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In den letzten Dekaden erlangte rechtsradikale Politik zunehmende Salonfähigkeit in der Mitte des gesellschaftspolitischen Mainstreams. Beispiele aus Deutschland, Frankreich, Italien, Polen oder Ungarn weisen auf einen europaübergreifenden Charakter dieses Phänomens hin und werden in diesem Buch aufgezeigt. Das Buch umfasst nicht nur die klassischen Schwerpunkte wie Begriffsdiskussionen und Erklärungsansätze rechtsradikaler Wahlerfolge, sondern auch weitere Entwicklungen wie rechtsradikale Normalisierungsstrategien sowie Interaktionen rechtsradikaler Politik mit dem Mainstream. Darüber hinaus zeigt der Autor die Konsequenzen dieser Entwicklungen für europäische Gesellschaften und liberale Demokratien auf. Das Buch richtet sich an Studierende der Sozialwissenschaften und eignet sich zur politischen Bildung.
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Seitenzahl: 248
Veröffentlichungsjahr: 2024
utb 5995
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Bartek Pytlas ist habilitierter Politikwissenschaftler. Er forscht seit mehr als 15 Jahren zu Rechtsradikalismus und Parteienpolitik. 2018 erhielt er den Gero-Erdmann-Preis für Vergleichende Area-Forschung. Er forschte und lehrte in Frankfurt (Oder) und München. Er lebt in Berlin.
Bartek Pytlas
Vom Rand in den Mainstream
Umschlagabbildung: © iStockphoto · ioanmasay
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https://doi.org/10.36198/9783838559957
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Internet: www.narr.de
eMail: [email protected]
Einbandgestaltung: siegel konzeption l gestaltung
utb-Nr. 5995
ISBN 978-3-8252-5995-2 (Print)
ISBN 978-3-8385-5995-7 (ePDF)
ISBN 978-3-8463-5995-2 (ePub)
Als ich vor mehr als 15 Jahren begann, rechtsradikale Politik wissenschaftlich zu analysieren, war die Forschung zu dieser Problematik noch weitgehend ein Nischenthema. Heute, im Jahr 2024, gehören rechtsradikale Parteien zu den am stärksten untersuchten Parteienfamilien.
Dies hängt nicht zuletzt mit der Entwicklung rechtsradikaler Politik selbst zusammen. In den letzten Jahrzehnten hat rechtsradikale Politik ihre „Nischenposition“ weitgehend verlassen. Viele rechtsradikale Parteien haben sich in ihren Parteiensystemen fest verankert und sind sogar koalitionsfähig geworden. Gleichzeitig erlangt rechtsradikale Politik zunehmende Salonfähigkeit in der Mitte gesellschaftspolitischer Debatten.
In mehreren europäischen Ländern verzeichnen rechtsradikale Parteien Rekordergebnisse bei Wahlen. Bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen im September 2024 erlangte die Alternative für Deutschland (AfD) jeweils über 30 Prozent der Zweitstimmen. In Thüringen erreichte die AfD 2024 eine Sperrminorität und wurde mit 32,8 Prozent der Stimmen stärkste Kraft.
Die zunehmende Etablierung rechtsradikaler Parteien und die fortschreitende Normalisierung rechtsradikaler Politik in der gesellschaftspolitischen Mitte stellen Demokratien und pluralistische Gesellschaften in Europa vor neuartige Herausforderungen.
Vor diesem Hintergrund bietet dieses Handbuch eine sozialwissenschaftliche Einführung in die Konturen, strategischen Erscheinungsformen und aktuellen Entwicklungen rechtsradikaler Politik in vergleichender europäischer Perspektive. Der Einführungstext versteht sich vor allem als eine kritische und systematisierende Synthese der vorliegenden reichhaltigen und umfangreichen Befunde zu den Kontinuitäten und Wandel rechtsradikaler Politik im europäischen Vergleich.
Gleichzeitig soll dieses Lehrbuch – so die Hoffnung des Autors – eine allgemeinere Einführung in die Problematik des Rechtsradikalismus bieten. Das Buch richtet sich daher nicht ausschließlich an Studierende in sozialwissenschaftlichen Einführungsseminaren, sondern auch an weitere interessierte Leser:innen, die ihr Wissen über die Problematik des Rechtsradikalismus anhand aktueller internationaler sozialwissenschaftlicher Befunde vertiefen möchten.
Die Balance zwischen einer detaillierten Beschreibung der ausführlichen Forschungsbefunde zu Rechtsradikalismus und einer allgemeinen Einleitung in die Thematik zu schaffen, ist keine einfache Aufgabe. Aus diesem Grund konnten in dieser Einführung nicht der gesamte Forschungsstand und nicht alle Aspekte in allen Einzelheiten dargestellt und diskutiert werden. Angesichts des weiten Betrachtungshorizonts, der nicht nur West-, sondern auch Mittel- und Osteuropa umfasst, konzentrieren wir uns zudem auf rechtsradikale Parteien in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Zugleich ist es die Hoffnung, mit den folgenden Kapiteln einen Überblick über die zentralen Dimensionen rechtsradikaler Politik in Europa zu geben und zu einer vertieften Einarbeitung in die jeweiligen Schwerpunkte und vorliegenden Studien einladen zu können.
Im Laufe der Vorbereitung dieses Buches durfte ich von vielen Menschen Unterstützung und Ermutigung erfahren. Ich danke den zahlreichen Kolleg:innen für den langjährigen Fachaustausch im Rahmen gemeinsamer Projekte, Konferenzen und Forschungsnetzwerke.
Ich danke auch dem Team des UVK-Verlags. Mein großer Dank gilt Herrn Dr. Jürgen Schechler, der den Entstehungsprozess dieses Buches von Beginn an mit Geduld und Rat begleitet hat.
Ganz besonders danke ich meiner Familie auf beiden Seiten der Oder. Dziękuję Wam za wszystko. Mein größter Dank gilt meiner Ehefrau. Ich bin unendlich dankbar, dass wir durch die Höhen und Tiefen der Zeiten, in denen dieses Buch entstanden ist, gemeinsam gehen konnten. Keep on rocking.
Vorwort
Abbildungsverzeichnis
1 Einleitung
Teil 1 Konturen und Kontexte
2 Was ist Rechtsradikalismus?
2.1 Nativismus
2.2 Anti-Establishment-Politik und Populismus
2.3 Nativismus vs. Populismus
2.4 Rechtsextremismus, -radikalismus, -populismus?
3 Rechtsradikalismus in Westeuropa
3.1 Erste Welle (1945–1955)
3.2 Zweite Welle (1956–1979)
3.3 Dritte Welle (1980–1999)
3.4 Vierte Welle (seit 2000)
4 Rechtsradikalismus in Mittel- und Osteuropa
4.1 Erste Welle (1989–1997)
4.2 Zweite Welle (1998–2009)
4.3 Dritte Welle (2010–2014)
4.4 Vierte Welle (seit 2015)
5 Konturen und Erklärungsansätze
5.1 Vom Rand in die Mitte
5.2 Von der Nachfrage zum Angebot
Teil 2 Themen und Strategien
6 Nativismus
6.1 Positionen und Salienz
6.2 Narrative
6.3 Zusammenfassung
7 Anti-Establishment-Politik
7.1 Ideen repräsentativer Politik
7.2 Anti-Establishment-Politik im Vergleich
7.3 Die Rolle von Anti-Establishment-Politik
7.4 Zusammenfassung
8 Rechtsradikalismus und Europa
8.1 Rechtsradikale Parteien auf europäischer Ebene
8.2 „Europa für die Europäer“?
8.3 Zusammenfassung
9 Rechtsradikalismus und Krisen
9.1 Die Performanz von Krisen
9.2 Humanitäre Krise
9.3 COVID-19-Pandemie
9.4 Der russische Krieg gegen die Ukraine
9.5 Zusammenfassung
Teil 3 Entwicklungen und Erklärungen
10 Kontexte und Wähler:innen
10.1 Kontexte
10.2 Wähler:innen
10.3 Zusammenfassung
11 Organisation
11.1 Parteiorganisationen
11.2 Normalisierung, Performanz und Konflikte
11.3 Zusammenfassung
12 Parteienwettbewerb
12.1 Strategien konventioneller Parteien
12.2 Strategien rechtsradikaler Parteien
12.3 Zusammenfassung
13 Auswirkungen
13.1 Demokratische Institutionen
13.2 (Zivil-)Gesellschaft
13.3 Zusammenfassung
14 Fazit und Ausblick
Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Index
Abb. 4.1
Wahlergebnisse rechtsradikaler Parteien in Mittel- und Osteuropa und Westeuropa, 1989-2022.
43
Abb. 6.1
Salienz von kulturellen und ökonomischen Themen für rechtsradikale Parteien, 2017.
65
Abb. 6.2
Kulturelle und ökonomische Positionen rechtsradikaler Parteien, 2017.
66
Abb. 7.1
Das Anti-Establishment-Dreieck.
76
Abb. 7.2
Populismus und Rhetorik der politischen Berufung in Wahlkämpfen rechtsradikaler Parteien nach Region, 2010-2019.
79
Abb. 8.1
Wahlergebnisse rechtsradikaler Parteien bei den Europawahlen 1984-2019.
88
Abb. 11.1
Einfluss auf die programmatische Ausrichtung der Partei: Parteimitglieder vs. Parteiführung.
119
Abb. 12.1
Verschiebungen von Parteipositionen in der Einwanderungspolitik 2006-2018.
129
Abb. 12.2
Normalisierungsstrategien nativistischer Parteien nach Region 2010-2019: Rhetorik der Etablierung.
136
Abb. 12.3
Normalisierungsstrategien nativistischer Parteien nach Region 2010-2019: Rhetorik der Salonfähigkeit.
136
Am 4. Februar 2000 – vor nunmehr fast 25 Jahren – bildete die Österreichische Volkspartei (ÖVP) eine Regierung mit der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ). Die Kür der rechtsradikalen FPÖ zur Koalitionspartnerin der konventionellen christdemokratischen Großpartei ÖVP wurde als Tabubruch gesehen und löste eine Protestwelle sowohl in Österreich als auch auf europäischer Ebene aus. Bereits am 31. Januar 2000 erklärten die 14 übrigen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU), dass sie „keinerlei offiziellen bilateralen Kontakte auf politischer Ebene mit einer Regierung unter Einbindung der FPÖ betreiben oder akzeptieren“ werden (Spiegel.de 1.2.2000).
Diese Entwicklung markierte allerdings eher das Ende als die Aufrechterhaltung von Abschirmungsmaßnahmen (cordon sanitaire) gegenüber rechtsradikalen Parteien. Im Gegensatz zum EU-Rat distanzierte sich die EU-Kommission von den Maßnahmen. Während die österreichische Regierung einen „nationalen Schulterschluss“ gegen die EU-14 forderte, nahmen die EU-skeptischen Einstellungen im Land zu (Kurier.at 10.9.2020). Nach nur sieben Monaten wurden die Maßnahmen als kontraproduktiv beendet.
Die Einbindung der FPÖ in die Regierung von Wolfgang Schüssel (ÖVP) im Jahr 2000 ist eine der zentralen Zäsuren der sogenannten „vierten Welle“ in der Entwicklung rechtsradikaler Politik in Europa (Mudde 2019). Die „vierte Welle“ des Rechtsradikalismus ist zum einen durch den Aufstieg und die Etablierung rechtsradikaler Parteien, und zum anderen durch die fortschreitende Normalisierung rechtsradikaler Politik gekennzeichnet (Mudde 2019).
Der Aufstieg rechtsradikaler Parteien ist kein neues Phänomen. Allerdings haben Parteien wie die Rassemblement National (ehemals Front National) in Frankreich, die Partei für die Freiheit (PVV) in den Niederlanden, Fratelli d‘Italia, die Schwedendemokraten und auch die FPÖ in Österreich in den letzten Jahren bei Parlamentswahlen Rekordwerte von über 20 Prozent der Stimmen erzielen können. Seit den 2010er-Jahren konnten sich auch europaweit neue Parteien etablieren, darunter Vox in Spanien, Chega! in Portugal, Freiheit und Direkte Demokratie (SaPD) in Tschechien, Jobbik in Ungarn, oder auch die Alternative für Deutschland (AfD). Bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen im September 2024 konnte die AfD jeweils über 30 Prozent der Zweitstimmen erzielen. In Thüringen wurde die AfD mit 32,8 Prozent der Stimmen stärkste Kraft. Dies bedeutet nicht, dass der Rechtsradikalismus bereits eine dominante Stellung in den europäischen Gesellschaften und Politik eingenommen hat. Allerdings haben rechtsradikale Parteien im Laufe der letzten 25 Jahre einen Wandel vollzogen und ihre Nischenstellung am Rand der Politik verlassen. Rechtsradikale Politik rückt in den letzten Jahrzenten zunehmend in den Mainstream.
Erstens etablieren die meisten rechtsradikalen Akteur:innen in Europa ihre Organisationen in der Mitte ihrer Parteiensysteme und erlangen in mehreren Ländern zunehmende Koalitionsfähigkeit (Mudde 2010; Zulianello 2020). In Ländern wie Bulgarien, Dänemark, Estland, Italien, Lettland, Schweden und der Slowakei unterstützten rechtsradikale Parteien Minderheitsregierungen oder sind Teil von Koalitionen mit konventionellen Parteien geworden (Kossack 2023) – in Italien seit 2022 und in den Niederlanden seit 2024 sogar als stärkste Kraft.
Zweitens erlangt rechtsradikale Politik in den letzten Dekaden zunehmende Salonfähigkeit in der gesellschaftspolitischen Mitte (Mudde 2010, 2019; Pytlas 2015). Der ideologische Kern rechtsradikaler Politik ist der Nativismus. Dieser ruft zur Ausgrenzung von Ideen und Gruppen auf, die als „nicht-einheimisch“ und damit als grundsätzlich bedrohlich für „die (wahre) Nation“ dargestellt werden (vgl. Mudde 2007). Damit stellt der Nativismus eine Konter-Idee zu den pluralistischen Grundprinzipien der Demokratie dar (Minkenberg 1998, Mudde 2007). Im Unterschied zum Rechtsextremismus positioniert sich Rechtsradikalismus als eine spezifische strategische Variante nativistischer Politik nicht explizit anti-demokratisch oder verfassungsfeindlich. Rechtsradikale Politik verfolgt vielmehr die Strategie einer schleichenden Veränderung der Verfassungswirklichkeit (vgl. Minkenberg 1998).
Rechtsradikale Politik bleibt dabei eine kontinuierliche Herausforderung für die Demokratie und pluralistische (Zivil-)Gesellschaft. Demokratische Normen und teilweise sogar pluralistische Werte wie Gleichberechtigung oder Meinungsfreiheit werden „von innen heraus“ im Sinne nativistischer Ideologien umgedeutet und vereinnahmt (Halikiopoulou et al 2013; Froio 2018; Pytlas 2022a). Um ihre Ideologie zu entstigmatisieren und ihr Mobilisierungspotenzial zu erweitern, verfolgen rechtsradikale Parteien daher verschiedene rhetorische Normalisierungsstrategien. Im Zuge eines „Kulturkampfes von rechts“ konnten rechtsradikale Parteien in den letzten Dekaden öffentliche Debatten und die politische Agenda mit ihren Kernthemen und Positionen zunehmend beeinflussen (Minkenberg 2001; Hutter et al. 2016; Kriesi et al. 2006). Empirische Befunde zeigen zugleich, dass sich in den letzten Jahrzehnten mehrere konventionelle Parteien – in unterschiedlichem Ausmaß – in der Tendenz in Richtung der Positionen und Narrative rechtsradikaler „Originale“ bewegt haben (Abou-Chadi & Krause 2020, 2021; Alonso & Fonseca 2011; Bale 2003; Carvalho 2013; Mondon & Winter 2020; Mudde 2010; Pytlas 2015; Thränhardt 1995; van Spanje 2010).
Vor diesen Hintergründen versteht sich dieses Lehrbuch als eine sozialwissenschaftliche Einführung in die Konturen, strategischen Erscheinungsformen und aktuellen Entwicklungen rechtsradikaler Politik aus einer vergleichenden europäischen Perspektive. Ziel dieses Lehrbuches ist es an erster Stelle nicht, eine originale Analyse der Entwicklungen zu bieten. Wir verfügen bereits über eine umfassende sozialwissenschaftliche Wissensbasis zu rechtsradikaler Politik. Rechtsradikale Parteien und Rechtsradikalismus sind in den letzten Jahrzehnten zu einer der am besten erforschten Parteienfamilien und politischen Ideologien geworden (Mudde 2016). Daher versteht sich diese Einführung vor allem als eine kritische und systematisierende Synthese konzeptueller und empirischer Forschungsbefunde zu Kontinuitäten und Wandel rechtsradikaler Politik im europäischen Vergleich.
Unsere einleitenden Beobachtungen zeigen zugleich bereits: Um die Entwicklung und den Aufstieg rechtsradikaler Parteien in den letzten Dekaden erklären zu können, müssen die Phänomene der Normalisierung rechtsradikaler Politik stärker berücksichtigt werden. Empirische Studien zeigen, dass sowohl aktive Normalisierungsstrategien rechtsradikaler Parteien als auch Rechtsruckstrategien konventioneller Parteien eine signifikante Rolle für das Erstarken rechtsradikaler Parteien in den letzten Jahrzehnten spielen (Pytlas 2022a; Krause et al. 2023; vgl. Mudde 2019).
Gleichzeitig stellt die Normalisierung rechtsradikaler Politik die Demokratie und die pluralistische (Zivil-)Gesellschaft vor neuartige Herausforderungen (Bohman 2011; Scheppele 2018; Mudde 2019; Pytlas 2021a; Bill 2022). Empirische Studien zeigen beispielsweise, dass die Zunahme nativistischer Einstellungen in der Gesellschaft nicht etwa mit Migrationszahlen zusammenhängt, sondern mit dem Anstieg nativistischer Aussagen politischer Parteien (sowohl rechtsradikaler als auch insbesondere konventioneller Parteien) (Schmidt-Catran & Czymara 2023; vgl. Bohman 2011). In Polen und Ungarn haben die in den 2010er-Jahren radikalisierten, ehemals konservativen Parteien „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) und „Fidesz“ in der Regierungsverantwortung wiederum weitreichende Prozesse der Erodierung demokratischer Institutionen und Normen umsetzen können – und zwar nicht mithilfe expliziter anti-demokratischer Rhetorik, sondern schleichend durch rechtsradikale Umdeutung demokratischer Normen und illiberale Vereinnahmung demokratischer Institutionen (Pytlas 2015, 2021a; Mudde 2019).
Aus diesen Gründen legt dieses Lehrbuch einen besonderen Schwerpunkt auf die Diskussion sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse zu den Erscheinungsformen, Handlungen und Strategien rechtsradikaler Politik selbst. Damit steht die sogenannte Angebotsseite der Entwicklung rechtsradikaler Politik im Vordergrund der Diskussion, im Unterschied zur sogenannten Nachfrageseite oder dem kontextuellen „Nährboden“ des Rechtsradikalismus (Kitschelt & McGann 1995; Mudde 2007). Kontextfaktoren haben keine deterministische Auswirkung auf den Aufstieg rechtsradikaler Politik, sondern bieten Gelegenheits- oder Einschränkungsstrukturen, auf die Parteien unterschiedlich reagieren können. Durch eigenes Handeln können Parteien ungünstigen Kontexten trotzen oder auch trotz günstiger Gelegenheiten scheitern. Wichtig zu betonen ist, dass sozialwissenschaftliche Phänomene selten monokausale Gründe haben. Auch im Fall des Aufstiegs von Rechtsradikalismus ergänzen sich viele Ursachen und Faktoren. Zudem wirkt keiner der Faktoren quasi-automatisch. Soziale Phänomene sind dynamisch und können sich langfristig verändern.
Angesichts der Normalisierungsprozesse rechtsradikaler Politik betrachtet diese Einführung verstärkt die rhetorischen Normalisierungsstrategien, die rechtsradikale Parteien einsetzen, um ihr Mobilisierungspotenzial auszubauen (Halikiopoulou et al. 2013; Pytlas 2015, 2022a; Froio 2018). Rhetorische Normalisierung bedeutet nicht, dass die tatsächlichen ideologischen Positionen rechtsradikaler Parteien moderater werden (Akkerman 2016 et al.; Pytlas 2022a). Daher bleibt es wichtig, die rhetorischen Narrative mit den substanziell oft unveränderten inhaltlichen Positionen gegenüberzustellen (Pytlas 2022a).
Die Betrachtung dieser Phänomene erfordert zugleich eine vergleichende Perspektive. Trotz einer gemeinsamen ideologischen Basis ist die rechtsradikale Parteienfamilie hinsichtlich ihrer organisatorischen Charakteristika, Strategien und Wähler:innenstrukturen zunehmend komplexer und heterogener geworden (Mudde 2007, 2019; Heinisch & Mazzoleni 2016). Daher ist es wichtig, sowohl übergreifende Gemeinsamkeiten als auch spezifische Unterschiede innerhalb der rechtsradikalen Parteienfamilie vergleichend in den Blick zu nehmen.
Von besonderer Bedeutung ist dabei die Berücksichtigung der immer noch relativ unterbeleuchteten Befunde aus Mittel- und Osteuropa. Aus den längerfristigen Erfahrungen mittel- und osteuropäischer Demokratien mit den Mechanismen und Folgen der Normalisierung rechtsradikaler Politik lassen sich wichtige Lehren ziehen, die auch außerhalb der Region zunehmend an Bedeutung gewinnen (Pytlas 2015, 2021a; Enyedi 2016; Herman 2016; Scheppele 2018; Greskovits 2020; Pirro & Stanley 2022).
Um den Rahmen dieser Einführung nicht zu sprengen, können Entwicklungen in europäischen Staaten außerhalb der EU (Heinisch et al. 2024) oder in weiteren Regionen der Welt (Levitsky & Ziblatt 2018; McDonnell & Cabrera 2019) leider nicht betrachtet werden. Da wir in dieser Einleitung eine Balance zwischen vertiefter Diskussion und breiter Zugänglichkeit finden wollen, können wir gleichzeitig leider nicht den gesamten wissenschaftlichen Forschungsstand zu diesem Thema in der notwendigen Ausführlichkeit erwähnen und diskutieren. Schließlich können wir in dieser Einführung nicht alle Aspekte der Forschung umfassend diskutieren. Dazu gehören beispielsweise rechtsradikale und rechtsextreme Bewegungen (Caiani & Weisskircher 2022; Pirro & Gattinara 2018; Volk 2020; Vorländer et al. 2016), Protestmobilisierung (Castelli Gattinara et al. 2022) oder die Rolle medialer Akteur:innen (Ellinas 2009; de Jonge 2021b).
Die Kapitel dieses Handbuchs bieten zugleich einen Einstieg in zentrale Aspekte der konzeptuellen und empirischen Forschung zur Entwicklung rechtsradikaler Politik vom Rand in den Mainstream im europäischen Vergleich.
Im ersten Teil diskutieren wir die Konturen und Kontexte rechtsradikaler Politik. Wir beginnen mit der Vorstellung von Schlüsselbegriffen wie Nativismus und Rechtsradikalismus und grenzen diese konzeptuell von Populismus ab (Kap. 2). Es folgt ein Überblick über die historische Entwicklung rechtsradikaler Politik in West- sowie Mittel- und Osteuropa (Kap. 3 & 4). Anschließend vertiefen wir unsere Diskussion der Verschiebung der Konturen rechtsradikaler Politik vom Rand in den Mainstream und betrachten die Entwicklung der Erklärungsansätze von der Nachfrage- zur Angebotsseite rechtsradikaler Politik (Kap. 5).
Im zweiten Teil widmen wir uns den Themen und Strategien rechtsradikaler Politik. Hier vertiefen wir uns in die vergleichende empirische Betrachtung solcher ideologischen Elemente rechtsradikaler Ideologie wie Nativismus (Kap. 6), Anti-Establishment-Politik inklusive (aber nicht ausschließlich) Populismus (Kap. 7) und Euroskeptizismus (Kap. 8). Abschließend führen wir die Erkenntnisse zusammen und betrachten, wie rechtsradikale Parteien Krisen konstruieren, aber auch herunterspielen oder umdeuten (Kap. 9). Bei der Diskussion dieser Elemente spielt in jedem Kapitel die Analyse der jeweiligen Normalisierungsstrategien eine zentrale Rolle.
Im dritten Teil betrachten wir nun die Entwicklungen und Erklärungen hinter dem Aufstieg rechtsradikaler Politik. Wir beginnen mit der Nachfrageseite und diskutieren die Rolle der Kontexte und Wähler:innenstrukturen (Kap. 10). Anschließend wenden wir uns der Angebotsseite zu. Zunächst diskutieren wir die Entwicklung und Professionalisierung der Parteiorganisationen (Kap. 11). Danach betrachten wir die Wettbewerbsstrategien politischer Parteien – sowohl die Reaktionen konventioneller Parteien als auch die Normalisierungsstrategien rechtsradikaler Parteien. Eine wichtige Rolle nimmt hier die Diskussion der Effekte von Strategien der jeweiligen Akteur:innen auf die Wahlperformanz rechtsradikaler Parteien ein (Kap. 12). Wir schließen unsere Betrachtungen mit der Diskussion der weitreichenden negativen Auswirkungen der Normalisierung rechtsradikaler Politik – sowohl durch Kopierstrategien konventioneller Parteien als auch durch Strategien rechtsradikaler Parteien selbst – auf demokratische Institutionen und Normen sowie auf die pluralistische (Zivil-)Gesellschaft (Kap. 13).
Unsere Beschäftigung mit dem Phänomen rechtsradikaler Politik beginnen wir mit der Diskussion der wichtigsten Begriffe und Definitionen. Wir betrachten zunächst die zentralen ideologischen Bausteine von Rechtsradikalismus. Die rechtsradikale Kernideologie ist der Nativismus (Mudde 2007). Der Nativismus wird oft mit sekundären Anti-Establishment-Narrativen verknüpft, darunter – aber nicht ausschließlich – mit dem Populismus. Der Vollständigkeit halber ist als drittes Element rechtsradikaler Ideologie auch der Autoritarismus zu nennen (Mudde 2007). In unserer Diskussion konzentrieren wir uns jedoch auf Nativismus und Anti-Establishment-Politik, darunter Populismus. Dies geschieht, weil Nativismus immer noch häufig mit Populismus verwechselt wird (vgl. kritisch Mudde & Kaltwasser 2017; Hunger & Paxton 2022). Gleichzeitig zeigen neuere empirische Befunde, dass nicht alle rechtsradikalen Parteien populistisch sind (Pytlas 2023; siehe Kap. 7). Daher ist es wichtig, die Unterschiede zwischen Nativismus und Populismus zu verstehen und zugleich zu betrachten, wie Nativismus und Populismus sowie andere Anti-Establishment-Narrative miteinander verknüpft werden.
Anschließend ordnen wir das „taxonomische Chaos“ (Olsen 2000) und diskutieren Rechtsradikalismus in Abgrenzung zu den Begriffen „Rechtsextremismus“ und „Rechtspopulismus“. Der Blick auf rechtsradikale Politik hilft, eine spezifische strategische Ausprägung nativistischer Ideologie zu identifizieren, die demokratische Werte und Normen schleichend „von innen heraus“ im nativistischen Sinne umdeutet und vereinnahmt (vgl. Minkenberg 1998; Mudde 2007; Halikiopoulou et al. 2013). Dieser Fokus ist wichtig, da Rechtsradikalismus die gegenwärtig häufigste und besonders erfolgreiche Variante von Nativismus ist, die neuartige und weitreichende Herausforderungen für Demokratie und pluralistische Gesellschaften mit sich bringt (vgl. Kap. 13).
Jede kollektive Identität ist das Ergebnis gesellschaftlicher Be- und Zuschreibungen (Barth 1969; Tajfel & Turner 1979; vgl. Froio 2018). Das bedeutet, dass Menschengruppen infolge sozialer Interaktionen sich entlang von bestimmten konstruierten Kriterien als ähnlich und zusammengehörig wahrnehmen – und dies meist erst durch Abgrenzung zu anderen Gruppen. Eine „Nation“ ist demnach eine vorgestellte politische Gemeinschaft (Anderson 1991).
In diesem Sinne bildet die Idee einer Nation und des Nationalstaates die Grundlage moderner – auch liberal-demokratischer – politischer Gemeinschaften (Smith 1999). Wie aber lässt sich die Idee von Nation von ihrer radikalen Variante unterscheiden?
Den ideologischen Kern des Rechtsradikalismus bildet eine mythisierte und romantisierte Überhöhung einer homogenen Nation verbunden mit Narrativen der gesellschaftspolitischen Ausgrenzung (Minkenberg 1998). Mudde (2007) fasst diese Konzeptualisierung unter dem Begriff des Nativismus zusammen.
Nativismus behauptet den Vorrang des Status und der Interessen der homogen gelesenen „Einheimischen“ gegenüber konstruierten „Anderen“. Nativismus ruft folglich zur Ausgrenzung von Ideen und Gruppen auf, die als „nicht-einheimisch“ und dadurch als bedrohlich für „die (wahre) Nation“ dargestellt werden (vgl. Mudde 2007).
Innerhalb des Nativismus ergänzen sich Nationalismus und Exklusion gegenseitig und bilden zwei Seiten derselben anti-pluralistischen Weltanschauung. Nativismus naturalisiert Elemente nationaler Identität als monolithische, fixe und deterministische Eigenschaften, die der Vielfalt, Variabilität und Flexibilität persönlicher Identitäten widersprechen. Die als „Andere“ konstruierten Menschen werden somit als grundsätzliche Bedrohung für „die Nation“ dämonisiert. Durch die monistische und essentiell gegnerische Auffassung von konstruierten „Einheimischen“ und „Anderen“ interpretiert der Nativismus gesellschaftspolitische Realitäten als einen fundamentalen Kampf zwischen „Gut“ und „Böse“ (Froio 2018). Zugleich ist der Nativismus eine Ideologie der Ungleichheit und Ungleichwertigkeit (vgl. Salzborn 2020). Die Bewahrung der vermeintlich bedrohten Vormachtstellung „einheimischer“ Gruppen und Ideen wird zu einer Grundbedingung der fortdauernden Existenz der kollektiven „nationalen“ oder „zivilisatorischen“ Gemeinschaft. Personen und Gruppen, die nicht in das nativistische Gesellschaftsbild passen (ethnische, kulturelle, sexuelle und religiöse Minderheiten, Menschen mit Migrationserfahrungen, LSBTIQ+-Personen, Vertreter:innen „anti-nationaler“ Werte oder „nichteinheimischer“ Ideen) werden als „fremd“ markiert, als bedrohlich dämonisiert und aus der („wahren“) nationalen Gemeinschaft ausgegrenzt.
Die nativistische Kernideologie kann daher mit verschiedenen rassistischen, sexistischen und weiteren Ausgrenzungs- und Abwertungsnarrativen verknüpft werden.
Gegenwärtig enthält sie zugleich eine starke kulturalistische Komponente (Mudde 2007; Rydgren 2018).
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden die einst etablierten biologistisch rassistischen Ideologien von der internationalen Gemeinschaft verurteilt und diskreditiert (Mondon & Winter 2020). Rassistische Akteur:innen der Nachkriegszeit standen vor der Herausforderung, die breitere gesellschaftspolitische Stigmatisierung ihrer Organisationen zu überwinden. Spätestens seit Mitte der 1960er-Jahre fand daher eine strategische Verschiebung und Erweiterung nativistischer Ausgrenzungsnarrative hin zu kulturalistischen Argumentationen statt. Eine nativistische Auslegung kultureller Identitätsbegriffe wie „Werte“, „Religion“ oder „Traditionen“ wurde dabei stellvertretend für offenen biologistischen Rassismus zum Kernvokabular rechtsradikaler Politik (Minkenberg 1998; Mudde 2007; Rydgren 2018; Mondon & Winter 2020). Die kulturalistische Variante des Nativismus sieht ethnisierte „Kulturen“ als räumlich und zeitlich homogen und unveränderlich an sowie behauptet auf Grundlage dieser mythischen Vorstellung, dass soziokulturelle Diversität inhärent konflikthaft sei (vgl. Mudde 2007; Rydgren 2018; Auma 2018).
Wichtig ist, dass Nativismus nicht als Synonym oder Ersatz für einzelne Ausgrenzungs- und Abwertungskonstruktionen, wie beispielweise biologistischen Rassismus, zu verstehen ist. „Traditionelle“ biologistisch-rassistische Ideen und Praktiken sind nach wie vor Teil der Alltagserfahrungen, mit denen Betroffene konfrontiert sind (Auma 2018; DeZIM 2022; Mondon & Winter 2020). Vielmehr fungiert der Nativismus als übergreifender ideologischer Kitt, der unterschiedliche Narrative der Ungleichwertigkeit und Ausgrenzung miteinander verbindet. Wir verwenden Nativismus im Sinne einer Minimaldefinition als einen Sammelbegriff, der es uns erlaubt, seine verschiedenen politischen Artikulationen sowie deren strategische Überschneidungen mit unterschiedlichen Narrativen in der Praxis zu vergleichen. Diese übergreifende Perspektive ist wichtig, weil einzelne, wenn auch analytisch trennbare Ausgrenzungsnarrative in der Praxis häufig kombiniert werden. Einerseits werden biologistisch-rassistische Zuschreibungen – sowohl historisch als auch aktuell – „als wesentliche Voraussetzung für soziale und kulturelle Leistungsfähigkeit sowie für gesellschaftlichen Fortschritt gedacht“ (vgl. Auma 2018: 1). Zum anderen können vermeintliche Religion und Herkunft in die Konstruktion rassifizierender Zuschreibungen hineinspielen (d’Urso & Bonilla 2023; Garner & Selod 2015).
Zugleich ist die nähere Betrachtung der kulturalistischen Variante des Nativismus wichtig, um verschiedene strategische Ausprägungen dieser Ideologie in der gegenwärtigen Politik vergleichend zu betrachten (vgl. Kap. 6).
Zum einen können sich rechtsradikale Akteur:innen aus traditionalistischen Positionen heraus pauschal gegen gesellschaftliche Diversität und progressiv-liberale Gesellschaftswerte im Allgemeinen positionieren.
Zum anderen präsentieren sich einige nativistische Akteur:innen paradoxerweise als Verteidiger:innen progressiv-liberaler Werte wie Toleranz, Fortschritt, LSBTIQ+-Rechte, Gleichberechtigung oder Säkularismus (Halikiopoulou et al. 2013; Froio 2018; Mondon & Winter 2020).
Diese als „liberaler Illiberalismus“ (Moffitt 2017) oder „liberaler Rassismus“ (Mondon und Winter 2020) bezeichnete Strategie bleibt nativistisch und exklusionär. Progressiv-liberale Werte werden als exklusive Eigenschaften der „fortschrittlichen“ (und daher vermeintlich unmöglich rassistischen, LSBTIQ+feindlichen oder frauenfeindlichen) Eigengruppe interpretiert, während „nicht-einheimische“ Menschen pauschal als „rückständig“ ausgegrenzt werden. Die konstruierten „Anderen“ werden somit pauschal als diejenigen abgewertet, die diese Ideen nicht verinnerlichen wollen oder können. Mit anderen Worten: progressiv-liberale Werte werden umgedeutet und als nativistische Argumente verwendet (Halikiopoulou et al. 2013; Froio 2018; Pytlas 2021c).
Unabhängig von der jeweiligen strategischen Ausrichtung bildet der Nativismus somit – ob durch direkte Gegnerschaft oder durch nativistische Umdeutung – eine Konter-Idee zu den pluralistischen Werten der Demokratie. Die pluralistisch-demokratische Grundlage gegenwärtiger Gesellschaften bilden unter anderem gesellschaftliche Diversität, die allgemeine Geltung gleicher Menschenrechte sowie das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit (Dahl 1971; Fraenkel 1964; vgl. Minkenberg 1998; Salzborn 2020). Unabhängig von der jeweiligen strategischen Ausrichtung stellt rechtsradikale Politik wiederum die Subjektivität, Handlungsfähigkeit und Selbstbestimmung marginalisierter Menschen, und damit ihr Recht auf gleichberechtigte gesellschaftspolitische Teilhabe, grundsätzlich in Frage.
In der Überhöhung der Nation und der Verknüpfung ihrer vermeintlichen „Verletzlichkeit“ mit der Darstellung „der Anderen“ als fundamentale Bedrohung bildet der Nativismus eine qualitativ spezifische Ideologie kollektiver Identität und Zugehörigkeit, die den pluralistischen Prinzipien der Demokratie grundsätzlich entgegensteht (Minkenberg 1998).
In der politischen Praxis ist der Nativismus als radikalisierter exklusionärer Nationalismus zugleich von den etablierten nationalen Identitätsnarrativen nicht gänzlich entkoppelt und bleibt durch strategische Anpassungen an konventionelle politische Ideen potenziell anschlussfähig (Minkenberg 2000; Mudde 2010).
Die zweite Dimension, die für Rechtsradikalismus relevant ist, ist (populistische) Anti-Establishment-Politik.
Unter Anti-Establishment-Politik verstehen wir eine Artikulation eines grundlegenden repräsentativen Konflikts zwischen den „illegitim politisch mächtigen“ und „illegitim politisch machtlosen“ Gruppen und Ideen, zwischen der (aktuellen) „politischen Klasse“ und „den Menschen“, zwischen „Regierenden“ und „Regierten“, zwischen „den Repräsentant:innen“ und „Repräsentierten“ usw. – und an diesen Konflikt geknüpfte Forderungen nach einem fundamentalen politischen Wandel (Barr 2009; de Cleen & Stavrakakis 2017; Poguntke & Scarrow 1996; Pytlas 2023; Schedler 1996).
Um vergleichend zu erfassen, wie Anti-Establishment-Rhetorik in der politischen Praxis eingesetzt wird, dürfen ihre unterschiedlichen strategischen Ausprägungen nicht außer Acht gelassen werden. Um ihre Rolle im Gefüge rechtsradikaler Politik besser zu verstehen, müssen wir uns wiederum davor hüten, sekundäre „dünne“ Ideen repräsentativer Politik wie bspw. Populismus nicht mit der primären rechtsradikalen Ideologie des Nativismus zu verwechseln.
Betrachten wir zunächst die verschiedenen strategischen Ausprägungen von Anti-Establishment-Politik.
Erstens: Anti-Establishment-Rhetorik kann durchaus elitistisch sein. Anti-Establishment-Politik konstruiert nicht nur einen Konflikt zwischen „der Elite“ und „dem Volk“, sondern auch zwischen grundsätzlich „unechten/bösen“ und „echten/guten“ Eliten. Parteien, die Anti-Establishment-Politik verwenden, können sich daher selbst als geächtete „wahre Eliten“ darstellen (vgl. Schedler 1996; Pytlas 2022a; siehe auch Kap. 7.1). Interessanterweise zeigen neuere empirische Befunde, dass rechtsradikale Parteien in Europa nicht immer populistisch, sondern häufig – und zunehmend – elitistisch sind (Pytlas 2023; vgl. Kap. 7.2). Deshalb sprechen wir hier von „Anti-Establishment-Politik“ im Allgemeinen und nicht nur von explizitem „Anti-Elitismus“.
Dies bedeutet zweitens, dass Anti-Establishment-Politik nicht auf eine explizit anti-systemische Strategie reduziert werden kann. Während anti-systemische Anti-Establishment-Rhetorik die generelle Abschaffung repräsentativer Institutionen, einschließlich politischer Parteien als solche postulieren kann, können sich Anti-Establishment-Akteur: innen auch gegen die „gegenwärtige Elite“, oder die „übliche Politik“ positionieren (Poguntke & Scarrow 1996; Mudde 1996a) – und sich paradoxerweise als eine einzig verbliebene „wirklich legitime“ Partei, „echte“ Elite oder als Vertreter:innen einer „wahren“ repräsentativen Politik darstellen (Pytlas 2022a).
Daraus folgt schließlich, drittens: Anti-Establishment-Politik bedeutet meistens auch Konter-Establishment-Politik. Denn die grundsätzliche Ablehnung des aktuellen politischen Establishments beinhaltet häufig – implizite oder explizite, mehr oder weniger anti-systemische – Forderungen nach einem grundlegenden Wandel repräsentativer Politik (vgl. Barr 2009; Poguntke & Scarrow 1996). Dies bedeutet, dass politische Akteur:innen die Artikulation eines fundamentalen Konfliktes zwischen „Repräsentant:innen“ und „Repräsentanten“ mit unterschiedlichen „dünnen“ Ideen guter repräsentativer Politik verknüpfen können. Damit meinen wir unterschiedliche Ideen und Aussagen darüber, wie „wirklich legitime“, gute repräsentative Politik bzw. echte Eliten sein und funktionieren sollten (Pytlas 2023).
Eine der prominentesten und in letzten Jahren am besten erforschten Ideen repräsentativer Politik ist der Populismus (Lewandowsky 2022; Mudde & Rovira Kaltwasser 2017). Unser Verständnis von Populismus knüpft an die ideationale Definition an.
Wir definieren Populismus als eine „dünne Ideologie“, die die Gesellschaft in zwei homogene, antagonistische Gruppen teilt: das „reine Volk“ und die „korrupte Elite“, und die fordert, dass die Politik einen monistischen „allgemeinen Volkswillen“ (volonté générale) ausdrücken soll (Canovan 2002; Mudde 2004).
In der Forschung finden immer noch Debatten darüber statt, ob Populismus eine „dünne Ideologie“ ist oder vielleicht doch noch ein „politisches Stilmittel“, „diskursive Logik“ oder eine „Strategie“ (Aslanidis 2016; Moffitt & Tormey 2014). Für unsere Zwecke sind diese Unterscheidungen zwar nicht irrelevant. Allerdings gehen diese Aspekte in der praktischen Betrachtung dessen, wie Populismus politisch genutzt wird, häufig ineinander über. Denn populistische Ideen werden durch Diskurse und performative Stilmittel vermittelt, die wiederum oft strategisch eingesetzt werden, um die Empfänger:innen von einer bestimmten Version der Realität zu überzeugen. In all diesen miteinander verknüpften persuasiven Aspekten als eine Idee, Stilmittel usw. verspricht der Populismus eine Heilung der Politik durch unmittelbare Repräsentation des „allgemeinen Volkswillens“ – entweder durch direkte Bindung der Politik an das, was „die Menschen“ wissen, denken oder wollen, oder durch Akteur:innen, die diesen „Volkswillen“ verkörpern (Canovan 2002; Moffitt & Tormey 2014). Wichtig ist jedoch, dass Populismus nicht mit „Demagogie“ oder mit bloßer Anti-Establishment-Rhetorik gleichzusetzen ist. Während populistische Politik immer gegen das politische Establishment gerichtet ist, ist Anti-Establishment-Politik nicht immer populistisch (Pytlas 2023). Ein fundamentaler Konflikt zwischen „Repräsentant:innen“ und „Repräsentierten“ muss nicht ausschließlich an die Idee angeknüpft sein, dass „gute Politik“ den „Willen des Volkes“ verkörpern oder verbindlich befolgen soll. Sie kann gleichzeitig oder stattdessen auch an andere „dünne“ Ideen repräsentativer Politik geknüpft sein, wie etwa technokratische oder klientilistische Politik (Bertsou & Caramani 2020; Mudde & Rovira Kaltwasser 2017).
Zu den vorgestellten Quellen „guter Politik“ gehören neben dem Willen und den gewöhnlichen Qualitäten „des kleinen Mannes“ oder einer außerordentlichen, explizit nicht-politischen technokratischen Expertise auch die Beschwörung, einer besonderen, explizit politischen Berufung (political vocation), die als notwendig gesehen wird, um ein angeblich verlorengegangenes Ethos formal-repräsentativer (Parteien-)Politik wiederzubeleben (Pytlas 2023). Auf die Einsetzung der verschiedenen „dünnen“ Ideen von „wahrer Demokratie“ und „legitimer repräsentativer Politik“ durch rechtsradikale Parteien gehen wir vertiefend im Kapitel 7 ein.
Die primäre rechtsradikale Ideologie des Nativismus wird häufig mit „dünnen“ Hilfsideen wie dem Populismus verbunden, aber auch verwechselt (vgl. kritisch Mudde & Kaltwasser 2017; de Cleen & Stavrakakis 2017; Hunger & Paxton 2022).
Vor allem in der letzten Dekade