Was ist Moralismus? Über Zeigefinger und den Ort der Moral - Christian Neuhäuser - E-Book

Was ist Moralismus? Über Zeigefinger und den Ort der Moral E-Book

Christian Neuhäuser

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Beschreibung

In Diskussionen wird heute, so heißt es, oft zu schnell und vehement die Moral-Keule geschwungen. Was steckt dahinter? Und ist das immer falsch? Christian Neuhäuser und Christian Seidel klären in ihrem Essay, welche guten und schlechten Seiten Moralismus hat. Sie plädieren für eine Haltung fortschrittsdienlicher moralischer Besonnenheit, die mit den Vor- und Nachteilen des Moralismus produktiv umzugehen lernt.

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Christian Neuhäuser / Christian Seidel

Was ist Moralismus?

Über Zeigefinger und den Ort der Moral

Reclam

E-Book-Leseproben von einigen der beliebtesten Bände unserer Reihe [Was bedeutet das alles?] finden Sie hier zum kostenlosen Download.

 

 

2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2022

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962050-3

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014273-8

www.reclam.de

Inhalt

1. Einleitung: Zunehmender Moralismus?

2. Was ist Moralismus?

3. Was ist falsch am Moralismus?

4. Kann Moralismus auch nützlich sein?

5. Moralismus und Moralismuskritik in der Gesellschaft

6. Über den praktischen Umgang mit Moralismus

Literaturhinweise

Zu den Autoren

Danksagung

1. Einleitung: Zunehmender Moralismus?

Justine Sacco hatte 170 Follower, als sie Ende 2013 ihren Langstreckenflug nach Südafrika mit spitzen Twitter-Bemerkungen über die körperlichen Ausdünstungen eines Mitreisenden und die in ihren Augen wenig erfreuliche Bordverpflegung kommentierte. Bevor sie den letzten Teil ihres Fluges antrat, setzte sie – in der Absicht, sich über amerikanische Vorurteile gegenüber dem Ziel ihrer Reise lustig zu machen – einen verhängnisvollen Tweet ab: »Ich bin auf dem Weg nach Afrika. Hoffentlich bekomme ich kein AIDS. War nur ein Spaß. Ich bin weiß.« Sacco, die selbst aus Südafrika stammt, ging dann offline und schlief. Als sie elf Stunden später bei der Landung in Kapstadt ihr Smartphone anschaltete, wurde sie bereits von Fotografen erwartet und musste erfahren, dass ihr Arbeitgeber sie aus ihrer leitenden Position entlassen hatte. Inzwischen hatte ihr zehntausendfach entrüstet kommentierter Tweet sie zum weltweit führenden Twitter-Trend gemacht. Dabei wurde Sacco nicht nur verbaler Rassismus vorgeworfen; die Reaktionen umfassten auch wüste Beschimpfungen bis hin zu Mord- und Vergewaltigungsdrohungen.

1.1 Die Diagnose eines zunehmenden Moralismus

Es ist sicherlich strittig, ob Saccos Tweet geeignet war, Vorurteile ironisch zu entlarven, oder ob er solche Vorurteile eher erhärtete. Davon hängt ab, inwieweit es gerechtfertigt ist, Sacco für ihren Tweet moralische Vorwürfe zu machen, d. h. ihr Handeln als moralisch falsch oder gar verwerflich (und nicht etwa als stilistisch misslungen) zu kritisieren und mit Einstellungen wie Verärgerung, Übelnehmen oder Empörung zu reagieren. Eher unstrittig aber ist, dass so mancher einzelne Vorwurf gegen Sacco sowie der moralische Empörungssturm als Ganzer überzogen und selbst moralisch höchst problematisch waren. Insofern illustriert diese Episode eine immer wieder sich aufdrängende Zeitdiagnose: dass im öffentlichen Diskurs und im persönlichen Miteinander in zunehmendem Maße auf moralisch problematische Weise moralische Vorwürfe erhoben werden. Nahezu jeder Bereich unserer Lebenswelt scheint zu einem moralisch verminten Gelände geworden zu sein. Ganz gleich, ob bio-regional-vegane Ernährung, flugschamloses Reiseverhalten, fair gehandelte Produkte, inklusive Sprache, Straßennamen und Denkmäler, schlüpfriger Humor, Gedichte und die Berechtigung, diese zu übersetzen, Treuepflichten gegenüber lokalen Unternehmen oder Solidaritätsappelle im Zusammenhang mit Impfungen und sozialen Kontakten: Angeblich gehe es überall um moralisch richtig oder moralisch falsch. Schon der kleinste Fehltritt könne mahnende Zeigefinger, anprangernde Vorwürfe oder eben einen (digitalen) Sturm der Entrüstung auslösen. Entsprechend ist es zur publizistischen Mode geworden, »einen Jargon aufgekratzter Moralität«, »Helikoptermoral«, »Gutmenschentum«, sogenannten »Tugendterror«, »Moralisierungsüberschuss« oder auch eine »Übermoralisierung gesellschaftlicher Debatten« zu beklagen. Schnell sind dann auch Gründe zur Hand, warum dieser zunehmende Moralismus ein Übel sei: Er stigmatisiere bestimmte Gruppen, vergifte öffentliche (einschließlich universitäre) Debatten oder bedrohe gar die grundgesetzlich geschützte Meinungsfreiheit.

Dabei ist die Diagnose einer moralistischen Diskursverschiebung gar nicht so neu. Schon Ende des 18. Jahrhunderts warnte Immanuel Kant (1724–1804), interessanterweise unter Bezug auf Ess- und Trinkgewohnheiten, vor einer Tyrannei durch sich ins phantastisch Tugendhafte versteigende Moralvorstellungen.1 Etwa ein Jahrhundert danach ermahnte Friedrich Nietzsche (1846–1900) dazu, »jetzt die Welt zu entmoralisieren: sonst könnte man nicht mehr leben.«2 Ähnlich unterstellte Arnold Gehlen 1969 in Moral und Hypermoral seiner Zeit dann »moralhypertrophe Aufgeregtheit.«3 Wie Hermann Lübbe in seiner 1987 erschienenen und 2019 neu aufgelegten Schrift Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft beobachtete, nahm offenbar noch rund 20 (bzw. 50) Jahre später »die Intensität der moralischen Reflexion überall zu und in eins damit auch die moralische Tonhöhe in der verbalen politischen Auseinandersetzung.«4

So betrachtet wirkt die Gegenwartsdiagnose eines zunehmenden Moralismus eigenartig zeitlos – und ist vielleicht selbst Bestandteil und Antreiber der beklagten Empörungs- und Erregungskultur.

1.2 Einige Erklärungsversuche

Das bedeutet natürlich nicht, dass die Diagnose eines zunehmenden Moralismus unzutreffend sein muss. Doch um das feststellen zu können, muss man zuerst eine grundlegende Frage beantworten: Was genau besagt die Diagnose eigentlich?

Naheliegend ist zunächst, dass diese Diagnose sich auf eine fortschreitende moralische Durchdringung unserer Lebenswelt bezieht: Immer mehr Bereiche unseres Lebens werden moralisch zum Thema gemacht. Tatsächlich könnten einige, spezifisch moderne Entwicklungen so etwas begünstigt haben. So hat im Zuge der Globalisierung unser Wissen von der Welt zugenommen: Wir wissen immer mehr über komplexe ökologische, wirtschaftliche und soziale Zusammenhänge wie Klimawandel, Tierleid, Ausbeutung oder Weltarmut. Entsprechend kennen wir die positiven und negativen (weltweiten) Folgen unseres Handelns immer besser. Damit wird uns auch die moralische Dimension unserer Praktiken zunehmend bewusster. Darum erscheinen die Autofahrt, das Fleisch auf dem Teller oder die günstige Jeans plötzlich nicht länger moralisch unbedeutend. Selbst die Frage, ob man Kinder bekommen sollte oder nicht, halten manche mit Blick auf die zukünftige CO2-Bilanz der Nachkommen nicht länger für moralisch unbefleckt. Vom zunehmenden Bewusstsein zur zunehmenden Thematisierung der moralischen Dimension ist es dann nur ein kleiner Schritt.

Zudem leben wir in einer immer stärker pluralisierten und differenzierten Gesellschaft. Im Gleichschritt mit der Auflösung traditioneller sozialer Bindungen an Kirchen, Parteien, Gewerkschaften oder Vereine ist unserer Gesellschaft eine einheitliche orientierende Normierungsmacht abhandengekommen. Nichts und niemand sagt uns allen gemeinsam, wo es langgeht – weder die Tradition noch die Kultur und auch nicht die Religion. Daraus erwächst eine Vielstimmigkeit von Wertvorstellungen und Lebensstilen, die gemeinsame Entscheidungen in Politik und Recht komplexer macht. Und diese Vielstimmigkeit wird zugleich von denjenigen, die sich Eindeutigkeit und Einfachheit wünschen, als Zumutung empfunden. Man kann die Berufung auf eine höhere Moral, die von Tradition, Kultur oder Religion losgelöst ist, dann auch als Reaktion auf eben diese Zumutung deuten: als Versuch, sich einer geteilten Wertegrundlage zu vergewissern und damit jene Orientierung sowie jenen Zusammenhalt wiederzugewinnen, die einst Tradition, Kultur oder Religion boten.

Diese Entwicklung wiegt umso schwerer, als unsere Lebenswelt zudem durch eine zunehmende Technologisierung geprägt ist. Oft erzeugt wissenschaftlich-technischer Fortschritt einen neuartigen Bedarf an Orientierung und Normierung: Wohin mit dem Atommüll? Was tun mit überzähligen in vitro gezeugten Embryonen? Die Moral soll hier leisten, was Religion oder Tradition nicht mehr verbindlich leisten können.

Dabei kann insbesondere diejenige technische Entwicklung, die man oft als ›Digitalisierung‹ bezeichnet, selbst zum Katalysator dafür werden, Moral immer stärker zu thematisieren. Dass z. B. ›Debatten‹ in sozialen Netzwerken nicht selten hochgradig moralisiert geführt werden, hat auch etwas mit den technischen Randbedingungen dieser Kommunikation zu tun: Die Möglichkeit zur Anonymität erleichtert moralische Übergriffigkeit; die erzwungene Kürze für Mitteilungen lässt keinen Raum für Differenzierungen; die eingebaute Aufmerksamkeitsökonomie setzt Anreize zur Übertreibung und Entgleisung. Zudem bildet das Internet die gesellschaftliche Vielstimmigkeit auf sehr sichtbare Weise ab; es trägt damit Themen und Meinungsverschiedenheiten an die eigene Lebenswirklichkeit heran, die uns sonst verborgen geblieben wären. Außerdem macht der hautnahe digitale Zugriff auf das Leben der anderen Statusunterschiede und Gerechtigkeitslücken sichtbarer und liefert zusätzliche Anlässe, sich zu empören.

1.3 Ein Blick unter die Oberfläche

Wenn von zunehmenden Moralismus die Rede ist, ist jedoch noch etwas mehr gemeint als lediglich eine fortschreitende Durchdringung unserer Lebenswelt mit Moral. Dass so manche moralische Reaktion auf Saccos Tweet moralistisch war, meint ja nicht, dass damit eine neue moralische Frage aufgeworfen oder etwas moralisch thematisiert wurde, was zuvor religiös oder kulturell verhandelt worden wäre. Rassismus ist kein neues moralisches Problem. Die Diagnose des Moralismus bezieht sich hier vielmehr auf die moralische Qualität der moralischen Kritik, die Sacco entgegenschlug: Diese moralische Kritik war nach Einschätzung vieler ihrerseits überzogen und selbst moralisch problematisch.

Das ist ein interessantes Phänomen: Moralische Kritik und moralisches Sprechen wird hier im Diskurs selbst in moralischer Hinsicht zum Thema gemacht. Das heißt, es wird moralisch – und nicht etwa rechtlich oder ästhetisch – beurteilt, ob und wie stark man moralisch urteilen und kritisieren sollte. Man sucht gewissermaßen nach dem angemessenen Ort der Moral im öffentlichen Diskurs. Leitend ist dabei die Vorstellung, dass man es mit der moralischen Kritik auch übertreiben kann, dass moralische Äußerungen also selbst moralisch problematisch und unzulässig sein können. Und man kann darüber streiten, ob und wann das der Fall ist: Ist eine bestimmte Äußerung oder moralische Kritik noch moralisch angebracht oder schon moralistisch verfehlt? Genau um diese Frage nach dem richtigen Ort der Moral geht es, wenn eine moralistische Verschiebung des Diskurses oder zunehmender Moralismus bescheinigt werden.

Dass sich Diskurse tatsächlich so verschoben haben und dass Moralismus in diesem Sinne zugenommen hat, sind Hypothesen, die empirisch überprüft werden müssten. Es sind (ebenso wie die oben angedeuteten Erklärungsversuche) Behauptungen darüber, was tatsächlich zu beobachten ist – nämlich, dass sich Moralismus zunehmend verbreitet und dass dies aus bestimmten Gründen geschieht. Solche Behauptungen sind begründungsbedürftig. Man muss in Erfahrung gründende Belege liefern, die diese Hypothesen stützen. Eine solche empirische Untersuchung setzt allerdings bereits ein bestimmtes Verständnis von Moralismus voraus. Man muss erst einmal wissen, was Moralismus überhaupt ist, um feststellen zu können, ob und warum er sich ausbreitet.

Das ist allerdings gar nicht so einfach. Denn bei genauerer Betrachtung werden doch recht verschiedenartige Phänomene als Moralismus bezeichnet. Mal sind damit Oberlehrerinnen und Moralapostel, mal ist eine Art Prinzipienreiterei gemeint, also darauf zu bestehen, dass moralische Grundsätze rigoros eingehalten werden. Das kann, muss aber nicht in belehrendem oder predigendem Ton geschehen. Nicht immer also ist derjenige, der auf Prinzipien angeritten kommt, auch eine Oberlehrerin oder ein Moralapostel. Als moralistisch gilt aber auch der Tugendprotzer, der sich selbst beweihräuchert und eine Art moralische Nabelschau betreibt. Ihm geht es vor allem darum, selbst gut dazustehen. Wieder etwas Anderes (vielleicht die Lust an Bloßstellung und Brandmarkung) ist im Spiel, wenn man andere ›moralistisch‹ an den moralischen Pranger stellt, oder wenn man eine scheinbar moralfreie Angelegenheit (»Sollen wir für den Netflix-Abend Kartoffelchips oder Salzstangen kaufen?«) zur moralischen Gewissensfrage auflädt.

Es ist also gar nicht so offensichtlich, was Moralismus überhaupt ist. Entsprechend ist auch nicht klar, dass alle, die sich an der Debatte über den moralistischen Zeitgeist und dessen Ursachen beteiligen, überhaupt dasselbe meinen, wenn sie von Moralismus sprechen. Unser erstes Anliegen besteht daher darin, genauer hinzuschauen und zu untersuchen, was Moralismus überhaupt ausmacht. Dazu liefern wir in Kapitel 2 eine begriffliche Landkarte der verschiedenen Erscheinungsformen von Moralismus.

Doch warum ist es eigentlich so wichtig, im Blick zu behalten, was mit Moralismus jeweils gemeint ist? Zum einen natürlich, weil man so erst einschätzen kann, ob an der Behauptung, dies oder das sei Moralismus, tatsächlich etwas dran ist. Meist sind solche Behauptungen in moralischer Hinsicht ja nicht neutral, sondern haben selbst den Charakter eines moralischen Vorwurfs. Wenn man jemanden als Moralistin bezeichnet, will man nicht nur sagen, dass die Person irgendwie lästig ist, sondern dass die Person selbst etwas moralisch falsch macht – und zwar in einer Weise, die man ihr zum Vorwurf machen darf. Begriffliche Klarheit darüber, was genau ›Moralismus‹ bedeuten soll, ist dann notwendig, wenn man diesen Vorwurf stützen oder entkräften will.

Zum anderen ist begriffliche Übersicht nötig, weil auf verschiedene Erscheinungsformen von Moralismus womöglich auch verschiedene Reaktionen angemessen sind. Vielleicht sind manche Formen von Moralismus schlimmer als andere und verdienen entsprechend schärfere Reaktionen? Vielleicht sind andere Formen des Moralismus aber auch moralisch unproblematisch oder gar geboten? Denn oft äußert sich Moralismus ja in Kritik an moralischen Missständen. Und diese Missstände verdienen es vielleicht, kritisiert zu werden. So kann man auch fragen: Was ist eigentlich falsch daran, moralische Missstände als solche offen zu benennen und so ein Umdenken anzuregen? Ist moralische Kritik nicht notwendig, um Verbesserungen zu erreichen, und ist der Moralismus-Vorwurf nicht manchmal sogar nur leeres Geschrei, um solche Verbesserungen zu verhindern?

Um derartige Fragen zu beantworten, muss man zunächst klären, ob eine bestimmte Erscheinungsform von Moralismus überhaupt moralisch problematisch ist – und was genau sie dann jeweils problematisch macht. Unser zweites Anliegen besteht darin, genau an dieser Stelle erneut einen Schritt zurückzutreten: Wir möchten den populären Vorstellungen, Moralismus sei problematisch, weil er andere ausgrenzt und stigmatisiert, den Diskurs vergiftet oder die Meinungsfreiheit einschränkt, auf den Zahn fühlen. Kapitel 3 legt daher die Voraussetzungen derartiger Begründungen offen und prüft, ob sie triftig sind, um besser zu verstehen, was genau Moralismus in den jeweiligen Fällen eigentlich problematisch macht. Die dabei immer wieder anzutreffende Vorbewertung, dass Moralismus stets etwas durchweg Schlechtes und in jedem Fall zu unterlassen sei, hinterfragen wir dann in Kapitel 4. Braucht es nicht manchmal vielleicht auch ein wenig Moralismus, um etwas zum Guten zu verändern? Kann Moralismus nicht auch nützlich sein und uns als Gesellschaft moralisch voranbringen?

Wenn man besser versteht, wann (und warum) Moralismus falsch ist und wann (und warum) nicht, dann sieht man auch klarer, wann der Vorwurf des Moralismus seine Berechtigung hat und wann nicht. In Kapitel 5 untersuchen wir einige praktische Kontexte, in denen Moralismusvorwürfe immer wieder erhoben werden. So heißt es oft, ein im Diskurs überhandnehmender Moralismus gefährde die Meinungsfreiheit. Und in Politik und Wirtschaft wird moralische Kritik manchmal als moralistisch zurückgewiesen, weil diese Bereiche angeblich von Moral gänzlich frei zu halten seien. In diesen Kontexten, so möchten wir zeigen, muss man einen genauen, differenzierten Blick auf die jeweiligen konkreten Einzelfälle werfen, um prüfen zu können, ob der Vorwurf des Moralismus berechtigt ist oder aber ob er missbraucht wird, um berechtigte moralische Anliegen abzuwehren.