Rebellion der Sehnsucht - Khola Maryam Hübsch - E-Book

Rebellion der Sehnsucht E-Book

Khola Maryam Hübsch

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Beschreibung

Woran glaube ich, wofür lebe ich und was treibt mich an? Und gibt es Gott? Viele Menschen finden nur schwer eine klare Antwort. Khola Maryam Hübsch ist trotzdem überzeugt, dass Gott existiert und dass er auch heute noch spricht. Offen, sehr persönlich und herausfordernd schreibt sie über ihre Sehnsucht und den Glauben, der sie antreibt: einen Glauben, der manches mit Fitnesstraining gemeinsam hat, ohne 72 Jungfrauen im Paradies auskommt und in dem Gott heute noch durch Träume spricht. Tief in jedem von uns steckt eine Sehnsucht nach spiritueller Erfahrung, ein Verlangen, zu verstehen, ein Bedürfnis nach Bedeutung. Dieses Buch ist kompromisslos, ein Buch über Gott und Glaube, Vergänglichkeit und Schönheit, über Liebe und Freiheit und über die Kraft der Rebellion der Sehnsucht. Aus der Perspektive einer jungen Frau, die sowohl von der christlich-abendländischen als auch der islamisch-mystischen Tradition geprägt ist. Zwei Begebenheiten inspirierten Khola Maryam Hübsch zu diesem Buch. Die erste Begebenheit ist diese: Hinter den Kulissen führte sie ein Gespräch mit einer Fernseh-Moderatorin, die ihr sagte, dass sie Religionen gegenüber sehr kritisch sei. Wer brauche noch Religionen? Sie führten nur zu Krieg und Konflikten. Auf die Rückfrage, woran sie dann glaube, sagte die Frau: "An die Empathie". In ihrer Jugend hatte sie sich nächtelang schlaflos im Bett herumgewälzt, weil die Frage nach dem Sinn, die Frage nach dem Danach sie wahnsinnig machte. "Ich bin religiös unmusikalisch", sagte sie. "Wir sind wie Blumen, die irgendwann verwelken, alles wird dir genommen werden, alles ist vergänglich, genieße den Augenblick. " Das sei ihre Lebensphilosophie. Und sie fragte Khola Maryam Hübsch, warum sie glaube. Welchen Mehrwert der Glaube für sie habe, bei all dem Leid, den er doch anrichte. Dieses Buch ist eine Art erweiterte Antwort darauf. Die zweite Begebenheit geschah bei einer Veranstaltung. Kurz vor der Lesung schrieb Khola Maryam Hübsch spontan einen sehr persönlichen Text über ihren Glauben. Die Reaktionen waren erstaunlich. Mit Tränen in den Augen bedankten sich einige der Zuhörer. Sie bekam hinterher berührende E-Mails mit der Bitte, den Text weiterzuleiten. Der Text, in dem sie offen über ihr Verständnis von Glaube und Spiritualität sprach, hatte einige sehr aufgewühlt. Diese Erfahrung machte ihr Mut, ihre Gedanken auszuführen. So ist dieses Buch eine Kampfansage an das Verdrängen der Fragen nach Gott und dem "Warum" geworden. Es schlägt sich auf die Seite des Herzens, das tief im Inneren diese unfassbare Sehnsucht verspürt. Es stachelt zur Rebellion an. Es möchte, dass auch unter jungen Menschen das Tabu gebrochen wird, über spirituelle Erfahrungen zu sprechen. Khola Maryam Hübsch ist überzeugt: Es gibt mehr als eine Welt, die mit der Vernunft allein zu erfassen ist. Die Suche nach Gott lohnt sich.

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Khola Maryam Hübsch

Rebellion der Sehnsucht

Warum ich mir den Glauben nicht nehmen lasse

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2018

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Satz/epub-Produktion: wunderlichundweigand, Stefan Weigand

ISBN Print 978-3-451-38110-2

ISBN E-Book 978-3-451-81401-3

Für meine Mutter – Sadiqa Sultana Hübsch.

In Liebe und Dankbarkeit.

Besonderer Dank an sasroor -

Jazāk Allāhu Khayran Bismiʾllahiʾr-raḥmāniʾr-raḥīm - Im Namen Allahs, des Gnädigen, des Barmherzigen!

Inhalt

Prolog

Danksagung

1. Gott

Probiert es aus!

Die Revolution passiert im Kopf

Training für die Seele

Das große Tabu

2. Leid

Wenn es hart auf hart kommt

Der Preis der Freiheit

Nur ein mieser Schlag ins Gesicht?

Glaube ist keine Trostschokolade

3. Träume

Träum weiter

Die innere Sehkraft schärfen

Verschlüsselte Botschaften

4. Liebe

Die Liebe ist tot – es lebe die Liebe

Radikal statt blind

Eine indisch-deutsche Liebesgeschichte

Wie eine Kletterpflanze

Was hat Priorität?

5. Schönheit

Die Macht der Schönheit

Süchtig nach Likes

Innerlich frei

Der Körper nur ein Kapital?

Der Weg zur spirituellen Schönheit

6. Tod

Der Tag X

Der Mythos von den 72 Jungfrauen

Das Jenseits ist jetzt

Ramadan − Simulation des Jenseits

Glück ist Angstfreiheit

7. Vernunft

Philosophieren mit Lessing und Camus

Vernunft allein reicht nicht

Vergessene Pioniere

Botschaft der Toleranz und der Freiheit

Anmerkungen

Literatur

Prolog

»Das glück, das panzer nicht zerstören kann, ist kein wirkliches,das glück, das von panzern zerstört werden kann, ist kein wirkliches denn die wirklichkeit ist die revolution die theorie, die ihre praxis vor sich hat, hat das konkrete nicht zu ihrem gegenstand denn die wirklichkeit ist die revolution die revolution passiert im kopf« (H.H.)

Dieses Buch ist ein Angriff. Es ist ein Angriff auf den Zeitgeist und den Glauben meiner Generation, der Generation Maybe. Ein Angriff auf das Ich in mir, auf das Ego im Wir. Es ist ein Angriff auf alle, die, vom säkularen Zeitgeist geprägt, halbherzig dahinwurschtelnd alles tun, um sich bloß nicht mit den entscheidenden Fragen zu beschäftigen. Wir verdrängen lieber. Wir reden lieber nicht drüber. Warum wir leben und wohin wir gehen, darüber spricht man nicht. Wir strengen uns nicht an. Und solange es uns gut geht, denken wir nicht weiter darüber nach.

Nicht die Wahrheit ist es, sagt Lessing, sondern die aufrichtige Mühe, die man anwendet, um hinter die Wahrheit zu kommen, ist es, die den Wert des Menschen ausmacht. Aber wir sind heute so abgeklärt und abgelenkt von unserem Leben und unserem Konsum und unserem Hier und Jetzt, dass wir uns damit begnügen, dass man ja nichts Genaues wissen könne. Also bleiben wir im Chill-Modus − kein Grund, sich zu stressen. Dabei bin ich fest davon überzeugt, dass es tief in jedem von uns eine Sehnsucht nach spiritueller Erfahrung, ein Verlangen, zu verstehen, ein Bedürfnis nach Bedeutung gibt. Entweder wir psychologisieren dieses Bedürfnis weg, tun es ab, indem wir es zu einer Projektion unserer Ohnmacht erklären, und sagen uns: »Ja, es wäre schön, wenn es da noch etwas gäbe, aber es hilft alles nichts, denn ich sehe ja nichts. Also gibt es höchstwahrscheinlich nichts.«

Oder aber wir glauben an eine höhere Macht. An ein spirituelles Prinzip, das das Universum durchzieht. Weil wir vielleicht doch die eine oder andere merkwürdige Erfahrung gemacht haben, die wir nicht einordnen konnten, die wir aber auch nicht auf den Zufall schieben können. Nur »Gott« möchten gerade viele Menschen meiner Generation diese höhere Macht auf keinen Fall mehr nennen. Da hängt zu viel Ballast, zu viel Ungutes dran, zu Vieles, mit dem sich die meisten nicht mehr identifizieren können. Es darf kein konkretes, lebendiges Wesen sein, das spricht. Denn das würde letztlich bedeuten, dass sich jeder von uns ändern muss. Konsequenzen ziehen und sich wirklich ernsthaft auseinandersetzten muss. Der Sache auf den Grund gehen. Sich auf die Suche nach Erfahrungen begeben. Das würde bedeuten, dass jeder eine Antwort erhalten könnte, die alles ändert, die Menschen dazu bringen könnte, sich grundlegend zu ändern. Lieber bleiben die meisten Menschen vage, unverbindlich, glauben an das Gute und die Empathie und die Liebe. Und so vergehen Tage und Jahre, und alles bleibt im Ungefähren, es bleibt ungewiss und sie bleiben gleichgültig.

Dieses Buch ist eine Kampfansage an das Verdrängen. Es schlägt sich auf die Seite des Herzens, das tief im Inneren diese unfassbare Sehnsucht verspürt. Es stachelt zur Rebellion an: Rebelheart, lass dich nicht mehr abwimmeln. Schrei auf, rebelliere, bis du gehört wirst.

Dieses Buch möchte, dass das Tabu gebrochen wird, dass über ­spirituelle Erfahrungen, die so viele von uns gemacht haben, nach denen sich so viele sehnen, gesprochen wird. Und dass diese Erfahrungen als Fingerzeig eines Wesens verstanden werden, das uns damit sagt: Die Suche nach Ihm lohnt sich. Es gibt mehr als eine Welt, die mit der Vernunft allein zu erfassen ist. Was uns fehlt, was wir brauchen, ist die Symbiose zwischen Rationalität und Spiritualität, die Verbindung zwischen Orient und Okzident.

Der erste Schritt zur Antwort auf die Frage nach dem »Warum« fängt mit einem »Du musst dein Leben ändern!« (Rilke) an. »Gestern war ich klug und wollte die Welt verändern. Heute bin ich weise und möchte mich verändern«, sagt der muslimische Mystiker Jallaludin Rumi. Lasst es uns angehen.

Khola Maryam Hübsch

Frankfurt, im Juli 2018

Danksagung

Es gibt zwei Begebenheiten, die mich zu diesem Buch inspirierten. Nach einer ARD-Talkshow erzählte mir die Moderation, dass sie Religionen gegenüber sehr kritisch sei. Wer brauche noch Religionen? Sie führten nur zu Krieg und Konflikten. Ich fragte sie, woran sie glaube. »An die Empathie«, sagte sie und war mir damit sehr sympathisch – ich war sofort empathisch mit ihr. In ihrer Jugend hatte sie sich nächtelang schlaflos im Bett herumgewälzt, weil die Frage nach dem Sinn, die Frage nach dem Danach sie wahnsinnig machte. »Ich bin religiös unmusikalisch«, sagte sie. »Wir sind wie Blumen, die irgendwann verwelken, alles wird dir genommen werden, alles ist vergänglich, genieße den Augenblick.« Das sei ihre Lebensphilosophie. Und sie fragte mich, warum ich glaube. Welchen Mehrwert mein Glaube für mich habe, bei all dem Leid, den er doch anrichte. Und plötzlich standen auch die anderen größtenteils religionskritischen Mitarbeiter ihrer Crew um mich herum, gespannt darauf, was ich antworten würde. Dieses Buch ist eine Art erweiterte Antwort.

Ein anderes Mal war ich im Literaturhaus Stuttgart eingeladen, gemeinsam mit dem Autor Björn Bicker. «Was glaubt ihr denn?!« war das Thema unserer Lesung, und ich fand, mein damals aktuelles Buch über Islam und Feminismus passte nicht ganz zum Thema. Daher schrieb ich kurz vor der Lesung einen neuen Text. Die Reaktionen waren erstaunlich. Mit Tränen in den Augen bedankten sich einige der Zuhörer. Ich bekam hinterher berührende E-Mails mit der Bitte, den Text weiterzuleiten. Der Text, in dem ich offen über mein Verständnis von Glaube und Spiritualität spreche, hatte einige sehr aufgewühlt. Diese Erfahrung machte mir Mut, auszuführen, was ich darin anreiße. Dieses Buch ist, wenn man so möchte, eine ausführliche Version dieser Lesung.

Ich danke all jenen, die mich durch Gespräche, Fragen und Gedanken anregten, dieses Buch zu schreiben. Und unser letztes Wort sei: Aller Preis gebührt Allah.

1. Gott

Probiert es aus!

Ich verstehe, warum ihr nicht an Gott glauben könnt. Es ist doch kein Wunder. Bei all den korrupten religiösen Gelehrten. Den Priestern mit ihren widerlichen Missbrauchsskandalen und ihren schwulen Callboys. Den kleingeistigen muslimischen Predigern, die junge Frauen belästigen. Ekelhaft diese Doppelmoral, diese Heuchelei. Wer soll die denn noch ernst nehmen können? Hüben wie drüben dasselbe. Wahnwitzige Mullahs mit menschenverachtenden Fatwas, prunksüchtige Bischöfe in ihren Protzbauten. Und dann dieser Aberglaube und dieses weichgespülte Gesülze von der Liebe Gottes bei all dem Leid. Ja, ich verstehe das. Und natürlich: die Kriege im Namen der Religion und die Hexenverbrennung, die Massaker an »Ungläubigen«, der Terror. Wie soll man da noch an einen Gott glauben?

Als Kinder haben viele von euch ja noch geglaubt, dass es einen Gott gibt. Und ihr glaubt ja auch immer noch, nur nicht an Gott: an das Schöne und Gute, an die Gerechtigkeit und die Liebe. Ja, an die Liebe glaubt ihr. An die Liebe wollt ihr glauben. Hormonen und Evolution zum Trotz. Ihr glaubt ja auch an Empathie und Solidarität. An die Kunst und an Bach. An das Universum und dass wir irgendwo alle eins sind, miteinander verbunden. An die Freiheit. An die Vernunft. Und manchmal sogar an eine irgendwie undefinierbare höhere Macht. Nur Gott würdet ihr sie niemals nennen, nein, Gott nicht und Allah schon gar nicht. »Gott« hat vorerst ausgedient, war schon in zu vielen Mündern, hat so einen langen Bart. Da klebt zu viel miefender Ballast dran. Alles, nur nicht Gott. Reaktionärer geht’s wirklich nicht.

Früher, als ihr jung und naiv wart, habt ihr es mal probiert mit Gott. Da habt ihr ein Stoßgebet gesprochen oder ihr habt Ihm einen Deal angeboten: Wenn du dafür sorgst, dass ich die Playstation bekomme, werde ich fromm. Genützt hat das nicht immer etwas. Manchmal, da habt ihr sogar flehend gebetet. Als es euch richtig mies ging. Und als eure Oma im Sterben lag. Aber Gott hat nicht geantwortet, und Oma starb. Und mit Oma starb auch euer Glaube an Gott, der schließlich nicht tut, was ihr Ihm sagt. Und als ihr später in den Nachrichten die schrecklichen Bilder von verhungernden Kindern und ausgebombten Familien saht, habt ihr euren letzten Glauben an einen lieben Gott verloren. Und dann wurdet ihr als Kind auf der Straße verprügelt, einfach so. Wie konnte Gott das zulassen? Ein kleines, unschuldiges Kind! Seitdem ist es endgültig vorbei mit eurem Glauben an Gott. Manchmal, da würdet ihr zwar gerne glauben, aber es geht ja nicht. Für euch ist der Gott eurer Kindertage jetzt tot wie Oma. Manchmal denkt ihr, dass ihr vielleicht einfach religiös unmusikalisch seid, euch fehlen die transzendenten Vibes, sagt ihr. Gott ist einfach nicht euer Ding, zu freaky, zu weit weg. Ich versteh das. Aber irgendwann könntet ihr euch jetzt auch mal vom naiven Gottesbild eurer Kindheit verabschieden und auch erwachsen werden. Denn Gott ist viel größer.

Es gibt diesen Atheisten-Spruch: Ich bin vom Glauben zum Wissen konvertiert. Hört sich besserwisserisch und arrogant an, aber wo sie recht haben, haben sie recht. Wenn ich jemanden nach dem Weg zu einer Quelle frage, weil ich durstig bin, und man antwortet mir: Ich glaube, hinten rechts und dann links, dann wieder rechts und dann viele hundert Kilometer geradeaus – da ist vielleicht eine Quelle. Also, ich weiß nicht. Das scheint eine ziemlich unsichere Angelegenheit zu sein. Und umso länger ich unterwegs bin und umso durstiger ich werde, desto unwohler werde ich mich doch fühlen, wenn ich mir nicht einmal sicher sein kann, dass ich auf dem richtigen Weg bin.

Ja, die Gläubigen »glauben an das Ungesehene« (Koran, 2:4). Das heißt jedoch nicht, dass wir blind glauben sollen, ohne zu verstehen, ohne die Vernunft zu gebrauchen. Wer nichts über Gott weiß und nur mutmaßt, der ist tatsächlich blind. Gott ist ein verborgener Schatz, der entdeckt werden will, heißt es in einer Überlieferung des Propheten Hz. Muhammadsaw. Wir müssen uns jedoch selbst auf die Suche machen, aus freien Stücken.

»Tatsächlich besteht ein großer Unterschied zwischen einem Glauben an Gott und einem Wissen von Gott«, schreibt Hz. Ahmadas. Es gibt drei Formen der Erkenntnis. Du kannst den Rauch sehen und daraus folgern: Da müsste irgendwo ein Feuer brennen. Du kannst auch zum Feuer laufen und es mit eigenen Augen sehen Aber es ist etwas ganz anderes, wenn du das Feuer selbst spürst, seine Wärme fühlst und dich in das Feuer begibst – das ist die maximale Gewissheit, haqq-ul yaqin. Es gibt viele Gläubige, die nur den Rauch sehen und schlussfolgern, dass irgendwo ein Feuer brennt. Sie beobachten und kommen zu dem Schluss: Ja, es müsste Gott geben. Es sollte, könnte, hoffentlich, wäre schön. Damit geben sie sich zufrieden. Was ist das für ein Larifari. Es geht hier schließlich nicht um irgendetwas – es geht um die alles entscheidende Frage: Was ist der Sinn unserer Existenz?

Ich verstehe nicht, woher diese Gleichgültigkeit kommt. Diese unfassbare Entschlossenheit, tiefergehende Fragen nach Gott zu verdrängen, bis man wieder einschlafen kann und sich nicht mehr nachts hin und her wälzt, weil man nicht weiß, woher man kommt und wohin man geht. Warum fehlt auch vielen religiösen Menschen die Beharrlichkeit, dem Rauch mal auf den Grund zu gehen, zu schauen, ob da wirklich irgendwo ein Feuer ist? Das geht nicht in der Theorie oder allein durch viel Nachdenken. Durch Reflexion kommt ihr höchstens zu dem Punkt: Da müsste es Feuer geben, denn ich sehe Rauch. Wollt ihr das Feuer sehen, müsst ihr euch bewegen. Ohne Bewegung, Anstrengung und Praxis läuft da nichts. Wenn ich einen Marathon rennen will, reicht es auch nicht, Laufmagazine zu lesen und Sportschuhe zu kaufen. Das ist für den Einstieg vielleicht motivierend, aber ohne Training kommst du nicht weit. Ohne Praxis und Handeln keine Erfahrung mit Gott, ohne Erfahrung ist Gott nur eine Idee, eine Hülse. Nichts weiter als eine absurde Vorstellung, vielleicht auch nur eine Projektion eurer selbst.

Ich habe den Eindruck, dass ein Großteil derjenigen, die meinen, dass sie Gott anbeten, sich selbst anbeten. Sie beten ihre eigenen Wünsche an. Sie objektivieren Gott aus ihrer subjektiven Sicht heraus und machen ihn zum Gegenstand ihrer eigenen Interessen. Ein Gott, der sich so verhält, wie ich es möchte, ist ein Self-made-God: leicht zu konsumieren und zu vermitteln, aber leider nicht mehr als ein Konstrukt. Ein Gott, auf den die eigenen Maßstäbe und Bedürfnisse übertragen werden, ist nicht echt. So ein Gott ist nur ein Produkt des eigenen Egos. So ein Glaube kann nicht befriedigen. Es geht ihm um Selbstgefälligkeit und Bestätigung eigennütziger Interessen. »Die Wahrheit ist, dass wir den lebendigen Gott unmöglich sehen können, ehe nicht eine Art Tod uns ereilt«, schreibt Hz. Ahmadas. Wenn wir uns ernsthaft auf die Suche nach Gott machen, bedeutet das Geduld, Demut, Reflexion und Streben, bedeutet vollkommene Hingabe und dann Erkenntnis.

Anstrengung. Leidenschaft. Hingabe. Ihr wisst doch sonst, wie das geht. Ich hörte mal eine Profi-Musikerin sagen: Ich habe Gott einen Brief geschrieben, aber keine Antwort erhalten; deswegen glaube ich nicht mehr an Ihn. Ich glaube an die Musik, sie gibt meinem Leben Sinn. Sie spielte seit Jahren Geige. Man stelle sich vor, sie hätte vor Jahren gesagt: Ich habe mir heute eine Geige gekauft und Noten lesen gelernt, aber es hat sich nicht schön angehört. Ich glaube, Musik ist nichts für mich − Wer weiß denn besser, wie wichtig üben, üben, üben ist, als jemand, der wirklich gut in einer Disziplin ist? Das ist, wie wenn jemand, der abnehmen will, sagt: »Ich habe heute weniger gegessen und Sport gemacht, aber ich wiege immer noch so viel wie vorher«, − und der daraus schließt, das ein Leben mit Sport keinen Sinn ergibt. Wie ernst kann man das nehmen?

Dass man dranbleiben muss, stundenlang, wochenlang, monatelang, dass man langsam auf den Geschmack kommt, sich langsam steigert, langsam erste Erfolge sieht, das kennen wir doch aus anderen Bereichen des Lebens. Warum soll es im Glauben und im Gebet zack, zack gehen? Diese selbstgefällige Anspruchshaltung zeigt nur, dass ihr eigentlich keine Lust habt. Ihr sucht nicht ernsthaft, ihr verdrängt die Frage nach Gott lieber. Für das weltliche Leben wird jahrelang gelernt und studiert, trainiert, geübt, geschuftet, geackert und gemacht. Aber wenn es um Gott geht, schaltet ihr in den Service-Modus und fragt nur, was euch geboten wird. Religion soll gute Gefühle machen und für mich da sein, wenn es mir gerade passt. Vornehmlich zur Geburt, beim Heiraten und Sterben. Reduziert auf die Funktion einer kitschigen Duftkerze: sorgt für gute Atmosphäre und die passende Stimmung. Ihr sagt: Ich bete, wenn mir danach ist. Für mich ist Religion jedoch keine Duftkerze, sondern das lebensnotwendige Licht, nach dem ich mich ernsthaft auf die Suche machen muss. Am Anfang steht ein Bedürfnis, ein Entschluss, eine Sehnsucht, ein Ziel. Wer nur trainiert, wenn er Lust hat, wird nie einen Marathon laufen. Woher diese Fastfood-Mentalität, wenn es um den Glauben geht? Gott ist keine Wunschmaschine.

Es geht nicht ohne Anstrengung, ohne Jihad, und Jihad heißt übersetzt nichts anderes als Streben, und zwar in erster Linie im Kampf gegen sich selbst. Dafür brauchen wir Ausdauer und Disziplin, religiös gesprochen Standhaftigkeit und Geduld: »Und diejenigen, die in Unserer Sache bestrebt sind – Wir werden sie gewiss leiten auf Unseren Wegen. Wahrlich, Allah ist mit denen, die Gutes tun.«(29:70). Der Mensch bleibt abhängig von der Gnade Gottes. Das Versprechen an uns lautet jedoch: Wer mit tiefer Sehnsucht nach Gott sucht, Ihm nahe sein will und sich bemüht, wird geleitet. Wie heißt es so schön bei Goethe: »Wer immer strebend sich bemüht/ Den können wir erlösen«.

Und warum sollte es nicht anstrengend werden? Es geht hier schließlich um Gott, den Höchsten, und nicht bloß um eine bessere Laufzeit oder das Sixpack. Hier geht es um wirklich was, hier geht es um die Ewigkeit. Und ausgerechnet da soll die Erkenntnis wie gebratene Schlaraffenland-Hähnchen vom Himmel regnen? Woher diese Faulheit und Nachlässigkeit? Warum diese Halbherzigkeit? Und warum die fehlende Neugier, es selbst auszuprobieren und zu erleben? Wenn euch jemand erzählt »Sport tut gut«, könnt ihr ihm glauben. Ihr könnt aber auch demjenigen glauben, der sagt »Sport ist Mord«. Ihr könnt Experten konsultieren. Viele werden sagen, dass Sport gesund ist, aber ihr werdet auch jene finden, die der Meinung sind: völlig überschätzt. Und den Fitnessguru, dem es nur noch ums Geld geht, der euch unseriöse Versprechen macht und euch irgendwelche ungesunden, teuren Pülverchen andrehen will, wird es auch geben. Heuchelei! Ein Beleg dafür, dass Sport abzulehnen ist! Dabei könnt ihr es dann belassen.

Ihr könnt es aber auch einfach mal selbst ausprobieren und nicht dankbar jede Ausrede annehmen, die euren Weg kreuzt und euer Rumlümmeln auf dem Sofa legitimiert. Netflix an, schlechtes Gewissen aus. Mit dem Glauben ist es nicht anders: Gebet ist Krafttraining für die Seele. Probiert es doch einmal aus. Ihr gebt doch sonst nicht so schnell auf.

Die Revolution passiert im Kopf

Mein Vater, der die Zeit der 1968er intensiv miterlebte, beschrieb das Gebet als die eigentliche Revolution:

›ich bin nicht ich, ich werde gedacht, die revolution passiert im kopf‹ was heißt das, es heißt, daß wir uns nicht überwuchern lassen sollen von dem unkraut der werbung, schnapsflaschen, langspielplatten und schillums. Wir dürfen nicht länger fast unbesehen das hinnehmen, was diese industrie von sorgentröstern und zeittotschlagmaschinen in uns und außer uns uns aufbürden möchte. Wir dürfen den rummel und die luftballone der tageszeitungen und illustrierten nicht länger schlucken wie all den unverdaulichen staub und das blei unserer chromautos und vorfabrizierten landstraßen. ade, du schöne neue welt, ade du frischwärtsherrlichkeit. der weg ist frei und atemlos das glück, wenn wir die kühle der göttlichen worte den flammenden leidenschaften unserer niederen sinne entgegenwerfen. ich werde gedacht, wenn ich das göttliche geschenk, beten zu dürfen, zurückweise. ich werde gedacht, wenn ich nicht Ihn, den Herrn aller Welten, den Allbarmherzigen und Allgerechten loben und preisen kann. der weg ist frei und atemlos das glück, wenn ich den heiligen Quran zur nichterschütterbaren basis mir erwähle. Lob sei Gott, dem Allerhöchsten, Der meine seele in den händen hält, Lob sei Allah, dem Einen Gott, der die revolution in unseren herzen gedeihen lässt, Lob sei Allah und aller Preis dem Gnädigen, dem König der Herzen.« (Hadayatullah Hübsch/ 1971)

Beten zu dürfen ist ein Geschenk – allerdings eines, mit dem Viele nichts mehr anzufangen wissen. Wie der Opa, der das geschenkte digitale Tablet zum Gemüseschneiden benutzt. Beten, wie geht das? Ihr könnt es nicht mehr. In höchster Not murmelt ihr mantraartig die Reste, die euch einfallen. Da war doch was, ihr habt irgendwann mal etwas auswendig lernen müssen. Dunkle Erinnerungen an Kindertage, und irgendwie hat das mit dem Beten ja damals auch nicht funktioniert. Wenn Gott keine Wunschmaschine ist, wozu dann beten?, fragt ihr euch vielleicht. Ich sage nicht, dass Er eure Gebete nicht erhört. Ich sage nur: nicht immer, nicht alle – denn es gibt Bedingungen.

Mit Gott ist es wie mit einem Kontakt, dessen Telefonnummer ihr in eurem Handy eingespeichert habt. Es gibt diese Menschen, die jeder in seinem Leben haben sollte, meist sind es höchstens zwei oder drei. Die kannst du nachts um drei anrufen. Sie sind da, immer, egal was ist, oft werden sie wahre Freunde genannt. Und es gibt Menschen, bei denen ihr euch lange nicht mehr gemeldet habt und deren Nummern ihr eigentlich schon längst löschen wolltet. Wer sich nur in höchster Not bei Gott meldet, wenn seine Liebste schwer krank ist oder sonst nichts mehr hilft, aber Gott eigentlich längst aus seinem Leben löschen wollte, ist so dreist wie jemand, der nachts bei einem Bekannten anruft, zu dem er schon lange keinen Kontakt mehr ­hatte, um sich seinen Liebeskummer von der Seele zu heulen. Erst meldet ihr euch nie bei Gott, und dann beschwert ihr euch, wenn Gott für euch kein Wunder in Auftrag gibt. Und wenn Gott in Seiner Barmherzigkeit dennoch hilft, vergesst ihr das genauso schnell, wie ihr euch in eurer Not plötzlich wieder an Gott erinnert habt. Hinterher war alles Zufall oder euer Verdienst, davon spricht schon der Koran: »Wenn nun den Menschen ein Unglück berührt, so ruft er Uns an. Dann aber, wenn Wir ihm eine Gnade von Uns zuteilwerden lassen, spricht er: ›Dies ward mir nur auf Grund (meines) Wissens gegeben.‹ Nein, es ist eine Prüfung bloß; jedoch die meisten von ihnen wissen es nicht.« (39:50)

Gott behandelt seine Freunde anders als diejenigen, die ihn völlig vergessen haben: »Siehe, über Allahs ­Freunde soll keine Furcht kommen, noch sollen sie trauern.« (10:63) Es ist zwar nie zu spät, doch eine Beziehung gewinnt erst mit der Zeit an Qualität und ist nicht einseitig: »Darum gedenkt Mein, Ich will euer gedenken; und danket Mir und seid nicht undankbar mir gegenüber.« (2:153) Aber Gott ist großzügig, so großzügig, wie gute Freunde nun mal sind: Er gibt immer mehr zurück, als du jemals zu geben im Stande sein wirst. In einer Überlieferung des Propheten Hz. Muhammadssaw heißt es: »Allah, Hocherhaben ist Er, sagte: ›Ich erfülle die guten Erwartungen, die Mein Diener in sich über Mich hat, und Ich bin mit ihm, wenn er Meiner gedenkt: wenn er in seinem Herzen Meiner gedenkt, dann gedenke auch Ich seiner bei Mir Selbst. (...) Und wenn er Mir um eine Handspanne entgegenkommt, dann komme Ich ihm eine Elle entgegen. Und wenn er Mir um eine Elle entgegenkommt, dann komme Ich ihm zwei Armlängen entgegen. Und wenn er auf Mich schreitend zukommt, dann komme Ich eilend zu ihm.‹«

Das Gebet ist die Sprache der Liebe, es ist das Gespräch unter Freunden, es ist der Schlüssel zur Gotteserkenntnis, »die Wahrheit ist, dass Gott nur durch das Gebet erkannt wird«, schreibt Hz. Ahmadas. Und es gibt ein Versprechen: »wenn Meine Diener dich nach Mir fragen (sprich): ›Ich bin nahe. Ich antworte dem Gebet des Bittenden, wenn er zu Mir betet.‹« (2:187) Gott erhört die Gebete eines jeden, der in seiner Not zu Ihm betet, welcher Religion auch immer er angehören mag. Er gibt allen die Möglichkeit, eine direkte Verbindung mit Ihm aufzubauen. Direkt verbunden, das Netz steht jederzeit. Wie gut und schnell die Verbindung ist, daran kann man etwas drehen. Doch grundsätzlich gilt: Jeder kann die Wirkung des Gebets erleben. Es wird kein Mensch als Mittler benötigt.

Wenn Nietzsche postuliert: »Gott ist tot! Er bleibt tot! Und wir haben ihn getötet«, beschreibt er eine Erfahrung, die sich auf all jene bezieht, die nie erlebt haben, wie Gott spricht und antwortet. Das gilt auch für die Gläubigen, die zwar an Gott glauben, die aber davon ausgehen, dass er verstummt ist. Lebt jemand, der nicht mit mir spricht? Formal mag er da sein, aber ist er nicht innerlich tot, zumindest für mich, wenn ich nichts von ihm höre? Eher tot als lebendig, gleich einem Koma-Patienten, der zwar da zu sein scheint, aber man weiß es nicht genau; er befindet sich in einem Schwebezustand zwischen Sein und Schein. Er spricht nicht mehr. Das Gebet, ein Mittel zur Erlangung von Trost, aber keine Kommunikation mit einem lebendigen Gegenüber, das reagiert. Warum sollte Gott verstummt sein? »Wie kann es sein, dass Gott zwar hört, so wie er früher zu hören pflegte, aber nicht mehr spricht, wie er früher zu sprechen pflegte?«, fragt Hz. Ahmadas. Wenn Gott nicht mehr spricht, hieße das, sich mit dem Glauben an Fabeln begnügen zu müssen, ohne eine Chance auf eigene spirituelle Erfahrungen.

Es gibt und gab zu allen Zeiten die anderen, die Mystiker und Sufis, die Heiligen und authentisch Gläubigen, und sie berichten allesamt: Wir haben Gott erfahren, Er ist lebendig, Er spricht. Allein die Tatsache, dass eine übergroße Zahl an Menschen seit jeher von Gotteserfahrungen berichtet − darunter große Persönlichkeiten ohne bizarre Züge, die teilweise außerordentliche intellektuelle, politische, kreative Leistungen erbracht haben −, zeigt, dass wir Gotteserfahrungen nicht einfach als pathologische Erscheinungen abtun können.

Kann man Liebe beschreiben? Musik? Farben? Süßes? Zum Scheitern verurteilt, wer es versucht. Nur wer Schokolade gekostet, Klimt gesehen oder das Meer gespürt hat, der versteht. »Wer nie Musik gehört hat, der vermisst nichts«, schreibt Adorno. Es hilft alles nichts: Ohne die gelebte Erfahrung wird man nie eine Ahnung davon bekommen können, was noch möglich ist. Ein Urteil, das auf Hörensagen und Nicht-Erfahrung aufbaut, ist schwach, nichts als eine Mutmaßung: Experientia est optima rerum magistra, Erfahrung ist die beste Lehrmeisterin, heißt es altklug. Jeder, der ein Youtube-Tutorial gesehen hat, weiß, was gemeint ist. Egal ob es um indisches Fladenbrot, die »schnelle Frisur in drei Schritten« oder um die Reparatur des Laptops geht – ausprobieren ist etwas anderes als nur zuzuschauen. Ohne Praxistest geht es nicht.

Doch bevor es um die Form und Sprache des Gebets geht, eins vorweg: Ohne Geduld, äußerste Aufrichtigkeit, Schmerz, Hingabe und vollkommene Aufmerksamkeit kommt ihr nicht weit. Es geht nicht ohne Wahrhaftigkeit, Empathie und das Bemühen um das Gute: »Und sucht Hilfe in Geduld und Gebet; und das ist freilich schwer, es sei denn für die Demütigen im Geiste.« (2:46) Geduld vor Gebet heißt, dass es nicht funktioniert mit dem »O Gott gibt mir Geduld, aber schnell«. Der Schlüssel ist die Demut, und wer sich von seiner Ungeduld befreit, nimmt sich innerlich nicht so wichtig.

Es gibt diese Geschichte des Sufis, von dem ein junger Suchender lernen wollte. Er beobachtet, wie der Sufi nachts stundenlang betet. Am Ende der Nacht hört er eine Stimme, die verkündet: »Deine Gebete wurden nicht angenommen.« Der junge Beobachter ist enttäuscht. In der nächsten Nacht beobachtet er das gleiche Szenario, und als in der dritten Nacht wieder das Gleiche geschieht, fragt er entrüstet: »Warum betest du weiter, wenn deine Gebete seit drei Tagen nicht angenommen werden?« Der Sufi antwortet gelassen: »Drei Tage? Ich bete seit 30 Jahren und meine Gebete wurden nicht erhört, doch ich werde weiter beten.« In diesem Moment vernehmen beide eine Stimme: »Alle deine Gebete der letzten Jahrzehnte wurden angenommen.«

»I want the good life«, singt Madonna, »but I don’t want an easy ride/ What I want is to work for it/ Feel the blood and sweat on my fingertips/ That’s what I want for me.« Das Wahre, Schöne, Gute, das Echte und Wertvolle will immer mühsam erarbeitet werden. Wenn Gott ein Schatz ist, der gefunden werden möchte, müssen wir ernsthaft auf Schatzsuche gehen. Nicht ermüden. Zu schnelles Aufgeben führt zu der Vorstellung: Gott hört nicht. Beten ist wie das Säen eines Keimes. Es braucht seine Zeit, bis das Samenkorn heranreift, und nicht jedes Samenkorn reift heran. Wie viel Zeit braucht ein Samen, um zum Baum zu werden? Und doch verändert sich schnell etwas, nur ist die Veränderung von außen nicht immer sofort sichtbar. Jede Geburt braucht Entwicklung, braucht neun Monate Schwangerschaft, braucht eine Art Tod der Mutter, um neues Leben zu gebären. Das wahre Gebet setzt einen inneren Tod voraus. Wenn die Seele auf der Schwelle des Göttlichen schmilzt, wenn das Flehen von innerem Schmerz geprägt ist, dann wird ein Gebet erhört. Dann können Gebete innerhalb von Minuten erhört werden. Doch dieser spirituelle Zustand will erreicht sein, benötigt Reife.

Menschen, die die Zeit der Ernte kennen, die Zeit der Fülle erlebt haben, wissen: Ist die richtige Zeit für die Erhörung des Gebetes gekommen, entsteht ein Brennen im Herzen, ein tiefer, erfüllender Schmerz. Wer das nicht empfindet, der sollte wissen: Es ist noch nicht soweit, das Gebet bleibt kühl und es entsteht kein Gefühl, das seine Annahme bestätigt. So sind wir abhängig von der Gnade Gottes, doch Er bricht sein Versprechen nicht.

Geduld. Und Leidenschaft. Wie entsteht Leidenschaft? Angefacht wird sie oft durch Schönheit – durch die Vergegenwärtigung der Vollkommenheit Gottes und durch Einsicht in die eigene Hilflosigkeit und Abhängigkeit. Wer unüberlegt Worte von sich gibt ohne aufrichtige Demut und Bescheidenheit, der wird kaum erleben, wie Herz und Hirn und jede Faser des Körpers elektrisiert werden, als fließe Liebe durch jede Zelle. Dieser Zustand der Selbstlosigkeit, der Selbstvergessenheit, des Verlorengehens in Gott, des gänzlichen Aufgehens in der Liebe Gottes – wie gelangt man dort hin? Es gibt Regeln, fangen wir bei der Form an.

Training für die Seele

»Trink, was in dem Glas ist«, sagte der islamische Mystiker Rumi. Die Form ist nicht entscheidend, es geht um das Wasser – doch ohne Glas geht es auch nicht, das Wasser zerrinnt. Warum wird im Islam so viel Wert auf die Form gelegt? Die Waschung vor dem Gebet, die teilweise festgelegten Gebete, die körperlichen Bewegungen, die Gemeinschaft − ist das nötig? Warum reicht nicht das Gebet des Herzens, wenn die innere Haltung doch das ist, worauf es ankommt? Das Gebet, das nur mal eben schnell erledigt wird, wie eine lästige Pflicht, husch, husch, braucht kein Mensch und Gott schon gar nicht. Es ist eine Beleidigung. Das islamische Ritualgebet ist keine Gymnastikeinheit und keine Yoga-Pose, die auf eine Stretching-Übung reduziert wurde. Eine falsche innere Haltung hinterlässt nur eine leere Hülle, nichts als eine Wegwerfdose. Und doch: Wer auf die Form verzichtet, macht sich das Leben schwer – denn die äußere Haltung unterstützt die innere Einstellung nicht nur, sie bewirkt sie auch!

Es gibt Studien, die zeigen, wie Körper und Geist einander beeinflussen. Es ist nicht nur die Emotion, die eine körperliche Reaktion hervorbringt, es funktioniert umgekehrt genauso gut: Wenn wir glücklich sind, lachen wir – aber andersrum geht es eben auch. Es reicht, sich einen Bleistift zwischen die Zähne zu klemmen und seine Mundwinkel nach oben zu zwingen: Wenige Sekunden später spürt man mit diesem künstlich erzeugten Lächeln sogar in Stresssituationen eine beglückende Wirkung. Der nonverbale Ausdruck überträgt sich in ein Gefühl. Wer es nicht glaubt, kann es ja direkt mal ausprobieren. Augenbrauen zusammenziehen und zornig schauen: Wir beginnen unzufrieden zu werden.

Das gilt nicht nur für die Mimik, sondern funktioniert auch mit Siegerposen. Menschen, die Erfolg haben, Politiker, Sportler, die gerade gewonnen haben, breiten oft die Arme aus, machen sich groß, nehmen körperlich Raum ein, der sogenannte Pfau-Effekt. Ob das auch umgekehrt funktioniert, wurde in einem Experiment untersucht. Vorab wurde bei den Testpersonen der Testosteron- und Cortisonspiegel gemessen, Testosteron als Gradmesser für Dominanz, Cortisol als Messwert für Stress. Selbstbewusste Führungskräfte haben viel Testosteron und wenig Cortisol. Nach der Messung ließ man die Versuchspersonen in einem Raum allein wahlweise Siegerposen einnehmen oder bat sie, sich körperlich klein zu machen, zwei Minuten lang. Diese zwei Minuten reichten. Sie führten dazu, dass Personen, die zuvor eine Siegerpose eingenommen hatten, einen höheren Testosteronspiegel und einen niedrigeren Cortisolspiegel aufwiesen, und sie führten sogar dazu, dass solche Personen in einer stressigen Bewerbungssituation von objektiven Beobachtern als kompetenter wahrgenommen und eher eingestellt wurden. Zwei Minuten Siegerpose machten einen deutlichen Unterschied: Eine entsprechende Körperhaltung im Vorfeld bewirkte eine selbstbewusste innere Einstellung. Der Körper macht das Gefühl. Der Rat der Sozialpsychologin Amy Cuddy, die dieses Experiment durchführte, lautet daher: »Fake it ’til you make it – ’til you become it!« Nimm eine entsprechende Körperhaltung ein, und Dein Bewusstsein wird sich verändern.

Das ist der Grund, warum die körperlichen Bewegungen für das islamische Ritualgebet eine wesentliche Rolle spielen: Ganzheitlichkeit. Wer sich mehrmals am Tag mit seinem Körper vor Gott niederwirft, sich klein macht, der wird demütig, dem fällt es leichter, sich von seinem Hochmut zu befreien, auch wenn er innerlich noch nicht so weit war. Denn er gibt sich Gott erst körperlich hin, und dann verlässt er auch seelisch seinen Stolz. Er ist nicht gebrochen, nicht Opfer, denn er hat den Größten zum Freund und muss nichts mehr fürchten. Wer sich nur abhängig vom einzig vollkommen Unabhängigen macht, ist so frei, wie man frei sein kann.