Reflect Racism - Nivedita Prasad - E-Book

Reflect Racism E-Book

Nivedita Prasad

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Beschreibung

Der Sammelband Reflect Racism regt zur kritischen Selbstreflexion an, ohne dabei bestimmte Personen(gruppen) in moralischer Hinsicht als rassistisch zu diskreditieren. Reflexion ist dabei nicht gedacht als ständige Form der Selbstbespiegelung, sondern als Versuch der Einordnung der eigenen Situation in einen größeren Kontext. Der Titel des Bandes weist darauf hin, dass gesellschaftliche Rahmenbedingungen Menschen dazu veranlassen können, Rassismus zu reproduzieren. Unter diesen Rassismus reproduzierenden Rahmenbedingungen ist es äußerst schwierig, nicht rassistisch zu denken und zu handeln. Um die ungewollte Reproduktion des Rassismus zu verhindern, ist eine kontinuierliche kritische Selbstreflexion – und damit einhergehend auch eine umfassende Gesellschaftskritik – unerlässlich. Rassismus als historische Machtstrategie ist im stetigen Wandel begriffen. Ohne ihn kontinuierlich neu zu reflektieren und ihn in seinen diversen Darstellungsformen begrifflich zu erfassen, besteht die Gefahr, dass er weiterhin im toten Winkel seine Wirkungen entfaltet. Es reicht bei Weitem nicht aus, ihn einmal definiert zu haben, um ihn für alle Zeit effektiv bekämpfen zu können; er muss in seiner Komplexität und in seinem ständigen historischen Wandel stets neu vergegenwärtigt werden.

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Tuan Tran, Hubert Steiner (Hg.)

Reflect Racism

Anmerkungen für eine rassismuskritische Praxis

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Tuan Tran, Hubert Steiner (Hg.)

Reflect Racism. Anmerkungen für eine rassismuskritische Praxis

1. Auflage, Oktober 2020

eBook UNRAST Verlag, März 2021

ISBN 978-3-95405-090-1

© UNRAST-Verlag, Münster 2020

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Gefördert von der Fachstelle für Demokratie der

Landeshauptstadt München

Umschlag: Unrast Verlag

Satz: Andreas Hollender, Köln

Inhalt

Tuan Tran und Hubert SteinerVorwort

Tuan Tran und Hubert SteinerRassistische ›Mechanismen‹ in der Alltagssprache

Tuan TranDie Schwierigkeit, Rassismus wahrzunehmen – Erkenntnistheoretische Reflexionen aus (einer) Betroffenenperspektive

Klaus WeberRassismus und Soziale Arbeit

Günter Roth›Gewöhnlicher‹ Rassismus, ›intellektueller‹ Rassismus und ›Rechtspopulismus‹

Nivedita PrasadRassismus als Realität in akademischen Bildungsinstitutionen

Dileta Fernandes SequeiraRassismus als weltsystemisches Problem – kritische Betrachtungen aus der Psychologie

Autor*innenporträts

Anmerkungen

Illustrationen auf den Seiten 6, 14, 74, 151, 152, 166: Lena Hendlmeier. Enstanden im Rahmen der Plakataktion der Antirassismus-Kampagne reflect racism an der Hochschule München 2018. Lena Hendlmeier © Copyright 2018. Alle Grafiken sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, einschließlich der Vervielfältigung, Veröffentlichung, Bearbeitung und Übersetzung, bleiben vorbehalten, Lena Hendlmeier. Kontakt: hendlmeierstudios.com

Vorwort

Ein weiteres Buch über Rassismus? Brauchen wir das wirklich? Mittlerweile sollte doch allen bewusst sein, dass unsere Gesellschaft ein Rassismusproblem sowohl auf struktureller, institutioneller als auch alltäglich-interpersoneller Ebene hat. Solange es noch rechte Täter*innen gibt, solange werde es ebenso noch Opfer rechter Gewalt geben, lautet die gängige Meinung. Aber Rassismus ist weitaus mehr: Mehr als die Täter*innen-Opfer-Dichotomie, mehr als die Gegenüberstellung von Antirassist*innen und Rassist*innen und vor allem mehr als die Diskriminierung aufgrund der zugeschriebenen Andersartigkeit. Dieses ›mehr‹ ist Grund genug, um immer wieder das sich wandelnde Phänomen Rassismus aus verschiedenen Perspektiven, vor allem aus der Perspektive Betroffener, von Neuem zu reflektieren. Ja, dieses und weitere Bücher über Rassismus sind mehr als notwendig.

Motiviert von der Idee, gemeinsam mit verschiedenen Menschen über das gesellschaftliche Phänomen Rassismus in einem akademisch-wissenschaftlichen Setting zu reflektieren, führte das Referat für Gleichstellung an der Hochschule München im Jahr 2018 in Kooperation mit verschiedenen Akteur*innen, u.a. mit der Fachstelle für Demokratie der Landeshauptstadt München, eine hochschulweite Antirassismus-Kampagne mit dem appellierenden Titel reflect racism durch. Im Rahmen dieser Kampagne waren ein Fachtag, sechs Workshops sowie eine Plakataktion vorgesehen. Wissenschaftler*innen und Expert*innen führten die einzelnen Veranstaltungen durch. Sowohl die allgemeine Resonanz als auch die kontroversen Diskussionen in den jeweiligen Veranstaltungen haben für alle Beteiligten neue Reflexionshorizonte in Bezug auf das Phänomen Rassismus eröffnet. Nicht nur die Teilnehmenden profitierten vom gemeinsamen Reflektieren, sondern vor allem auch die Wissenschaftler*innen und Expert*innen selbst.

Reflexion ist dabei nicht gedacht als ständige Form der Selbstbespiegelung, sondern als Versuch der Einordnung der eigenen Situation in einen größeren Kontext. Für Bourdieu war dies die zentrale Aufgabe der Sozialphilosophie, denn sie »gibt uns eine kleine Chance, das Spiel zu verstehen, das wir spielen, und die Herrschaft sowohl der Mächte des Feldes abzuschwächen, in dem wir uns bewegen, als auch der inkorporierten gesellschaftlichen Mächte, die in unserem Innern wirken« (Bourdieu et al. 2006: 234). Gesellschaftliche Rahmenbedingungen können Menschen dazu veranlassen, Rassismus zu reproduzieren. Unter diesen Rassismus reproduzierenden Rahmenbedingungen ist es gemäß Kalpaka et al. äußerst schwierig, nicht rassistisch zu sein (2017). Um die ungewollte Reproduktion des Rassismus zu verhindern, ist eine kontinuierliche kritische Selbstreflexion – und damit einhergehend auch eine umfassende Gesellschaftskritik – unerlässlich. Dieser Sammelband soll mit seinen unterschiedlichen Perspektiven auf das Phänomen Rassismus dabei helfen, sich kritisch selbst zu hinterfragen, um ›Reflexion‹ als Rückspiegelung rassistischer Effekte zu vermeiden. Rassismus als historische Machtstrategie ist im stetigen Wandel. Ohne ihn kontinuierlich neu zu reflektieren und ihn in seinen diversen Artikulationsformen begrifflich zu erfassen, besteht die Gefahr, dass er weiterhin im blinden Fleck seine Wirkungen entfaltet. Es reicht bei weitem nicht aus, ihn einmal definiert zu haben, um ihn für alle Zeit effektiv bekämpfen zu können; er muss in seiner Komplexität und in seinem ständigen historischen Wandel neu reflektiert werden.

Fertiggestellt wurde der Sammelband im Mai 2020 angesichts der COVID-19-Pandemie im Bewusstsein, dass dieses Ereignis die Gefahr in sich birgt, die verschiedenen Formen sozialer Ungleichheit noch zu verstärken. Wir sehen dabei ganz konkret, wie sich die Privilegierten präventiv vor gesundheitlichen Schäden schützen können, während einem großen Teil der Menschheit (wie im Geflüchtetenlager von Moria, um hier ein europäisches Beispiel zu nennen) diese Möglichkeiten gar nicht zur Verfügung stehen. Zudem werden in der aktuellen Entwicklung Diskriminierungsformen verstärkt, wie etwa der ›anti-asiatische‹ Rassismus und, damit zusammenhängend, konkrete physische Gewalt aufgrund von zugeschriebenen Gruppenmerkmalen (vgl. Human Rights Watch 2020).

Neben der Aufgabe des Gleichstellungsreferats, zur Sensibilisierung für verschiedenste Diskriminierungsformen beizutragen, waren die Ereignisse in Verbindung mit den globalen Fluchtbewegungen der Jahre zuvor ein initialer Moment für die Kampagne reflect racism. Hier wurden einerseits massiv Menschenrechte ausgesetzt, andererseits verhalfen Deutungen, vor allem aus dem rechten politischen Spektrum, verschiedensten Parteien in Europa (beispielsweise der AfD in Deutschland, dem Front National in Frankreich) zu beträchtlichem Zuspruch. Die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten wie auch der Brexit sind dabei prominente Beispiele für eine Veränderung hin zu einer nationalistischen Ausrichtung. Weiterhin erfolgte während des NSU-Prozesses die Auseinandersetzung mit Rassismus nicht in dem notwendigen Umfang, wie es dem tatsächlichen Ausmaß angemessen gewesen wäre.

Ungeachtet der Annahme, dass es mittlerweile keine Differenz von linker und rechter Politik gibt, halten wir es für sinnvoll, verschiedene politische Richtungen am Maßstab der Gleichheit zu unterscheiden. Der Kern der Linken liegt im Streben nach Gleichheit, die Rechten hingegen befürworten Hierarchien (vgl. Bobbio 1994). Gleichheit bedeutet jedoch nicht ›Gleichschaltung‹; freie Meinungsäußerung bedeutet nicht, dass einzelne Meinungen auch abgelehnt werden können, sobald sie die Freiheit anderer gar nicht anerkennen. Gleichheit meint ganz konkret das Bemühen um die Abschaffung sozialer Missstände. Wer dies tun möchte, muss sich dann auch mit den Ursachen (oder besser: Gründen) derselben befassen. Allzu oft geschieht dieses Vorgehen auf Basis journalistischer Prinzipien, die sich darauf konzentrieren, eine Empörungswelle oder einen ›Hype‹ zu entfachen. Ihre Darstellung ist verkürzt und die Empörung hält nur für eine kurze Zeit an, wie z.B. bei der Berichterstattung über Brandanschläge auf Asylbewerber*innenheime. Zwar erregen auch moralische Bewertungen die Gemüter, doch greifen sie ebenfalls zu kurz. Anstatt rassistische Strukturen zu verhindern, wollen sie Orientierungshilfe anbieten, die eher für Kinder geeignet sind – im Sinne von: ›Das sagt man nicht!‹. Beide Verkürzungen verhindern allerdings die Reflexion über die Strukturen, die Rassismus erst ermöglichen.

Obwohl die Autor*innen dieses Bandes einem akademischen Umfeld angehören, ist er keineswegs nur an Wissenschaftler*innen adressiert. Die dargebotenen Denkanregungen eignen sich auch für Personen, die sich bereits mit dem Thema Rassismus auseinandergesetzt haben und ihren Horizont in diese Richtung erweitern wollen. Der Sammelband beabsichtigt nicht, eine Einführung in das Thema Rassismus zu sein. Stattdessen will er zusätzliche Aspekte abdecken, die die einführende Rassismus-Literatur nicht enthält. Es ist außerdem nicht beabsichtigt, mit diesem Sammelband eine (weitere) theoretische Abhandlung über das Phänomen Rassismus darzubieten, vielmehr sollen Leser*innen aus einem Fundus unterschiedlicher Reflexionsmuster für sich selbst Impulse entnehmen können, um diese in ihrem Alltag praktisch umsetzen könnten. Primäres Ziel dieses Bandes ist die Anregung zur kritischen Selbstreflexion, ohne dabei bestimmte Personen(gruppen) oder auch die (rassismuskritische) Leser*innenschaft selbst in moralischer Hinsicht als rassistisch zu diskreditieren. Wenn z.B. aufgezeigt wird, dass einige antirassistische Denkfiguren zur Reproduktion des strukturellen Rassismus beitragen könnten, bedeutet das noch lange nicht, alle Antirassist*innen seien Rassist*innen. Stattdessen geht es um die Reflexion rassistischer Mechanismen und Erscheinungsformen, mit dem Ziel die darunter liegenden Strukturen zu verändern, als um personalisierte Schuldzuweisungen. Die kritische Selbstreflexion ermöglicht einen Ausgang aus den rassistischen Verstrickungen.

Seine thematischen Grenzen zieht der Band entlang der Frage nach den theoretischen und praktischen Wirkformen des Rassismus in verschiedenen sozialen Feldern (Bourdieu). Im politischen Bereich wird Rassismus anders gedacht als etwa im kulturellen Bereich. Gleichfalls unterscheidet sich die Praxis des Rassismus im Bildungsbereich erheblich von der im ökonomischen Bereich. Mit diesem Band liegt der Versuch vor, Aussagen bzw. Strategien aus einer kritisch-emanzipatorischen Perspektive neu zu formulieren, ohne dabei in die Essentialismus-Falle zu geraten. Essentialistische Vorstellungen gehen davon aus, dass bestimmte Zuschreibungen wie ›kulturelle Praxis‹ oder auch Ethnizität unveränderbare Wesensmerkmale bestimmter Personengruppen darstellen: z.B. die Annahme, Asiat*innen seien kollektivistisch und Europäer*innen individualistisch (z.B. Hofstede 2001). Es muss stattdessen eine Perspektive auf das Problem Rassismus eröffnet werden, die darauf abzielt, nicht dem essentialistischen Glauben zu verfallen.

Erste Denkanregungen geben das Autorenpaar Tuan Tran und Hubert Steiner mit dem Thema Rassistische ›Mechanismen‹ in der Alltagssprache. Mit ihrer phänomenologisch-diskurstheoretischen Zugangsweise wollen sie zunächst auf die subtilen, kaum wahrnehmbaren, diskriminierenden und unterdrückenden Mechanismen in der selten reflektierten Alltagssprache hinweisen. Anstatt Sprechverbote oder in totalitärer Weise Political Correctness einzufordern, gehen Tran und Steiner einen Schritt weiter und fragen nach den gesellschaftlichen Bedingungen, die diese Mechanismen ermöglichen oder sogar immer wieder in neuen Formen generieren. In dieser Hinsicht stellen Sprechverbote oder Political Correctness lediglich kosmetische Verbesserungen dar; die ›kausalen‹ Bedingungen bleiben davon unberührt. Anhand soziologischer sowie philosophischer Theorien versuchen beide, das Phänomen Rassismus in seiner komplexen und sich historisch stets verändernden Form zu erfassen. Die archäologische Analyse erfolgt an exemplarischen kontextualisierten Phrasen wie »Ich bin Flüchtlingshelferin« oder »Mittwochs gehen wir zum Inder essen«.

Mit der Darstellung eines diffusen Phänomens leitet Tuan Tran in seine Reflexion zum erkenntnistheoretischen Problem aus der Betroffenenperspektive ein. Für Betroffene ist es oftmals schwierig, bestimmte Phänomene als rassistische Gewalt wahrzunehmen, da ihnen in der jeweiligen Situation bestimmte Strukturierungsmuster nicht zur Verfügung stehen. Sie nehmen lediglich die verletzende Wirkung dieser Gewalt wahr, ohne ihre Ursache zu kennen; und ohne die Ursache zu kennen, kann das Problem auch nicht effektiv bekämpft werden. Unterschiedliche Faktoren sind dafür verantwortlich, dass Betroffene sich diese notwendigen Wahrnehmungs- und Denkmuster nicht aneignen oder sie nicht selbst generieren können. Die Fähigkeit, Rassismus als Gewalt überhaupt wahrnehmen zu können, ist durch und durch abhängig von gesellschaftlichen Machtstrukturen. Mit der kritischen Reflexion über die Bedingung der Möglichkeit (Kant) zur Wahrnehmung von Rassismus ermöglicht Tran, einige Formen dieses schwer zu erfassenden Gewaltmechanismus zu erkennen.

Aus einer metatheoretischen Perspektive heraus analysiert Klaus Weber in seinem Beitrag Rassismus und Soziale Arbeit hegemoniale Rassismustheorien, die das Alltagswissen konstituieren. Diese Theorien tendieren dazu, das strukturelle Phänomen Rassismus zu individualisieren und dem Individuum die Verantwortung für den Rassismus aufzubürden. Dem Analyseraster der Kritischen Psychologie folgend versucht Weber, immanente Widersprüche – wenn nicht sogar Absurditäten – in den jeweiligen Theorien aufzuzeigen. Unter anderem an der Vorurteilsforschung, an psychoanalytischen Erklärungsweisen oder an der Theorie der Dominanzkultur zeigt Weber auf, dass diese Theorien entweder keine individuellen Veränderungsperspektiven auf struktureller Ebene zulassen oder eo ipso den Rassismus reproduzieren. Webers pragmatische Lösung zu diesem metatheoretischen Problem ist die Praxisanalyse in widersprüchlichen Verhältnissen. Hierbei ist entscheidend, die jeweils eigene Praxis in ihren Widersprüchen erfassbar zu machen und sie in Zusammenhang mit den widersprüchlichen Bedeutungsfeldern zu analysieren. Erst wenn die strukturellen Bedingungen mitgedacht werden, ist ein anderes (widerspruchsfreies) Handeln möglich.

Im Anschluss an Bourdieus wenig beachtete These des Rassismus der Intelligenz geht Günter Roth in seinem Beitrag ›Gewöhnlicher‹ Rassismus, ›intellektueller‹ Rassismus und ›Rechtspopulismus‹ der Frage nach, aus welchem Grund linke Intellektuelle einen Rassismus der Intelligenz betreiben und inwiefern diese Form des Rassismus sich vom ›klassischen‹ (vorwiegend kleinbürgerlichen) Rassismus unterscheidet bzw. welche möglichen Zusammenhänge beide Rassismusformen aufweisen. Angesichts der überragenden Bedeutung des Aspekts der Bildung bei der viel diskutierten politischen Verdrossenheit einerseits und den rassistischen ›Verirrungen‹ großer Kreise der Bevölkerung andererseits ist nicht nur nach den Folgen des ›klassischen‹ Rassismus zu fragen, sondern vor allem auch nach denen des Rassismus der Intelligenz. Dies zeigt er anhand von zahlreichem empirischen Material auf. Im Sinne Eribons setzt sich Roth selbstkritisch mit dem links-intellektuellen Milieu auseinander.

Vielfach fällt das Thema Rassismus im Hochschulkontext aus dem Blickfeld. Es sind die Betroffenen (Studierende, Lehrende sowie nicht-wissenschaftliches Personal) selbst, die immer wieder auf dieses Thema hinweisen müssen. Entlang den Ebenen Alltag, Institution, Diskurs und Struktur versucht Nivedita Prasad in ihrem Beitrag Rassismus als Realität in akademischen Bildungsinstitutionen, untermauert durch empirische Studien, die Besonderheit des Rassismus im Hochschulkontext nachzuzeichnen. Am Ende ihrer Analyse bietet sie Strategien an, die für den Hochschulbereich geeignet sind.

Eine psychologische Herangehensweise an das Phänomen Rassismus findet sich bei Dileta F. Sequeira mit ihrem Beitrag Rassismus als weltsystemisches Problem – Kritische Betrachtungen aus der Psychologie. Am Maßstab der ›Selbstregulation‹ verdeutlicht Sequeira die Problematik des Rassismus, der global auf verschiedenen Ebenen (Welt, Beziehung, Person) seine Wirkung entfaltet. Rassismus ist ein hochkomplexes Phänomen, das sich in unterschiedlichen Formen manifestiert. Ihre Thesen unterlegt sie mit eigenen empirischen Forschungsarbeiten. Im Anschluss an die Problemstellung bietet sie einen entsprechenden Lösungsansatz an.

Tuan Tran, Hubert Steiner

Literaturverzeichnis

Bobbio, Noberto (1994): Rechts und Links. Gründe und Bedeutungen einer politischen Unterscheidung. Berlin: Wagenbach.

Bourdieu, Pierre / Wacquant, Loïc J. D. (2006): Reflexive Anthropologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Hofstede, Geert (2001): Culture’s Consequences. Comparing Values, Behaviors, Institutions and Organizations Across Nations. 2. Aufl. Thousand Oaks u.a.: Sage.

Human Rights Watch (2020): https://www.hrw.org/news/2020/05/12/covid-19-fueling-anti-asian-racism-and-xenophobia-worldwide (16.05.2020).

Kalpaka, Annita / Räthzel, Nora / Weber, Klaus (Hg.): Rassismus. Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein. Hamburg: Argument 2017.

Tuan Tran und Hubert Steiner

Rassistische ›Mechanismen‹ in der Alltagssprache

Von Sprechverboten zur Diskursanalyse

Im März 2019 veröffentlichte das Institut für Demoskopie Allensbach im Auftrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Studienergebnisse einer repräsentativen Umfrage zum Thema Meinungsfreiheit: 41 Prozent der Befragten sind der Auffassung, »die Political Correctness werde übertrieben« (Köcher 2019: 6). »Annähernd zwei Drittel der Bürger sind überzeugt, man müsse ›sehr aufpassen, zu welchen Themen man sich wie äußert‹, denn es gäbe zu viele ungeschriebene Gesetze, welche Meinungen akzeptabel und zulässig sind« (ebd.: 1). In ›ihrer Meinungsfreiheit eingeschränkt‹, bemängeln 59 Prozent, dass sie eigentlich nur noch unter Freund*innen ihre Meinung frei äußern dürfen. Besondere Vorsicht sei bei den Themen ›Flüchtlinge‹, ›Muslime‹ und ›Islam‹ geboten (vgl. ebd.: 1). »[Z]wei Drittel der Bevölkerung [finden es] übertrieben, wenn statt der Begriffe Ausländer oder Ausländischstämmige umständlich von Menschen mit Migrationshintergrund gesprochen werden soll« (ebd.: 7). Nach Auswertung der Umfrageergebnisse kommt die F.A.Z. zu der Schlussfolgerung, die »Mehrheit« der Bevölkerung beklage die individuelle Einschränkung durch »politische Korrektheit« (F.A.Z. 2019: 1).

Parallel dazu entfachen sich in diversen Onlineforen hitzige Debatten um die Frage nach der Herkunft (z.B. Süddeutsche Zeitung 21.05.2019). Ein signifikanter Großteil der Kommentierenden findet die Frage »Woher kommst du?« keineswegs rassistisch. Im Gegenteil sogar, sie sei Ausdruck eines »ernst gemeinten Interesses«. Unter anderem trage diese Frage zur »Völkerverständigung« sowie zur »interkulturellen Öffnung Deutschlands« bei. Einige von ihnen kommen sogar zu dem pseudo-anthropologischen Ergebnis, diese Frage sei etwas »Natürliches«, da sie in vielen »Kulturen« der Erde gestellt werde. Mit ›Rassismus‹ – im Sinne des physisch gewalttätigen Rechtsextremismus – habe diese Frage nichts zu tun. Denn wer für sein Gegenüber Interesse bekunde, die*der wende keineswegs rassistische Gewalt an.

Anstatt direkt eine Antwort darauf zu geben, ob die Frage nach der Herkunft rassistisch zu bewerten sei oder nicht, stellt sich uns die dringlichere Frage, welcher Diskurs, oder besser gesagt: welche Diskurse, diesen Überzeugungen zugrunde liegen. Erst nachdem man sich die zugrundeliegenden strukturellen Gefüge bewusst gemacht hat, kann man evtl. zu der Erkenntnis gelangen, ob in der jeweiligen Alltagsphrase rassistische Mechanismen wirksam sind. Entlang der Denkfigur der Subjektivierung und der methodischen Herangehensweise der Diskursanalyse beabsichtigen wir, das soziale Phänomen Rassismus aus unterschiedlichen Perspektiven sowie auf unterschiedlichen Ebenen kritisch zu analysieren. Ziel soll es sein, neue handlungsrelevante Erkenntnisse zu generieren. Vom Phänomen aus wollen wir uns in archäologischer Manier Schicht für Schicht über die rassistischen Mechanismen hindurch bis zum zugrundeliegenden Fundament vorgraben. Anhand dieses methodologischen Zugangs soll es möglich sein, Rassismus als ein strukturelles Problem offenzulegen. Der Prozess der kritischen Analyse rassistischer Mechanismen ist im selben Atemzug ein Prozess kritischer Selbstreflexion.

Dieser Beitrag besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil befasst sich mit theoretischen Reflexionen zur Analyse rassistischer Mechanismen. Dagegen wird der zweite Teil alltägliche Phrasen kritisch auf rassistische Mechanismen hin untersuchen.

Theoretische Vorüberlegungen

Erkenntnistheorie, Sozialontologie und Normen

Subjekte nehmen rassistische Phänomene durch Normen und Konventionen wahr. Normen und Konventionen stellen die Erkenntnisraster dar, die den Subjekten das Begreifen von sozialen Phänomenen ermöglichen. Denk- und wahrnehmbar sind ausschließlich die Phänomene, für die gesellschaftliche Normen und Konventionen entsprechende Begriffe bzw. Denk- und Wahrnehmungsformen zur Verfügung gestellt haben. Je mehr normgebundene Begriffe zuhanden sind, desto präziser können Subjekte soziale Phänomene begreifen und wahrnehmen. Geschlechtsformen z.B., die nicht den normativ festgelegten Begriffen weiblich/männlich/divers zuzuordnen sind, sind in dieser ›gesellschaftlichen Wirklichkeit‹ weder denk- noch wahrnehmbar, wie etwa im Falle genderfluider Menschen. Was weder denk- noch wahrnehmbar ist, existiert sozial nicht. Da Denken und Wahrnehmen konstitutiv für das soziale Sein sind, ist es nahezu unmöglich, eine eindeutige Trennlinie zwischen Erkenntnistheorie, also der Beschäftigung mit der Frage, was wir überhaupt wissen können, und Sozialontologie zu ziehen. Die Art und Weise, wie Subjekte – im Horizont gesellschaftlicher Normen – erkenntnistheoretisch auf soziale Phänomene zugreifen, geht unweigerlich mit sozialontologischen Implikationen einher. Konkreter ausgedrückt: Die Wahrnehmung des wahrnehmenden Subjektes (als Subjekt) ist gesellschaftlich strukturiert. Sie bestimmt gleichzeitig den Seinsstatus (Ontologie) des wahrgenommenen Subjektes (paradoxerweise als Objekt), der ebenfalls gesellschaftlich strukturiert ist. Bedingt durch vorgegebene Normen und Konventionen, kann ein Subjekt als Angestellte, ein anderes Mal als Fußballfan und in einem anderen Kontext als ›Migrantin‹ wahrgenommen werden. Gesellschaftliche Rollen sowie Status sind aus sozialontologischer Perspektive zunächst irrelevant.

Genauso wie die normgeleitete Erkenntnis sich im historischen Wandeln befindet, genauso ändert sich das wahrgenommene (objektivierte) Subjekt von einem Moment zum anderen mit. Angesichts dieser wandelnden ontologisierenden Erkenntnis demaskiert sich die Idee der kohärenten Identität – einer Identität, die immer und überall dieselbe bleibt – als etwas Imaginäres (nicht zu verwechseln mit unwahrer Fiktion).

Während Normen und Konventionen einerseits Subjekte sozialontologisch hervorbringen können, jedoch nicht müssen, können sie andererseits durch Begriffsverweigerung bzw. normative Aberkennung/Verkennung von Begriffen Menschen in die soziale Nicht-Existenz stürzen. Menschen z.B. mit Tieren zu vergleichen (»die Schwarze Läuferin, die wie eine Gazelle läuft«, vgl. den Beitrag von Weber in diesem Band), depersonifiziert sie. Auf die Denkfigur der normativen Aberkennung geht Butler folgendermaßen ein:

»Die ›Raster‹ oder ›Rahmen‹, mit deren Hilfe unterschieden wird zwischen solchen Leben, die wir wahrnehmen können, und solchen, die wir nicht wahrnehmen können […], strukturieren nicht nur unsere visuelle Erfahrung, sondern bringen auch spezifische Ontologien des Subjekts hervor. Subjekte werden durch Normen konstituiert, die in ihrer wiederholten Anwendung die Bedingungen erzeugen und verschieben, unter welchen Subjekte anerkannt werden. Diese normativen Bedingungen der Hervorbringung des Subjekts erzeugen eine geschichtlich kontingente Ontologie, sodass bereits unsere Fähigkeit zur Erkenntnis und Benennung des ›Seins‹ des Subjekts von Normen abhängt, die diese Anerkennung erst ermöglichen« (Butler 2010: 11 f.).

Die Art und Weise, wie das jeweilige soziale Gefüge einen Menschen adressiert, bestimmt die Art und Weise seines Seins/Subjektstatus. Hierbei setzen Normen nicht nur Maßstäbe im normativen Sinne, d.h. wie Menschen zu sein haben, sondern sie bilden – nach Butlers Lesart – darüber hinaus auch die conditio sine qua non für das Subjektsein[1] schlechthin. In einer Gesellschaft, in der rassistische Normen – mangels kritischer Selbstreflexion – ungehindert die Oberhand über andere Normen gewinnen können, werden immer mehr Menschen zu rassifizierten Subjekten konstituiert.

Rassifizierte Subjekte bleiben dabei nicht nur ›Opfer‹ rassistischer Normen. Sofern sie nicht diesen rassistischen Normen Widerstand leisten, reihen sie sich selbst zu den bereits gewordenen Rassist*innen ein. Strukturbedingt kann in diesem Sinn aus jedem Opfer jederzeit ein*e Täter*in werden, wie später noch verdeutlicht wird.

Sprache als symbolische Ordnung

Ohne kritische Selbstreflexion können an den Begriffen selbst diese sozialontologischen Implikationen nicht festgestellt werden. So ist im Alltag nicht davon auszugehen, sollte eine Person mit zugeschriebenem ›asiatischem Aussehen‹ als ›Corona‹ beschimpft werden, dass das Wort ›Corona‹ sie in irgendeiner Weise in ihrem Sein bestimme. Eher würde man dem Akt der Beleidigung eine seinsverändernde Wirkung zusprechen als dem angeblich neutralen Wort ›Corona‹. Schuld an dieser Einschätzung ist die Alltagssprache, die suggeriert, Begriffe seien vorwiegend deskriptive Abbildungen einer – wie immer auch gearteten – ›Wirklichkeit‹ oder ›realen Ordnung‹. Eine solche Denkweise verführt ebenso zu der Annahme, das N-Wort sei gar nicht rassistisch. Denn gemäß dieser Logik sei das N-Wort in etymologischer Hinsicht ein deskriptiver Begriff für schwarz. Der Grund, warum Subjekte die sozialontologische Wirkung der alltäglich verwendeten Begriffe nicht auf Anhieb erkennen können, liegt prima facie an ihrer Form. Normen und Gesellschaftsregeln liegen in der Alltagssprache vorwiegend in symbolischer Form vor. Statt eindeutiger Begriffe tauschen Menschen in ihrer Interaktion miteinander uneindeutige Symbole aus (vgl. Mead 1968). Damit die eine Person die jeweils andere verstehen kann, muss sie die mitgeteilten Symbole per definitionem dechiffrieren. Dass bei der Übersetzungsarbeit Fehler passieren oder wesentliche Aspekte übersehen werden können, ist den symbolisch wirkenden Normen inhärent. Auf genau dieser Unschärfe des Symbolischen beruhen zahlreiche Machtstrategien – allen voran der strukturelle Rassismus. Es gehört zu seiner Strategie, dass die Subjekte ihn in einer sozial akzeptablen Weise lesen, währenddessen er in ihrem blinden Fleck seine diskriminierenden Wirkungen entfalten kann. Abhängig vom historischen Kontext bilden zusammenhängende Symbole eine symbolische Ordnung. Da die Sprache in symbolischer Form ontologisierende Normen und Regeln transportiert, muss sie als eine symbolische Ordnung begriffen werden. Lacans Theorie der symbolischen Ordnung stellt Žižek kurz und knapp mit folgender Metapher dar:

»Sprache ist für Lacan ein Geschenk, das für die Menschheit so gefährlich ist wie das Pferd für Trojaner: Es bietet sich uns zur freien Verfügung an, aber haben wir es einmal angenommen, dann kolonisiert es uns. Die symbolische Ordnung entsteht aus einem Geschenk, einem Angebot, das seinen Inhalt als neutral ausweist, um ihn als Geschenk darzustellen: Wenn ein Geschenk angeboten wird, dann ist nicht sein Inhalt von Belang, sondern die Verbindung zwischen dem Schenkenden und dem Empfänger, die hergestellt wird, wenn der Empfänger das Geschenk annimmt« (Žižek 2016: 22).

Dankend nehmen wir das trojanische Pferd entgegen, in dem sich der strukturelle Rassismus befindet. Solange man nicht die rassistischen Mechanismen in kritischer Selbstreflexion immer wieder dechiffriert, solange kann der strukturelle Rassismus, der sich symbolisch in der Sprache ›versteckt‹ hält, die ganze Gesellschaft kolonisieren.

Rassistische Diskurse

Auf den jeweiligen historischen Kontext bezogen, können bestimmte Phrasen rassistische Diskurse reproduzieren sowie neue produzieren. Ein Diskurs ist Foucault zufolge »eine Menge von Aussagen« (Foucault 1981: 170), die, abhängig von den jeweiligen historischen Bedingungen, in Eigendynamik fortwährend komplexe Wissens- und Denksysteme hervorbringen. Diese Wissens- und Denksysteme wiederum können eigene Werte oder Wahrheiten etablieren (vgl. Foucault 1974: 413 ff.). Mit anderen Worten: Indem Diskurse eine bestimmte Menge an Wissen (Plural) und Weltbilder anbieten, stecken sie den Rahmen ab, innerhalb dessen Subjekte sich in ihrem Denken, Wahrnehmen und Handeln bewegen können. Wenn also das Denken, Wahrnehmen und Handeln der einzelnen Subjekte in einer diskursiven Praxis präformiert – nicht jedoch determiniert – sind, so unterliegt auch ihr Sein, um überhaupt als rassistisches Subjekt existieren zu können, einer diskursiven Formation (vgl. Butler 2001: 81 ff.). So, wie Diskurse ihre eigenen Subjekte konstituieren, so konstituieren rassistische Diskurse rassistische Subjekte. Rassistisches Handeln und Denken kann es im Umkehrschluss auch nur innerhalb der jeweiligen diskursiv-rassistischen Rahmung geben.

Sobald Subjekte sich diskursiv subjektivieren, d.h. sich den jeweiligen Diskursen ontologisch und keineswegs nur psychisch unterwerfen, reproduzieren sie zugleich die sie konstituierenden Diskurse. Für den Selbsterhalt ist es für den jeweiligen Diskurs unabdingbar, die hervorgebrachten Subjekte dazu zu bringen, ihn immer wieder durch Subjektivierung zu reproduzieren und aufrechtzuerhalten. In Hinblick auf die Ergebnisse der Rassismusforschung der letzten Jahre fand und findet der rassistische Diskurs immer noch Mittel und Wege, wie er Subjekte strategisch dazu bringt, rassistisch zu denken und handeln – auch gegen ihren eigenen Willen, gegen ihre eigenen Interessen sowie gegen ihre eigene Integrität. Wer z.B. die Frage nach der Herkunft in einer ganz bestimmten Konstellation und in einem ganz bestimmten Kontext stellt, reproduziert – unbemerkt und ungewollt – den zugrunde liegenden rassistischen Diskurs und macht sich dadurch selbst zu einem rassistischen Subjekt. Bietet man rassistischen Diskursen (unbedacht) eine gesellschaftliche Bühne, wie z.B. in Fernsehtalkshows, sozialen Medien oder auch Diskussionsrunden an Hochschulen, braucht man sich nicht wundern, wenn bisher politisch ›neutrale‹ Subjekte unverhofft zu Rassist*innen werden. Der sich stets anpassende und wandelnde Rassismus wirkt auf eine weitaus subtilere Weise, als wir sie uns im Alltag vorstellen können.

Trotz der Tatsache, dass rassistische Diskurse rassistische Subjekte (sowohl in subjektiver als auch objektiver Hinsicht) produzieren können, bestünde eine begrenzte Chance zu diskursivem Widerstand. Diskursiven Widerstand kann man deshalb leisten, weil auch die Subjekte selbst an der Herstellung bzw. Reproduktion genau dieser machtvollen Diskurse unweigerlich beteiligt sind – ob sie wollen oder nicht[2]. Da der Rassismus ein diskursives Phänomen ist, das historischen Bedingungen unterworfen ist, ist es möglich, ihn diskursiv zu verhindern – bzw. ihn zumindest in praktischer Hinsicht diskursiv abzumildern, zu verschieben oder mit Gegendiskursen zu verdrängen. Dieses Wissen um die prinzipielle Möglichkeit des Widerstandes könnte der konjunkturell auftretenden Politikverdrossenheit den Wind aus den Segeln nehmen.

Der Begriff des ›Mechanismus‹

Rassismus ist kein monolithisches Phänomen. Anstelle von dem Rassismus zu sprechen, sollte man von der Heterogenität rassistischer Phänomene, oder auch rassistischer ›Mechanismen‹, sprechen. Auch wenn der naturphilosophische Begriff Mechanismus von einer linearen Ursache-Wirkung-Kausalität ausgeht, ist er insofern von Nutzen, da er den Blick weg von metaphysischen Annahmen hin zu positiven Erkenntnisobjekten lenkt (vgl. Foucault 2019: 44); und damit zusammenhängend sich dem freien Willen der Einzelnen entzieht. Foucault z.B. verwendet die Begriffe Mechanismen und Techniken, um die Oberflächenstruktur der jeweiligen Macht nachzuzeichnen und damit ihrer Essentialisierung zu vermeiden (vgl. ders. 2004: 4 und passim; vgl. ders. 2019: 35). Ein Mechanismus ist beobachtbar und ggf. operationalisierbar, eine Funktion oder eine Essenz dagegen nicht. Ganz im Sinne der Diskurstheorie Foucaults, in der ein Diskurs eine Menge zusammenhängender Aussagen ist, stellen Phänomene bzw. Mechanismen Äußerungsformen des sozialontologischen Konstrukts Rassismus dar. Zum Selbsterhalt benötigt das jeweilige rassistische Phänomen keine Substanz bzw. Essenz; das Phänomen Rassismus ist eine ›sinnlose‹ Dynamik. Als ›sinnlose‹ Dynamik ist es trotzdem in der Lage, verletzende Wirkungen mechanisch herbeizuführen. Mechanische Wirkungen können auf der phänomenologischen Ebene analysiert und bis zu ihren Ursprüngen auf der diskursiven Ebene zurückverfolgt werden.

Entgegen der logischen Ursache-Wirkung-Kausalität finden rassistische Mechanismen nicht nach rational-logischen Mustern statt. Ihre Bewegungen sind paradoxal. Versucht man, den strukturellen Rassismus mit rational-logischen Denk- und Wahrnehmungsrastern zu erfassen, entgleitet er einem sofort wie Sand aus den Händen, sobald man sich sicher ist, ihn begriffen zu haben. Diese widersprüchlichen Bewegungen machen es zwar äußerst schwer, den strukturellen Rassismus zu erfassen, jedoch keineswegs prinzipiell unmöglich.

Versuch einer Definition des ›Rassismus‹

Im wissenschaftlichen Diskurs gibt es keine einheitliche Rassismus-Definition. Vielfach wird in der Literatur zwischen einem klassischen Konzept von ›Rassismus‹ in engerer Bedeutung und einem verallgemeinerten Konzept in weiterer Bedeutung unterschieden. Während ersteres sich primär auf die biologistische ›Rassekonstruktion‹ beschränkt (z.B. Miles 2014), geht letzteres darüber hinaus (z.B. Memmi 1992). Für Vertreter*innen der Rassismus-Definition in der erweiterten Fassung entspricht gleichfalls die Konstruktion von gesellschaftlichen Differenzen und ihre Ungleichbehandlung dem Prinzip des Rassismus (vgl. Memmi 1992: 48, 41 ff.). Ihrer Auffassung nach erweist sich der Rassismus als ein dynamisches, komplexes und wandelbares Phänomen, das mit einem allzu engen Rassismus-Begriff nicht erfasst werden kann. Andere Auffassungen wiederum weisen definitorische Mischformen oder tiefer gehende Konkretisierungen auf (vgl. Zuber 2015: 54 ff.). Trotz dieser Differenzen weisen die meisten Rassismus-Definitionen Kongruenzen auf, aus denen sich heuristische Kriterien als Orientierung zur vorübergehenden Bestimmung des historisch-dynamischen Phänomens Rassismus extrahieren lassen (vgl. Hall 1989: 917). Exemplarisch soll hier die Rassismus-Definition von Räthzel und Kalpaka angeführt werden, die mit dem Haupttenor anderer weit verbreiteter Rassismus-Definitionen übereinstimmt (z.B. Claussen, Kerner, Poliakov, Terkessidis oder Zerger):

»Rassismus bezeichnet die Konstruktion gesellschaftlicher Gruppen auf Basis ihrer Herkunft (geografisch und/oder verwandtschaftlich) als Träger unveränderlicher, als minderwertig definierter Eigenschaften und daraus resultierender Verhaltensweisen. Körperliche Merkmale werden zum Kennzeichen dieser Eigenschaften und Verhaltensweisen. Sie werden dadurch aus dem historisch-gesellschaftlichen Kontext isoliert und naturalisiert. Diese homogenisierende, naturalisierende Konstruktion von Menschen als natürliche Gruppen, dieser Prozess der Rassifizierung führt zur Konstruktion sozialer Gruppen als ›minderwertige Rassen‹. Wir sprechen von Rassismus, wenn die Gruppe, die eine andere als minderwertige ›Rasse‹ konstruiert, auch die Macht hat, diese Konstruktion gesellschaftlich durchzusetzen« (Räthzel/Kalpaka 2017: 146 f.).

Zu den wesentlichen Kriterien, um das Phänomen Rassismus vorübergehend zu bestimmen, zählen die (gruppenbezogene) Identitätszuschreibung, die absolute Differenzierung und Homogenisierung dieser Gruppen, ihre Hierarchisierung und schließlich die reduktionistische Diskriminierung und Ausgrenzung (Othering) hierarchisch niedriger positionierter Personen/Gruppen entlang konstruierter Parameter wie ›biologische Merkmale‹, ›Herkunft‹, ›Kultur‹, ›Weltanschauung‹ oder auch ›Verhaltensweisen‹. Insbesondere ist hierbei das Kriterium der Macht hervorzuheben, das eine Scharnierfunktion zu anderen Diskriminierungsformen innehat. Alle diese Parameter stellen Ideologeme eines rassistischen Diskurses dar und sind nicht Ausdruck eines individuellen Befindens. Damit man den ›Rassismus‹ in seinen historischen Wandlungen (ver)folgen kann, ist es taktisch sinnvoll, je nach Gegebenheit, flexibel neue strukturelle Kriterien hinzuzuziehen.

Struktureller Rassismus als historisches Phänomen

Rassismus als diskursives Phänomen befindet sich im steten Wandel.

»Wie also kann die Gegenwart begriffen werden? Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder sind Rassismus, Sexismus und Chauvinismus ewige, den Menschen angeborene Übel. Oder es handelt sich um bösartige Phänomene, die aus gegebenen historischen – und von daher veränderbaren – Strukturen erwachsen« (Wallerstein 2017b: 274).

So, wie sich die gesellschaftlichen Bedingungen über die Zeit hinweg verändern, so verändert sich auch der Rassismus als strukturelle Gewaltform mit. Während er sich den neuen Bedingungen anpasst, lässt er ineffektive oder auch durch Widerstandshandlungen bereits beseitigte Mechanismen zurück. Dabei ist es nicht immer möglich, mit denselben Analyserastern – im Sinne einer Art ›Weltformel‹ – das komplexe Feld des Rassismus zu begreifen. Die rassistischen Mechanismen z.B., die während der japanischen Invasion auf das chinesische Festland herangezogen wurden (1937–1945), unterscheiden sich in vielen Zügen vom englischen Rassismus gegenüber Menschen aus Polen, der u.a. im Brexit seine gesamteuropäische Wirkung entfaltete. Wie ein mutierender Virus passt er sich den jeweiligen zeitlichen wie auch örtlichen Bedingungen an und verursacht auf diese Weise immer wieder neuartige Verletzungen, die aber durch ununterbrochene Symbolisierungsprozesse kaum als solche wahrgenommen werden können. Seine flexiblen Verstrickungen mit anderen gesellschaftlichen Phänomenen, die nicht notwendigerweise einer diskriminierenden Logik folgen müssen, wie z.B. die Praxis der Sozialen Arbeit in der heutigen BRD (vgl. Tran 2020), ermöglichen dem strukturellen Rassismus, eine unübersichtliche komplexe Dynamik zu entwickeln. Dass dabei Jahrhunderte alte Rassismusformen immer noch ihre unterdrückenden Wirkungen entfalten, wie z.B. koloniale Menschenbilder, widerlegt keineswegs die These des strukturellen Rassismus. Vielmehr geben diese Formen Hinweis auf die komplexe Dynamik des strukturellen Rassismus. Auch weiterhin werden alte Wirkmechanismen durch neue strukturelle Bedingungen, jedoch in modifizierter Form, reproduziert. Die Erotisierung bestimmter ›ethnisierter‹ Personengruppen während der Kolonialzeit manifestiert sich heutzutage z.B. in der Form der sexuellen Fetischisierung junger geflüchteter Männer aus vorderasiatischen Staaten (Orientalismus). Angesichts der wandelnden strukturellen Bedingungen kann nicht von einer Kontinuität eines kohärenten Mechanismus ausgegangen werden. In seiner wandelnden Form bedarf die Erfassung des strukturellen Rassismus fortwährend neuer Analyseinstrumente. Seine ontologische Adaption an die strukturellen Bedingungen ist zugleich seine erkenntnistheoretische Verschleierung. Je mehr er sich wandelt, umso schwieriger wird es für die*den Einzelne*n, ihn noch als Rassismus zu begreifen. Prinzipiell ist es möglich, rassistisch zu handeln, ohne es nachvollziehen zu können. Um das gewordene diskursive Phänomen Rassismus erfassen zu können, kann man nicht umhin, als die ihm zugrundeliegenden historischen Bedingungen immer wieder von Neuem mit zu reflektieren. Die flottierenden Mechanismen des Rassismus gleiten – bildlich gesprochen – dynamisch über die wandelnden Bedingungen hinweg. Während des Gleitens findet seine mutierende Anpassung statt. Dabei sind seine Effekte höchst widersprüchlich. Selbst wenn man ihn zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort hatte eindämmen können, ist er weiterhin in mutierter Form viral. Diese sich stets wandelnde Artikulationsform vermag die ›klassische Rassismus-Definition‹, die von ahistorischen und weitgehend gleichbleibenden Parametern ausgeht, nicht zu erfassen.[3] Jeglicher Versuch, die Artikulationsformen oder auch den Sinn des Rassismus systematisch erfassen zu wollen, ist zum Scheitern verurteilt. Gleichwohl ist er in Teilen erfassbar. Erst wenn wir von einem solchen offenen und dynamischen Rassismus-Begriff ausgehen, könnte es uns gelingen, uns asymptotisch der Komplexität dieses Phänomens anzunähern. Das bedeutet in erster Linie, sich vom Manichäismus zwischen Rassist*innen (Täter*innen) und Rassifizierten (Opfer) zu verabschieden und stattdessen Rassismus als ein strukturelles Problem zu begreifen, das prinzipiell alle Menschen infizieren kann