Reich durch Hartz IV - Rita Knobel-Ulrich - E-Book

Reich durch Hartz IV E-Book

Rita Knobel-Ulrich

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Beschreibung

Millionen-Geschäfte mit Hartz-IV. Dass manche Hartz-IV-Bezieher versuchen, mehr Geld abzugreifen, als ihnen zusteht, ist bekannt. Dass aber auch Fortbildungsinstitute, Anwälte oder private Arbeitsvermittler mehr als gut von Hartz IV profitieren, wissen nur wenige. Um unser Sozialsystem ist eine ganze Industrie entstanden, die sich jährlich Millionen von den Steuergeldern abzweigt – das Geschäft mit der Armut ist zum boomenden Wirtschaftszweig geworden. Die Filmemacherin und Autorin Rita Knobel-Ulrich taucht tief ein in den Dschungel der beteiligten Firmen und Institute. Für die Recherche hat sie Monate bei Hartz-IV-Beziehern, in Arbeitsagenturen, Bildungseinrichtungen, Tafeln, Firmen, bei privaten Arbeitsvermittlern und Anwälten verbracht und den gezielten Missbrauch unseres Sozialsystems miterlebt. Herausgekommen ist ein Buch, das eindrucksvoll zeigt, warum bei den wirklich Bedürftigen immer weniger ankommt.

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Rita Knobel-Ulrich

Reich durch Hartz IV

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

1. Auflage 2013

© 2013 by Redline Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlagabbildung: fotolia

E-Book-Umsetzung: Georg Stadler, München

ISBN Print 978-3-86881-459-0

ISBN E-Book (PDF) 978-3-86414-351-9

Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Anstelle einer Einleitung
Wie Firmen den Staat ausnutzen
Das Thyssen-Casting
Ein Supermarkt für Micky Maus
Wie Speditionen ihre Lkw-Fahrer preiswert rekrutieren
Die Tafel-Story oder Gutes tun und Geld verdienen
Von zweifelhaftem Nutzen, doch der Steuerzahler finanziert
Wer braucht eigentlich Socken für die liebe Verwandtschaft?
Mike träumt von der Rente
»So eine Chance bekomme ich nie wieder« oder Theaterspielen auf Kosten des Steuerzahlers
Die Hartz-Maschine auf Touren und wer sie antreibt
In der größten Behörde: die Agentur für Arbeit in Nürnberg
Hartz-IV-Anwalt – zum Gelddrucken berechtigt?
Hartz-IV-Wohnungen: der Staat als solventer Mieter
Hoffnungslose Fälle: die Erfindung der Kopfprämie
Das ökonomische Prinzip: mit einem Minimum an Aufwand ein Maximum an Ertrag, oder: wie man das System ausnutzt
Arbeit? Nein, danke!
Salat essen, ja – Salat ernten, nein
Endstation Hartz IV: wie Jugendliche ihre letzte Chance verspielen
Kellner verzweifelt gesucht
Arbeit, ja bitte, aber schwarz!
»Exportschlager« Arbeit
Armut: ein politischer Kampfbegriff
Wie machen es die anderen? Vorbild Holland
Und die Lehren für Deutschland?
1. Wer arbeitet, darf nicht mehr der Dumme sein
2. Der Staat muss mehr Gegenleistung verlangen
3. Mehr Geld ist keine Lösung
4. Die Zumutbarkeitskriterien sind zu ändern
5. Begrenzung der Hartz-IV-Leistungen
6. Mehr Sanktionen
7. Daten müssen kontinuierlich abgeglichen werden
8. Die heimliche Macht der Helfer muss erkannt und deren Interessen müssen offengelegt werden
9. Mehr Verantwortung an Kommunen und Stadtteile übertragen
10. Die Erfolgsquoten von Bildungskursen müssen auf den Tisch
11. Kein Geld ohne Gegenleistung
»Ich wünsche Ihnen einen langsamen, qualvollen, Tod« versus »Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Mut« – Reaktionen
Zuschriften nach der Talkshow Anne Will mit dem Titel »Hungern muss hier keiner – ein Land redet sich arm«
Zuschriften nach der Ausstrahlung der Dokumentation Die Hartz-Maschine – Geschäfte mit der Arbeitslosigkeit 14. November 2011, 23.30 bis 0.15 Uhr ARD

Vorwort

46 Milliarden Euro haben Bund und Kommunen allein im Jahr 2011 für Hartz IV ausgegeben – der Sozialetat ist mit Abstand der größte Posten im Bundeshaushalt. Doch werden diese Mittel wirklich sinnvoll investiert? Und sind die Leistungsempfänger auch die Gewinner, wenn es um Fördermaßnahmen geht? Wer die Verlierer?

In diesem Buch begebe ich mich auf eine Reise durch den deutschen Behördendschungel und entdecke dabei mehr und mehr, dass das Geschäft mit der Arbeitslosigkeit boomt und für viele Firmen ein durchaus lohnender Wirtschaftszweig ist. Denn trotz Eurokrise und Staatsverschuldung wird eine Hartz-IV-Industrie am Leben gehalten, die viel kassiert, aber wenig Nutzen stiftet – am allerwenigsten denen, die echte Unterstützung brauchen. Einmal entdeckte Abkassiermöglichkeiten werden stetig ausgebaut und immer neue Bedürfnisse künstlich geschaffen. Denn: Der Selbsterhaltungstrieb all der Organisationen, die über die Abschaffung von Armut, über die Notwendigkeit von Bildung und »Teilhabe« räsonieren, ist das größte Hindernis dabei, dass die Fürsorgeempfänger wieder auf die Beine kommen und auf eigenen Füßen stehen. Zwar hat die Konjunktur insgesamt Bewegung in den Arbeitsmarkt gebracht, bei den Langzeitarbeitslosen tut sich jedoch so gut wie nichts.

Über die Hälfte von ihnen ist »nicht mehr vermittelbar«. Bildungsträger kümmern sich um sie und machen so ein Milliardengeschäft. Es gibt Strickseminare, Supermärkte mit Gummieiern, Theaterkurse und Telefonausbildungen – Maßnahmen, angeboten von einem Wirtschaftszweig, dem es umso besser geht, je mehr Menschen auf staatliche Hilfe angewiesen sind. Im Jahr 2012 kassierten diese Bildungsträger monatlich 500 bis 800 Euro pro Teilnehmer von den Jobcentern für mehrmonatige Kurse wie diese. Mancher Arbeitslose saß bereits zum zehnten Mal im Seminar »Wie bewerbe ich mich richtig?«

Die Hartz-Maschine brummt. So werden Fernfahrer mit Geldern des Jobcenters aus Steuermitteln ausgebildet, Spediteure können sich die teuren Ausbildungsmaßnahmen sparen, der Steuerzahler springt garantiert ein. Bundesweit sammeln etwa 4500 Tafel-Fahrzeuge in Supermärkten und Geschäften welkes Gemüse und abgelaufene Lebensmittel ein – überwiegend gegen Spendenquittung. Die Spender bestehen darauf, dass alles abgeholt wird, selbst wenn es schimmelt und fault, denn so sparen sich die Betriebe teure Entsorgungskosten. Es entsteht eine Parallelwelt, das Lebensmitteltauschgeschäft mit Tafeln als subventionierte Billig-Food-Kette.Auch Rechtsanwälte machen Kasse mit Hartz IV. Selbst wenn der Hartz-IV-Empfänger seinen Prozess verliert, garantiert ihm die Prozesskostenhilfe, sprich der Steuerzahler, das Geschäft. Für die Immobilienbranche sind Hartz-IV-Bezieher solvente Mieter, denn das Amt zahlt prompt und pünktlich. Deutschland scheint sich einzurichten mit einem System der Transferleistungen.

Ein typisch deutsches Problem? Ja, könnte man sagen, denn ganz anders sieht es beispielsweise im Nachbarland Holland aus. Nach radikalen Reformen sank dort im Jahr 2008 die Arbeitslosenquote zeitweilig auf drei Prozent, bis 2011 lag sie bei vier Prozent und stieg infolge der Finanzkrise auf fünf Prozent an. Das Prinzip dort heißt: Wer nicht arbeitet, der kriegt auch kein Geld vom Amt. Und wenn es nur gemeinnützige Tätigkeiten sind, wie Schneeschippen, Stadtparkreinigen oder als Einkaufshelfer für Alte und Schwache – zu Hause bleiben dürfen Arbeitslose in Holland nicht. Auch wir in Deutschland können es uns nicht mehr leisten wegzuschauen. Die demografische Uhr tickt. Und schon in wenigen Jahren werden immer weniger junge Leute ein Heer von Alten ernähren müssen. Es muss also radikal umgedacht werden. Der Staat darf nicht länger nur ein Umverteiler von Geldern sein, denn sonst ersticken wir an der Schuldenlawine, die uns bereits überrollt hat.

Anstelle einer Einleitung

Als Jugendliche hörte ich die Antrittsrede des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy. Vor allem eine Aussage elektrisierte mich. »Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst!«, waren die berühmten Worte, die er seinen Landsleuten 1961 zurief. Diese Aufforderung wurde damals auch bei uns in Deutschland regelmäßig wiederholt. Sie passte in die Zeit des Aufbruchs nach dem katastrophalen Zweiten Weltkrieg. Alle versuchten rund um die Uhr, wieder auf die Beine zu kommen, etwas aufzubauen. Die vielen Kriegswitwen hängten ihren Kindern einen Schlüssel um und gingen arbeiten. Es gab noch nicht die Heerschar Kümmerer und Sozialpädagogen von heute, die voraussagte, dass aus Kindern nie etwas wird, wenn sie nicht von der Mutter, im Hort oder im Kindergarten ständig betreut würden.

Viele Mütter meiner Schulfreunde schlugen sich mit Putzen durch, und wenn ich sagte: »Gehen Sie doch zum Sozialamt, da hilft man Ihnen. Sie haben doch einen Anspruch auf Hilfe!«, entgegneten sie stets: »Ich gehe niemals zum Amt. Das schaffe ich allein!« Man wollte nicht, dass der Staat sich ständig in alles einmischte, sich um alles kümmerte, sich für die Befriedigung aller Bedürfnisse und Lösung aller Schwierigkeiten verantwortlich zeigte. Irgendwann in den Siebzigerjahren schlug diese Haltung um. Auf einmal sagten alle: »Ja, da habe ich einen Anspruch drauf!«, »Das steht mir schließlich zu«, »Da nehm’ ich doch, was ich kriegen kann!« Auch eine Variante: »Ich hol’ mir nur zurück, was der Staat mir nimmt!«

Von der neuen Haltung erzählt dieses Buch. Es ist entstanden aus Eindrücken der letzten zehn Jahre, als ich zusammen mit einem Team aus Kameramann und Toningenieur Dokumentarfilme machte. Beispielsweise ging es um die verzweifelte Suche eines Bauern, der 3500 Erntehelfer auf seinen Salat- und Kohlfeldern beschäftigt, darunter trotz drei Millionen Arbeitsloser nicht ein einziger Deutscher. Ich berichtete über die Hartz-IV-Reformen, und als wir unser Stativ im Jobcenter aufbauten, stellte ich verblüfft fest, dass es ein Mythos ist, alle Arbeitslosen suchten verzweifelt und dringend einen Job. Vielmehr hat sich eine nicht unbedeutende Anzahl von Arbeitslosen – natürlich nicht alle – mit Hartz IV gut eingerichtet. Ich vernahm den Alarmruf: »Armut in Deutschland«, las und hörte von Jugendlichen, die angeblich Hunger litten, begleitet von dem empörten Aufschrei »und das mitten im reichen Deutschland«. Ich fuhr zusammen mit dem Kamerateam zu Suppenküchen und fand viele Kinder vor, deren Eltern nicht arm, aber überfordert waren. Wir besuchten Jugendliche, die nie einen Schulabschluss gemacht, aber die Verantwortung für sich selbst schon lange abgegeben hatten. Und wir entdeckten eine florierende Hartz-IV-Maschinerie, die nicht nur Arbeitslose am Laufen hält, sondern auch die »Fürsorgekonzerne« quer durch die Republik. Denn das Heer der Kümmerer und Anbieter von Maßnahmen, jene Fürsorgekonzerne und die »Arbeitslosenindustrie« können ja nur so lange existieren, wie ihre Klientel bedürftig ist – und es vor allem bleibt. Also werden unsinnige Bildungsmaßnahmen für Arbeitslose angeboten, die nichts bringen, schon gar keine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, die aber aus Steuergeldern gut bezahlt werden.

Auch Firmen und Konzerne haben entdeckt, dass die Hartz-IV-Industrie für sie lukrativ ist. Sie bilden Arbeitnehmer nicht mehr im eigenen Betrieb aus, sondern lassen sich die Ausbildung ihrer Arbeitskräfte vom Staat finanzieren. Auch hier lautet das »Argument«: »Darauf haben wir doch einen Anspruch, das können wir doch mitnehmen, wenn der Staat es sowieso bezahlt oder bezuschusst.« Es gibt Unternehmen, die an ihrer Wohltätigkeit sogar verdienen, und manche von ihnen kassieren wiederum Kopfprämien für die Vermittlung von Arbeitslosen, die ein halbes Jahr später erneut auf der Matte stehen, damit das Spiel wieder von vorne losgehen kann. Davon später mehr.

Haltungen wie diese sind gefährlich, weil sie in naher Zukunft dazu führen werden, dass der Staat den Karren an die Wand fährt. Wir sind zu Recht stolz auf unser leistungsfähiges Sozial- und Gesundheitssystem. Es garantiert, dass niemand sterben muss, weil Krankenhäuser sich weigern, einen Menschen aufzunehmen, der die Kosten nicht tragen kann. Niemand muss obdachlos auf der Straße sitzen, wenn er das nicht will. Für jeden wird gesorgt mit einer Grundsicherung, die Nahrung, ein Dach über dem Kopf, etwas zum Anziehen und kostenlose Schulbildung für Kinder garantiert.

Doch über diese Grundsicherung hinaus bestehen weitere Begehrlichkeiten: Da ist der Ruf nach »sozialer Teilhabe«, unter der der eine Theater- und Kinobesuche versteht, der andere einen gelegentlichen Restaurantbesuch oder die Möglichkeit, Geburtstagsgeschenke zu machen. Die Diskussion kulminiert in der Regel in der Behauptung, wer das alles nicht könne, sei »ausgegrenzt«; der Staat, die Gesellschaft nähme diesen Menschen so die Würde, die nur durch höhere Zuwendungen wiederhergestellt werden könne. Durch Diskussionen in Talkshows entsteht auch oft der Eindruck, der Wohlfahrtsstaat schraube seine Leistungen zurück. Es ist dann die Rede von zunehmender Armut, einer angeblich tief klaffenden Gerechtigkeitslücke. Auch sehr beliebt ist das Bild von der sich immer weiter öffnenden Schere zwischen »Arm und Reich«.

Dabei gibt der Staat jährlich rund 160 Milliarden Euro für Sozialleistungen aus. Das ist mehr als die Hälfte des gesamten Bundeshaushalts. Und die Reichen werden längst zur Kasse gebeten: Die zehn Prozent der Steuerzahler mit einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von mehr als 63 478 Euro tragen laut Statistischem Bundesamt rund 60 Prozent (58,1 Prozent) des Lohn- und Einkommensteueraufkommens. Auf 50 Prozent der steuerpflichtigen Bevölkerung gehen gerade mal rund vier Prozent (3,6 Prozent) des Steueraufkommens zurück.

Gabor Steingart, bis 2012 Chefredakteur desHandelsblattsund seit dem 1. Januar 2013 Herausgeber und Mitglied der Geschäftsführung der Verlagsgruppe Handelsblatt, unterstreicht dies eindrucksvoll in seinem BuchDas Ende der Normalität: »Wahr ist, der Wohlfahrtsstaat verdreifachte seine Ausgaben allein in den vergangenen 25 Jahren … Deutschland wird also immer sozialer. Die Steuer hat man den Armen nahezu komplett erlassen, das Arbeiten zum Teil auch. Jeder zweite Deutsche geht keinerlei Beschäftigung nach, sei es, dass er zu jung oder zu alt oder zu krank ist. Oder sich auch nur so fühlt … 80 Prozent der Einnahmen aus der Lohn- und Einkommensteuer stammen vom ›oberen Drittel‹ der Steuerbürger. Es handelt sich um jene Menschen, die man vorwurfsvoll die ›Besserverdiener‹ nennt. Die Wahrheit verhält sich also umgekehrt proportional zur Wahrnehmung: Täglich findet in Deutschland eine Umverteilung von oben nach unten statt. Die Kundschaft des deutschen Sozialstaats erfährt eine Fürsorglichkeit, wie wir sie sonst nur bei den Großfamilien der Urvölker antreffen, wo einer den anderen füttert.«

In Diskussionen wird gerne die These beschworen, der soziale Frieden stehe auf dem Spiel, sollte nicht umgehend der Hartz-IV-Satz erhöht und Menschen mehr »soziale Teilhabe« gewährt werden. Aber was genau ist soziale Teilhabe? In den meisten Theatern und Opernhäusern sind verbilligte Karten für Schüler, Studenten und Arbeitslose zu haben. Das gilt auch für städtische Schwimmbäder, in die der Eintritt oder für Bibliotheken, wo die Ausleihe von Büchern ermäßigt ist. Und was ist mit dem Cappuccino im Café, dem Geschenk für die Freundin oder dem Urlaub? Hartz IV bedeutet jedoch Grundsicherung und kann nicht heißen: Es gibt ein Rundum-sorglos-Paket. Denn das wäre ungerecht denen gegenüber, die jeden Tag zur Arbeit zuckeln und die »Grundsicherung« für andere mit ihren Beiträgen erarbeiten.

»Soziale Gerechtigkeit« lautet der Schlachtruf nicht nur der Linken, sondern auch der etablierten bürgerlichen Parteien. Und das bedeutet stets: die Forderung nach weiterer Umverteilung, ein ständiges Drehen an der Steuerschraube zugunsten der angeblich Zurückgebliebenen und Zukurzgekommenen. Menschen in Deutschland müssen für ihr Leben keine Verantwortung mehr übernehmen, sich nicht klar machen, dass es schwierig wird mit einer Lehrstelle, wenn sie die Schule ohne Abschluss verlassen. Und dass es wenig Aussicht auf einen Arbeitsplatz gibt, falls sie keinen Beruf erlernen. Oder dass eine Schwangerschaft ohne Partner eine schwere Belastung ist, ebenso wie es schwer werden könnte, zwei Haushalte zu finanzieren, wenn man sich scheiden lässt. Bei Problemen im Leben findet sich stets staatliche Unterstützung: ein Familienhelfer, Sozialpädagoge oder Jobmanager, der für die Erfüllung aller Bedürfnisse die Verantwortung übernimmt und auch gleich eine Entschuldigung dafür liefert, warum es bisher nicht klappen konnte mit dem Schulabschluss oder einer Berufsausbildung. Die schwere Kindheit, der verständnislose Lehrer, die kleine Wohnung, die bildungsferne Umgebung usw., usw.

Jeder zweite Langzeitarbeitslose hat keine Berufsausbildung. Und diese werden nicht mit Nachdruck ermuntert oder gar aufgefordert, einen Schulabschluss oder eine Ausbildung zu machen, weil sonst die Unterstützung gestrichen würde. Stattdessen wird eine breite Diskussion über bedingungsloses Grundeinkommen und Grundsicherung geführt. Davon völlig abgekoppelt wird die Frage, wer die erforderlichen Mittel eigentlich erarbeiten soll. Wenn dann aber doch mal danach gefragt wird, lautet die wohlfeile Antwort in der Regel: »Einkommensmillionäre und Wohlhabende müssen eben mehr abgeben.« Dabei wird gern übersehen, dass schon für Angehörige des Mittelstands mit einem Bruttomonatseinkommen von 3500 Euro aufgrund des progressiven Steuertarifs die Steuerbelastung bei einer dreiprozentigen Gehaltserhöhung so steigt, dass netto von der Gehaltserhöhung um 105 Euro gerade mal 48 Euro im Geldbeutel bleiben, die Steuerbelastung um 4,8 Prozent steigt und das Nettojahreseinkommen nur um 2,4 Prozent. Einkommensverlust trotz Gehaltserhöhung – das ist also möglich. Ursache ist die kalte Progression: Liegt das resultierende Netto-Plus unterhalb der Inflationsrate, sinkt der Reallohn.

»Besserverdiener« ist ein Stigma, das beim Moderator von Talkshows und seinen Gästen, die in der Eröffnungsrunde als »Armutsforscher«, »Sozialpädagogen« oder »Streetworker« vorgestellt wurden, zu hochgezogenen Augenbrauen führt. Im Laufe der Diskussion reagiert das Publikum oft mit empörtem Geraune auf diese »Besserverdiener« und »Unternehmer«, was dann wieder meist hilflose Rechtfertigungen der Eingeladenen nach sich zieht. Der Begriff »Unternehmer« wird auch gern mit Adjektiven wie profitorientiert oder gierig versehen. Dagegen wird die alleinerziehende Mutter von fünf Kindern, die seit Jahren von Sozialhilfe und Hartz IV lebt, meist mit »hilflos«, »arm« und »bedürftig« etikettiert. So gut wie nie wird nachgefragt, worin ihre Verantwortung für diese Situation besteht, warum sie keinen Schulabschluss und keine Ausbildung, aber fünf Kinder in die Welt gesetzt und letztlich eine Lebensentscheidung getroffen hat, für die sie selber und nicht der Steuerzahler die Verantwortung übernehmen muss.

Doch wenn Solidarität immer mehr zur Einbahnstraße wird, wenn die, für die gesorgt wird, immer mehr beanspruchen und immer weniger von Pflichten halten, und wenn Firmen Leistungen, die sie selber erbringen können, auf den Staat abwälzen, dann stimmt etwas nicht mehr. Es ist absehbar, dass so ein System irgendwann nicht mehr bezahlbar ist. Was ist mit unserer Solidarität gegenüber den Bürgern der Mittelschicht? Müssen nicht auch jene, die durch ihre Arbeit die staatlichen Leistungen erst ermöglichen, geschützt werden?

Wenn unser Land eine Zukunft haben soll, dann müssen Aufgaben gemeistert werden, die unsere ganze Kraft und viel Geld kosten werden: einmal die Integration der vielen hier lebenden Migranten. Wenn das nicht bald geschieht, fliegen uns die Probleme nur so um die Ohren. Wir müssen dringend die Bildungschancen verbessern, damit Hartz IV nicht mehr »vererbt« wird. Weil Kinder der einzige echte »Rohstoff« sind, den wir haben. Auch die Bewältigung der Folgen der Alterspyramide gehört dazu, immer weniger junge Menschen werden immer mehr Alte in Zukunft ernähren müssen.

Eines möchte ich von Anfang an klarstellen: Es gibt natürlich Firmen, die eine sinnvolle Weiterbildung anbieten, die wiederum zu einem sozialversicherungspflichtigen Job führt oder Arbeitslosen mit einer Zusatzqualifizierung weiterhilft, damit sie eine Perspektive haben und eine neue Stelle finden. Es gibt selbstverständlich auch Hartz-IV-Bezieher, die ihr Leben lang gearbeitet haben – ob 30 Jahre bei Nokia, bei Schlecker oder Opel. Die jetzt intensiv und verzweifelt einen neuen Job suchen und sich mit Ende 50 sagen lassen müssen, sie seien zu alt. Die eine intakte Familie haben, ihre Kinder in die Schule schicken und sie dazu anhalten, einen Schulabschluss und eine Berufsausbildung zu machen. Die sind in diesem Buch ausdrücklich nicht gemeint.

Dieses Buch beschreibt vielmehr die Erfahrungen mit den Folgen der Haltungsänderung und zu welchen Absurditäten die Abkehr von Kennedys Forderung geführt hat. Es zeigt, was passiert, wenn die Grundeinstellung in unserem Land immer häufiger beschrieben werden kann mit: »Ich frage nur – und vor allem –, was mein Land für mich tut. Und nicht, was ich für mein Land tun kann.« Es gibt das wieder, was mein Team und ich erlebt haben. Gespräche und Eindrücke aus Wohnungen zwischen Berlin-Hellersdorf und Hamburg-Mümmelmannsberg, Begegnungen in Suppenküchen und auf Gemüsefeldern, Treffen mit Putzbrigaden und im Rahmen von »Maßnahmen« von Bildungsträgern, in Strickkursen und Supermärkten, Immobilienbüros und Rechtsanwaltskanzleien, Jobcentern und Tafeln.

Hamburg, im Januar 2013

Wie Firmen den Staat ausnutzen

Das Thyssen-Casting

Die Idee klingt verheißungsvoll und verspricht Vorteile für alle Seiten – auf Neudeutsch eine Win-win-Situation: ThyssenKrupp Xervon will Arbeitslose als Gerüstbauer einstellen. Die werden nämlich dringend gesucht. Einzige Bedingung dafür ist die Teilnahme der Bewerber an einer Qualifizierungsmaßnahme. Dass es bei diesem Geschäft aber vor allem einen Gewinner gibt, wird mir ziemlich schnell klar, als ich mich an einem verregneten Februarmorgen im Betriebsgebäude von ThyssenKrupp Xervon einfinde, um 50 junge Männer bei ihrem Casting zu begleiten – so der euphorische Name der Veranstaltung. Hier sitzt aber keine Heidi Klum, die »Germany’s next Topmodel« sucht, sondern Eckart Hauschild, ein Mann von ThyssenKrupp. In Gruppen von bis zu 20 betreten die Bewerber einen kleinen Raum mit zwei Tischen, an denen der Betriebsleiter, ein Betriebsratsmitglied und ein Ausrüster Platz genommen haben. Hauschild hält erst mal eine kleine Rede: »Wir brauchen für große Bauvorhaben in Norddeutschland sehr dringend Gerüstbauhelfer.« Er guckt die vor ihm stehenden Männer dabei eindringlich an. »Und genau deswegen haben wir uns mit dem Jobcenter zusammengesetzt. Wir bieten Ihnen eine viermonatige Ausbildung. Zwei Monate üben plus Theorie, dann folgt ein Praktikum. Wer sich gut anstellt, bekommt anschließend einen Arbeitsvertrag – erst mal für ein Jahr.«

Was der Thyssen-Mann unter den Tisch fallen lässt: die Firma zahlt den Praktikanten kein Ausbildungsgeld, ja nicht einmal der Ausbilder steht auf der Gehaltsliste von ThyssenKrupp. Für die ersten zwei Monate theoretische Vorbereitung ist ein sogenannter Bildungsträger zuständig. In diesem Fall die Hamburger Stiftung für berufliche Bildung, kurz SBB. Als Unternehmen kümmert sie sich um die Qualifizierung zukünftiger Arbeitnehmer und stellt dafür Konzepte und entsprechendes Personal zur Verfügung. Die Rechnung übernimmt großzügig Vater Staat in Gestalt des Jobcenters. ThyssenKrupp muss unter den Bewerbern nur noch die richtigen herauspicken.

Die 50 Kandidaten werden im Schnellverfahren an der »Jury« vorbeigeschleust. Jeder soll in drei Sätzen erklären, warum er sich für geeignet hält und welche Vorbildung er hat. Philip Kay, der Mann vom Jobcenter Hamburg, ist heute nur Zuschauer. Er steht breitbeinig da, betrachtet das Casting und ärgert sich über seine Kollegen aus der Arbeitsvermittlung, die nicht genau zugehört haben, als er die Anforderungen beschrieb. Motivierte, kräftige junge Männer würden gesucht, hat er ihnen ausdrücklich gesagt. Da fällt so mancher Bewerber schon auf den ersten Blick durchs Raster. Mit denen hält sich Eckart Hauschild auch nicht lange auf. »Ich glaube«, sagt er und schaut einem Kandidaten mit roter Nase und verquollenem Gesicht in die Augen, »mit uns hat es keinen Zweck.« Wortlos erhebt dieser sich und geht. Auch wer kein Deutsch kann, wird nicht zugelassen. »Das ist ein Sicherheitsrisiko«, brummt der Thyssen-Mann und schüttelt resigniert den Kopf. Warum bloß schickt das Jobcenter solche Leute überhaupt zum Casting? Frage klar, Antwort nebulös.

Einige Bewerber, die infrage kommen, wollen jetzt wissen, ob sie eine Ausbildungsbeihilfe bekommen und irgendwann einen unbefristeten Arbeitsvertrag. »Nein«, erklärt Eckart Hauschild ohne Umschweife, »es gibt kein Gehalt und keine Ausbildungsvergütung von Thyssen. Auch nicht, wenn Sie das Praktikum machen. Sie bleiben auf der Payroll des Jobcenters.« Die Stahlindustrie lässt sich die Ausbildung ihrer zukünftigen Mitarbeiter also ohne adäquate Gegenleistung vom Jobcenter finanzieren. Noch nicht einmal ein Teil der Kosten wird von Thyssen übernommen, obwohl die Gerüstbauhelfer nach ihrer Ausbildung schließlich für den Konzern arbeiten sollen und dringend gebraucht werden.

Warum zahlt Thyssen die Ausbildung der künftigen Arbeitskräfte nicht selbst, will ich von Philip Kay wissen. Er druckst ein bisschen herum: »Natürlich könnte man dem Arbeitgeber sagen: mach’s selber. Aber die sind auf uns zugekommen, haben gesagt, dass sie Bedarf an Arbeitskräften haben und haben gemeint: Bitte qualifiziert die Leute. Wir nehmen sie Ihnen ab. Ich habe herausgehört, dass Sie das nicht selbst können.« Wirklich nicht? Freimütig räumt Eckart Hauschild ein: »Wir haben gern die Situation, fertig ausgebildete Leute zu bekommen. Da gibt’s die Möglichkeit der Kooperation mit der Jobagentur, und das nutzen wir eben aus.« Er ist sichtlich zufrieden. Ist ja auch kein Wunder, denn die Bewerber werden frei Haus geliefert. Es müssen keine teuren Anzeigen geschaltet, es muss nicht umständlich nach geeigneten Leuten gesucht werden. Auch wenn zum Casting nicht viele gekommen sind, die für die harte und zum Teil gefährliche Arbeit als Gerüstbauer geeignet zu sein scheinen, ein paar werden sich schon finden. Und wenn die am Ende doch nicht gefallen, schickt das Jobcenter eben wieder neue Kandidaten vorbei. Eine Garantie, dass die angehenden Gerüstbauer nach ihrer Ausbildung übernommen werden, wird ja schließlich nicht verlangt.

Die anwesenden Bewerber reißen sich förmlich um das Angebot, doch einige, wie Viktor Schneider, ahnen bereits, was auf sie zukommt: »Ich will arbeiten und Geld verdienen. Ich habe schon oft auf dem Bau gearbeitet und will nicht schon wieder einen Kurs machen, um dann hinterher zu hören, dass es doch nichts wird.« Ich werde hellhörig. Spricht er aus Erfahrung? Ein bisschen resigniert blickt er mich an: »Ja, klar«, sagt er dann und holt aus seiner abgeschabten Aktentasche einen ganzen Stapel Zettel hervor. Teilnahmebescheinigungen aus den letzten Jahren. Für ihn wäre das hier schon der sechste Kurs. Obenauf liegt gleich der Nachweis über die Kursteilnahme bei der Beschäftigungs-, Qualifizierungs- und Strukturförderungsgesellschaft, kurz BQS. Acht lange Monate hat Viktor Schneider dort verbracht. Blumig klingt es, was da angeblich alles so geleistet wurde: »Ziel des Projekts«, heißt es, war die »Integration in eine Arbeitsgruppe, um die Teamfähigkeit und das Verantwortungsbewusstsein im Sinne der Gesellschaft zu fördern.« Außerdem erhielten die Teilnehmer »eine Qualifizierung im Holzhandwerk und konnten somit ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten erweitern«. Klingt so, als wäre den Lernenden richtig was geboten worden. Einen festen Job hat das Ganze aber trotzdem nicht gebracht. Das muss es auch nicht, wie wir später hören.

Wie viele Menschen nach Abschluss einer Maßnahme eine feste Arbeit bekommen, wird beim Bildungsträger nicht nachgefragt. Davon hängt noch nicht einmal ab, ob die BQS weiterhin Kurse anbieten darf. Und so ging Viktor Schneiders Reise durch die schöne Welt der Bildungsmaßnahmen weiter: Es folgte eine zweimonatige Bautrainingsmaßnahme. Dort – so jubelt der Bildungsanbieter – habe er »Basisqualifikationen erworben«, darunter »handlungsorientiertes Verhalten, Motivation zur Erarbeitung von Handlungsalternativen, Eignungsfeststellung«.

Doch all diese prima Qualifikationen haben nicht dazu geführt, dass Viktor Schneider eine Arbeit bekam. Er hat, wie er drastisch sagt, die Schnauze voll. Arbeiten wolle er, und zwar sofort. Nicht noch eine Qualifikation und keine Kurse mehr, die doch zu nichts führten. »Der Staat hat schon so viel Geld für mich rausgeschmissen«, sagt er dem Thyssen-Mann ins Gesicht. »Damit muss jetzt Schluss sein.« Und dann zieht er unverrichteter Dinge wieder von dannen, als er hört, dass die Teilnahme an dem viermonatigen Kurs Voraussetzung für den Arbeitsvertrag sei. Ohne den laufe nämlich gar nichts.

Immerhin: zehn junge Männer werden genommen. Die treffen wir später beim Training wieder, und zwar bei der Gemeinnützigen Gesellschaft für Beschäftigungsförderung, denn für das Qualifizieren ist nicht das Jobcenter selbst zuständig, sondern ein sogenannter Bildungsträger – gegen Bares. Im Fall der »Gerüstbaumaßnahme« sind es sogar zwei: die Gemeinnützige Gesellschaft für Beschäftigungsförderung aus Duisburg und die Stiftung für berufliche Bildung, ansässig in Hamburg.

Wie aber ist Thyssen ausgerechnet auf die Gemeinnützige Gesellschaft für Beschäftigungsförderung gekommen? Das wiederum erklärt deren Geschäftsführer: Man kenne sich eben. Thyssen sei ja auch im Ruhrgebiet ansässig, und außerdem seien einige Mitarbeiter der GfB vorher in dem Unternehmen angestellt gewesen. Im Ruhrgebiet sei es eben so wie in einer Familie, nach dem Motto: Der Onkel gibt dem Cousin einen Auftrag und stellt sich der Arbeitsagentur als »eine Familie« vor.

Bei beiden Bildungsträgern arbeiten Hunderte von Ausbildern, Sozialpädagogen und Trainern. Es gibt Büros, Hallen, Schulungssäle – ein Riesenkomplex. Das muss alles unterhalten und finanziert werden. Der Journalist Walter Wüllenweber zitiert in seinem BuchDie Asozialeneinen Unternehmensberater, der bezeichnenderweise anonym bleiben will, mit den Worten: »Der deutsche Wohlfahrtsstaat ist ein idealer Wachstumsdünger für Sozialunternehmen. Da wollen wir dabei sein.«

Die Sozialbranche sei in den vergangenen 15 Jahren verglichen mit der Gesamtwirtschaft sechs- bis siebenmal schneller gewachsen als diese, stellte Walter Wüllenweber fest. Deutschland erlebe einen beispiellosen Hilfeboom: »Unbekanntes Wirtschaftswunder Sozialbranche«, so könnte man das Phänomen bezeichnen. Unter diesem Oberbegriff wurde denn auch im März 2012 ein Kongress in Berlin veranstaltet, unter anderem vom Paritätischen Wohlfahrtsverband. Natürlich ging es da auch um Kitas, Pflege- und Gesundheitseinrichtungen, aber auch um die Bildungsbranche und darum, »Ethik und Effizienz in die richtige Balance zu bringen«. Hinter den wohlklingenden Worten verbirgt sich knallharte Geschäftstüchtigkeit.

»Hilfsunternehmen sind fast immer gemeinnützig«, stellt Walter Wüllenweber fest, und das sei keine moralische Kategorie, sondern ein rein steuerrechtlicher Tatbestand, wenn sie dem Finanzamt gegenüber erklärten, ihre Tätigkeit sei darauf gerichtet, die Allgemeinheit auf materiellem, geistigem oder sittlichem Gebiet selbstlos zu fördern. Selbstlos? Gemeinnützig? Die Konkurrenz für Bildungsfirmen dieser Art ist groß. Es wird mit harten Bandagen, mithilfe ausgefeilter Kalkulationen, um jeden Auftrag gerungen und versucht, andere »gemeinnützige« Firmen mit günstigen Angeboten im Preis zu unterbieten. Immerhin gibt es circa 40 000 freie Bildungsträger in Deutschland. Und die kämpfen um ihre Existenz. Auch gemeinnützige Helfer haben also eigene Interessen.

So sind insgesamt gleich drei Vertreter der beiden Bildungsanbieter angerückt, zwei von der »Gemeinnützigen Gesellschaft für Beschäftigungsförderung«, einer von der »Stiftung für berufliche Bildung«. Sie betrachten die Dreharbeiten meines Teams interessiert. Weniger interessiert sind sie allerdings daran, mit Zahlen aufzuwarten. »Was kostet es, die Gerüstbauhelfer auszubilden?«, will ich wissen.

»Das habe ich nicht im Kopf. Das kann ich Ihnen nicht sagen. Das ist auch ein Betriebsgeheimnis!« Nun bin ich doch ein bisschen verblüfft und wende ein: »Aber das ist doch öffentliches Geld. Sie müssen doch wissen, was das kostet?«

»Ja, natürlich wissen wir, was das kostet. Aber alle Zahlen können und dürfen wir Ihnen nicht mitteilen.«

»Aber ich dachte, Sie erwirtschaften keinen Gewinn, sind gemeinnützig?«

»Aber wir sind unserem Auftraggeber, dem Jobcenter, gegenüber zu Verschwiegenheit verpflichtet.«

Zum Schluss ermannt sich der Vertreter des einen Bildungsträgers: »Also nicht in die Kamera, aber ich kann Ihnen sagen, die Sätze sind in der Regel so: Sie liegen für einen Teilnehmer pro Monat zwischen 300 und 600 Euro bei dieser Fortbildungsmaßnahme.«

»Und wie viele Teilnehmer haben Sie in Ihrem ganzen Komplex?«

»Es sind 1400 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die hier täglich rein- und rausgehen.« Und der Vertreter des anderen Bildungsträgers ergänzt: »Wir haben einen Stand von 1400 bis 1500 Teilnehmern.« Gelingt es also den beiden Bildungsanbietern, ihre Säle und Hallen zu füllen, sind das Einnahmen von jeweils etwa 9 Millionen Euro pro Jahr.

Wie man an einen Auftrag kommt, schildert uns der Mitarbeiter der Stiftung für berufliche Bildung: »Die Arbeitsagentur schreibt Maßnahmen aus. Darauf bewirbt man sich. Und zwar mit einem Preis und einem Konzept. Dann geht das rund, und dann muss man das blumig formulieren, weil die Entscheidungen über den Zuschlag einem Zentralinstitut der Bundesagentur für Arbeit obliegen. Und davon hängt unser Überleben als Bildungsträger ab.«

Mit anderen Worten: Bestimmte Schlagwörter und Versprechungen gehören dazu, bevor es einen Zuschlag gibt. Deswegen wimmeln alle Präsentationen der Bildungsträger nur so von Begriffen wie Teamfähigkeit, Integration, Erwerb von Basisqualifikationen, handlungsorientiertes Verhalten, Motivation zur Erarbeitung von Handlungsalternativen, Eignungsfeststellung und Verantwortungsbewusstsein im Sinne der Gesellschaft, Erweiterung der Fähigkeiten und Fertigkeiten usw.

Jeder Bildungsträger beschäftigt eine eigene Projektabteilung, die an neuen Konzepten feilt, neue Kurse austüftelt, blumige Formulierungen findet. Blumig muss es auch deswegen sein, damit sich die Arbeitslosen entscheiden, bei diesem und nicht bei einem anderen Bildungsträger ihren »Bildungsgutschein« vom Jobcenter einzulösen. Das Überleben aller Bildungsträger sichern »Kurssurfer«, die schon etliches gemacht haben, frei nach dem Motto: Mal sehen, was zu mir passt. Bezahlt hat stets das Jobcenter.

Ein Mann Mitte 30 krabbelt beim Thyssen-Training für die angehenden Gerüstbauhelfer auf dem Gelände der SBB, der Stiftung für berufliche Bildung, über das Übungsgerüst. »Wie viele Kurse und Bildungsmaßnahmen haben Sie denn vor diesem hier schon gemacht?«

»Oh, etwa sechs, sieben Kurse.«

»Und welchen Inhalts? Was haben Sie da gelernt?«

»Tja, Maler, Garten- und Landschaftsbau, Maurer auf dem Bau, Gebäudereiniger, das war’s dann.« Ein Job ist bisher nicht dabei herausgekommen. Aber die Bildungsträger wird das Kurs-Hopping gefreut haben.

Ein Supermarkt für Micky Maus

Hier war er noch nicht – beim TÜV Nord. Den meisten Menschen in Deutschland ist er als Verein zur technischen Überprüfung von Automobilen ein Begriff. Der TÜV Nord weist stolz darauf hin, dass »die Erfolgsgeschichte der TÜV-Nord-Gruppe ihre Wurzeln in den traditionellen Überwachungsvereinen hat, die 1869 damit begannen, die Betriebssicherheit von Dampfkesseln unabhängig und kompetent zu überwachen und sicherzustellen«.

Inzwischen geht es nicht mehr allein um Dampfkessel und Automobile: Der TÜV Nord mischt mit im Millionengeschäft »Bildungsmaßnahmen für Arbeitslose«.

Im Geschäftsbericht 2011 jubelt das Unternehmen: »Milliardengrenze übersprungen – TÜV-Nord-Gruppe erzielt höchsten Umsatz seit Bestehen … Erstmals in seiner Geschichte übersprang der weltweit agierende technische Dienstleister die Milliardengrenze. Durch eine Steigerung von 11,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr wuchs der Umsatz auf 1,025 Mrd. Euro.(010 922,6 Mio. Euro). Innerhalb von fünf Jahren gelang damit ein Umsatzsprung von ca. 40 Prozent.«

Einen Teil dieses Umsatzsprungs verdankt der TÜV Nord auch den »Geförderten Maßnahmen«.

Mit Plastikgemüse und Gummieiern lassen sich offenbar prima Geschäfte machen, auch wenn das Ganze vollkommen sinnlos ist. Der TÜV Nord führt nämlich einen Übungssupermarkt mit Gemüse, das nur auf dem Papier existiert, mit Käse, der nur auf Ansichtstafeln angepriesen wird, Konservendosen, die leer sind. Hier kauft auch kein echter Kunde, und an der Kasse wird mit Spielgeld bezahlt.

Zehn Monate lang sollen Teilnehmer mit sogenannten multiplen Vermittlungshemmnissen lernen, wie man kassiert, Lager auffüllt, Warenkörbe arrangiert, einkauft. Ein Kinderkaufmannsladen für Große also. Was Schüler, die etwa bei Rewe an der Kasse sitzen und ihr Taschengeld aufbessern, an einem Nachmittag lernen, dauert hier ganze zehn Monate, gut bezahlt vom Jobcenter. Eigentlich wollte mir weder das Jobcenter noch der TÜV Nord Zutritt in die Welt des Pseudo-Supermarkts gewähren. In verschiedenen Fernseh- und Zeitungsberichten hatte man sich bereits über Gummikäse und Papiergemüse lustig gemacht. »Völlig unverständlich«, sagt der Pressesprecher des Jobcenters in Hamburg, denn die Vermittlungsquote aufgrund dieser Maßnahme sei gar nicht mal so schlecht. Der Lebensmitteleinzelhandel suche schließlich wegen der verlängerten Öffnungszeiten bis 22 und 23 Uhr händeringend Arbeitskräfte.

Doch weit gefehlt, wenn man nun annimmt, der Einzelhandelsverband selbst schule Arbeitslose zu Verkäuferinnen und Verkäufern um. Denn auch seine Vertreter finden, der Staat eigne sich wunderbar als Kostenträger von Ausbildung.

Nach langem Hin und Her darf ich dann doch in besagten Supermarkt. Für diese »Bildungsmaßnahme« hat der TÜV Nord in einer zugigen Gewerbehalle ein paar »Waren« und Lagerregale aufgebaut, drei Schreibtische mit Computern eingerichtet sowie eine Ladenkasse aufgestellt. Eine Ausbilderin überwacht, ob die Kassiererin auch richtig kassiert. Sie wird zwar vom Jobcenter bezahlt, kommt aber vom Verband des Lebensmitteleinzelhandels – eine komfortable Lösung, zumindest für den Verein zur Förderung des Einzelhandels. Dessen Vorsitzender kommt ab und zu vorbei und schaut sich das Ganze an. Dass der Verein die Ausbildung selbst bezahlen soll, zumal er ja von der Ausbildung der Arbeitskräfte profitiert, sieht Hermann Meier ganz und gar nicht ein. Das übersteige die Möglichkeiten des Lebensmitteleinzelhandels, meint er ein wenig weinerlich. Der sei ohnehin schon an der Schmerzgrenze. Ausbilden solle der TÜV Nord, bezahlen der Staat, also der Steuerzahler.

Doch der Steuerzahler finanziert wieder einmal eine völlig unsinnige Maßnahme, denn hier sitzt zusammen, was nicht zusammen gehört: ein 18-jähriger Schüler ohne Schulabschluss, der grimmig erklärt, er habe zu diesem Mist hier keine Lust, und der davon träumt, Abitur zu machen, vielleicht sogar zu studieren. Jedenfalls hat er nicht die Absicht, irgendwann Käse zu verkaufen. Seinen Namen will er nicht nennen, denn sonst bekomme er Ärger mit seinem Fallmanager. »Vielleicht kürzt der sonst die monatliche Unterstützung«, murmelt er wütend in sich hinein, »dann hocke ich hier eben meine Zeit ab.«

Betont lässig schiebt derweil ein Mittvierziger einen Einkaufswagen durch den »Supermarkt« – wie sich herausstellt, ein Langzeitarbeitsloser und Lebenskünstler. »Ich mache einen Testeinkauf«, erklärt er. Auf die Nachfrage, was das sei, erklärt er beflissen: »Ich will mal gucken, ob das hier was für mich ist.«

»Wo wollen Sie sich denn bewerben mit dem, was Sie hier gelernt haben?« Der Mann guckt tief erstaunt. »Tja, mal sehen«, ringt er sich dann ab. »Das werden verschiedene Anbieter sein. Das wird sich zeigen, was sich ergibt.«

»Na ja, es ergibt sich ja nur das, was Sie in Angriff nehmen. Von selbst kommen Arbeitgeber nicht«, wende ich ein. »Gut, man schreibt eben verschiedene Bewerbungen, mal hier und da …« Mal hier? Mal da? Man versteht: Auch dies wird kein leidenschaftlicher Einzelhandelskaufmann.

Eine Frau kreuzt virtuelle Bestellungen an. Eigentlich ist sie Altenpflegerin, doch der Job wurde ihr irgendwann zu viel. »Ich bin ausgebrannt«, räumt sie ein.

»Aber ist denn der Einzelhandel was für Sie?« Sie zuckt mit den Achseln: »Keine Ahnung. Mal sehen. Die Fallmanagerin hat mir das vorgeschlagen.«

»Warum hat Sie das Jobcenter hergeschickt?«, will ich von einem anderen wissen, ein Glaser, der seit zehn Jahren arbeitslos ist. »Na ja, die Fallmanagerin hat gesagt, ich soll mal gucken. Sie habe da was im Bereich Handel, Lager und Logistik. Ich solle mal reinschnuppern, ob das was für mich ist.«

Ein Schnupperkurs für Arbeitslose also, als ginge es um einen Tangokurs im Ferienklub. Nur mit dem Unterschied, dass hier jeder Cent des Schnupperkurses aus Steuergeldern finanziert wird und dass das Schnuppern sich vor allem für den TÜV Nord lohnt. Der Leiter des TÜV-Nord-Schulungszentrums, Rainer Westerwelle, hat das Geschäft mit den Bildungsgutscheinen vom Jobcenter jedenfalls als höchst profitabel erkannt. Im Übungsladen wurden bisher 561 Teilnehmer geschult. Nur 93 fanden hinterher eine Stelle. Das Hamburger Jobcenter fand übrigens, das sei schon eine prima Quote: Mehr als 15 Prozent seien somit vermittelt worden. Oft sind es viel weniger, gerade mal fünf Prozent.

Trotzdem verweist der TÜV Nord stolz auf das Qualitätsniveau seiner Bildungsmaßnahmen: »Unser TÜV®-Qualitätsniveau wird durch ein nach DIN EN ISO 9001 / 2008 zertifiziertes Qualitätsmanagement-System und unsere Anerkennung als Bildungsträger gemäß Anerkennungs- und Zulassungsverordnung Weiterbildung (AZWV) gewährleistet.« Alles klar?

Mit dem, was das Ganze eigentlich kostet, will der sonst so eloquente Geschäftsführer nicht so recht rausrücken. Als ich hartnäckig nachfrage, bequemt er sich dann doch, ein paar Zahlen zu nennen: »Wir haben das Projekt in einer Ausschreibung gewonnen«, um dann schnell hinzuzufügen: »›Gewonnen‹ ist das falsche Wort. Wir haben uns darum beworben, ein Konzept geschrieben und einen Preis dazu gemacht. Nur damit Sie eine Vorstellung bekommen: Der Markt für solche Dienstleistungen liegt zwischen 500 und 800 Euro pro Teilnehmer pro Monat.«

Er nickt, höchst zufrieden, denn das sind bisher rund 2,8 Millionen Euro für die Teilnahme am Supermarkt-Kurs, bei dem alle gewinnen – der Einzelhandelsverband, der TÜV Nord, ein Heer von Sozialarbeitern und Ausbildern – nur nicht die Arbeitslosen, und der Steuerzahler schon gar nicht.

Wie Speditionen ihre Lkw-Fahrer preiswert rekrutieren

Auch Spediteure nehmen gern die Leistungen des Jobcenters in Anspruch. Sie bilden nicht etwa selbst aus – sie lassen ausbilden, wie zum Beispiel das Speditionsunternehmen Heisterkamp. Man suche regelmäßig Lkw-Fahrer, so steht es im Internet unter der Rubrik »Stellenangebote«. Bis zum Ende der Wehrpflicht war die Bundeswehr verlässlicher »Zulieferer« von Lkw-Fahrern. Sie hatte den Speditionen lange Zeit die Leute kostenlos ausgebildet – eine sehr bequeme Lösung. Da ist es für die Branche schön, dass das Jobcenter für die Bundeswehr in die Bresche springt. Schon vorher wurden Arbeitslose zu Lkw-Fahrern umgeschult, aber seitdem die Bundeswehr als Ausbilder gänzlich weggebrochen ist, ist das Jobcenter noch stärker gefragt. Und Spediteur Heisterkamp weiß auch gleich, wer am besten ausbilden könne, nämlich die DEKRA. Der Spediteur und die DEKRA bieten sich gemeinsam dem Jobcenter als neuer Partner an – eine lukrative Allianz. Die einen stellen ein – vielleicht. Die anderen bilden zuverlässig aus – gegen Bares vom Amt.

Wie der TÜV Nord hat auch die DEKRA mal ganz anders angefangen: mit Führerscheinprüfungen-, Produkt-, und Maschinenzertifizierung sowie der Überprüfung von Gerätesicherheit. Und ebenso wie der TÜV-Nord hat auch die DEKRA die Zeichen der Zeit erkannt und mittlerweile eine Bildungsakademie gegründet. Seitdem bietet sie vollmundig an, Arbeitsuchende zu Berufskraftfahrern umzuschulen und schwärmt: »Teilnehmern eröffnen sich so neue Perspektiven im Speditions- und Transportgewerbe oder im Werksverkehr.«

Ein junger Mann arbeitet gerade an seiner neuen Perspektive, kurbelt am Lenkrad eines Riesenlasters und fährt vorsichtig über den Hof der DEKRA-Akademie in Lübeck. Er hat soeben die Lkw-Führerscheinprüfung bestanden und soll seinem neuen Chef von der Spedition Heisterkamp mal zeigen, was er kann. Die Firma ist kein kleiner Krauter, sondern ein großes Unternehmen, das stolz in einer Werbebroschüre erklärt: »In den vergangenen 30 Jahren hat Heisterkamp ein besonderes Wachstum durchlebt. Ein Fuhrpark von einem Lastwagen ist zu einem Fuhrpark von 1000 Lastwagen und einem Personalbestand von ungefähr 1600 Angestellten angewachsen. In den letzten Jahren wurde auch das Angebotspaket von Heisterkamp gewaltig ausgebreitet. Wir wollen jedes Jahr Besseres leisten als im Jahr davor. Heisterkamp – der europäische Marktführer auf dem Gebiet des Trailertruckings. Wir wollen mit den Kunden wachsen, um Sie weiterhin bedienen zu können, auf dem Niveau, das Sie von Heisterkamp gewohnt sind.«

Jedes Jahr Besseres zu leisten und mit den Kunden zu wachsen – nicht schwer, wenn man das Jobcenter zuverlässig an seiner Seite hat. Ein Lkw-Führerschein kostet 10 000 Euro, doch diese Summe schlägt bei Heisterkamp nicht zu Buche, denn das Jobcenter finanziert die Fahrerausbildung und serviert der Speditionsbranche die frisch Ausgebildeten frei Haus. Der Geschäftsführer betont noch einmal: »Wir suchen Lkw-Fahrer.«

»Warum bilden Sie denn nicht aus?«

»Wir bilden nicht aus, weil wir mit der DEKRA zusammenarbeiten und wir einfach sagen: Das ist ein Job, den die DEKRA gut macht – und das seit Jahren.«

»Seit Jahren? Also Sie kriegen seit Jahren auf diese Weise gut ausgebildete Lkw-Fahrer?«

»Ja, deswegen bilden wir auch nicht selber aus. Das wäre für uns viel zu weitgreifend. Wir müssten viel mehr Personal einstellen.«

»Beteiligen Sie sich denn wenigstens an den Kosten für die Ausbildung?«

»Das steht im Augenblick nicht zur Debatte.«

Auch das steht nicht zur Debatte: Kein Vertreter des Jobcenters steht heute hier auf der Matte und fordert das Speditionsunternehmen auf, den jungen Mann, der aus der Fahrerkabine krabbelt und seine Fahrprüfung bestanden hat, nun auch fest einzustellen und nach Tarif zu entlohnen. Im Gegenteil: der Mann wird weiter Hartz IV vom Jobcenter beziehen. Der Vertreter des Speditionsunternehmens ist zwar zufrieden mit dem, was er eben auf dem Hof gesehen hat. Der junge Mann beherrscht den Lkw. Einen Einstellungsvertrag bekommt er aber trotzdem nicht, obwohl der Vertreter der Firma vorher eingeräumt hatte, dass sie händeringend Lkw-Fahrer suchten. Jetzt folgt nämlich erst mal ein Praktikum – eine unschlagbare Finanzierungsstrategie, denn der Mann muss zwar während seines »Praktikums« malochen wie jeder andere im Speditionsunternehmen auch, aber er bekommt dafür keinen Lohn, noch nicht einmal eine kleine Praktikumsvergütung. Seinen Lebensunterhalt bestreitet er weiterhin mithilfe des Steuerzahlers. Er bleibt nämlich im Hartz-IV-Bezug! Der Spediteur findet das völlig normal: »Er wird jetzt noch ein Praktikum bei uns machen und innerhalb des Praktikums werden wir feststellen, was er kann.«

»Und ist das ein bezahltes Praktikum oder wird er während der Zeit vom Jobcenter finanziert?«

»Während der Praktikumszeit wird er noch vom Jobcenter finanziert.«

60 Fahrer – bundesweit sind es weitaus mehr – werden allein hier in Lübeck im Jahr geschult. Das macht 600 000 Euro, die die Firma Heisterkamp und andere Speditionsunternehmen einsparen – dem Steuerzahler sei Dank.

Die Tafel-Story oder Gutes tun und Geld verdienen

Es gibt viele Möglichkeiten, die Hartz-IV-Maschine in Gang zu halten. Wenden wir uns einer anderen Branche zu. Ich bin unterwegs mit der Berliner Tafel, einer von vielen hundert Tafeln im Bundesgebiet. Ein Dutzend Kleintransporter sind heute Morgen vom Parkplatz aus gestartet. Am Steuer und auf dem Beifahrersitz Ehrenamtliche oder Ein-Euro-Jobber, wie Janine und Michael. Sie haben eine Liste mit Straßennamen und Supermärkten vor sich, die sie in den nächsten Stunden anfahren werden. Der erste Laden ist ein Biomarkt. Die Verkäuferin wartet schon auf uns mit einer Kiste Lebensmittel. Michael wuchtet sie in den Kleintransporter und gibt der Verkäuferin eine Bescheinigung. »Wozu dient die Bescheinigung eigentlich?«, will ich wissen. »Na, ich habe jetzt drei Kisten an die Tafelmitarbeiter übergeben, und das steht dann hier drauf«, antwortet die Verkäuferin. »Und wozu brauchen Sie die?«

»Na, für die Steuer, für die Spendenbescheinigung!«