig sind, mit den aktuellen Krisen und vor allem mit der ökologischen Krise angemessen umzugehen.
Es ist aber auch so, dass bürgerlich-kapitalistische Gesellschaften sich aufgrund von immanenten Dynamiken wie Konkurrenz und Expansionslogik, Widersprüchen, Konflikten und sozialen Krisen fortwährend selbst transformieren und nach dem Anspruch, immer mehr Kapital anzuhäufen, neu anordnen. Diese an sich problematische Tatsache könnte, richtig genutzt, auch einen Ansatzpunkt darstellen, um progressive Strategien zu fördern. Der Schlüsselfaktor ist, diese Bewegungen zu verstehen und Vorschläge zu entwerfen, die sich auf die momentane Situation beziehen, aber – darauf bestehen wir – ohne die gesamte Struktur aus den Augen zu verlieren.
Eine Gefahr für die so notwendigen Transformationen ist fehlgeleitete »Donquichoterie« (Marx).8 Analytischer Idealismus und politischer Voluntarismus führen tendenziell in Sackgassen, das hat die Vergangenheit zur Genüge gezeigt. Es muss genau geprüft werden, ob die materiellen Bedingungen für die verschiedenen Alternativen zum Kapitalismus ausreichend vorhanden sind. Darauf zu hoffen reicht nicht aus. Dennoch kann auch Idealismus erfolgreich sein: Wenn die gesellschaftlichen Akteure eine Situation als real definieren, wird sie es in der Konsequenz auch sein (auch wenn sie ursprünglich nicht real war), denn es werden Prozesse ermutigt, die Veränderungen anstoßen.
Wir brauchen Strategien, die notwendige und vor allem realisierbare Transformationen ermöglichen. Denn bei aller Dringlichkeit ist es wichtig, sich klarzumachen, dass sich weder die Gesellschaften noch die Welt von einem Tag auf den anderen verändern werden. Darüber hinaus werden nicht alle radikalen Veränderungen gleichzeitig stattfinden können, und es wird Unterschiede in den Regionen und bei der Schnelligkeit der Umsetzung geben, genau wie in den verschiedenen Bereichen, etwa dem staatlichen und dem wirtschaftlichen Bereich oder spezifischer: bei den Lebensmitteln, beim Wohnraum, der Kommunikation und Mobilität, der Kleidung etc.
Bei aller Dringlichkeit muss man sich klarmachen, dass sich die Welt nicht von einem Tag auf den anderen verändern kann.
So ist die Lösung der unmittelbaren Probleme, die sich aus der multiplen Krise ergeben, dringend und zugleich sehr komplex. Flicken reicht nicht aus; ebenso wenig wie es ausreicht, die Wirtschaft durch größere Nachfrage und zunehmende öffentliche Investitionen anzukurbeln, wie es in anderen (Wirtschafts-)Krisen geschehen ist. Kurzfristige Antworten müssen sicherlich auch eingesetzt werden – aber immer unter Berücksichtigung der strukturellen Herausforderungen und der mittel- und langfristigen Ziele.
Für eine »gute Konjunktur« muss eine solide strukturelle Basis geschaffen werden, um die vielen miteinander verknüpften Herausforderungen zu meistern, die die Menschheit – auf sehr unterschiedliche Weise in sowie zwischen den verschiedenen Klassen und Geschlechtern – und den Planeten selbst bedrohen. Wenn man lediglich versuchen würde, den produktiven Apparat, der ausschließlich den großen Unternehmen riesige Geldsummen zuführt, zurückzugewinnen und das Wirtschaftswachstum, das durch finanzielle Ungleichgewichte Einbußen davontrug, wieder anzuheben, ohne die Produktions- und Verbrauchsmuster oder die bisher verwendeten Technologien zu verändern, würden sich andere, immer dringlichere Probleme verschlimmern, und die Ungerechtigkeit und Ungleichheit würde sich verstärken. Diese dringlichen Probleme betreffen die Umwelt, die Energie, die Ernährung sowie die sozialen Probleme, die daraus entstanden sind. Den verlorenen Pfad wieder aufzunehmen und darauf zu vertrauen, dass alles zur alten Ordnung zurückkehrt, kann nicht die Lösung unserer Probleme sein.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Aufmerksamkeit nicht allein auf der Konjunktur liegen kann. Es wird immer wichtiger, sich mit den Strukturen auseinanderzusetzen – und das erfordert eine umfassende Vision und Zeit, in der sie reifen kann. Diese Aufgabe kann nicht nur eine Aufgabe einzelner Regierender sein oder nur weniger Erleuchteter. Weltweit müssen heterogene Räume geschaffen werden, in denen diese Probleme ausführlich diskutiert werden und in denen Alternativen gefördert und Vereinbarungen gefunden werden, um sie zu verbreiten und gleichzeitig neue zu fördern. Wir müssen die Basis des Systems tief greifend verändern und letztlich überwinden. Man könnte diese Bewegung anstoßen, indem man sich die derzeitigen Konjunkturschwierigkeiten zunutze macht und auch die relative Schwäche der Weltzentren der Macht – vor allem die mit dem Finanzmarkt-Kapitalismus einhergehenden Unsicherheiten, die den Kern der gegenwärtigen Krise synthetisieren.
Der Wandel wird nicht stattfinden, wenn wir darauf warten, dass die Industrieländer handeln, die im Wettbewerb mit den Schwellenländern (vor allem den BRICS-Staaten: Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) stehen und sich dabei auf weltweit agierende wirtschaftliche und politische Organisationen wie die Weltbank, den Internationalen Währungsfonds und die Welthandelsorganisation stützen. Um ein Nachdenken voranzutreiben und zu aktivieren, muss man sich mit den Thesen jener beschäftigen, die hoffen, dass die Dinge bald zur »Normalität« zurückkehren.
Der Wandel wird nicht stattfinden, wenn wir nur darauf warten, dass die Industrieländer handeln.
»Der Wolf kommt« – wie in der Fabel mit dem Hirtenjungen und dem Wolf wurde schon oft das Ende des Kapitalismus angekündigt, und bisher ist es nie eingetreten. Und dieses Mal? Es kann sein, dass es auch dieses Mal nicht so weit kommt – dass es Kräfte gibt, die versuchen, das System wiederherzustellen, auch wenn es dadurch immer autoritärer und faschistischer wird. Denn die herrschenden Klassen tendieren in Krisen dazu, auf materielle Zugeständnisse und demokratische Einhegung ihrer Macht zu verzichten. Gemeinsam mit Parteien und anderen politischen Kräften tendieren sie zu autoritären Lösungen und bieten diese den unteren Klassen über rassistische und ausgrenzende Diskurse an. In Zeiten der Krise werden die unteren (Mittel-)Schichten unzufriedener, haben Abstiegsängste und folgen teilweise diesen autoritären Angeboten. Mehr noch: Jene Mittelschichten, die in Boomphasen aufgestiegen sind, grenzen sich nun nach »unten« oder nach »außen« ab und verteidigen ihre Position. Diese Entwicklung kann zurzeit in großen Teilen Europas und Lateinamerikas beobachtet werden.
Wenn der Kapitalismus entgegen aller Vernunft weiter an der Macht gehalten wird, befindet sich das System irgendwann auf einem Weg ohne Rückkehr – was keineswegs heißt, dass das, was kommt, zukunftsgewandt ist. Ganz im Gegenteil, das Kommende würde dann eine andere, neue Form der Barbarei darstellen. Um so einen humanitären Rückschritt zu verhindern, sind tief greifende Lösungen erforderlich, damit große politische, soziale und ökologische Zusammenbrüche vermieden werden können, die in den verwundbareren Gebieten der Erde bereits zu spüren sind. Die immer hektischere Suche des Kapitals nach Verwertungsmöglichkeiten führt zu großen Investitionen in Regionen mit großen Bodenschätzen – und dort zu ökologischer und sozialer Zerstörung. Selbst wenn wir annehmen sollten, dass das Schlimmste der gegenwärtigen Finanzkrise in kurzer Zeit überwunden wäre (was nicht der Fall sein wird), müssen wir uns also eine andere Welt vorstellen, denn nur wer »sich andere Welten vorstellt, [verändert] am Ende auch diese«.9
Insbesondere seit Beginn der Wirtschafts- und Finanzkrise vor zehn Jahren hat sich in Europa die Diskussion um Alternativen zum neoliberalen Kapitalismus intensiviert. In Lateinamerika schien diese Diskussion, zumindest in den Ländern mit progressiven Regierungen, nach der neoliberalen Krise der 1990er-Jahre überwunden zu sein; zurzeit verstärkt sie sich aber wieder angesichts der »Ermüdung« des progressiven Zyklus und der erneuten konservativen Welle, die teilweise von den progressiven Regierungen selbst angetrieben wurde. Krisen, das muss festgehalten werden, treten nicht überall gleichzeitig ein, sondern breiten sich mit verschiedenen Geschwindigkeiten aus. Stärker als früher nehmen sie heutzutage ihren Ausgang in den Metropolen des Kapitalismus und breiten sich von dort in die Peripherien aus.
Diese Situation allein ist Grund genug, nach grundlegenden Alternativen zu suchen, die nicht nur die neoliberale Phase des Kapitalismus hinterfragen, sondern auch den Kapitalismus insgesamt kritisieren.
Innerhalb der vielfältigen emanzipatorischen Transformationsdebatten der letzten zehn Jahre haben sich zwei Diskussionsstränge als besonders vielversprechend herauskristallisiert:
die Diskussion um Degrowth (englisch: degrowth, französisch: décroissance, italienisch: decrecita) – auch Postwachstum genannt –, die in verschiedenen Industrieländern, aber vor allem in Europa geführt wird
und die Debatte um den Post-Extraktivismus, die in Lateinamerika und in anderen Regionen der unpassenderweise so genannten »unterentwickelten Welt« geführt wird. Der Begriff entstammt den Debatten über die Postentwicklung und ist eng verbunden mit jenen um »Buen Vivir« (»Gutes Leben«).
Beide Ansätze sind auch insofern interessant, als sie an unsere momentane Gesellschaft, die dort gemachten positiven wie negativen Erfahrungen der Menschen, anschließen. Denn jede emanzipatorische Transformation muss, will sie erfolgreich sein, von bestehenden Situationen und Erfahrungen ausgehen, um diese Schritt für Schritt zu transformieren, ohne dabei die andere Welt, die entstehen soll, aus den Augen zu verlieren. Insofern erscheint es angemessen, Degrowth ganz ausdrücklich auch als Postwachstum zu verstehen, weil sich politische Vorschläge für Veränderungen mit den für viele Menschen ja durchaus positiven Erfahrungen des Nachkriegskapitalismus (Fordismus) auseinandersetzen müssen. Zu den positiven Erfahrungen zählen Massenproduktion und -verbrauch, hohe Beschäftigung über Erwerbsarbeit, wachsende Einkommen und für viele gesicherte Arbeitsverhältnisse, Konsum, Planbarkeit, Anstieg des Wohlstands und ein mehr oder weniger funktionierender Sozialstaat. Diese Erfahrungen haben die kollektive Vorstellungswelt für eine solide Basis des Status quo geprägt, und sie hat eine starke kulturelle Reichweite. Deshalb muss die Suche nach Alternativen sich aktiv mit den vom Fordismus geschaffenen Strukturen auseinandersetzen, ihnen die Stirn bieten und eine andere attraktive Produktions- und Lebensweise schaffen.
Der Begriff des Post-Extraktivismus (und eben nicht Antiextraktivismus) verweist seinerseits darauf, dass es aktuell in Lateinamerika – in einer höchst ambivalenten Konstellation – durchaus positive Erfahrungen im Kampf gegen Hunger und Armut in allen Ländern der Region gibt, unabhängig davon, ob sie eine neoliberale oder progressive Regierung haben. In Ländern mit einer progressiven Regierung gelang dies zwar auch durch eine Zurückdrängung des Neoliberalismus und eine Stärkung des Staates. Aber bei beiden Regierungsformen erklären sich die Verteilungsspielräume im sozialen Bereich weitgehend durch die hohe Nachfrage und Preise nach Rohstoffen, die durch den Export große Einnahmen erwirtschafteten; ein Phänomen, das nach Maristella Svampa10 auch als »Rohstoffkonsens« bekannt ist. Wenn der Fordismus dazu beigetragen hat, die kulturellen Grundlagen dessen zu vermitteln, was als eine imperiale Lebensweise definiert werden könnte, dann hat sich der Extraktivismus mit seinen jahrhundertealten Wurzeln in Lateinamerika so eingenistet, dass man, bildlich gesprochen, sagen könnte, in seinen Gesellschaften existiere, beginnend mit den Eliten, eine Art extraktivistisches Erbgut.
Allerdings erscheinen die gesellschaftlichen Fortschritte während des Rohstoffbooms, da sie die Strukturen des Neo-Extraktivismus kolonialen Ursprungs und den Kapitalismus an sich nicht infrage stellen, unzureichend und sind nicht nachhaltig.11 Was in Ländern mit progressiven Regierungen geschah, wie in Venezuela, Ecuador, Argentinien, Brasilien und Bolivien, bestätigt diese These. In diesen Ländern haben die progressiven Regime den Extraktivismus nicht nur bestätigt, sondern vertieft.12 Und als hätte dies nicht gereicht, kehrte man sogar wieder zum (offenen oder versteckten) Neoliberalismus zurück, indem – wie bereits weiter oben erwähnt – die wiedergewonnene Stärke des Staates ausgenutzt wurde.13
Bisher werden Degrowth und Post-Extraktivismus sowie die damit verbundenen Erfahrungen und Strategien kaum aufeinander bezogen. Das ist erstaunlich, da die beiden Diskurse eng miteinander verwoben sind, denn das, was sie problematisieren – die imperiale Produktions- und Lebensweise im globalen Norden und zunehmend im globalen Süden sowie den Extraktivismus, der vor Hunderten von Jahren im globalen Süden einsetzte und von der Nachfrage im Norden abhängt –, entstammen derselben Logik. Nicht mehr nur die dominante Elite im Süden, sondern ein wachsender Teil der Mittelschichten strebt nach und lebt die imperiale Lebensweise, was in einer verarmten Welt zu sehr schwierigen und komplexen gesellschaftlichen sozialstrukturellen Implikationen führt. Das Festhalten an dieser Produktions- und Lebensweise ist daher ein zentrales Hindernis für beide Alternativen.
Bisher werden Degrowth und Post-Extraktivismus kaum aufeinander bezogen.
Mit diesem Buch möchten wir die Möglichkeiten eines gemeinsamen Dialogs aufzeigen, mit dem Ziel, die aktuelle Welt besser zu verstehen und Alternativen vorzuschlagen, die gemeinsame Elemente haben können. Ein solcher gemeinsamer Dialog hängt davon ab, wie die Fragen angegangen werden und wie die Brücken gebaut werden – damit echte gesellschaftliche Veränderungen erforscht, analysiert und diskutiert und damit internationale politische, sozioökonomische und kulturelle Zusammenhänge und Umstände verändert werden können.