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Rahaf Mohammed

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Beschreibung

Rettung per Twitter: Die dramatische Fluchtgeschichte einer jungen Frau aus Saudi-Arabien

Der Hashtag #SaveRahaf ging im Januar 2019 innerhalb von Stunden um die Welt. Die damals 18-jährige Rahaf Mohammed rief via Twitter um Hilfe, verschanzt in einem Hotelzimmer in Bangkok, auf der Flucht vor ihrem Leben in Saudi-Arabien und ihrer Familie, die sie körperlich wie seelisch misshandelt hat. Eine Abschiebung durch die thailändischen Behörden hätte ihren Tod bedeutet. Aber ihr verzweifelter Appell im Netz wird gehört und innerhalb kürzester Zeit geteilt. Die Vereinten Nationen nehmen sich ihrer an, und Rahaf bekommt in Kanada Asyl. In diesem Buch erzählt sie ihre dramatische Geschichte: von der Unterdrückung als Frau in Saudi-Arabien, der Bedrohung durch ihre Familie, ihrer riskanten Flucht, ihren Ängsten, ihren Träumen und Idealen und ihrem Neuanfang in Freiheit.

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Seitenzahl: 423

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Rettung per Twitter: Die dramatische Fluchtgeschichte einer jungen Frau aus Saudi-Arabien

Der Hashtag #SaveRahaf ging im Januar 2019 innerhalb von Stunden um die Welt. Die damals achtzehnjährige Rahaf Mohammed rief via Twitter um Hilfe, verschanzt in einem Hotelzimmer in Bangkok, auf der Flucht vor ihrem Leben in Saudi-Arabien und ihrer Familie, die sie körperlich wie seelisch misshandelt hat. Eine Abschiebung durch die thailändischen Behörden hätte ihren Tod bedeutet. Aber ihr verzweifelter Appell im Netz wird gehört und innerhalb kürzester Zeit geteilt. Die Vereinten Nationen nehmen sich ihrer an, und Rahaf bekommt in Kanada Asyl. In diesem Buch erzählt sie ihre dramatische Geschichte: von der Unterdrückung als Frau in Saudi-Arabien, der Bedrohung durch ihre Familie, ihrer riskanten Flucht, ihren Ängsten, ihren Träumen und Idealen und ihrem Neuanfang in Freiheit.

Rahaf Mohammed wurde 2000 als Tochter eines hochrangigen Politikers in Saudi-Arabien geboren und gemäß einer sehr strengen Auslegung des Islam erzogen. Mit achtzehn beschloss sie, dem Leben in Unterdrückung, das Frauen in ihrem Heimatland zugedacht ist, zu entkommen, und setzte sich während eines Familienausflugs nach Bangkok ab. Hier wurde sie von den thailändischen Behörden festgehalten, schaffte es aber, mithilfe ihres frisch eröffneten Twitter-Accounts die Öffentlichkeit auf sich aufmerksam zu machen und so Asyl in Kanada zu erhalten. Heute engagiert sie sich von dort aus als Aktivistin für die Rechte von Mädchen und Frauen in Saudi-Arabien.

Besuchen Sie uns auf www.cbertelsmann.de und Facebook.

Rahaf Mohammed

mit Sally Armstrong

Rebellin

Meine Flucht aus Saudi-Arabien oder Wie ein Hashtag mein Leben rettete

Aus dem Englischen von Katharina Martl

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Rebel. My Escape from Saudi Arabia to Freedom bei HarperCollins Canada.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2022 by Rahaf Mohammed Enterprises Inc.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022

C. Bertelsmann in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieses Buch wurde vermittelt durch Westwood Creative Artists Ltd.

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München,

nach einem Entwurf von HarperCollins Publishers Ltd.

Umschlagfoto: Mamasta Camara © Sanne Outhuis

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-27420-7V001

www.cbertelsmann.de

Für all die Frauen, die um ihre Freiheit kämpfen

Inhalt

KAPITEL 1 Auf der Flucht

KAPITEL 2 Eine Mädchenkindheit

KAPITEL 3 Gottesfurcht

KAPITEL 4 Bittere Wahrheit

KAPITEL 5 Geheime Codes

KAPITEL 6 Die Rettung

KAPITEL 7 Danach

Ein Brief an meine Schwestern, die ihrem Leben entfliehen müssen

Quellen

KAPITEL 1 Auf der Flucht

31. Dezember 2018

Zwischen mir und der Freiheit lag nur eine Autofahrt. Über ein Jahr lang hatte ich auf eine Gelegenheit gewartet, auf den richtigen Moment zur Flucht. Ich war achtzehn Jahre alt und hatte schreckliche Angst, dass mein sorgfältig durchdachter Plan fehlschlagen könnte. Doch mein Herz rebellierte gegen die ständige Angst, die grausamen Regeln und uralten Bräuche, die in Saudi-Arabien junge Frauen wie mich unterdrücken und manchmal sogar töten. Bei dem Gedanken an ein Leben abseits von all dem frohlockte es.

Ich hatte mein Handy, aber meinen Pass bewahrte mein ältester Bruder auf. Alles hing daran, an diesen Pass zu kommen und ihn zu verstecken, bis sich eine Möglichkeit zur Flucht bot. Ich gab mir alle Mühe, gelassen zu wirken, mimte die pflichtbewusste Tochter, die für die Ferien packt, und versuchte, die immer wieder aufwallende Panik in den Griff zu bekommen. Von meinem Zimmer aus beobachtete ich, wie die ganze Familie Reisevorbereitungen traf und sich vor der Abfahrt nach Kuwait zum Mittagessen versammelte.

Wir würden gleich zu einer zehnstündigen Fahrt von unserem Zuhause in Hail nach Kuwait City aufbrechen, um dort eine Woche lang Urlaub bei Verwandten zu machen. Es war die Gelegenheit, meinen Plan in die Tat umzusetzen. Während ich meine Brüder beobachtete, wie sie das Gepäck zum Auto trugen, spürte ich eine Mischung aus Traurigkeit und freudiger Erwartung. Einerseits hatte ich das Bedürfnis, sie zu umarmen – was verboten ist, weil es als sexueller Akt eingestuft wird –, andererseits hoffte ich, dass mir bei meinem Aufbruch nichts in die Quere kommen würde.

Die Wände um mich herum waren kahl. Nichts verriet, dass in diesem Zimmer eine junge Frau wohnte. Nach den unerbittlichen gesellschaftlichen Regeln, denen ich unterworfen war, waren Lebenszeichen an der Wand nicht halal, also erlaubt. Das Gegenteil von halal ist haram – verboten. Ich weiß noch, wie man mir meinen Teddy wegnahm, den ich als Kind in meinem Bett gehabt hatte, weil er gemäß einer strengen Auslegung des islamischen Bilderverbots haram war. Die Bilder von Menschen und Tieren, die ich gezeichnet hatte, wurden konfisziert, weil alles, was eine Seele hat, als Konkurrenz zum Propheten gesehen wird und solche Darstellungen deshalb als haram gelten. Überall lagen Lehrbücher und Notizblöcke herum und erinnerten mich daran, dass ich mein erstes Semester an der Universität von Hail absolviert hatte und nicht dorthin zurückkehren würde. Ich saß auf meinem Bett und dachte über mein Leben als saudisches Mädchen nach, das zwar seine Familie liebte, aber deren Mantra »Mädchen dürfen nichts« nicht akzeptieren konnte – mein Leben als rebellische Tochter und Schwester, die durch die toxische Mischung kultureller Widersprüche zur Flucht getrieben wird.

In der Schule hatte man mir beigebracht, Saudi-Arabien werde von der ganzen Welt beneidet. Es habe das meiste Öl und sei das reichste und beste Land von allen. Ein Land, das von seinen Bürgern verlangt, mindestens einmal im Leben den Hadsch zu machen, die Pilgerfahrt nach Mekka, die sie an den Sinn des Lebens erinnern soll. Schon als kleines Mädchen habe ich mich gefragt, warum Öl, Urlaubsorte und heilige Wanderungen dieses Land zu einem Ort machen sollten, an dem alle leben wollen. Und es hat mich immer irritiert, dass jemandem, der den Hadsch macht, alles vergeben wird, was er in seinem ganzen Leben getan hat, selbst wenn er seine Frau geschlagen oder jemanden ermordet hat.

In meinen Kinderaugen machten andere Facetten die Schönheit Saudi-Arabiens aus: die Berge in der Nähe unseres Hauses, die dazu einluden zu picknicken und nach Herzenslust zu wandern. Und die riesigen, sich ständig verändernden Wüsten, die immer wieder meine Fantasie anregten, wenn ihre wogenden Dünen beim Auf- und Untergang der Sonne zwischen kühlem Beige und glühendem Rot changierten. Wenn meine Familie nachts in die Wüste fuhr, um der drückenden Sommerhitze zu entkommen, spielten wir in der Dunkelheit Verstecken, versuchten, im weichen Sand Halt zu finden, und jagten völlig unbeschwert Kaninchen, Wüstenspringmäuse und einander. Wir rannten um die Wette, und natürlich bekam der Sieger einen Preis. Wir sangen Lieder, sagten Gedichte auf und tanzten den traditionellen Ardah, der eigentlich Männern vorbehalten ist, den wir Mädchen aber trotzdem zum Spaß mit unseren Brüdern tanzten. Und wir hörten von unseren Eltern Geschichten, die sich von denen in der Schule unterschieden. Manche handelten von der Dynastie al-Raschid, die in dieser Region regierte, bevor die Saud sie töteten und die Herrschaft übernahmen. In anderen ging es um unsere Vorfahren und darum, wie es den nomadischen Beduinen mit nur wenig Nahrung und in aller Einfachheit gelang, in der Wüste zu überleben. Doch am allerliebsten mochten wir es, wenn unsere Eltern uns von der Zeit erzählten, als sie jung gewesen waren und sich verliebt hatten. Geschichten sind der Klebstoff, der eine Familie zusammenhält. Wir wurden nie müde, etwas über die Vergangenheit zu hören. Heute weiß ich, dass wir damals wertvolle Erinnerungen sammelten.

Dennoch war ich mir schon von Kindheit an der vielen Widersprüche meines Heimatlandes bewusst. Während die Landschaft vor allem von Beige und Weiß dominiert ist, nur durchbrochen von dem einen oder anderen grünen Tupfer einer Oase, von hoch aufragenden Felsen oder von Bäumen, stehen die sanft gedeckten Farben Saudi-Arabiens in einem scharfen Kontrast zum Anblick der in schwarzen Säcken steckenden Gestalten in den Straßen. Frauen und Mädchen über zwölf werden verhüllt, damit die Formen ihres Körpers nicht den Blick eines Mannes auf sich ziehen. In meiner Familie musste ich bereits mit neun Jahren eine Abaja tragen – ein weites, formloses schwarzes Gewand, das über die Schultern geworfen wird, um den Körper zu verhüllen –, bevor dann im zarten Alter von zwölf Jahren der Nikab hinzukam, eine Maske über dem Gesicht, die nur die Augen frei lässt. Schon als junges Mädchen begann ich mich zu fragen, ob das eine Art Strafe war. Wenn ein Mann sich nicht unter Kontrolle hat, warum muss sich dann eine Frau unter Gewändern verstecken, als wäre das ihre Schuld? Und wenn Frauen sich schon verhüllen müssen, warum tragen Männer, sofern sie nicht in Jeans und im westlichen Stil gekleidet sind, dann weiße Gewänder, die das Sonnenlicht reflektieren, während die Frauen schwarze tragen müssen, die das Sonnenlicht aufnehmen?

Die Tatsache, dass über die Hälfte der 33,4 Millionen Einwohner Saudi-Arabiens unter fünfundzwanzig Jahre alt sind, erschien mir als gutes Omen für Veränderung. Aber obwohl die Herrscher des Königreichs, die behaupten, im Namen Gottes zu handeln, einige Änderungen im strengen religiösen Regelwerk verkündet haben, und obwohl sie Toleranz und Mäßigung anmahnen, so kreuzigen, köpfen und foltern sie doch jeden, der nicht mit der Regierung übereinstimmt. Die Mutawwa, die islamische Religionspolizei, patrouilliert in den Straßen – und sogar in den Universitäten –, um »das Gebot des Rechten und das Verbot des Verwerflichen« durchzusetzen. Das bedeutet, dass die Geschäfte fünfmal täglich während des Gebets geschlossen werden, das Einhalten der Kleiderordnung für Frauen strengstens überwacht und die Geschlechtertrennung ebenso fanatisch kontrolliert wird wie das Alkoholverbot. Tatsächlich beten viele Leute nicht, Mädchen treffen heimlich ihre Freunde, und viele trinken Alkohol, ohne erwischt zu werden. 90 Prozent der Arbeitskräfte sind Ausländer – Saudis arbeiten nicht im Handwerk oder Dienstleistungsgewerbe –, und wenn man sich hinausschleicht und sich mit Freunden trifft, werden die indischen oder afghanischen Cafémitarbeiter, die oft nicht einmal die Landessprache sprechen, einen nicht verraten. Die meisten Saudis, die einen Job haben, arbeiten für die Regierung, was bedeutet, dass sie sich nachmittags ausruhen und meist erst gegen siebzehn Uhr, dann aber bis weit nach Mitternacht zum geselligen Beisammensein treffen.

Meine Familie und ich sind Sunniten vom Stamm der Schammar, der über die Region Hail herrschte, bevor die Saud-Dynastie die Macht übernahm. Die Stadt Hail ist die Hauptstadt dieser nordwestlichen Region. Die Gegend ist der konservativste Teil Saudi-Arabiens, und seine Bewohner sind bekannt für ihre Großzügigkeit, weshalb wir zum Kaffee oder zum Essen oft Gäste haben. Meine Familie gehört zur Elite: Wir leben in Salah Al-Din, dem wohlhabenden Teil von Hail, einem reinen Wohngebiet ohne Geschäfte, in einem Haus mit neun Schlafzimmern und zwei Küchen (eine im Erdgeschoss, in der gekocht wird, und eine im ersten Stock, in der Zwischenmahlzeiten zubereitet werden), zehn Badezimmern, sechs Wohnzimmern und einem kleinen Garten. Wir beschäftigen einen Koch, einen Chauffeur und eine Haushälterin, und meine Familie besitzt insgesamt sechs Autos. Der Wagen, der für unsere Reise nach Kuwait in der Einfahrt bereitsteht, ist ein schwarzer Mercedes. Meine Familie genießt Privilegien, zum Beispiel die Möglichkeit, in anderen arabischen Staaten wie Jordanien, Katar, Bahrain, den Vereinigten Arabischen Emiraten oder in der Türkei Urlaub zu machen.

Dennoch mangelt es an vielem, wonach meine Seele sich sehnt. Einige Beispiele: Unser Haus hat keinen Balkon – eine gute Frau würde niemals im Freien sitzen, wo alle Welt sie sehen kann. Unsere Fenster sind verschlossen, weil sonst ein Mann eine Frau im Haus sehen könnte. Eine Frau – und als solche gilt man als Mädchen über neun – darf nicht das Haus verlassen, um die Nachbarn zu besuchen oder auf den Markt zu gehen, auch nicht, um einfach Unterwäsche oder Make-up zu kaufen oder spazieren zu gehen, ohne dass ihr Ehemann, Bruder oder Sohn sie begleitet. Wir dürfen nicht ins Kino, schauen aber amerikanische Filme auf dem Computer. Die Konversion zu einer anderen Religion ist Muslimen verboten. Atheisten werden als Terroristen eingestuft, genau wie Feministinnen. Homosexualität steht unter Todesstrafe. Es ist die Norm, dass Cousins und Cousinen heiraten. Tatsächlich passiert das in Saudi-Arabien so oft, dass Humangenetiker inzwischen davor warnen, weil sie einen dramatischen Zuwachs an verschiedenen Erbkrankheiten beobachten. Es ist üblich, dass ein Mann mehrere Frauen heiratet, und ein Mann kann sich von seiner Frau scheiden lassen, indem er die Formel »Ich verstoße dich« dreimal wiederholt – eine als »dreifacher Talaq« bekannte Praxis.

All das kennzeichnet eine Stammesgesellschaft, die nach ihren eigenen Gesetzen lebt und sich von der übrigen Welt abschottet. Die Heuchelei ist so groß in diesem Land, dass zwar alles von der Religion bestimmt wird – Erziehung und Bildung, Rechtsprechung und Regierung –, man aber dennoch 95 Prozent der historischen Gebäude von Mekka, die meisten davon mehr als tausend Jahre alt, zerstört hat, weil man die fanatische Angst hegte, sie könnten die Aufmerksamkeit vom Propheten ablenken. Selbst die Gebäude, die man mit Mohammed und seiner Familie in Verbindung brachte, wurden zerstört. Und während die meisten Frauen mit schwarzen Leichensäcken verhüllt sind, tragen die Moderatorinnen der Nachrichtensender, die der königlichen Familie gehören, westliche Kleidung. Es ist alles Show. In Saudi-Arabien wird ein doppeltes Spiel gespielt.

In meinem Land dreht sich alles um die Männer. Sie haben die Macht, treffen die Entscheidungen, sind die Hüter von Kultur und Religion. Über Frauen hingegen setzt man sich hinweg. Sie werden unterdrückt und dienen als Objekt einer verzerrten männlichen Reinheitsobsession. Es ist ein kompliziertes und verschachteltes Kartenhaus, das einzustürzen droht, sobald jemand die Wahrheit ausspricht.

Mein Vater Mohammed Mutlaq al-Qunun gehört als Gouverneur von Al Sulaimi, einer Stadt 180 Kilometer südlich von Hail, zu den Mächtigen in Saudi-Arabien und pflegt berufliche Kontakte zum Königshaus. Er wohnt nicht bei uns. Als ich vierzehn war, hat er eine zweite Frau geheiratet und eine dritte, als ich siebzehn war. Für meine Mutter, meine sechs Geschwister und mich veränderte das alles. Mein Vater hörte auf, mit uns gemeinsam in den Urlaub zu fahren, und meine Mutter Lulu traf die Verletzung und die Zurückweisung so hart, dass sich ihre ganze Persönlichkeit völlig veränderte. Sie meinte, dass mein Vater jüngere Frauen geheiratet hatte, weil sie älter geworden war. Und sie hatte recht.

Deshalb fuhren diesmal nur meine Mutter, meine Geschwister und ich in die Ferien. Ich bin das fünfte von sieben Kindern. Meine älteste Schwester Lamia ist verheiratet, und die zweitälteste, Reem, konnte uns diesmal nicht begleiten. Wir waren also zu sechst im Auto. Mein ältester Bruder Mutlaq saß am Steuer, neben ihm der zweitälteste, Majed. Unsere Mutter und ich quetschten uns mit meinem jüngeren Bruder Fahad und meiner kleinen Schwester Joud auf den Rücksitz. Ich musste in der Mitte sitzen, denn obwohl ich meine Abaja und den Nikab trug, sollte mich niemand durch das Autofenster sehen. Auf meinem Platz hatte ich jedoch auch die perfekte Position, um zu beobachten, wo Mutlaq die Pässe versteckte, und mir meinen in einem unbeobachteten Moment zu schnappen.

Als wir vor dem Haus ins Auto stiegen, tauchte mein Vater auf, um sich zu verabschieden und uns allen Geld für den Urlaub zu geben. Ich saß schon im Auto, als er kam. Mein Vater hat ein warmes, sympathisches Lächeln, mit dem er Menschen schnell für sich einnimmt. Es war gut, dass mein Gesicht unter dem Nikab versteckt war, denn obwohl ich sein Lächeln erwiderte, hätte er mir meine Traurigkeit angesehen, als ich ihn zum letzten Mal anblickte. Meine Gefühle ihm gegenüber sind ambivalent. Er hat mich sehr schlecht behandelt und meiner Schwester und Mutter schreckliche Dinge angetan, aber irgendwie liebe ich ihn trotzdem. Ich glaube, dass das, was er, meine Mutter und besonders meine Brüder von mir erwarteten, mich von ihnen wegtrieb. Sie verlangten mir Opfer ab, die ich einfach nicht bringen konnte. Als ich mir die Haare abschnitt, sperrten sie mich in ein Zimmer, bis ihnen eine Ausrede für meinen geschorenen Kopf einfiel. Schließlich zwangen sie mich, mein Haar unter einem Turban zu verstecken, und erzählten allen, es sei ein Unfall gewesen. Ich hätte mir das Haar verbrannt, weshalb wir es hätten schneiden müssen. Ohne den Nikab vor dem Gesicht hinauszugehen, war ein Verstoß, der streng bestraft werden musste, also verpassten sie mir Faustschläge, Tritte und Ohrfeigen. Ich wusste, wenn sie herausgefunden hätten, dass ich sexuelle Erfahrungen mit einem Mann gemacht hatte, hätten sie mich im Namen der Ehre getötet oder mich zumindest gezwungen, einen Mann zu heiraten, den ich nicht kannte. Ich musste gehen, weil ich sonst nicht mein Leben hätte leben können und für irgendeinen Fehler möglicherweise mit dem Leben bezahlt hätte. Ich betrachtete diese Reise als den ersten Tag meines neuen Lebens, auf das ich wartete, seit ich darum gebettelt hatte, zum Studieren in eine andere Stadt gehen zu dürfen, und mir das verwehrt worden war. Der Urlaub war meine Chance, nicht das gleiche fremdbestimmte Leben wie meine Mutter und meine älteren Schwestern führen zu müssen.

Als das Auto sich von dem einzigen Ort entfernte, den ich je Zuhause genannt hatte, drehte ich mich nicht um. Doch als wir die Siedlung in Richtung der Fernstraße verließen, fiel mein Blick unweigerlich auf die Berge Aja und Salma in der Ferne – Symbole des Glücks und des Schmerzes, die mich noch immer beschäftigen. Hail liegt umgeben von Bergen, doch diese beiden, im Norden der Stadt, sind die höchsten und markantesten in der Gegend. Um sie dreht sich auch eine Geschichte, die hier jeder kennt: Aja vom Stamm der Amalekiter verliebte sich in Salma, die einem anderen Stamm angehörte. Sie gestanden einander ihre Gefühle, aber ihre Eltern erlaubten ihnen nicht zu heiraten. Also liefen sie davon, doch ihre Verbindung stand unter einem schlechten Stern: Ihre Familien spürten sie auf und töteten sie. Aja wurde auf dem einen Berg hingerichtet, Salma auf dem anderen. Schon als Kind war mir klar, dass diese Liebesgeschichte auch eine Warnung war.

Nur kurz dachte ich über die längst vergangenen Geschehnisse in diesen Bergen nach. Denn ich konzentrierte mich schon bald nur noch darauf, wie ich an meinen Pass kommen sollte. Ich hatte meinen Bruder Mutlaq beim Einsteigen beobachtet. Ich wusste, dass er die Pässe hatte – als ältester Mann auf unserer Reise lag es in seiner Verantwortung, die wichtigen Dokumente zu verwahren. Er trug unsere Pässe oft in der Tasche, wenn wir unterwegs waren, weil er Angst hatte, sie könnten gestohlen werden, doch diesmal waren alle entspannt, weil wir gemeinsam im Auto saßen und auf dem Weg zu Verwandten waren. Von dem Moment an, als er sich hinters Steuer setzte, ließ ich ihn nicht mehr aus den Augen und sah schließlich, wie er die Pässe im Handschuhfach verstaute. Abgesehen von meinem Pass machte ich mir auch Sorgen, ich könnte mein Handy verlieren, etwa weil jemand es sich auslieh, um zu telefonieren, und es dann behielt. Jeder einzelne Schritt meines Plans war versteckt auf meinem Handy gespeichert: wie ich einen Flug buchen konnte; nützliche Links; wie ich von Kuwait nach Thailand kommen würde; wo ich in Thailand unterkommen und von dort einen Flug nach Australien buchen könnte, wo ich Asyl beantragen wollte. Auch die Liste meiner auf der ganzen Welt verstreuten Freundinnen, die von zu Hause geflohen waren, befand sich auf meinem Handy. Sie lebten in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Kanada, Schweden und Australien, und ich kommunizierte seit über einem Jahr mit ihnen. Sie hatten mir viele wertvolle Ratschläge gegeben und auf mögliche Fallstricke hingewiesen. Zum Beispiel, dass junge Frauen aus Saudi-Arabien bei der Ankunft in Australien von Behördenmitarbeitern aufgefordert wurden, ihren Vater anzurufen, weil Migranten dort nicht erwünscht sind. Eine meiner Freundinnen hatte mich davor gewarnt, also vereinbarte ich mit einem Freund in Großbritannien, dass ich seinen Namen und seine Nummer bei mir tragen würde, falls ich so einen Anruf machen müsste. Ich hatte alle möglichen Tipps für alle möglichen potenziellen Probleme in meinem Handy gespeichert. Ich hatte auch Geld, um die zehntausend Saudi-Rial (ungefähr 2700 Dollar), heimlich auf dem Konto einer Freundin hinterlegt. Ich hatte ungefähr sieben Monate gespart und besaß den Zugang zu dem Konto. Mein Plan bestand darin, mit meiner Familie nach Kuwait zu fahren, zu fliehen, sobald ich an meinen Pass kam, zum Flughafen zu fahren, ein Ticket nach Thailand zu kaufen und von dort weiter nach Australien zu fliegen. Dort hatte ich Freunde, die mich abholen konnten.

Als wir die Grenze nach Kuwait überquerten, war es Mitternacht. Bei unserer Ankunft im Hotel war die Temperatur auf sieben oder acht Grad gefallen. Ich zitterte, und mir war klar, dass es mehr an der Angst als an der kalten Nachtluft lag. Um zwei Uhr nachts checkten wir in unsere Suite ein. Meinen Pass hatte ich noch immer nicht, es hatte sich keine Gelegenheit ergeben. Ich inspizierte die Suite – zwei Schlafzimmer (eines für meine Brüder, das andere für meine Mutter, meine Schwester und mich), ein Badezimmer und ein angrenzendes Wohnzimmer. Ich wusste, dass ich von hier aus aufbrechen musste, und mit meiner Mutter im selben Raum würde das schwierig werden, denn sie hatte einen leichten Schlaf und würde aufwachen, wenn ich nachts herumwanderte. Also bat ich sie, im Wohnzimmer zu schlafen. Meine Ausrede bestand darin, dass das Schlafzimmer klein war und es nur ein großes Bett für uns drei geben würde, und sie war einverstanden.

Der Urlaub war nervenaufreibend. Ich musste so tun, als sei ich bei der Sache, wenn wir einkauften, aßen oder Leute besuchten, während ich in Wirklichkeit nur auf die beste Gelegenheit zur Flucht wartete. Wir verbrachten mehrere Tage mit Shopping in einem Einkaufszentrum, wo ich mir heimlich einen kurzen Rock kaufte, den ich in meine Tasche stopfte. Zu Hause war es verboten, Kleidung zu tragen, die meine Beine zeigte, doch ich hatte vor, ihn bald in Australien anzuziehen. Ihn in der Tasche zu haben, spornte mich an, meinen Plan weiter zu verfolgen. Wir gingen auch an den Strand, was für mich eine völlig neue Erfahrung war, eine Erfahrung, die meine Einstellung zu den Opfern, die man als Frau in Saudi-Arabien zu bringen hat, nur noch bekräftigte. Meine Mutter sagte mir, die Frauen am Strand, die im Badeanzug ins Wasser gingen, seien Schlampen – schlechte Mädchen. Ich wusste, dass sie nicht schlecht waren. Wie konnte es sein, dass die Jungen – meine Brüder – im Wasser herumtollen, schwimmen, einander nass spritzen, sich abkühlen und Spaß haben durften, während dasselbe für mich eine Sünde war? Ich saß von Kopf bis Fuß in meine Abaja gehüllt am Strand fest, schwitzte und schwor mir, mir einen Bikini zu kaufen und so viel zu schwimmen, wie ich wollte, sobald ich in Australien wäre. Dabei kann ich überhaupt nicht schwimmen – dort, wo ich herkomme, lernen Mädchen so etwas nicht.

Der Tag am Strand war ein Augen öffnendes Erlebnis. Ich hatte noch nie das Meer gesehen, die Gezeiten mit ihren heranrollenden Wogen und Strömungen. Ich war wie hypnotisiert von dem Anblick – die einlaufende Flut, das tiefere Blau weiter draußen auf dem Meer, die weißen Schaumkronen der ans Ufer brandenden Wellen. Den ganzen Tag über strömte das Wasser an den Strand und wieder zurück aufs offene Meer. Die Bewegung hatte in ihrer Beständigkeit beinahe etwas Spirituelles an sich, wie ein Ritual am Rand des Ozeans. Es war für mich eine extrem widersprüchliche Erfahrung, von diesem herrlichen Naturschauspiel durch meine falsche Verhüllung abgetrennt zu sein.

Uns blieb nur noch ein letzter Urlaubstag, als sich mir endlich die Gelegenheit bot, an meinen Pass zu kommen. Es war am 4. Januar um zwei Uhr nachmittags. Meine Mutter, meine kleine Schwester und ich saßen auf der Rückbank des Autos, während mein Bruder einen Tisch im Restaurant für uns reservierte. Die anderen beiden Jungen begleiteten ihn. Das war meine Gelegenheit. Der Beifahrersitz war leer. Ich streckte meine Hand nach dem Handschuhfach aus, und sofort fragte meine Mutter: »Was brauchst du denn?« Sie sah nicht, was ich machte, weil die Nackenstütze ihr die Sicht versperrte. In diesem Moment war ich dankbar für die strenge Regel, die mich zwang, in der Mitte zu sitzen, und antwortete meiner Mutter mit ruhiger Stimme: »Ich will mein Handy laden.« Ich öffnete das Handschuhfach, nahm mit der rechten Hand meinen Pass und schob ihn in den linken Ärmel meiner Abaja. Dann zog ich meine rechte Hand ganz langsam zurück und winkelte meinen linken Arm so an, dass der Pass nicht herausfiel. Als ich sicher war, dass der Pass nicht mehr zu sehen war, zog ich meinen linken Arm im Ärmel zurück, bis ich nach dem Pass greifen und ihn in der kleinen Tasche verstauen konnte, die ich unter der Abaja trug. Weil die Abaja so weit war, konnte niemand sehen, was ich tat: Meine verhasste Verhüllung wurde zur Tarnung. Doch meine Tat – etwas zu stehlen, was meinem Bruder anvertraut war – hatte eine starke Wirkung auf mich. Mein Herz klopfte heftig, gleichzeitig fühlte ich mich wie gelähmt, konnte für einen Moment keinen Teil meines Körpers mehr bewegen. Ich konnte kaum glauben, was mir soeben gelungen war. Irgendwann lehnte ich mich wieder im Sitz zurück und schrieb meiner Freundin eine Nachricht, teilte ihr mit, dass ich meinen Pass hatte. »Ich hab’s geschafft, ich hab’s geschafft«, schrieb ich immer wieder. Doch mein Triumphgefühl wich fast sofort der schrecklichen Angst, jemand aus meiner Familie könnte das Handschuhfach öffnen und merken, dass einer der Pässe fehlte.

Als wir schließlich ins Restaurant gingen, muss ich völlig teilnahmslos gewirkt haben, wie eine Leiche, nicht in der Lage, mit den anderen zu sprechen oder zu lachen. Das Warten war die Hölle. Weil wir einen privaten Speisesaal für uns hatten, konnten wir unsere Abajas und Nikabs ablegen. Meine Familie sah nun also mein Gesicht, und ich gab mir größte Mühe, entspannt zu wirken. Wir bestellten Kabsa, ein Gericht mit Gewürzhuhn und Basmatireis, das die ganze Familie gerne aß, und Tee, und ich entspannte mich ein wenig. Doch während wir aßen, bekam ich plötzlich Nasenbluten. Ich wusste, dass es am Stress lag, aber das konnte ich natürlich nicht sagen. Als sie mich fragten, ob alles in Ordnung war, sagte ich: »Ich weiß nicht, ich glaube, ich bin einfach müde«, und hoffte aus tiefstem Herzen, niemand würde aufgrund des Zwischenfalls Verdacht schöpfen. Ich blutete stark, und zu allem Überfluss schwitzte ich vor Nervosität. Ich wischte mir die Nase ab, sagte, ich würde auf die Toilette gehen, um mich sauber zu machen, und hoffte, mir etwas Zeit zu verschaffen und mich beruhigen zu können. Doch auf der Toilette wurde das Nasenbluten noch schlimmer, und ich musste mich übergeben. Als ich das Gefühl hatte, dass das Nasenbluten und meine Nerven sich etwas beruhigt hatten, ging ich zurück und versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Ich sagte, mir sei nur etwas schwindelig, und zwang mich, mich wieder am Gespräch zu beteiligen. Als wir das Restaurant verlassen hatten und ins Auto stiegen, gab ich mir Mühe, das Gespräch am Laufen zu halten, damit die anderen beschäftigt waren und nicht auf die Idee kamen, ins Handschuhfach zu schauen. Ich unterhielt mich mit meinem Bruder, um ihn abzulenken, bis wir zum Hotel zurückkamen, wo wir duschten und uns für ein Abendessen bei der Schwester meines Vaters fertig machten.

Auf der Fahrt zu meiner Tante riet ich allen, heute die Finger von Koffein zu lassen, und schlug vor, wir sollten nicht zu lange bleiben, schließlich hätten wir am nächsten Morgen eine lange Heimfahrt vor uns. Es war unser letzter Abend hier, und ich wollte verhindern, dass irgendjemand wach lag. Sie sollten früh ins Bett gehen und tief schlafen, damit ich fliehen konnte.

Bei dem Abendessen waren viele Leute, Cousins und Cousinen und Freunde meiner Tante. Ich sah mich um und beschloss, dass jetzt – da über zwanzig Leute im Haus waren, sich unterhielten und meine Mutter und meine Brüder davon ausgehen würden, ich amüsierte mich mit den Mädchen im anderen Raum – meine Chance gekommen war zu gehen. Ich googelte die Nummer eines Taxiunternehmens und bestellte mir per Textnachricht ein Taxi, das mich in zwei Stunden zum Flughafen bringen sollte. Der Fahrer schrieb zurück, das sei nicht möglich. Ich befand mich in einer abgelegenen Gegend, in der keine Taxis fuhren. Ich war enttäuscht, machte mir aber keine größeren Sorgen. Unser Hotel in Kuwait City lag zwar nicht im Zentrum, aber doch noch innerhalb der Stadtgrenzen. Ich ging davon aus, dass Kuwait eine große, belebte Stadt war, ein Ort, an dem eine junge Frau leicht verschwinden konnte, also schrieb ich dem Taxifahrer noch einmal, er solle mich stattdessen um sieben Uhr morgens im Hotel abholen. Jetzt war es elf. Obwohl wir normalerweise auf Festen immer länger blieben, versuchte ich meine Familie zu überreden, zurück ins Hotel zu fahren und ins Bett zu gehen. Schließlich verabschiedeten wir uns.

Ich hatte erwartet, alle würden sofort schlafen gehen, sobald wir wieder im Hotel waren, doch meine Mutter und meine Brüder blieben im Wohnzimmer sitzen und unterhielten sich. Ich traute mich nicht, mich dazuzusetzen, und hoffte inständig, sie würden endlich schlafen gehen. Ich rief meine kleine Schwester und spielte und unterhielt mich mit ihr, doch sie schlief bald ein. Die Tür war offen, und ich konnte ins Wohnzimmer blicken. Sie redeten noch drei Stunden. Ich war außer mir vor Sorge. Das war meine letzte Chance. Dann zogen sie sich endlich zurück, ein Bruder nach dem anderen ging ins Bett, und meine Mutter machte das Licht aus. Meine Schwester und ich waren allein im Schlafzimmer. Sie schlief tief und fest, und das tat meine Mutter auch bald. Um vier Uhr morgens buchte ich auf der Homepage von Kuwait Airways ein Ticket von Kuwait nach Thailand. Ich wusste, sobald meine Familie bemerkte, dass ich weggelaufen war, würden meine Eltern meine Spur verfolgen und mein Konto überprüfen. Es gibt dafür eine App, mit der Männer in Saudi-Arabien ihre Frauen überwachen. Diese App, die das saudische Innenministerium entwickelt hat und die im Google Play Store oder im Apple App Store verfügbar ist, benachrichtigt den Mann, sobald eine Frau ihr Handy, ihren Pass oder ihre Kreditkarten benutzt. Ich wusste, dass ich meine SIM-Karte loswerden und in Bangkok die Fluggesellschaft wechseln musste, damit sie mich nicht fanden. Ich buchte drei Tage in einem Hotel in Bangkok.

Der Flug von Kuwait ging um neun. Das Taxi sollte um sieben kommen. Ich packte den Koffer meiner Schwester, weil er kleiner und leichter zu tragen war, und stopfte meinen Kulturbeutel, den kurzen Rock, Wimperntusche und Unterwäsche hinein. In meinem Rucksack hatte ich Wechselklamotten, meine Papiere – Studentenausweis, Pass und Kontounterlagen – und etwas Bargeld. Es war still im Zimmer, das Licht war schummerig. Draußen war es noch dunkel. Als ich fertig gepackt hatte, betrachtete ich meine schlafende Schwester. Ich wollte sie umarmen und mich von ihr verabschieden, doch das hätte sie nur geweckt. Stattdessen blickte ich auf dieses liebe kleine Mädchen hinab und prägte mir, bevor ich ging, jedes Detail ihres Gesichts ein – ihre langen Wimpern, das kleine bläuliche Mal auf ihrer Nase, ihre weiche Haut, ihre Lippen und Hände. Ich lauschte ihrem sanften Schnarchen und versuchte, in meinem Kopf ein Bild davon abzuspeichern, wie sie eingerollt dalag wie ein Baby, die kleinen Hände unter der Wange.

Joud war erst zwölf. Sie war noch so klein, so unschuldig. Ich fürchtete mich davor, was sie ihr antun würden – die gleichen schrecklichen Dinge, die sie auch mir angetan hatten. Ich wollte ihr süßes Gesicht in Erinnerung behalten, weil ich wusste, dass ich es lange nicht mehr sehen würde. Als ich sie so betrachtete, fragte ich mich, ob sie mich dafür hassen würde, dass ich ging – ob es sie verletzen würde, dass ich sie verlassen hatte. Ich fing an zu weinen und zögerte: Sollte ich gehen und ein neues Leben beginnen, oder sollte ich bei meiner kleinen Schwester bleiben? Diese endgültige Entscheidung fiel mir schrecklich schwer. Doch ich wusste, dass ich fortmusste, dass ich das Risiko eingehen musste, um herauszufinden, was die Zukunft für mich bereithielt. Ich packte fertig, schloss schnell den Koffer und ließ meine restlichen Habseligkeiten zurück. Es war Zeit zu gehen. Ich nahm die SIM-Karte aus meinem Handy und spülte sie in der Toilette hinunter. Dann schulterte ich meinen Rucksack, trug den Koffer an die Brust gedrückt, damit er kein Geräusch am Boden machte, und schlich sehr vorsichtig und leise auf Zehenspitzen aus dem Schlafzimmer und an meiner auf dem Sofa schlafenden Mutter im Wohnzimmer vorbei. Ich zitterte vor Aufregung, doch ich sah und hörte an ihrem Schnarchen, dass sie schlief, und beruhigte mich ein wenig. Ich drückte die Türklinke so sachte wie möglich nach unten und öffnete die Tür zum Flur. Ihr leichtes Knarzen versetzte mich wieder in Alarmbereitschaft, und ich beschloss, sie angelehnt zu lassen, damit das Geräusch meine Mutter nicht weckte. Ich verließ barfuß das Zimmer und rannte, den Koffer und meine Schuhe in den Händen, zum Aufzug. Ich hörte Stimmen im Flur und machte mir Sorgen, sie könnten meine Mutter wecken.

Schließlich war ich im Aufzug, der Freiheit einen Schritt näher. Ich zog meine Schuhe an, und erst, als der Aufzug im Erdgeschoss hielt, fiel mir ein, dass ich keine Ahnung hatte, wo das Taxi warten würde. Und anrufen konnte ich es auch nicht, weil meine hoffentlich kaputte SIM-Karte in einem Abflussrohr steckte. Ich hätte sie bis zum Flughafen behalten sollen, denn nun saß ich ohne funktionierendes Handy fest und konnte das Taxi nicht erreichen, um sicherzugehen, dass es auch kam. Ich versuchte den Eindruck zu vermitteln, als wüsste ich genau, wo ich hinwollte, damit das Hotelpersonal mich in Ruhe ließ. Da lief eine junge Frau um 6.45 Uhr ohne ihre Abaja in der Gegend herum. Was würden sie denken? Würden sie mich aufhalten? Ich bewegte mich zielstrebig auf den Hinterausgang des Hotels zu, weil ich davon ausging, dass dort weniger Leute waren. Und dann öffnete ich mit dem Selbstbewusstsein eines Menschen, der jeden Tag den Hinterausgang nahm, die Tür und trat ins Freie.

Ich blieb wie angewurzelt stehen, als ich die leichte Brise an meinem nackten Hals spürte. Es fühlte sich an wie ein erster Vorgeschmack auf die Freiheit – eine Freiheit, die ich nicht mehr genossen hatte, seit ich neun Jahre alt wurde und das erste Mal gesagt bekam, ich müsse jetzt den Hidschab tragen. Mit zwölf verlor ich dann auch die Freiheit, frische Luft im Gesicht zu spüren, weil ich den Nikab anlegen musste. Ich war völlig überwältigt und hätte am liebsten gelacht und geschrien. Den Wind im Gesicht zu spüren, war wunderbar – als würde die Welt mich plötzlich umarmen. Ich hatte das Gefühl, fliegen zu können, und dachte bei mir: Das ist erst der Anfang der Freiheit – das Beste kommt noch. Ich lief die Straße hinter dem Hotel entlang, um einen Bogen um den Haupteingang zu machen, der an einer belebten Einkaufsstraße lag. Ich ging weiter bis zur Hauptstraße, wo ich nach einem Coffeeshop mit Wi-Fi suchte, damit ich mich orientieren und das Taxi kontaktieren konnte, doch es war keiner in Sicht. Glücklicherweise traf ich zufällig einen jungen Mann und bat ihn, mit seinem Handy den Taxifahrer anrufen zu dürfen. Er borgte es mir, bot mir an, meinen Koffer zu tragen, und wartete mit mir. Er fragte, wo ich hinwolle. Ich sagte, nach Thailand. Dann fragte er: »Woher kommst du?« Ich antwortete: »Aus Saudi-Arabien.« Er wunderte sich, dass ich weder Abaja noch Nikab trug, und ich sagte: »Meine Eltern sind sehr liberal.«

Endlich kam das Taxi. Ich bat den Fahrer, mich zum Flughafen zu fahren, und loggte mich über den Hotspot seines Handys ins Internet ein. Ich schrieb meinen Freunden per Messenger. Ich rief sie sogar an. Ich hatte überhaupt keine Angst. Eine meiner Ausreißer-Freundinnen, die in Sydney lebt, erklärte mir, was ich nach Ankunft am Flughafen zu tun hätte. Selbst ein Videotelefonat führte ich auf der Taxifahrt und wiederholte immer wieder: »Ich hab’s geschafft, ich hab’s geschafft.« Außerdem machte ich ein Foto von mir im Taxi und schickte es meinen Freundinnen. Die Taxifahrer in Kuwait sind genau wie in Saudi-Arabien meist aus Indien oder Afghanistan und sprechen Urdu oder Dari. Ich wusste, dass der Fahrer kein Arabisch verstand, konnte mich also unbesorgt mit meinen Freundinnen unterhalten. Ich fühlte mich unbesiegbar.

Am Flughafen angekommen, ging ich zur Kundeninformation und erkundigte mich nach meinem Flug. Der Mitarbeiter sagte mir, ich sei im falschen Terminal, wir befänden uns im Inlandsterminal, und mein Flugzeug starte vom internationalen Terminal. Die Information brachte mich aus der Fassung, und mir wurde klar, dass ich nicht an alles gedacht hatte. Ich fragte nach seinem Vorgesetzten und erklärte ihm, ich wisse nicht, wie ich ins andere Terminal kommen sollte. Er sah, wie besorgt ich war, und behandelte mich sehr freundlich. Er sagte mir, es gebe einen kostenlosen Shuttlebus zum internationalen Terminal, erklärte mir, wo ich einsteigen sollte und dass ich noch genug Zeit hätte. Ich stieg in den Bus und versuchte, mich selbst davon zu überzeugen, dass es nur ein paar Minuten länger dauern und alles gut gehen würde.

Im richtigen Terminal angekommen, stellte ich mich am Check-in-Schalter an, doch als ich mit Pass und Koffer vor dem Mitarbeiter stand, schien er sehr lange zu brauchen, um mich einzuchecken – viel länger als bei den Leuten vor mir in der Schlange. Mein Herz begann wieder zu rasen. Ich hatte Angst und fragte, ob es ein Problem gebe. Er antwortete: »Sie können nicht fliegen.« Ich traute meinen Ohren nicht. Das Herz rutschte mir in die Hose. Sicher hatte er im System gesehen, dass längst nach mir gesucht wurde, und ich war erledigt. Er hatte mich bereits den Behörden gemeldet, die hatten meinen Vater verständigt, der würde kommen und mich abholen – und mein Leben wäre zu Ende. Ich versuchte, mich zusammenzureißen und selbstsicher zu klingen, als ich fragte: »Warum kann ich nicht fliegen?« Er sagte: »Sie können ohne Rückflugticket nicht nach Bangkok fliegen.« Ich versuchte, ihn zu überzeugen, darüber hinwegzusehen, ich würde von Bangkok direkt nach Sydney weiterreisen, doch er sagte, das sei nicht möglich. Ich müsse zu einem anderen Schalter und ein Rückflugticket nach Kuwait kaufen, saudische Staatsbürger ohne Visum müssten Thailand nach fünfzehn Tagen wieder verlassen. Ich ging schnell zu dem anderen Schalter und verlangte ein Rückflugticket. Der Mitarbeiter nannte mir den Preis und die Abflugzeiten. Vor lauter Nervosität brachte ich die verschiedenen Währungen durcheinander. Ich versuchte, Saudi-Rial in Kuwait-Dinar umzurechnen. Er schien Mitleid mit mir zu haben, und ihm war außerdem klar, dass meine Boardingzeit immer näher rückte. »In Ordnung«, sagte er. »Ich buche den Flug für Sie. Sie können in Bangkok bezahlen.« Er gab mir eine Kopie der Buchung, mit der ich das Visum bekommen würde. Das Ticket selbst solle ich in Bangkok abholen und bezahlen.

Als ich den Schalter verließ, hatte ich das Gefühl, dass ich bis jetzt riesiges Glück gehabt hatte. Alle waren nett zu mir gewesen und hatten mir geholfen. Niemand schöpfte Verdacht, dass ich eine Ausreißerin war – auf der Flucht meines Lebens. Meine größte Angst war gewesen, dass man mich aufhalten und fragen würde: »Wo ist dein Vormund? Wo willst du hin?« Ich wusste von saudischen Frauen, denen das an Flughäfen in Dubai, Ägypten und Jordanien passiert war. Doch mich hatte niemand aufgehalten. Der beste Teil waren die Lautsprecherdurchsagen, mit denen die Passagiere zum Boarding aufgerufen wurden. Da wusste ich, dass ich es geschafft hatte. Ich war entkommen, bevor sie bemerkt hatten, dass ich weg war. Selbst wenn sie am Flughafen gewesen wären, hätten sie mich jetzt nicht mehr einfangen können.

Im Flugzeug saß ich zwischen zwei Thailänderinnen, und obwohl der Flug sechs Stunden dauerte, bekam ich kein Auge zu. Ich beobachtete die Flugbegleiter, sah zu, wie das Land, das ich verließ, durch das Fenster kleiner und kleiner wurde. Ich war schon vierundzwanzig Stunden wach und hatte auch in den letzten Tagen des Familienurlaubs nicht gut geschlafen, aber jetzt war an Schlaf nicht zu denken. Dafür war ich viel zu aufgekratzt. Ich wollte diesen Moment der Freiheit voll auskosten. Ich wollte eingehend den Himmel und die Morgensonne betrachten, die anderen Leute an Bord mustern und die Landkarte auf dem Bildschirm vor mir, wo unsere Route angezeigt wurde, im Auge behalten. Das Flugzeug war voll, die Passagiere waren vor allem Thailänder und ein paar wenige Kuwaiter. Auf den mittleren Plätzen auf der anderen Seite des Gangs saßen drei junge Männer aus Kuwait, die mich fragten, was ich in Bangkok vorhatte. Selbstsicher antwortete ich: »Mich amüsieren.« Der eine gab mir seine Nummer und sagte: »Ruf uns an. Dann können wir uns treffen und uns gemeinsam amüsieren.«

Ich wusste, dass es in Bangkok heiß sein würde, also ging ich vor der Landung auf die Toilette und zog ein sommerliches Top zu meiner Jeans an. Es war das erste Mal, dass ich meine Arme entblößte, doch mein Dekolleté zeigte ich nicht. Ich hatte die Kleiderordnung so fest verinnerlicht, dass ich, obwohl ich geflohen war, immer wieder überprüfte, ob mein Oberteil hochgeschlossen genug und mein Dekolleté bedeckt war.

Als das Flugzeug in Bangkok landete, platzte ich fast vor Aufregung und konnte es kaum erwarten, von Bord zu gehen. Ich folgte den anderen Passagieren ins Flughafengebäude und war mir nicht sicher, was ich jetzt tun sollte. Ich wusste nur, dass ich ein Visum brauchte. Deshalb steuerte ich direkt den Visumsschalter an. Gerade dachte ich noch darüber nach, wie souverän ich alles meisterte, als ich einen Mann entdeckte, der ein Schild mit meinem Namen hochhielt. Mein Kopf sagte: Achtung, Achtung, aber er schien sehr freundlich und erklärte: »Ich bin hier, um Ihnen ein Visum auszustellen und Sie gut nach Bangkok zu bringen.« Das kam mir merkwürdig vor, aber ich war überzeugt, dass ich nach dem Flug vor allen, die mich aufhalten konnten, in Sicherheit war. Trotz all der Warnsignale, die mir mein Kopf zusandte, vertraute ich dem Mann. Ich nahm an, die Flughafenverwaltung hätte Mitarbeiter zur Unterstützung der Reisenden geschickt. Der Mann bat mich um die offiziellen Dokumente: das Rückflugticket, meinen Pass und die Hotelbuchung – alle Papiere, die man braucht, um ein Visum zu beantragen. Ich gab sie ihm. Er sagte: »Folgen Sie mir.« Wir gingen an einen Schalter, und er sprach mehr als zehn Minuten mit einer Frau. Wieder läuteten meine Alarmglocken. Die Frau wirkte irritiert – als würde er sie zu etwas auffordern, was sie nicht tun wollte. Ich wollte unbedingt wissen, worum es ging, und bat sie mit der ernstesten Stimme, die ich zustande bekam, Englisch zu sprechen und mir zu sagen, worüber sie redeten. Sie ignorierten mich und schwiegen. Ein paar Minuten später hieß es dann, ich könne nicht nach Bangkok einreisen, weil sie mir kein Visum ausstellen könnten. Als ich wiederholte, dass ich alle Voraussetzungen für das Visum erfüllte, blickte die Frau in die andere Richtung – sie sah mich nicht an. Mir wurde klar, dass die beiden irgendeine Abmachung getroffen hatten.

Und in diesem Moment begriff ich, dass ich in eine Falle getappt war.

KAPITEL 2 Eine Mädchenkindheit

Eine Erinnerung aus meiner frühen Kindheit ist mir geblieben – einer dieser schwebenden, traumartigen Gedanken –, die mir dabei hilft, mich in einem neuen Leben zurechtzufinden, die mir Halt gibt und mich glauben lässt, dass auch Unschuld und Hingabe mich zu dem gemacht haben, was ich heute bin. Ich meine die Erinnerung an die Jahre, bevor ich alt genug war, zur Schule zu gehen. Wie ein weich gezeichnetes Gemälde in sanften Farben sehe ich vor mir einen Raum voller spielender, lachender, singender und einander neckender Kinder. Die Geräusche von damals klingen noch heute in mir nach wie ein Echo – eine entfernte Melodie, die mir den Atem stocken lässt. Wir sind alle zusammen: meine zwei älteren Schwestern Lamia und Reem, meine Brüder Mutlaq und Majed, ich und unser Kindermädchen Sarah. Ich hüte diese Erinnerung wie einen Schatz, denn sie erzählt die Geschichte der ersten sechs Jahre meines Lebens.

Wir hielten uns die meiste Zeit im Fernsehzimmer im Erdgeschoss unseres Hauses auf. Es war relativ eng für sechs Personen, vielleicht neun Quadratmeter, und es gab nichts als ein paar Kissen am Boden und einen Fernseher, doch hier verbrachte ich den Großteil meiner Kindheit. Ich kam mir vor wie das glücklichste Kind der Welt. Meine Schwester Joud war noch nicht geboren, und mein kleiner Bruder Fahad war kränklich und musste im Zimmer meiner Mutter bleiben. Ich wusste damals nicht, was ihm fehlte, nur dass er schlecht Luft bekam. Er konnte nicht rennen oder auch nur schnell gehen und war ständig außer Atem. Die ersten Jahre entfernte er sich niemals von unserer Mutter. Später erfuhr ich, dass er Asthma hatte, doch als ich klein war, wusste ich nur, dass er krank war.

Unser Kindermädchen Sarah war aus Indonesien. Wir hatten immer Kindermädchen, die meisten gingen jedoch nach zwei Jahren wieder. Sie hatten alle eigene Kinder in ihrer Heimat und kamen zum Arbeiten nach Saudi-Arabien, um Geld zu verdienen und für sie sorgen zu können. Aber manche blieben länger, so auch Sarah. Ich glaube, sie war vier oder fünf Jahre bei uns – auf jeden Fall, solange ich noch klein war. Sarah war wie eine Mutter für uns: Sie war groß, dick und lustig. Ich war verrückt nach ihr. Sie schnitt Grimassen, kniff ein Auge zu, streckte die Zunge heraus und machte lustige Geräusche dabei. Sie tat, als wäre sie eine Katze, und miaute uns an, oder ein Hund, und kläffte wie ein Welpe. Sie kitzelte uns und jagte uns durchs Zimmer.

Ich war ein neugieriges und lebendiges Mädchen. Sarah ermunterte mich, Antworten auf meine Fragen zu suchen und mich als jüngstes Kind im Spielzimmer zu behaupten. Wenn ich hinfiel, mir das Knie aufschlug oder Streit mit meinen Geschwistern hatte, nahm sie mich in ihre großen Arme. Wenn meine Familie ein Fest feierte – und das kam oft vor, denn so kommen Familien in Saudi-Arabien zusammen –, verbrachten wir auch Zeit mit unseren Cousins, Cousinen und Tanten. Sarah aber war immer da, wie ein Schatten, und wachte über uns. Sie hatte Schokolade in der Tasche und steckte uns wie die zauberhaften Nannys, die wir aus dem Fernsehen kannten, hin und wieder etwas Süßes zu, meist um uns von irgendeinem Konflikt abzulenken.

Die ersten sieben Jahre meines Lebens war dieses Fernsehzimmer der Mittelpunkt meiner Welt. Wir schleppten alles Mögliche dorthin – Decken, Kissen, Leintücher. Wir bauten Festungen, in denen wir saßen und uns vorstellten, wir wären Prinzen und Prinzessinnen, oder wir spielten einfach wie ganz normale, glückliche Kinder, die wir damals waren. Am Abend machten wir manchmal alle Lichter im Zimmer aus, versteckten uns, und einer von uns musste die anderen fangen. Noch heute, während ich das erzähle, halte ich unwillkürlich die Luft an, erinnere mich, wie leise ich sein musste, wie ich mich mucksmäuschenstill in eine Ecke kauerte und wir uns aneinander anschlichen wie Leopardenjunge, bevor ein lautstarkes Geschrei ertönte, sobald einer von uns gefunden wurde. Wir sahen in diesem Zimmer fern, Cartoons, Filme und Serien aus Indien. Dann imitierten wir die Schauspieler und gaben unsere eigenen Vorführungen. Ich schauspielerte unheimlich gerne. Ich glaube sogar, dass ich während dieser Stücke, die wir als Kinder aufführten, beschlossen habe, Schauspielerin zu werden.

Manchmal schliefen wir auch in dem Zimmer – alle zusammen, auch Sarah. Sarah brachte uns zur Ruhe, strich uns über den Rücken, redete vom Einschlafen, und schon versanken wir im Land der Träume. Wir hatten nie eine Kamera und machten keine Familienfotos, aber die Bilder, die ich von diesen längst vergangenen Nächten im Kopf habe, ergeben eine Collage aus übermüdeten Kindern, die sich in allen möglichen Winkeln aneinanderlehnen und friedlich im Schlaf zusammenkuscheln.

Meistens hielten wir uns in diesem Zimmer auf und erzählten uns Geschichten, doch wenn es nicht zu heiß war, gingen wir hin und wieder auch in den kleinen Garten hinter dem Haus. Dort gruben wir Würmer aus und versuchten, uns mit ihnen gegenseitig Angst einzujagen. Wir lieferten uns Schlammschlachten und spielten Verstecken, bauten noch mehr Burgen und ließen unserer Fantasie in diesem recht kleinen Raum, der uns jedoch wie ein Königreich erschien, freien Lauf. Wir kannten jeden Winkel dieses Gartens. Wir gingen auf Spurensuche, um herauszufinden, wer oder was die Nacht zuvor zu Besuch gewesen war – Wüstenrennmäuse oder Ratten, doch meistens streunende Katzen, deren Fährte in unserer Fantasie auch von Füchsen hätte stammen können. Und immer wieder unsere Theateraufführung – ein Stück, in dem wir alle mitspielten und in dem es um fünf abenteuerlustige Kinder ging.

Und noch eine Erinnerung, wenn ich an mein Leben in diesem Haus mit meiner Familie denke, wärmt mir das Herz. Der schwere, süßliche Geruch von Bakhur. Das war der Duft unseres Hauses. Bakhur ist ein Räucherwerk, bei dem Holzspäne in Duftöl, wie Moschus oder Sandelholz, getränkt und in einer traditionellen Räucherlampe namens Mabkhara angezündet werden. Die Holzstückchen erzeugen einen dichten, wogenden Rauch, der durch das Haus zieht. In Saudi-Arabien trägt niemand Parfüm – das ist verboten –, doch der Duft von Bakhur erfüllt jedes Haus. Der Rauch zieht in die Wände, in die Kissen, in Kleidung und Haare. Für mich ist das der Geruch von Zuhause. Und obwohl in unserem Haus die gesamten achtzehn Jahre, die ich dort verbracht habe, geräuchert wurde, verbinde ich den Duft von Bakhur vor allem mit jenen Jahren im Fernsehzimmer und dem dort herrschenden Gefühl der Zusammengehörigkeit.

Ich erinnere mich nicht, meine Eltern in diesen frühen Tagen meiner Kindheit oft gesehen zu haben. Mein Vater hatte sein eigenes Schlafzimmer mit angrenzendem Badezimmer und Arbeitszimmer am anderen Ende des Hauses. Aber meistens war er in Al Sulaimi, wo er Gouverneur war. Dort wohnte er in einem palastartigen Gebäude mit einem riesigen Garten vor dem Eingang, einer gewaltigen Lobby, mehreren Wohnzimmern, in denen Gäste empfangen wurden, und einer Terrasse hinter dem Haus, die zu einer weiteren wunderschön gestalteten Gartenanlage führte. Manchmal waren wir zu Besuch. Das Haus hatte noch ein Dutzend weitere Zimmer – zwei Küchen, Schlafzimmer, Salons. Doch meistens war er ohne uns dort.

Zu Hause in Hail sahen wir ihn am Wochenende und zu besonderen Anlässen wie Familienfesten und wenn wir gemeinsam Urlaub machten, im Winter in die Berge oder im Sommer in die Wüste fuhren. Alle meine Cousinen und Freundinnen erzählten das Gleiche von ihren Vätern – sie waren seit frühester Kindheit meistens abwesend. Als kleines Mädchen stellte ich das nicht in Frage. Meine Mutter war auch nicht viel da. Sie arbeitete als Lehrerin für Naturwissenschaften in einer kleinen Schule mit sechs Klassenzimmern, fünfzehn Minuten Fahrt entfernt von uns. Sarah war Mutter, Vater und Beschützerin in einem.

Im Jahr 2007 änderte sich dann alles – wer ich war, was ich sagte, wie ich mich verhalten durfte. Es war, als würde ein Vorhang vor meinem Leben zugezogen. Ich war sieben. Wenn ich die Ereignisse in meinem Leben in einen Zeitstrahl eintragen müsste, würde ich sagen, das war der Moment, als ich von einem unbeschwerten Kind zu einem Mädchen wurde, das seinen Platz innerhalb der Familie nicht mehr verstand, das sich fragte, warum es so anders behandelt wurde, das sich fragte, was denn falsch daran war, ein Mädchen zu sein.

In diesem zarten Alter wurde ich von meiner Mutter beiseitegenommen, und sie erklärte mir, das Allerverbotenste, was man als Mädchen tun könne, sei zu schreien, laut zu sein, seine Stimme gegen jemanden zu erheben. Die Stimme einer Frau gehöre zu ihrer ’Aura