Reichtum als moralisches Problem - Christian Neuhäuser - E-Book

Reichtum als moralisches Problem E-Book

Christian Neuhäuser

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Beschreibung

Reichtum gilt als gut, sogar als begehrenswert. Selbst wer nicht nach ihm strebt, würde ihn kaum zurückweisen, und wer anderen ihren Reichtum nicht gönnt, gilt schnell als neidisch. Christian Neuhäuser stellt in seinem neuen Buch solche Selbstverständlichkeiten in Frage und behauptet: Man kann nicht nur reich, man kann auch zu reich sein. Er zeigt, dass das gesellschaftliche Streben nach immer mehr ein Zusammenleben in Würde gefährdet und argumentiert für einen Umgang mit dem erreichten Wohlstand, der deutlich verantwortungsvoller ist als derjenige, den wir gegenwärtig pflegen.

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Seitenzahl: 470

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3Christian Neuhäuser

Reichtum als moralisches Problem

Suhrkamp

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

Einleitung

Kapitel 1: Reichtum, Gerechtigkeit und Anständigkeit

Reichtumsprobleme

Reichtum, Verteilung und Ungerechtigkeit

Würde, Selbstachtung und eine Grenztheorie der Gerechtigkeit

Kapitel 2: Geld, reiche Akteure und Selbstachtung

Güter, Werte, Fähigkeiten und Geld

Handlungsfähigkeit und Reichtum

Selbstachtung und Reichtum

Kapitel 3: Reichtumsmaßstäbe, Macht und Status

Selbstachtung und Reichtumsmaßstäbe

Macht und Geld

Status und Geld

Kapitel 4: Reichtum und Kritik

Ästhetisch-ethische Reichtumskritik

Reichtum, Selbstachtung und Würde

Geld, Integrität und Lebensglück

Kapitel 5: Reichtum als Problem anständiger Gesellschaften

Relative Armut

Arbeitslosigkeit und unanständige Arbeit

Postdemokratie

Kapitel 6: Reichtum als Problem für eine anständige Welt

Absolute Armut

Klimawandel

Fragilität der Märkte

Kapitel 7: Zur Verteidigung des Reichtums

Reichtum und Eigentum

Reichtum und Verdienst

Reichtum als Wirtschaftsmotor

Kapitel 8: Die Überwindung schädlichen Reichtums

Legitime Interessen und politische Reformmacht

Steuer- und Wirtschaftsreformen zur Abschaffung des Reichtums

Die Wohlstandsgesellschaft als realistische Utopie

Literaturverzeichnis

Fußnoten

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

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7Einleitung

Vor ungefähr zwanzig Jahren besuchte ich meine ersten Seminare an der Universität. Das war für mich eine sehr aufregende und geradezu magische Zeit. Ich stamme aus einer Arbeiterfamilie und hatte vor dem Beginn meines Studiums keine gute Vorstellung davon, was Universitäten sind und wie sie funktionieren. Weder hatte ich jemals eine Universität von innen gesehen, noch hatte ich eine Ahnung davon, was es bedeutet, solche Fächer wie Philosophie, Politikwissenschaft und Soziologie zu studieren. Magisch war die Zeit für mich vor allem deswegen, weil ich eine ziemlich naive – und vielleicht noch immer nicht ganz abgelegte – Vorstellung von diesen »Tempeln des Wissens« hatte. All die großen philosophischen Theorien, all die aufregenden und für mich neuen Ideen und Diskussionen hielt ich für von fundamentaler Bedeutung dafür, dass wir Menschen aus dieser Welt eine bessere, eine gerechtere Welt machen können.

Entsprechend schockierend war für mich ein Ereignis, das sich ziemlich am Beginn meines Studiums in einer meiner ersten Veranstaltungen ereignete. Es handelte sich um ein Seminar über die Klassiker der Soziologie, und es ging um einen Text von Georg Simmel. Aus irgendeinem Grund, an den ich mich nicht erinnern kann, meldete sich eine Kommilitonin höheren Semesters und sagte: »Eins ist doch vollkommen klar: Reich werden, das wollen wir alle.« Zu meinem großen Erstaunen blieb diese Aussage vollkommen unwidersprochen, auch von mir. Wie gesagt, ich war im ersten Semester und traute mich einfach nicht, etwas zu sagen – zumal die Kommilitonin schon zuvor durch ihre scharfsinnigen und gleichermaßen scharfzüngigen Redebeiträge aufgefallen war. Dennoch war ich mir sicher, dass sie Unrecht hatte. Ich zumindest wollte nicht reich werden, fand ich, und einige andere Mitstudierende bestimmt auch nicht. Gesagt hat das aber niemand.

Etwa 15 Jahre später hatte ich ein angeregtes Gespräch mit einem Kollegen an der Universität Luzern über die damals in der Schweiz laufende Volksinitiative »1 : 12 – für gerechte Löhne«. Die Idee dieser Initiative war, dass der bestbezahlte Job in einem Unternehmen höchstens zwölfmal so viel einbringen darf wie die am 8schlechtesten bezahlte Vollzeitstelle. Der Kollege meinte, dass er eigentlich auch für mehr soziale Gerechtigkeit sei; aber die Initiative sei ihm in dieser Form zu radikal. Als ich ihn fragte, warum die Vorstellung radikal sei, die Arbeit eines Menschen könne nicht mehr als zwölfmal so wertvoll sein wie die eines anderen, gab er eine erstaunliche Antwort. Das sei natürlich schon gerechter, befand er, aber einfach viel zu weit entfernt davon, wie unsere Gesellschaften tatsächlich funktionieren. Man hätte doch erst einmal mit 1 : 25 anfangen können.

Jenes Gespräch in der Schweiz, das Seminar zu Beginn meines Studiums und viele ähnliche Ereignisse haben mich letztlich dazu bewogen, dieses Buch zu schreiben. Reichtum ist ein wichtiges und auch viel diskutiertes Thema, aber philosophisch kaum untersucht, so ist mir irgendwann klargeworden. Die vorliegende Arbeit soll eine philosophische Annäherung an das Thema Reichtum liefern. Ihre zentrale These lautet, dass man nicht nur reich sein kann, sondern dass es auch möglich ist, zu reich zu sein. Das gilt meiner Ansicht nach für die reichsten Staaten und auch für die reichsten Unternehmen der Welt, und es gilt natürlich ebenso für die sogenannten Superreichen, also Multimillionäre und Milliardäre. Überraschender ist wahrscheinlich eine weiter gehende These: Es gilt nämlich auch für sehr viele Menschen, die sich selbst gar nicht für reich, sondern nur für wohlhabend halten. Reichtum ist nicht einfach nur gut und wünschenswert, sondern kann zu einem ernsthaften sozialen Problem werden. Er kann sogar ein Zusammenleben in Würde verhindern. Weil diese doch ziemlich unkonventionelle These im Zentrum des Buches steht, folgt es einer etwas ungewöhnlichen Methodik, die es zwischen zwei philosophische Stühle platziert.

Erstens handelt es sich bei diesem Buch nicht um eine Abhandlung, die sich ausschließlich an Fachkollegen richtet und die begrifflichen sowie normativen Argumente bis an die Grenze der leistbaren Begründbarkeit ausreizt. Beispielsweise wird zwar ein enger Zusammenhang zwischen Reichtum und Geld hergestellt, aber es wird keine umfassende Theorie des Geldes entwickelt. Zudem wird zwar mit einer bestimmten Theorie von Würde als Selbstachtung gearbeitet, um noch ein anderes Beispiel zu nennen, aber diese wird nicht gegen andere Theorien der Würde verteidigt. Stattdessen werden die begrifflichen und normativen Argumente stets 9nur so weit getrieben, wie es nötig ist, um die zentrale These des Buches vom Reichtum als moralischem Problem zu stützen. Das zentrale und immer noch ziemlich ehrgeizige Ziel besteht darin, die Idee eines moralisch problematischen Reichtums mit philosophischen Mitteln als im öffentlichen Streit ernstzunehmende These zu etablieren.

Der stark auf einen reflektierten öffentlichen Diskurs ausgerichtete Charakter des Buches unterscheidet es aber zweitens auch von solchen Publikationen, die häufig mit dem Begriff der Populärphilosophie belegt werden. Solche Texte beinhalten oft gut aufbereitete historische Überblicke, mehr oder weniger spannende Anekdoten und eingängig dargestelltes Überblickswissen. Diese Bücher sollen unterhalten und nähern sich im Ton schon Krimis, Thrillern oder historischen Romanen an. Negativ betrachtet verkaufen diese Bücher das gute Gefühl der Intellektualität. Positiv betrachtet bilden sie auf unterhaltsame Weise oder versuchen es zumindest. Das ist jedoch nicht das Anliegen dieses Buches. Es geht tatsächlich um die wissenschaftlich angemessen präzise Diskussion kontroverser Argumente und Begriffe von politischem Gewicht. Zwar bemühe ich mich um Klarheit in der Sprache, aber der Gegenstand der Untersuchung ist komplex.

Das Buch soll sich also weder nur an sehr wenige Spezialisten wenden noch will es ein unterhaltsam daherkommendes populärphilosophisches Buch sein. Vielmehr soll es sich an all diejenigen richten, die aufrichtig der Meinung sind, dass philosophische Reflexionen im öffentlichen und politischen Diskurs eine wichtige Rolle spielen. Es handelt sich also um ein philosophisches Essay, das in Buchlänge einen Gedanken und ein Argument verfolgt: Reichtum ist nicht nur gut, sondern auch ein moralisches Problem. Davon wird auch der Aufbau des Buches in acht Kapiteln geleitet.

In einem ersten Kapitel führe ich in die Thematik ein und zeige, warum die Idee eines moralisch problematischen Reichtums einige Anfangsplausibilität besitzt. Die Überlegungen laufen auf eine spezifische Perspektive auf Gerechtigkeitsfragen hinaus, die ich als Grenztheorie der Gerechtigkeit bezeichne. Eine gerechte Gesellschaft ist eine Gesellschaft, die allen Menschen ein Leben in Würde und Selbstachtung ermöglicht. In solch einer gerechten Gesellschaft gibt es nicht nur nach unten, sondern auch nach oben hin eine klare Grenze für erlaubte sozioökonomische Ungleichheit.

10Im zweiten Kapitel erfolgt eine gewisse Zuspitzung der Untersuchung, indem der Reichtumsbegriff auf Geldreichtum eingeschränkt wird. Diese Einschränkung wird gegenüber einer weiteren Perspektive verteidigt, die auf Güter, Werte oder Fähigkeiten abstellt. Doch wann ist ein Akteur eigentlich reich? Darauf werde ich antworten, dass individuelle Akteure dann reich sind, wenn sie deutlich mehr Geld haben, als sie für ein Leben in Selbstachtung brauchen. Korporative Akteure sind dann reich, wenn sie deutlich mehr Geld haben, als sie brauchen, um ihren Beitrag zur Selbstachtung der Menschen beizutragen. Das gilt beispielsweise für solche Unternehmen wie Apple mit seinen Geldreserven von über 250 Milliarden Dollar.

Das dritte Kapitel führt diese Überlegungen weiter, indem es zunächst darstellt, wie sich Geldreichtum messbar machen lässt. Solch ein philosophisch gehaltvoller und sozialwissenschaftlich operabler Begriff von Reichtum eignet sich zudem, um den Zusammenhang von Reichtum und Macht sowie Reichtum und Status zu erhellen. Niemand bestreitet, dass solche Zusammenhänge bestehen. Es kommt jedoch darauf an, sie so zu beschreiben, dass die moralisch problematische Seite von Reichtum deutlich sichtbar wird. Das geschieht im dritten Kapitel auf der Grundlage des erarbeiteten Reichtumsbegriffs.

Im vierten Kapitel geht es dann um die Frage, welche Art von Kritik an Geldreichtum geübt werden sollte. Eine ethisch-ästhetische Kritik an Reichtum stellt darauf ab, dass Geldreichtum für das gute Leben der Reichen selbst zu einem Problem wird. Solch eine Kritik ist zwar häufig angemessen, aber sie eignet sich nicht für eine universelle gerechtigkeitstheoretische Perspektive. Ich komme daher auf den bereits verwendeten normativen Maßstab der Selbstachtung zurück und argumentiere, dass er nicht nur anzeigt, wann jemand reich ist. Er eignet sich auch, um anzugeben, wann jemand zu reich ist. Das ist nämlich genau dann der Fall, wenn dieser Reichtum auf systematische Weise mit der Selbstachtung anderer Menschen in einen Konflikt gerät. Dabei entsteht allerdings auch das Problem, dass für reiche Menschen ihr Reichtum selbst ein wesentlicher Bestandteil ihrer Selbstachtung sein kann. Ich werde argumentieren, dass sie dennoch keinen unbedingten Anspruch auf ihren Reichtum haben.

Im fünften und sechsten Kapitel diskutiere ich einige Bereiche, 11in denen sich deutlich zeigt, wie Geldreichtum für ein Zusammenleben in Würde zu einem Problem wird. Im fünften Kapitel geht es um Reichtumsprobleme in wohlhabenden Gesellschaften wie Deutschland, Österreich und der Schweiz. Diskutiert werden relative Armut, Arbeitslosigkeit und unanständige Arbeit sowie die demokratische Verfasstheit dieser Gesellschaften. In all diesen Bereichen verhindert Reichtum eine an der Selbstachtung aller Menschen orientierte Lösung von gravierenden Problemen. Im sechsten Kapitel wechsle ich dann auf die globale Ebene und argumentiere, dass der Reichtum auch hier effektive Lösungen so gravierender Probleme wie absolute Armut, Klimawandel und globale Wirtschaftskrisen verhindert.

Diese Einsichten laufen darauf hinaus, dass Reichtum in seiner moralisch problematischen Form eigentlich verboten werden sollte. Im siebten Kapitel werden drei grundsätzliche Einwände gegen solch eine doch ziemlich starke These diskutiert und entkräftet. Der erste Einwand besagt, dass es ein absolutes Eigentumsrecht gibt, das auch würdeverletzende Formen des Reichtums schützt. Ich werde argumentieren, dass sich so starke Eigentumsrechte nicht begründen lassen. Der zweite Einwand lautet, dass zumindest einige Reiche ihren Reichtum verdient haben. Hier werde ich auf die problematische Struktur und begrenzte Reichweite der Verdienstidee hinweisen. Der dritte Einwand stellt auf die wichtige Funktion von Reichtum für eine stabile und florierende Wirtschaft ab. In dieser grundlegenden Form weise ich diesen Einwand zurück, denn Wirtschaftssysteme können auch ohne Reichtum sehr gut funktionieren. Allerdings hat dieser Einwand unter den gegebenen Bedingungen durchaus einige Berechtigung: So wie unser Wirtschaftssystem tatsächlich funktioniert, könnte es auf Geldreichtum angewiesen sein.

Diesem Problem wende ich mich im achten und letzten Kapitel zu. Zuerst zeige ich, dass jede Reform die legitimen Interessen aller Akteure, auch der Reichen, angemessen berücksichtigen muss, was kleinschrittige Reformen erfordert. Wie sich dann zeigen wird, sind solche schrittweisen Reformen auch geeignet, um stabile und funktionale Marktwirtschaften aufzubauen, die ohne Reichtum auskommen. Dafür bedarf es lediglich eines schrittweise und langfristig aufzubauenden Steuersystems (sowie einiger weiterer flankierender Strukturmaßnahmen), das Reichtum unmöglich macht. 12Abschließend wende ich mich der kritischen Frage zu, ob solch eine Politik derzeit eine Aussicht auf Erfolg besitzt, und komme zu dem skeptischen Urteil, dass dies – wenn überhaupt – nur auf europäischer Ebene gelingen kann. Dafür müsste sich allerdings eine tief in der Bevölkerung verwurzelte europäische Zivilgesellschaft herausbilden, die sich für ein Zusammenleben in Würde aller in Europa lebender Menschen einsetzt. Unmöglich ist das nicht, aber die Hoffnung darauf bedarf doch einer ziemlich optimistischen Haltung.

Trotz des skeptischen Ausblicks am Ende hoffe ich jetzt, dass diese kurze Zusammenfassung des Gedankengangs im Buch ein wenig Interesse an der Thematik geweckt hat. Reichtum bleibt schließlich auch dann ein moralisches Problem, wenn wir ihn im Moment noch nicht abschaffen können. Es muss noch mehr darüber nachgedacht werden, was zu tun ist, und am Ende muss tatsächlich auch etwas getan werden. Dafür soll das Buch eine Grundlage liefern. Zugleich möchte ich auf zwei Themen hinweisen, die man in solch einem Buch vielleicht erwarten würde, die aber keine besondere Rolle spielen, weil es vorrangig um eine strukturelle Reichtumsorientierung, also eine gesamtgesellschaftliche Ausrichtung auf mehr Reichtum, und die damit verbundenen Probleme geht.

Erstens gibt es keine systematische moralische Auseinandersetzung mit den Milliardären dieser Welt, deren Zahl sich in den letzten Jahrzehnten auf ungefähr 2000 verdoppelt hat. Bereits jetzt deuten sich neo-römische Tendenzen globalen Ausmaßes an, in Form einer von der normalen Bevölkerung völlig abgehobenen und extrem reichen Elite, die zentrale politische und soziale Fragen unter sich ausmacht.[1] Das durchaus wichtige Thema würde hier allerdings allzu leicht von der Tatsache ablenken, dass es ein strukturelles Reichtumsproblem auf gesamtgesellschaftlicher Ebene gibt. Da dieses Problem jedoch auch der Entwicklung dieser neuen Klasse der Superreichen sowie ihrer politischen und sozialen Macht zugrunde liegt, konzentriere ich mich auf die tiefer liegende strukturelle Ebene.

13Aus einem ähnlichen Grund spielt eine Idee des »effektiven Altruismus« keine explizite Rolle, obwohl sie derzeit in philosophischen Kreisen und darüber hinaus intensiv diskutiert wird.[2] Sie lautet: einerseits durchaus viel Geld verdienen, aber andererseits relativ bescheiden leben, um möglichst viel des verdienten Geldes auf effektive Weise an besonders bedürftige Menschen weltweit spenden zu können. Diese Überlegung spielt hier deswegen keine Rolle, weil sie auf der individualethischen Ebene verbleibt und keine systemischen politischen Konsequenzen hat. Insofern sind die in diesem Buch diskutierten Überlegungen zu Reichtum als eines strukturellen moralischen Problems durchaus mit dieser Idee des effektiven Altruismus vereinbar. Wer so leben möchte, kann das durchaus tun. Je stärker die oben vorgeschlagenen strukturellen Maßnahmen greifen würden, umso weniger wäre das nötig.

Allerdings besteht aus zwei Gründen auch eine gewisse Spannung zwischen der hier verfolgten stärker politischen Perspektive und dem individualethischen Ansatz des effektiven Altruismus. Erstens ist nicht klar, dass von jedem einzelnen Menschen aus moralischer Sicht verlangt werden kann, als »effektiver Altruist« zu leben. Das ist eine sehr anspruchsvolle Forderung und könnte dazu führen, dass alle anderen individuellen Projekte und Vorstellungen vom guten Leben dahinter zurückstehen müssen. Wie später im Buch noch deutlich werden sollte, missachtet solch ein »Moralismus« möglicherweise selbst die persönliche Würde der angesprochenen Menschen. Denn diese Würde beruht auch darauf, dass Menschen ihre Vorstellung vom guten Leben realisieren können. Zweitens ist nicht klar, wie effektiv der effektive Altruismus tatsächlich ist. Die Selbstbezeichnung ist erst einmal nicht mehr als eine Zielformulierung für einzelne Akteure. Wie kann ich selbst als einzelner Mensch möglichst effektiv helfen? Das ist die zentrale Frage des effektiven Altruismus. Es kann durchaus sein, dass sich sehr viele Menschen davon bewegen lassen und der effektive Altruismus als soziale Bewegung viel bewirkt. Es kann aber auch sein, dass er allzu sehr von nötigen strukturellen Reformen ablenkt und dadurch viel effektivere Alternativen ver- oder zumindest behindert.

14Aus diesen Gründen richtet sich der Fokus dieses Buches auf Reichtum als strukturelles Problem aus Sicht einer politischen Ethik. Übermäßiger Reichtum ist ein politisches Problem, und die Grundbedingungen für die Möglichkeit eines Zusammenlebens in Würde sind politisch herzustellen. Das soll dieses Buch zeigen.

Viele Menschen haben zum Gelingen dieses Buches beigetragen. Ihnen allen gebührt mein aufrichtiger Dank. Explizit nennen möchte ich diejenigen, die Teile des Buches gelesen oder bestimmte Kapitel auf der Grundlage von Vorträgen ausführlich mit mir diskutiert haben. Das sind: Valentin Beck, Barbara Bleisch, Anne Burkhardt, Daniel Cabalzar, Andreas Cassee, Robin Celikates, Simon Derpmann, Franziska Dübgen, Meike Drees, Anna Goppel, Stefan Gosepath, Henning Hahn, Martin Hartmann, Martina Herrmann, Lisa Herzog, Sabine Hohl, Marc Hübscher, Daniel Jacob, Fabian Koberling, Felix Koch, Nora Kreft, Hannes Kuch, Corinna Mieth, Patrick Münch, Lukas Naegeli, Andreas Oldenbourg, Stefan Rederer, Bastian Ronge, Peter Schaber, Cord Schmelzle, Gottfried Schweiger, David Schweikard, Swaantje Siebke, Ralf Stoecker, Eva Weber-Guskar, Anna Wehofsits und Gabriel Wollner. Ohne die Hilfe dieser Philosophinnen und Philosophen wäre das Buch sehr viel – na ja, was wohl – ärmer geworden. Besonderer Dank gebührt Meike Drees und Martina Herrmann, die das gesamte Manuskript mit reichhaltigen Kommentaren versehen haben. Roya Sadaati hat das Manuskript vorlektoriert; auch ihr gebührt besonderer Dank. Besonderer Dank gilt auch den beiden Lektoren des Suhrkamp Verlages, Eva Gilmer und Jan-Erik Strasser. Insbesondere Jan-Erik Strasser hat durch seine hervorragende Arbeit und seine vielen hilfreichen Kommentare aus einem Manuskript ein Buch gemacht. Herzlichen Dank dafür. Ein wissenschaftliches Buch ohne solch ein professionelles Lektorat ist wie Fort Knox ohne Gold, wenn ich im Bild bleiben darf.

Danken möchte ich auch und wieder meiner Familie und insbesondere meiner Frau Monica Hang Ying Leung für ihre Unterstützung sowie für ihre Geduld und ihr Verständnis. Wenn jemand wie ich ein Buch über Reichtum schreibt, dann kann das unter Umständen für die nächsten Menschen sehr anstrengend werden. Sei es, weil dabei hin und wieder doch eine – mitunter wüste – moralistische Empörung über massive Ungerechtigkeiten, über Gier, 15über Neid und über die ungeheure Macht des schnöden Mammons hervorbricht. Sei es, weil zugleich manchmal eine seltsame und erstaunlich anhaltende Faszination dafür entsteht, dass ein mit Diamanten versehenes Mobiltelefon mehrere Millionen Euro kosten kann, dass die Welt der erlesenen Weine für einige hundert Euro in Wahrheit noch gar nicht die Welt der wirklich erlesenen Weine ist, dass wirklich protzige Yachten locker über 100 Millionen Euro kosten, dass zur Zeit und weltweit zehn Bilder mehr als 100 Millionen Euro und alle zehn zusammen 1,35 Milliarden Euro wert sind (wenn man ungesicherte Käufe weglässt), dass gegenwärtig pro Jahr etwa 10 000 Ferraris und Lamborghinis hergestellt werden und dass sich jeder der 1000 reichsten Menschen alle diese 10 000 sauteuren Autos auf einmal kaufen könnte, dass …

17Kapitel 1: Reichtum, Gerechtigkeit und Anständigkeit

Im Jahre 2014 betrug das Bruttoweltprodukt 71 830 Milliarden US-Dollar.[1] Das ist eine kaum vorstellbar große Zahl und jedenfalls ziemlich viel Geld. Sind wir, ist die Menschheit also reich? Vor 200 Jahren betrug das Bruttoweltprodukt nur etwa 175 Milliarden US-Dollar. Der Reichtum der Menschheit hat sich also vervierhundertfacht. Die frühen Ökonomen des klassischen Liberalismus haben davon geträumt, dass die Menschheit durch Reichtum das Problem der ökonomischen Knappheit überwinden wird. Ist dieser Traum in Erfüllung gegangen und endlich die Phase eines unvorstellbaren Überflusses eingetreten? Wenn das so ist, dann haben die meisten von uns das jedenfalls noch nicht so richtig bemerkt.[2] Zwar trifft es zu, dass es in den letzten 200 Jahren zu jenem rasanten ökonomischen Wachstum aufgrund einer enorm gesteigerten Produktivität gekommen ist, wie beispielsweise bereits Adam Smith gehofft hatte.[3] Allerdings gibt es auch eine lange Reihe von Problemen, die entweder bestehen blieben oder gerade neu entstanden sind. Noch immer leben sehr viele Menschen in absoluter oder relativer Armut. Einkommen sind weiterhin sehr und sogar zunehmend un18gleich verteilt. Viele Menschen finden überhaupt keine und noch mehr Menschen keine anständige Arbeit. Zahlreiche Länder sind nicht demokratisch verfasst, und selbst in Europa nimmt die vernünftige politische Selbstbestimmung der Bürger rasant ab. Märkte und insbesondere Finanzmärkte werden zunehmend instabil und unkontrollierbar, was desaströse Konsequenzen hat. Dem Klimawandel und seinen Folgen stehen wir trotz unserer großen materiellen Ressourcen ziemlich hilf- oder zumindest tatenlos gegenüber.

Man könnte auf diese Probleme mit dem Hinweis reagieren, dass wir eben noch nicht reich genug seien. Die etwas mehr als 70 000 Milliarden Dollar reichen eben einfach noch nicht aus. Die Wirtschaft muss noch weiter wachsen, das Bruttoweltprodukt noch größer werden. Erst dann werden wir in der Lage sein, die genannten Probleme auch zu lösen, so der Gedanke. Die zentrale wirtschaftspolitische Aufgabe bestünde dann weiterhin darin, mehr ökonomisches Wachstum zu organisieren. Alles andere wäre nachrangig. Man könnte demgegenüber aber auch auf die Idee kommen, dass die Menschheit insgesamt eigentlich schon reich genug ist und die genannten Probleme sich durch mehr Wachstum nicht mehr lösen lassen. Dann liegt die Wurzel dieser Schwierigkeiten möglicherweise eher in der ungleichen Verteilung des Reichtums, und die Wirtschaftspolitik müsste vor allem auf Umverteilung und nicht auf Wachstum ausgerichtet werden. Tatsächlich lassen sich in der gegenwärtigen Politiklandschaft und politischen Ökonomie beide Positionen finden, und beide haben offensichtlich einigen Einfluss auf die unterschiedlichen Programme verschiedener politischer Parteien.

Es gibt aber auch noch eine dritte Möglichkeit, die bis vor kurzem kaum ausgesprochen – an die kaum einmal gedacht wurde. Vielleicht sind wir ja sogar zu reich und haben zu viele materielle Güter. Dann wären mehr Wachstum und mehr Reichtum nicht nur wenig hilfreich, sondern sogar schädlich. Die Politik müsste dann für Postwachstum oder sogar für eine ökonomische Schrumpfung sorgen. Wir dürften folglich nicht noch reicher, sondern müssten sogar ärmer werden. Bescheidenheit wäre das neue Paradigma für Wirtschaft und Politik. Vor dem Hintergrund des Klimawandels, aber auch aufgrund der demographischen Entwicklung in vielen hochentwickelten Ländern, die zu einer schrumpfenden Bevölkerung und damit zu einer geringeren Arbeitsleistung führt, sowie 19der anhaltenden Konjunkturschwäche der Weltwirtschaft wird diese Position inzwischen tatsächlich diskutiert, auch wenn sie noch keine politische Wirkungsmacht entfaltet.[4] Kann es also stimmen? Sind wir vielleicht zu reich?

Reichtumsprobleme

Ist Reichtum ein moralisches Problem oder zumindest eine Quelle moralischer Probleme? Diese Frage klingt zunächst seltsam, haben wir doch üblicherweise eine äußerst positive Einstellung zum ökonomischen Reichtum. Wer will denn nicht reich sein? Oder ein klein wenig reicher zumindest? Unsere unreflektierten subjektiven Wünsche verraten natürlich wenig darüber, ob Reichtum objektiv betrachtet ein Problem darstellt oder nicht. Es gibt aber auch allgemeine Argumente für dessen positive Bewertung. Bereits Bernard Mandeville und Adam Smith haben wirtschaftliches Reichtumsstreben geradezu zur Bürgerpflicht erklärt, weil solch ein Streben das Allgemeinwohl in Form eines Wirtschaftswachstums besonders gut fördere.[5] Nicht zuletzt durch den Einfluss dieser Denker und ihrer Nachfolger ist eine gewisse Reichtumsorientierung und Reichtumskultur zum festen Bestandteil des kulturellen Selbstverständnisses der europäischen Länder und zum ideengeschichtlichen Exportschlager geworden.[6] Unsere subjektiven Einstellungen zu Reichtum sind stark von dieser inzwischen schon jahrhunder20tealten Tradition geprägt. Dennoch wird es vielleicht Zeit, sie zu hinterfragen.

Eine positive Einstellung gegenüber Reichtum gibt es natürlich auch in anderen Kulturen und ihren Weltanschauungen, beispielsweise im Konfuzianismus.[7] Neu ist seit Smith eher die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Frage, wie sich das Wirtschaftsleben besonders gut auf Reichtumssteigerung ausrichten lässt. Die positive Reichtumsorientierung hat so in Gestalt der politischen Ökonomie ein wissenschaftliches Fundament bekommen.[8] Das hat nicht nur zu einem enormen Wirtschaftswachstum geführt, sondern Reichtum auch noch fester in sozialen Strukturen verankert. Diese Verankerung erscheint mir inzwischen so fest zu sein, dass eine kritische Auseinandersetzung mit Reichtum lange Zeit kein Thema und fast schon ein Tabu war.[9] Natürlich war und ist es weiterhin möglich, einzelne Menschen für ihren obszönen Reichtum zu kritisieren. Zwar besteht die Reaktion auf solch eine Kritik häufig aus einer Gegenkritik in Form des Neidvorwurfes. Dennoch mehren sich in den letzten Jahren kritische Stimmen gegenüber den sogenannten Superreichen und finden zumindest in der kritischen Zivilgesellschaft auch Gehör.[10]

21Demgegenüber befindet sich eine breiter und fundierter angelegte Reichtumskritik mit Blick auf eine gesamtgesellschaftliche Reichtumsorientierung eher noch in der Anfangsphase. Dabei geht es nicht so sehr um einige Superreiche und die Frage, ob diese ihren Reichtum verdient haben oder nicht und ob es obszön ist, wenn einzelne Menschen mehrere Milliarden Dollar besitzen. Das sind alles wichtige Fragen, die in diesem Buch hin und wieder auch angesprochen werden. Aber sie haben nur eine begrenzte Reichweite und lenken von dem eigentlichen Problem allzu schnell ab. Die zentrale Frage lautet nämlich, ob und inwiefern die geradezu singuläre Orientierung von Wirtschaft und Politik auf die Steigerung des Bruttosozialproduktes durch Wachstum der Gütermenge auf fundamentale Weise problematisch und entsprechend kritikwürdig ist. Vor dem Hintergrund des drohenden Klimawandels entwickelt sich unter dem Stichwort Postwachstum allmählich eine Debatte zu dieser Thematik.[11] Dazu möchte ich einen philosophischen Beitrag leisten. Allerdings geht es mir tatsächlich ganz allgemein darum, danach zu fragen, ob ökonomischer Reichtum und unser Umgang mit Reichtum ein moralisches Problem darstellen.

Der Klimawandel ist wahrscheinlich das Beispiel, bei dem diese Fragestellung besonders schnell einleuchtet. Ich möchte ihn und andere Beispiele hier kurz vorstellen, um sie dann im fünften und sechsten Kapitel ausführlich zu diskutieren. Die gegenwärtige gesellschaftliche Reichtumsorientierung geht mit einem Primat des ökonomischen Wachstums einher. Denn nur durch Wirtschaftswachstum lässt sich ständig eine neue Pareto-Superiorität herstellen, so dass einige reicher und niemand ärmer wird.[12] Inzwischen zeigt sich aber sehr deutlich, dass eine große und zunehmende Wirtschaftsleistung aufgrund des Energie- und Ressourcenverbrauchs äußerst negative Effekte auf die Umwelt hat. Insbesondere 22wird das Klima stark belastet, weil unsere wirtschaftliche Tätigkeit mit einem Anstieg des Ausstoßes von Kohlenstoffdioxid und einem Rückgang der natürlichen Sauerstoffproduktion einhergeht. Das führt aufgrund sekundärer Effekte zu einer rasanten Erderwärmung und einem Anstieg des Meeresspiegels. Die damit verbundenen Gefahren sind allgemein bekannt.[13] Zwar gibt es inzwischen auch theoretische Modelle, die über eine Entkoppelung von wirtschaftlicher Leistung und Ressourcenverbrauch sowie Klimaschädigung nachdenken. Bisher ist es jedoch noch nicht gelungen zu zeigen, wie solch eine Entkoppelung gelingen kann.[14]

Um gravierende Schädigungen zu verhindern, müsste man wohl also entweder die globale Wirtschaftsleistung reduzieren – was nur möglich scheint, wenn entweder viele Menschen und Länder auf ihren Reichtum verzichten oder die armen Menschen und Länder arm bleiben oder noch ärmer werden – oder der Meinung sein, dass der Klimawandel ohnehin nicht mehr aufzuhalten ist und wir uns eher durch eine starke Wirtschaft darauf vorbereiten sollten.[15] Dann wäre nicht Wirtschaftswachstum per se das Problem. Aber auch dann wird die Anpassung an ein verändertes Klima große Geldmengen verschlucken und vielen Menschen einiges an Bescheidenheit abverlangen. Ich möchte an dieser Stelle noch keinen dieser beiden Wege bewerten, sondern nur darauf hinweisen, dass sich mit Blick auf den Klimawandel durchaus die Frage stellt, ob unser ökonomischer Reichtum ein Problem darstellt. Weniger offensichtlich ist das vielleicht bei den nun anzusprechenden Problemen, aber auch dort lässt sich ein enger Zusammenhang mit der allgemeinen gesellschaftlichen Orientierung an Reichtum zeigen.

Bei absoluter und relativer Armut erscheint es zunächst vielleicht so, als seien Reichtum und Wirtschaftswachstum die Lösung 23und nicht Teil des Problems. Wenn die Menschheit insgesamt reicher wird, dann fällt ein wenig davon auch für die Armen ab, und sie werden ebenfalls reicher oder zumindest weniger arm, so der Gedanke.[16] Doch er ist falsch, wie ich im fünften und sechsten Kapitel argumentieren werde. Wenn die Reichen von der größeren Gütermenge proportional betrachtet noch mehr abbekommen als relativ arme Menschen, was sehr wahrscheinlich ist, dann nimmt auch die relative Armut zu. Selbst bei absoluter Armut kann es aufgrund der Relativität von Preisen zu einem ähnlichen Effekt kommen. Absolut arme Menschen haben dann etwas mehr Geld, aber nicht unbedingt mehr Kaufkraft, weil die Lebensmittel vielleicht teurer werden, denn alle anderen Menschen haben ja noch mehr, vielleicht sogar deutlich mehr Geld.[17] Man kann demgegenüber natürlich darauf hoffen, dass die Armen so viel mehr bekommen, dass es ihnen tatsächlich bessergeht. (Vielleicht weil die immer reicher werdenden Reichen irgendwann eher bereit sind, ihren Reichtum zu teilen.)

Doch sind wir oder die meisten von uns nicht schon längst so reich, dass noch mehr Reichtum nicht mehr so wichtig sein sollte? Selbst wenn man die Bevölkerungszunahme berücksichtigt, dann hat sich unser Reichtum in den letzten 200 Jahren, also seitdem die Industrialisierung in Gang gekommen ist, mehr als verfünfzigfacht. 24Gegenwärtig stünden für jeden Menschen auf der Erde jährlich fast 10 000 US-Dollar zur Verfügung. Das klingt vielleicht nicht nach allzu viel, ist aber doch ein hinreichendes Einkommen. Denn man muss berücksichtigen, dass viele relative Preise beispielsweise für Wohnen, Kleidung und Lebensmittel viel niedriger wären, wenn die Einkommen gleichmäßiger verteilt wären, weil die Prämie auf den damit verbundenen Statuskonsum wegfallen würde. Alle Menschen könnten gut wohnen, sich gut kleiden und gut essen, wenn das Geld nur anders verteilt wäre. Es gäbe natürlich weniger Luxusgüter für Reiche, aber sollten wir als Menschheit insgesamt nicht bereit sein, diesen Preis zu zahlen? Wenn das stimmt, dann besteht unser Problem mit der Armut nicht darin, dass wir noch nicht reich genug sind. Egal wie viel reicher wir noch werden, es wird immer große Ungleichheit geben können, weil sich auch immer neue Luxusgüter finden lassen. Wie sich im Verlauf der Arbeit zeigen wird, besteht das Problem dann eher in unserer singulären Reichtumsorientierung und der mangelnden Bereitschaft, zugunsten der Armen ein wenig auf Reichtum und Luxus zu verzichten.

Ähnlich ist es bei der Arbeit und ihrer Entlohnung. Sehr viele Menschen werden für ihre Arbeit sehr schlecht bezahlt, und viele Menschen finden überhaupt keine Arbeit mehr. Freie Arbeitsmärkte schaffen es offensichtlich nicht, Arbeit so zu organisieren, dass so gut wie alle Menschen auch eine Arbeit finden und dass die Entlohnung für diese Arbeit vernünftigen Gerechtigkeitsvorstellungen entspricht.[18] In der Eurozone hatte im Jahre 2014 jeder zehnte Mensch keine Arbeit, in Griechenland und Spanien ist sogar jeder vierte Arbeitssuchende arbeitslos geblieben.[19] Das ist deswegen besonders seltsam, weil wir gerade in der Eurozone eigentlich reich genug sind, um jedem Menschen sinnvolle Arbeit zu geben. Zudem ist es ja auch nicht so, dass es nicht genug zu tun gäbe. Wir könnten unsere Kinder und Pflegebedürftigen besser betreuen, unsere Städte schöner gestalten, höherwertige Waren herstellen, für 25mehr Kunst und Bildung sorgen und vieles mehr.[20] Das Problem ist nur, dass Märkte das nicht organisieren können – zumindest nicht so, wie sie derzeit strukturiert sind. Hier könnte sich der singuläre Fokus auf Reichtum wieder als Problem herausstellen, weil er verhindert, dass wir unsere Arbeitsmärkte so umorganisieren, dass sie für mehr und besser verteilte Arbeit sorgen, auch wenn wir dadurch insgesamt nicht reicher werden.

Auch bei der gerechten Entlohnung versagen Märkte. Löhne bestimmen sich gegenwärtig vornehmlich durch Marktprozesse.[21] Diese müssen jedoch nicht mit relevanten Maßstäben der Gerechtigkeit übereinstimmen, bei denen Leistung, Talente und Bedürfnisse der Arbeitnehmerinnen berücksichtigt werden. Es kann ganz andere Gründe dafür geben, warum es für bestimmte Berufe ein hohes oder niedriges Gehalt gibt. Oft hat es mit regulierten Marktzugängen, Organisationshierarchien und Gestaltungsmacht zu tun. Kaum jemand bestreitet beispielsweise, dass eine Chefärztin mehr verdienen sollte als ein Krankenpfleger. Aber ist es wirklich angemessen, dass sie mit etwa 270 000 Euro im Jahr zehnmal so viel verdient? Leistet sie wirklich zehnmal so viel? Besitzt sie zehnmal so viel Talent? Oder ist sie aufgrund der Belastung ihrer Arbeit gar 26zehnmal so bedürftig? Wenn das nicht der Fall ist, dann besitzt sie am Arbeitsmarkt wahrscheinlich einfach eine viel bessere Verhandlungsposition und kann mehr Einkommen für sich herausholen. Auf die Vorstandsvorsitzenden großer Unternehmen mit ihren Jahresgehältern von 5 bis 15 Millionen Euro trifft das mit Sicherheit zu. Unabhängig davon, ob solch ein Reichtumsstreben den Angehörigen der gesellschaftlichen Elite individuell zum Vorwurf gemacht werden kann oder nicht, stellt die wachsende Einkommensungleichheit mit ziemlicher Sicherheit ein Gerechtigkeitsproblem dar. Hinzu kommt übrigens noch die Ungerechtigkeit von Kapitalerträgen, die oft gar nichts mit einer eigenen Leistung zu tun haben, beispielsweise wenn das Kapital geerbt wurde.[22]

Der zunehmende Reichtum einer kleinen Gruppe von Menschen, aber auch von korporativen Akteuren wie Unternehmen bringt noch eine andere Gefahr mit sich. Viele Autoren befürchten, dass der konzentrierte Reichtum die Demokratie unterhöhlen könnte oder es schon längst getan hat.[23] Auch diese Problematik gilt es zu überprüfen. Zwar gleicht die Lage in Deutschland nicht oder zumindest noch nicht derjenigen in den Vereinigten Staaten. Aufgrund des stark medialisierten Wahlkampfes scheint man dort nämlich mehrfacher Millionär sein zu müssen, um überhaupt in wichtige öffentliche Ämter gewählt werden zu können.[24] So ist es in Deutschland allerdings nicht. Aber in Politik, Medien und Wirtschaft gibt es inzwischen eine kleine Gruppe von sehr wohlhabenden Menschen, die überproportional Einfluss auf das öffentliche 27Leben nehmen.[25] Vielleicht trifft es zu, dass diese Menschen erst durch ihre Ämter reich geworden sind und nicht bereits reich sein mussten, um an sie zu gelangen. Aber dennoch ist diese Entwicklung äußerst besorgniserregend, weil sie auf eine soziale Schließung der politischen Eliten hindeutet. Demokratie ist jedoch wesentlich darauf angewiesen, dass das öffentliche Leben nicht von einer kleinen Elite bestimmt wird, sondern alle gesellschaftlichen Gruppen möglichst repräsentativ und möglichst aktiv daran beteiligt sind.

Schließlich ist der ökonomische Reichtum sogar für seine eigene marktwirtschaftliche Grundlage zu einem Problem geworden und zeigt dabei selbstzerstörerische Tendenzen. Inzwischen hat sich so viel ungebundenes Kapital angehäuft, dass insbesondere die Finanzmärkte großen Schwankungen ausgesetzt sind. Sehr viel Kapital kann schnell in bestimmte Märkte hineingeschoben oder wieder aus ihnen abgezogen werden. Diese Kapitalbewegungen folgen nur noch beschränkt klaren ökonomischen Regeln und zunehmend den psychologischen Mechanismen eines Herdenverhaltens, das kaum vorhersagbar und noch schwerer zu kontrollieren ist. Diese Volatilität beeinträchtigt nicht nur die Stabilität der Finanzmärkte, sondern auch diejenige der daran gebundenen realwirtschaftlichen Märkte und sogar der von diesen Märkten abhängigen Gesellschaften.[26] Griechenland beispielsweise stand aufgrund der Staatsschuldenkrise 2010 am Rande des gesellschaftlichen Zusammenbruchs.[27] Selbst die Vereinigten Staaten haben die großen sozialen Probleme nach der Subprime-Krise 2007 kaum bewältigen können.[28] Hinzu kommt, dass es eher nicht der wohlhabende Teil der Bevölkerung der betroffenen Länder ist, der unter den sozialen Folgen dieser Krisen zu leiden hat. Arbeitslos, versicherungslos, arm und ausge28grenzt werden andere, nämlich zumeist die schwächsten Gesellschaftsmitglieder, obwohl es vor allem der Reichtum der Eliten oder zumindest der Besserverdiener war, der diese Probleme in Form von ungebundenem Kapital verursacht hat.

Sollte es zutreffen, dass die genannten Probleme damit zu tun haben, dass wir gesamtgesellschaftlich betrachtet zu reich geworden sind und mit den damit verbundenen Problemen nicht vernünftig umgehen können, dann hat das weitreichende Konsequenzen. Noch mehr Wirtschaftswachstum ist dann tatsächlich kein besonders kluges Ziel für eine ausgewogene Wirtschaftspolitik. Selbst das klassische Paradigma der Umverteilung durch Steuern liefert dann vielleicht nicht die richtige Lösung. Möglicherweise reicht dieser Ansatz einfach nicht aus, um die genannten Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen. Vielleicht lassen sich einige Probleme nur lösen, wenn die Wirtschaftsleistung insgesamt sinkt und der absolute Reichtum abnimmt. Beim Klimawandel, der Instabilität von Märkten und der Entdemokratisierung könnte es so sein. Denn hier ist möglicherweise nicht nur seine Verteilung, sondern das Ausmaß des Reichtums selbst problematisch, wie ich im fünften und sechsten Kapitel diskutieren werde. Für andere Probleme reicht es hingegen wahrscheinlich hin, wenn der relative Reichtum einiger Akteure abnimmt. Aber vielleicht lässt sich solch eine Einschränkung nur durch eine Reduktion des absoluten Reichtums erreichen, weil nur dadurch der gegenwärtig in unseren Gesellschaften offensichtlich hohe Wert des Reichtums hinreichend zurechtgestutzt wird. Doch selbst wenn das nicht zutrifft, dann könnte sich progressive Besteuerung immer noch als ungeeignetes Mittel erweisen, um die mit relativem Reichtum zusammenhängenden Probleme in den Griff zu bekommen.

Es sollte inzwischen deutlich geworden sein, dass es beim Problem des Reichtums meiner Einschätzung nach nicht nur um Neid, Missgunst oder unerfüllte Wunschträume geht. Vielmehr spricht einiges dafür, dass Reichtum ein moralisches Problem von großer gesellschaftspolitischer Bedeutung ist. Zumindest möchte ich mich mit der Frage beschäftigen, ob es so ist oder nicht. Dabei gilt es natürlich auch die Argumente der Verteidiger des Reichtums zu berücksichtigen. So wird beispielsweise darauf hingewiesen, dass Ungleichheit ein notwendiger Motor für die Wirtschaft ist oder eine bedauerliche Folge unbedingt zu schützender persönlicher Freiheit. 29Wenn sich demgegenüber Reichtum jedoch als moralisches Problem herausstellt, dann hat das allerdings wichtige Konsequenzen für gerechtigkeitstheoretische Überlegungen. Gerechtigkeitstheorien müssten dann dieses moralische Problem des Reichtums viel stärker in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit rücken, als sie es bisher tun. Einen entsprechend ganz anderen Charakter bekämen auch die von ihnen ausgehenden gesellschaftspolitischen Reformvorschläge. Diese wären dann viel stärker darauf auszurichten, das Problem des Reichtums in den Griff zu bekommen.

Reichtum, Verteilung und Ungerechtigkeit

Um der gerade skizzierten Frage weiter nachgehen zu können, ob Reichtum ein moralisches Problem darstellt, scheint sich eine bestimmte gerechtigkeitstheoretische Perspektive anzubieten. Wenn Reichtum ein Problem ist, dann ist er ein Problem der Verteilungsgerechtigkeit, so die naheliegende Annahme.[29] Es geht dann um die Frage, ob die Verteilung von Wohlstand in dem Sinne gerecht ist, dass alle bekommen, was ihnen zusteht. Solch eine gerechtigkeitstheoretische Perspektive soll auch den Überlegungen in diesem Buch zugrunde liegen. Allerdings gilt das nur mit zwei wichtigen Einschränkungen. Erstens werde ich einen negativen Ansatz verfolgen. Keine umfassenden Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit, sondern zentrale Formen von Ungerechtigkeit werden den normativen Hintergrund der Überlegungen bilden. Zweitens soll die hier entwickelte Gerechtigkeitsperspektive substantiell durch eine bestimmte Vorstellung von Würde gestützt werden. Beide Punkte erscheinen mir notwendig, um Reichtum auf produktive Weise als Gerechtigkeitsproblem in den Blick nehmen zu können. Warum ist das so?

Amartya Sen hat gegenwärtige Theorien der Verteilungsgerechtigkeit zwar auf hilfreiche Weise in Suffizienztheorien, Prioritätstheorien und egalitaristische Theorien unterteilt.[30] Aber alle drei 30Theorietypen bekommen das Problem des Reichtums nicht auf die richtige Weise in den Blick. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum es einer anderen Akzentuierung bedarf, um Reichtum als Gerechtigkeitsproblem angemessen untersuchen zu können. Die erste Gruppe der Suffizienztheorien ist darauf ausgerichtet, eine Untergrenze an Gütern zu bestimmen, die von allen Menschen erreicht werden muss, damit Gerechtigkeit herrscht. Beispielsweise lassen sich absolute Armutsgrenzen als Suffizienzschwellen dieser Art verstehen. Die Aufgabe der Gerechtigkeitstheorie besteht dann darin, diese Untergrenze zu bestimmen, um damit verbundene normative Ansprüche zu rechtfertigen und vielleicht der Politik noch Vorschläge zu machen, wie sich erreichen lässt, dass alle Menschen diese Untergrenze überschreiten.[31]

Suffizienztheorien eignen sich schon allein deswegen nicht für eine umfassende Auseinandersetzung mit Reichtum, weil sie auf eine Untergrenze an Gütern fixiert sind. Wenn alle Menschen diese Untergrenze überschritten haben, dann stellen sich aus dieser Perspektive keine Gerechtigkeitsfragen mehr. Wie stark die bleibenden Reichtumsunterschiede sind, ist hier einfach irrelevant. Bei einer absoluten Untergrenze wie der Schwelle für absolute Armut wird das besonders gut deutlich. Solange niemand absolut arm ist, stellt auch sehr ungleich verteilter Reichtum kein Problem dar. Es ist allerdings sehr kontraintuitiv, dass die Güterverteilung oberhalb der Untergrenze mit Gerechtigkeitsfragen gar nichts mehr zu tun haben soll.[32] So lässt sich etwa immer noch fragen, ob Gehälter den Kriterien der Leistungsgerechtigkeit entsprechen oder ob Güter hinreichend gerecht verteilt sind, um eine gleiche Teilhabe an demokratischen Prozessen zu ermöglichen. Das Problem der Suf31fizienztheorie scheint darin zu liegen, dass sie Gerechtigkeitsfragen auf einen einzigen zugrunde liegenden Wert reduziert, nämlich die Sicherung von Grundbedürfnissen. Tatsächlich scheint Gerechtigkeit aber auch mit anderen Werten verbunden zu sein, beispielsweise mit Fairness und politischer Teilhabe.

Die zweite Gruppe der Gerechtigkeitstheorien, die Gruppe der sogenannten Prioritätsansätze, umgeht dieses Problem der Suffizienzansätze. Der Grundgedanke dieser Ansätze besteht darin, dass Veränderungen der gesellschaftlichen Grundstruktur dem Vorteil derjenigen Gesellschaftsmitglieder dienen müssen, die am schlechtesten dastehen.[33] Beispielsweise lässt sich meiner Einschätzung nach auch das Differenzprinzip von John Rawls so verstehen.[34] Demnach ist die institutionelle Grundstruktur einer Gesellschaft dann gerecht, wenn es ihren schlechtestgestellten Mitgliedern besser geht als in allen anderen herstellbaren Grundstrukturen. Wenn wir unsere institutionelle Grundstruktur in Deutschland also entweder so einrichten können, dass das dauerhafte Arbeitslosengeld entweder 400 oder 500 Euro beträgt, dann ist die zweite Möglichkeit vorzuziehen, ganz gleich, welche Auswirkungen das auf andere soziale Gruppen, beispielsweise die Mittelschicht, haben mag. Allerdings gibt es für die Anhebung von Sozialleistungen wie der Arbeitslosenhilfe auch eindeutige Grenzen. Wenn diese Sozialleistungen so viel Geld kosten, dass die Wirtschaftsleistung eines Landes insgesamt darunter leidet, dann kann es passieren, dass dieses Land solch hohe Sozialleistungen nicht mehr finanzieren kann und doch wieder kürzen muss. Dann geht es auch den Schlechtestgestellten nicht besser, sondern schlechter.

Der entscheidende Vorteil von Prioritätsansätzen gegenüber Suffizienzansätzen scheint darin zu bestehen, dass sie sich nicht auf 32eine bestimmte Untergrenze konzentrieren, sondern die gesamte Güterverteilung innerhalb der Gesellschaft berücksichtigen. Allerdings sind diese Ansätze auch mit zwei Problemen behaftet. Erstens spielt für sie die Idee gerechtfertigter Ungleichheiten keine Rolle. Wenn sich eine Gesellschaft so verändern lässt, dass die ärmeren Menschen mehr bekommen, dann ist diese Veränderung gerecht. Das gilt auch dann, wenn die reicheren Menschen dadurch ärmer werden – und zwar unabhängig davon, wer etwa aufgrund seiner eigenen Leistung wie viel verdient hat.[35] Bei Prioritätsansätzen kommt Reichtum also bestenfalls nur indirekt ins Spiel, denn es wird nicht danach gefragt, ob er verdient ist oder nicht, weil das für Gerechtigkeit keine Rolle spielt. Zweitens und andersherum werden Reichtumsunterschiede auch nicht unmittelbar problematisiert, sondern es wird nur darauf geschaut, in welcher Gesellschaft die ärmsten Menschen am meisten Güter haben.

Damit wäre eine Gesellschaft, in der die ärmsten Menschen vielleicht 15 000 Euro im Jahr haben, aber alle anderen Menschen Millionäre sind, gerechter als eine Gesellschaft, in der die ärmsten Menschen nur 12 000 Euro haben, aber alle anderen nur etwas mehr besitzen. Prioritätstheoretiker verteidigen ihre Theorie häufig damit, dass den ärmeren Menschen ja auch nicht damit geholfen ist, wenn es anderen schlechter geht.[36] Sonst könnte man Gesellschaften einfach gerechter machen, indem man reichere Menschen ärmer macht, ohne ärmere Menschen reicher zu machen, so wenden sie insbesondere gegen egalitaristische Theorien ein. Ich denke jedoch, dass sie dabei vernachlässigen, dass Armut und Reichtum immer auch relative Größen sind und für die relative Verteilung 33von Kaufkraft, aber auch so wichtige soziale Werte wie Macht und Status von großer Bedeutung sind. Zwar könnte man diese Erwägungen in eine Prioritätstheorie einbauen, nur dann wäre es eben keine Prioritätstheorie im traditionellen Sinne mehr, weil eine Reichtumsreduktion unmittelbar zum Vorteil der ärmeren Menschen führte.

Die Defizite der Suffizienz- und Prioritätstheorien scheinen dafür zu sprechen, eine kritische Beschäftigung mit Reichtum vom Standpunkt einer egalitaristischen Gerechtigkeitstheorie vorzunehmen. Egalitaristische Theorien gehen davon aus, dass es bei Verteilungsgerechtigkeit in irgendeinem Sinne um Gleichverteilung geht.[37] Sie fordern aber nicht, dass alle Güter in einer Gesellschaft tatsächlich gleich verteilt sein müssen, damit diese als gerecht gelten kann. Entweder reicht es, wenn nur ganz bestimmte Güter strikt gleich verteilt werden – bei John Rawls sind das beispielsweise die Grundfreiheiten[38] –, oder es reicht, wenn die relevanten Güter zu einem bestimmten Zeitpunkt bzw. in einer bestimmten Hinsicht gleich verteilt und ausgeglichen werden. So ist es beispielsweise in der Gerechtigkeitstheorie des so genannten Luck-Egalitarismus. Dort wird zwischen bloßen Zufällen (brute luck) und kalkulierten Risiken (option luck) unterschieden. Bloße Zufälle müssen ausgeglichen werden, kalkulierte Risiken allerdings nicht. In welche Familie ein Mensch hineingeboren wird, ist demnach bloßer Zufall; für welchen Karriereweg er sich hingegen entscheidet, eine Frage des kalkulierten Risikos.[39]

34Egalitaristische Gerechtigkeitstheorien scheinen sich in all ihren Varianten für eine Auseinandersetzung mit Reichtum zu eignen, weil sie etwas darüber sagen können, wann Reichtum gerechtfertigt ist und wann nicht. Wenn Reichtum die Gleichverteilung von Grundfreiheiten verhindert, dann ist er beispielsweise für Rawls nicht gerechtfertigt.[40] Wenn er auf bloße Zufälle zurückgeht, beispielsweise auf Erbschaften, dann ist er für Luck-Egalitaristen nicht gerechtfertigt.[41] Es gibt dennoch zwei Gründe, warum ich solche Formen der egalitaristischen Theoriebildung für eine produktive Auseinandersetzung mit Reichtum, wie ich sie in diesem Buch vorhabe, für ungeeignet halte. Erstens ist Reichtum für Egalitaristen nur in einem einzigen Fall problematisch, nämlich genau dann, wenn er mit relevanter Gleichheit im Konflikt steht. Hier scheint ein ähnliches Problem wie bei Suffizienztheorien vorzuliegen, nämlich eine Beschränkung auf einen einzigen Wert in Form von strikter Gleichheit. Reichtum könnte jedoch auch in anderer Hinsicht problematisch sein, etwa wenn es nicht um die gleiche, sondern um die angemessene Bedürfnisbefriedigung zukünftiger Generationen geht.

Zweitens sind egalitaristische Gerechtigkeitstheorien üblicherweise in hohem Maße idealisiert und können daher über Reichtum als moralisches Problem in tatsächlich existierenden Gesellschaften nur sehr wenig aussagen.[42] Das halte ich für das zentrale Problem dieser Ansätze. In manchen idealen Vorstellungen von gleicher Ge35rechtigkeit hat Reichtum einen Platz und in anderen nicht.[43] Das hängt davon ab, wie sehr der Egalitarismus auf einen Endzustand der Gleichverteilung oder nur auf gleiche Chancen bezogen wird. In beiden Fällen lässt sich möglicherweise dennoch eine Kritik des gegenwärtigen Reichtums formulieren. Wenn gegenwärtige Formen des Reichtums in einer ideal gerechten Gesellschaft nicht vorkommen, dann sind diese Formen des Reichtums kritikwürdig, so lautet die einfache Formel. Doch so einfach ist die Lage leider nicht. Denn die Tatsache, dass wir es in vielerlei Hinsicht mit unvollkommenen und ungerechten Gesellschaften zu tun haben, kann zusätzliche Gründe produzieren, die für oder gegen bestimmte Arten von Reichtum sprechen.

In ungerechten Gesellschaften können Formen von Reichtum ungerechtfertigt sein, die in vollkommen gerechten Gesellschaften gerechtfertigt wären. Umgekehrt können in ungerechten Gesellschaften auch Formen des Reichtums gerechtfertigt sein, die in vollkommen gerechten Gesellschaften ungerechtfertigt wären. Für beide Abweichungen lassen sich leicht Beispiele finden. In einer ungerechten Gesellschaft kann Reichtum etwa dazu führen, dass sich jemand öffentliche und sogar politische Ämter erschleichen kann. Dann ist dieser Reichtum problematisch. In einer vollkommen gerechten Gesellschaft wäre er das nicht, weil solch ein Ämterkauf dort einfach nicht möglich wäre. In einer ungerechten Gesellschaft kann es aber auch sein, dass Eltern aus diskriminierten Bevölkerungsgruppen ihren Reichtum nutzen können, um ihren Kindern bestimmte Bildungschancen zu eröffnen, die sie aufgrund rassistischer oder kulturalistischer Diskriminierung sonst nicht besäßen. Dann wären dieser Reichtum und sein ausgleichender Einsatz gerechtfertigt, obwohl er es in einer vollkommen gerechten Gesellschaft nicht wäre, weil es da natürlich keine derartigen Diskriminierungen gäbe.

Ich glaube, all diese Probleme der herkömmlichen Typen von Gerechtigkeitstheorien haben, wenn es um Reichtum geht, damit zu tun, dass sie vor allem mit Blick auf Armut entwickelt wurden. Besonders deutlich wird das beim Suffizienzansatz, es gilt aber auch für die anderen beiden Ansätze, zumindest wenn man die relative Armut berücksichtigt. Reichtum ist für sie kein besonderes 36Problem, absolute oder relative Armut dagegen schon. Außerdem haben diese Theorien, insbesondere egalitaristische Theorien, eine Tendenz, von sehr stark idealisierten Zuständen auszugehen, weshalb sie nicht gut auf aktuelle Problemlagen anwendbar sind. Beide Zuspitzungen haben den Effekt, dass sie nicht richtig erfassen können, welche zentralen Werte in unseren unvollkommenen Gesellschaften mit Reichtum verbunden und dadurch vielleicht ungerecht verteilt sind. Damit die Frage, ob gegenwärtiger Reichtum ein Gerechtigkeitsproblem darstellt, überhaupt angemessen untersucht werden kann, bedarf es daher eines etwas anderen Ansatzes. Es geht mir dabei nicht darum, einen neuen Typ von Gerechtigkeitstheorie zu entwickeln. Das wäre vermessen. Vielmehr sollen die Elemente bestehender Ansätze auf etwas andere Weise zur Anwendung gebracht werden, als dies üblicherweise der Fall ist.

Würde, Selbstachtung und eine Grenztheorie der Gerechtigkeit

Die üblichen Typen von Gerechtigkeitstheorien besitzen mindestens eines von zwei Defiziten, die sie für eine kritische Beschäftigung mit Reichtum als möglichem moralischen Problem in unseren bestehenden Gesellschaften ungeeignet erscheinen lassen. Sie sind entweder zu sehr auf ideale Zustände ausgerichtet und helfen daher wenig dabei, tatsächliche Reichtumsverhältnisse kritisch zu bewerten. Oder sie konzentrieren sich auf einen bestimmten Wert wie Gleichheit oder Grundsicherung und können daher eine Kritik an Reichtum, die auf anderen Werten beruht, nicht erfassen. Diese beiden Defizite legen einen etwas anderen Typ von Gerechtigkeitstheorie nahe, den ich als Grenztheorie der Gerechtigkeit bezeichnen möchte, weil es darum geht, die minimale und maximale Obergrenze einer Verteilung von Reichtum festzulegen. Diese Grenzziehung soll dazu beitragen, bestimmte gravierende Ungerechtigkeiten zu vermeiden, die sich über die Verletzung des besonders grundlegenden Wertes der Würde bestimmen. Dieser Ansatz scheint mir aufgrund von zwei kleinen, aber wichtigen Verschiebungen besser als die üblichen Theorietypen geeignet zu sein, Reichtum als mögliches Gerechtigkeitsproblem in den Blick zu nehmen, wie ich nun darlegen möchte.

37Die erste Verschiebung von einer idealen Gerechtigkeitsvorstellung hin zu konkreten Ungerechtigkeiten ermöglicht es, tatsächlich gegebenen Reichtum kritisch in den Blick zu nehmen. Die zentrale Frage lautet dann, ob gegenwärtige Formen des Reichtums zu Ungerechtigkeiten führen und ob ein anderer Umgang mit Reichtum diese Ungerechtigkeiten verhindert oder abmildert und mehr Gerechtigkeit herbeiführt. Es gibt inzwischen eine substantielle Literatur zu der Unterscheidung von idealer und nichtidealer Gerechtigkeitstheorie und zu der sehr allgemeinen Frage, welche die richtige methodische Grundlage für die Beschäftigung mit Gerechtigkeitsfragen ist.[44] Ich glaube, dass es auf diese Frage keine eindeutige Antwort gibt. Vielmehr hängt es von dem spezifischen Anliegen ab, ob ein idealer oder nichtidealer Theorieansatz besser geeignet ist. Wer sich beispielsweise dafür interessiert, welche Zusammenhänge und möglichen Widersprüche zwischen grundlegenden Werten wie Gleichheit und Freiheit bestehen, kann dieser Frage gut mithilfe idealer Theoriebildung nachgehen. Wer jedoch eine konkrete Ungerechtigkeit bearbeiten will, beispielsweise ungerechte Einkommensverhältnisse, benötigt eher eine nichtideale Gerechtigkeitstheorie.

Gegen nichtideale Ansätze lässt sich generell einwenden, dass auch sie von Idealen in Form von Gerechtigkeitsprinzipien ausgehen müssen, weil es sich ansonsten gar nicht mehr um normative Theoriebildung handelt. Das ist durchaus richtig, impliziert aber keineswegs eine ideale Gerechtigkeitstheorie. Denn Gerechtigkeitsideale müssen nicht aus einer idealen Theoriebildung, also einem abstrakten Theoriegebäude, gewonnen werden, sondern lassen sich selbst aus historischen Erfahrungen von Ungerechtigkeit ableiten.[45]38Der Verweis auf solche Erfahrungen wird nicht alle überzeugen, aber er hat dennoch Begründungscharakter, insofern er plausibel machen kann, was die Ungerechtigkeit dieser historischen Erfahrungen ausmacht.[46] Dann bedarf es keiner idealen Theorie, um Gerechtigkeitsideale formulieren zu können, zumal natürlich auch ideale Gerechtigkeitstheorien mit dem Problem konfrontiert sind, dass sie stets nur mehr oder weniger überzeugend sind.

Es bleibt aber immer noch die Frage, welche Ungerechtigkeiten als besonders gravierend einzuschätzen sind und daher vorrangige Aufmerksamkeit verdient haben. Hier kommt das zweite Problem einer Fokussierung auf isolierte Werte ins Spiel. Wenn man nur auf die Grundbedürfnisse oder nur auf Gleichheit oder nur auf Fairness schaut, dann bleiben andere Ungerechtigkeiten, die ebenfalls mit Reichtum zu tun haben könnten, von vornherein unsichtbar. Es bedarf daher eines umfassenderen bzw. grundlegenderen Ansatzes. Meiner Einschätzung nach eignet sich dafür eine Verbindung von Gerechtigkeit und Würde.[47] Dann geht es um solche Ungerechtigkeiten, die sich als Würdeverletzungen beschreiben lassen. Natürlich provoziert das sofort den Einwand, dass ich damit ja auch nur einen spezifischen Wert isoliert habe und nicht klarwird, warum ausgerechnet dieser besondere Aufmerksamkeit verdient. Doch aus zwei Gründen greift dieser Einwand nicht. Erstens ist Würde nicht nur irgendein Wert unter anderen, sondern beschreibt einen grundsätzlichen Status von Menschen. Zweitens geht es da39bei, wie sich gleich zeigen wird, um wirklich grundsätzliche Fragen sehr allgemeiner Natur.

Würde ist nicht einfach nur ein Wert. Wenn wir von Menschen sagen, sie hätten eine Würde, dann behaupten wir damit vielmehr, dass sie einen besonderen Rechtsstatus und einen besonderen sozialen Status besitzen, den es zu respektieren gilt.[48] Was macht hier den Unterschied zu anderen Werten aus, und warum sollte er betont werden? Von einem Status statt nur von einem Wert zu sprechen, macht deutlich, dass es um normative und nicht nur um evaluative Fragen geht. Es ist richtig und nicht nur gut, diesen Status zu achten. Es ist falsch und nicht nur schlecht, ihn zu missachten.[49] Darüber hinaus steckt in dieser normativen Statusbehauptung ein ganzes Bündel von Werturteilen und nicht nur ein einzelner Wert bzw. eine einzelne Wertung. Damit der rechtliche und soziale Status von Menschen als Träger von Würde realisiert ist, muss gleichzeitig eine ganze Reihe von zentralen Werten realisiert sein.

Hier zeigt sich, dass es zweitens bei der Würde um ganz grundlegende Fragen geht. Es gibt zahlreiche Ungerechtigkeiten, die Menschen nicht in ihrer Würde verletzen. Dennoch sind es Ungerechtigkeiten. Das gilt beispielsweise, wenn jemand nicht genau dasselbe Einkommen für dieselbe Arbeit, aber immer noch ein sehr üppiges Einkommen erhält. Zwar wird diese Person ungerecht behandelt, aber nicht in ihrer Würde verletzt. Würdeverletzungen sind nämlich immer in dem Sinne gravierend, dass sie Menschen in ihrem Status als gleiche Menschen bedrohen. Man sieht hier, dass die bereits genannten Werte wie Sicherung von Bedürfnissen oder Fähigkeiten, Gleichheit und Fairness aus dieser Perspektive durchaus eine wichtige Rolle spielen. Aber das tun sie nur in einer bestimmten und grundlegenden Hinsicht, insofern sie nämlich mit Würde zu tun haben. Doch wann ist das der Fall? Die Antwort auf diese Frage hängt von dem spezifischen Würdeverständnis ab, von 40dem man ausgeht. Ich möchte mich hier einer Würdekonzeption anschließen, wie sie Avishai Margalit, Peter Schaber und Ralf Stoecker entwickelt haben.[50]

Würde zu besitzen, heißt für diese Autoren, einen Anspruch auf Selbstachtung bzw. deren soziale Voraussetzung zu haben. Diese Selbstachtung setzt bestimmte Grundrechte, darüber hinaus aber auch bestimmte soziale Interaktionsformen voraus. Werden die Grundrechte eines Menschen nicht gewährleistet oder sogar verletzt, dann hat dieser Mensch einen Grund, sich in seiner Würde als Person verletzt zu sehen.[51] Werden in sozialen Interaktionsformen bestimmte Normen der Anständigkeit bzw. des Respekts nicht geachtet, dann haben die betroffenen Menschen einen Grund, sich in ihrer Würde als Persönlichkeit verletzt zu sehen. Denn Anständigkeit stellt das normative Mindestmaß dar, das an die institutionelle Grundstruktur einer Gesellschaft anzulegen ist, damit die Gesellschaftsmitglieder durch diese Institutionen nicht systematisch gedemütigt werden.[52] Bei Reichtum, und das ist hier der entscheidende Punkt, ist denkbar, dass er auf den beiden Ebenen der Grundrechte und der Anständigkeit die Selbstachtung beeinträchtigt und die damit verbundenen Ansprüche verletzt. Wenn das zutrifft, dann wäre dieser Reichtum auch eine Form von Würdeverletzung und damit eine besonders schwerwiegende Ungerechtigkeit. Genau um diese Frage wird es in diesem Buch gehen: Stellen bestimmte Formen von Reichtum eine derart schwerwiegende Ungerechtigkeit 41dar, dass sie würdeverletzend sind? Wenn das zutrifft, dann wäre das eine entsprechend starke normative Grundlage, um einen ganz anderen sozialen und politischen Umgang mit diesen Formen des Reichtums zu empfehlen.

Die gerade beschriebene Verbindung von Würde und Gerechtigkeit ist der Grund dafür, warum ich von einer Grenztheorie der Gerechtigkeit sprechen möchte. Es geht dann weder um Subsistenz noch um eine Priorisierung der Schlechtestgestellten und ebenfalls nicht unmittelbar um Gleichheit. Vielmehr geht es um die Frage, wie Güter verteilt sein müssen, damit sie nicht strukturell zu Würdeverletzungen führen, sondern dabei helfen, den Menschen einer Gesellschaft ein Leben in Würde zu ermöglichen.[53]