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Gegen Ungleichheit und strukturelle Gewalt In Debatten um Superreiche heißt es oft, deren Kritiker seien nur neidisch. Doch geht es dabei nicht um Neid. Christian Neuhäusers profunde Analyse zeigt, dass Gesellschaften, die extreme Formen der Ungleichheit zulassen, nicht friedlich, sondern strukturell zutiefst gewalttätig sind. Und je ungleicher, desto gewalttätiger sind sie. Doch was ist soziale Ungleichheit überhaupt? Und wann wird sie gewaltförmig? Und was können wir dieser Gewalt entgegensetzen? Eine fundierte Analyse und ein eindringliches Plädoyer. - Debattenbuch zu einem der drängendsten Themen unserer Zeit - Politisch äußerst relevant - Plädoyer für eine bessere Verteilung der Lasten und Vermögen
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Seitenzahl: 207
Veröffentlichungsjahr: 2025
Christian Neuhäuser
Würde und Widerstand
Reclam
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RECLAMS Nr. 962411
2025 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Kosmos Design, Münster
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2025
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN978-3-15-962411-2
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011533-6
reclam.de | [email protected]
Vorwort
Einleitung
1. Was ist soziale Ungleichheit?
Ungleichheit und soziale Ungleichheit
Soziale Ungleichheit und Gerechtigkeit
Ökonomischer Status und Ungleichheit
Dimensionen der Ungleichheit
2. Soziale Ungleichheit als Gewalt
Ein umstrittener Gewaltbegriff
Ungleichheit und Verletzung des Körpers
Ungleichheit und die Verletzung der Psyche
Ungleichheit und Verletzung der Identität
3. Was lässt sich der Gewalt der Ungleichheit entgegensetzen?
Ungleichheit und Gegengewalt
Gerechtfertigte Gegengewalt
Gewaltloser Widerstand
Utopie der Gewaltfreiheit
Was folgt für uns aus der Gewalt der Ungleichheit?
Anmerkungen
Literaturhinweise
Dank
Personenregister
Zu Beginn meiner Auseinandersetzung mit der Gewalt der Ungleichheit war ich selbst skeptisch, ob ich die richtige Perspektive gewählt hatte. Sicherlich besteht ein Zusammenhang zwischen ökonomischer Ungleichheit und physischer Gewalt, wie bereits die Gesundheitswissenschaftlerin Kate Pickett (geb. 1965) und ihr Kollege Richard Wilkinson (geb. 1943) in ihrem Buch über Gleichheit festgestellt haben. Doch führen verschiedene Formen der sozialen Ungleichheit tatsächlich in dem Ausmaß zu Gewalt, wie ich es in diesem Buch behaupte?
Vor allem ein Teil der Arbeit hat mich davon überzeugt, dass dem wirklich so ist. Das ist die intensive Auseinandersetzung mit zahlreichen Erfahrungsberichten von Menschen, die aufgrund ganz verschiedener und nicht nur ökonomischer Ungleichheiten von Diskriminierung, Unterdrückung und Verachtung berichten. Bei der Lektüre solcher Berichte ist mir klar geworden, dass diese Menschen immer wieder davon erzählen, wie sie einer überwältigenden Kraft ausgeliefert sind, die ihnen Verletzungen zufügt. Das hat mich dazu gebracht, daran festzuhalten, diese Erfahrungen auf theoretischer Ebene als Gewalt zu beschreiben.
Dieser Ansatz weicht erheblich von einer sozialphilosophischen Tradition ab, die sich auf einen engeren Begriff von absichtlich zugefügter physischer Gewalt beschränkt. Die Politikwissenschaftlerin Iris Marion Young (1949–2006) hat auf wirkungsmächtige Weise zwischen fünf Formen der Unterdrückung unterschieden. Gewalt ist neben Ausbeutung, Ausgrenzung, Machtlosigkeit und kulturellem Imperialismus nur eine dieser Formen. Meiner Ansicht nach leidet auch diese Tradition darunter, dass sie die Erfahrung der von einer Gewalt der Ungleichheit betroffenen Menschen nicht hinreichend in den Mittelpunkt rückt.
Ein wichtiges theoretisches Anliegen dieses Buches besteht darin, die daraus entstehende Schieflage zumindest ein Stück [8]weit auszugleichen. Damit setzt es sich auch von einer soziologischen Tradition ab, die sich wie der Friedensforscher Johann Galtung (1930–2024) auf strukturelle Gewalt oder wie Pierre Bourdieu (1930–2002) auf symbolische Gewalt ausrichtet. Es geht nicht darum, große Thesen über die funktionale Beschaffenheit gegenwärtiger Gesellschaften aufzustellen. Vielmehr bleiben die hier vorgestellten Überlegungen der Frage gegenüber neutral, ob eine erhebliche Reduktion der Gewalt der Ungleichheit einen Systemwechsel erfordert oder nicht.
Gleichwohl steht am Ende der Überlegungen das ernüchternde Ergebnis, dass wir in massiv gewalttätigen Gesellschaften leben. Das ist vielleicht für all diejenigen Leserinnen und Leser unangenehm, die sich in ihrer Gesellschaft eigentlich ganz wohl fühlen. Mit solch einem Wohlgefühl mag noch vereinbar sein, dass es am Rande inakzeptable Formen der Ausbeutung oder Ausgrenzung gibt. Aber das scheint kaum vereinbar mit der Idee, dass unsere Gesellschaften im Kern gewalttätig sind. Das könnte leicht zu einer reflexhaften Ablehnung der hier vorgestellten Überlegungen führen.
Ich kann demgegenüber nur appellieren, den hier diskutierten Gedanken der Gewalt der Ungleichheit auszuhalten und ernst zu nehmen.
Dabei ist es vielleicht hilfreich, gleich zu Beginn eine wichtige Konsequenz eines opferzentrierten Gewaltbegriffs deutlich zu machen. Es kann nämlich sein, dass dann Gewalterfahrungen täterlos sind. Und dies wäre dann auch vermutlich sehr häufig der Fall. Das eigentlich gewaltlose Handeln vieler einzelner Menschen, von Institutionen und Organisationen, führt oft auch in der Summe zu einer Gewalterfahrung. Es geht dann nicht darum, einzelnen Personen und schon gar nicht bestimmten Gruppen Vorwürfe zu machen. Es geht ebenso wenig um ein schlechtes Gewissen, die Schuld oder Verantwortung solcher Menschen und schon gar nicht um so etwas wie Gut und Böse.
Stattdessen geht es wirklich und ausschließlich nur um die Gewalterfahrung von Menschen, die von verschiedenen [9]Ungleichheiten negativ betroffen sind. Das bleibende Paradox besteht gewissermaßen darin, dass diese Gewalterfahrungen massiv sind, aber allzu häufig keine klar schuldigen Täter identifiziert werden können, wie es traditionelles moralisches Denken gerne hätte. Man sollte sich daher also auch davor hüten, unbedingt diese Täter ausfindig machen zu wollen. Das führt nur dazu, relativ unschuldige Menschen zu dämonisieren, und vernichtet am Ende jede Chance, die Gewalt der Ungleichheit abzubauen.
Ich hoffe, dieser Hinweis hilft bei einer Lektüre mit offenem Herzen und Verstand. Auf jeden Fall dabei helfen sollte der Umstand, dass viele Menschen mich vor ziemlich groben Fehlern bewahrt und mir auf unterschiedliche Weise dabei geholfen haben, das Buch besser zu machen.
In der öffentlichen politischen Diskussion werden sehr unterschiedliche Positionen vertreten zum Problem der sozialen Ungleichheit und darüber, welche Maßnahmen zu ergreifen sind, um es zu beheben. Die Standpunkte lassen sich rhetorisch etwas überzeichnet in zwei Lager einteilen:
Eine Gruppe von Kommentatoren scheint so gut wie jede Ungleichheit für ein mögliches Gerechtigkeitsproblem und daher für potentiell beseitigungswürdig zu halten.
Ihnen wird von einer anderen Gruppe von Kommentatorinnen jedoch vorgeworfen, freiheitsraubende Gleichmacherei zu betreiben. Solange es allen Menschen hinreichend gutgehe, stellten verschiedene Formen der sozialen Ungleichheit kein besonderes Problem dar, so die Gegenseite.1
Es ist wenig überraschend, dass die Frage der Ungleichheit im öffentlichen Diskurs so unterschiedliche Positionen hervorruft. Abhängig davon, welche Seite richtig liegt, wären nämlich entweder sehr weitreichende Maßnahmen der Umverteilung und des Umbaus gesellschaftlicher Grundstrukturen wie etwa im Bildungs- und Wirtschaftssystem gefordert – oder aber nicht.
Bei der Diskussion um soziale Ungleichheit geht es also um nicht weniger als die Frage, ob Gesellschaften wie die deutsche entweder im Großen und Ganzen ziemlich gerecht oder aber auf extreme Weise ungerecht sind.2
In diesem Essay werde ich beide der gerade knapp umrissenen und zugegebenermaßen zugespitzt dargestellten Positionen im politischen Diskurs als philosophisch unhaltbar zurückweisen:
Weder stimmt es, dass so gut wie jede soziale Ungleichheit ein Gerechtigkeitsproblem darstellt. Noch stimmt es, dass in liberalen Sozialstaaten nur wenige wirklich ungerechte Ungleichheiten bestehen.
Tatsächlich, so werde ich argumentieren, gibt es sogar zahlreiche soziale Ungleichheiten, die als gewaltförmig verstanden [11]werden müssen. Aufgrund ihrer Gewaltsamkeit sind viele Ungleichheiten große Ungerechtigkeiten.
Die Gewalt der Ungleichheit wird von beiden Seiten der Debatte falsch eingeschätzt:
Diejenige Seite, die so gut wie jede Ungleichheit für ein schlimmes Gerechtigkeitsproblem hält, vernebelt dadurch, dass bestimmte Ungleichheiten aufgrund ihrer Gewaltförmigkeit besonders gravierend sind.
Die Seite aber, die viele Ungleichheiten für nicht besonders problematisch hält, unterschätzt massiv, wie sehr die Gewalt mancher Formen der Ungleichheit das Leben zahlreicher Menschen belastet. Hier entsteht sogar der leise Verdacht, dass eine Leugnung dieser Gewalt den extrem ungerechten Charakter vieler Ungleichheiten verschleiern soll.3
Es ist das zentrale Anliegen dieses Buches, diese Gewalt der Ungleichheit sichtbar zu machen. Ich werde dafür argumentieren, dass Gesellschaften, die diese Formen der Ungleichheit einfach so zulassen, eben nicht friedlich, sondern zutiefst gewalttätig sind. Je mehr dieser Ungleichheiten sie zulassen, desto gewalttätiger sind sie.
Tatsächlich sind unsere Gesellschaften von vielen verschiedenen gewaltsamen Formen der Ungleichheit durchzogen. Das gilt umso mehr, wenn man auch die Realität weltweiter gesellschaftlicher Zusammenhänge anerkennt. Aufgrund ihrer Gewaltförmigkeit verlangen diese Ungleichheiten eigentlich große politische Aufmerksamkeit, die sie jedoch notorisch nicht erhalten. Das trägt meiner Einschätzung nach erheblich zu den gegenwärtigen Erscheinungen der politischen Destabilisierung und intellektuellen Regression durch rechtsradikale politische Strömungen bei.
Verstärkt wird dieser Eindruck, wenn man außerdem die Vielfalt verschiedener Formen sozialer Ungleichheit berücksichtigt. In diesem Buch sollen daher alle sozialen Formen der Ungleichheit, und das ist ein zweites großes Anliegen, gleichermaßen in einem gemeinsamen systematischen Rahmen aufgezeigt [12]werden. Soziale Ungleichheit beschränkt sich nämlich nicht auf ökonomische Strukturen. Rassismus, Sexismus und Ableismus, also die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung, sind einige Beispiele für weitere Formen sozialer Ungleichheit, die gewaltförmig sein können.
Zwischen diesen Formen der Ungleichheit besteht auch kein fundamentaler Unterschied, wie manchmal behauptet wird.4 Sie sind alle materiell in gesellschaftlichen Strukturen verankert und werden alle ideell durch ideologische Kulturproduktion gestützt. Sie alle gehören abgeschafft, wenn sie auf gewaltförmige Weise ungerecht sind.
Die Argumentation für diese Thesen zu dem umfassenden und gewaltförmigen Charakter sozialer Ungleichheit entfalte ich in drei Kapiteln:
In einem ersten Kapitel werde ich diskutieren, was soziale Ungleichheit überhaupt ist. Dazu werde ich darlegen, dass vielleicht nicht jede Form von Ungleichheit ausschließlich gesellschaftlich konstruiert ist, aber so gut wie jede Ungleichheit von Bedeutung zumindest auch eine soziale Grundlage aufweist. Das führt zu der Frage, wann soziale Ungleichheiten eigentlich ein Problem darstellen. Das ist dann der Fall, wenn sie einen schädigenden Charakter besitzen und ungerecht sind, vor allem aber, wenn sie die Würde der betroffenen Menschen verletzen.5 In dem ersten Kapitel werde ich diskutieren, warum soziale Ungleichheit häufig mit dem ökonomischen Status gleichgesetzt wird. Das führt mich zur These, dass es eine sehr große Vielfalt verschiedener Ungleichheiten gibt, die einen gewaltförmigen Charakter annehmen können und potentiell würdeverletzend sind.
Das zweite Kapitel ist der Frage gewidmet, wann soziale Ungleichheit gewaltförmig ist. In einem dritten Schritt folgt eine Reflexion der Frage, was dieser Gewalt entgegengesetzt werden könnte. Dazu ist zunächst eine Auseinandersetzung mit dem Gewaltbegriff nötig, der dieser Arbeit zugrunde liegt. Auf der Grundlage einer Diskussion verschiedener Gewaltbegriffe werde ich dafür argumentieren, dass nicht die Absicht von Tätern, [13]sondern die Gewalterfahrung der Betroffenen im Zentrum der Begriffsbestimmung stehen sollte. Gewalt besteht in einer mit überwältigender Kraft erfahrenen Verletzung. Diese Verletzung kann den Körper, die Psyche und die persönliche Identität eines Menschen betreffen. Auf allen drei Ebenen besteht ein enger Zusammenhang zwischen verschiedenen Formen der Ungleichheit aufgrund von äußerer Erscheinung, Geschlecht, sexueller Orientierung, Behinderung, wirtschaftlicher Lage, Bildungsstand, Religionszugehörigkeit, zugeschriebener Race und Staatsangehörigkeit auf der einen und Gewalt auf der anderen Seite.
Im dritten Kapitel geht es um die Frage, was der Gewalt der Ungleichheit entgegenzusetzen ist. Eine erste Möglichkeit besteht in der Ausübung von Gegengewalt, gewissermaßen als einer Form von Selbstverteidigung. Ich werde argumentieren, dass solch eine Selbstverteidigung durchaus legitim sein kann, es für eine solche Reaktion aber strenge normative Kriterien gibt. Eine Alternative stellt ein gewaltloser Widerstand dar. Solch ein Handeln erscheint gegenüber schwächeren Formen des Protestes und institutionellen Reformbestrebungen angemessen, wenn es wirklich um Widerstand gegen gewaltförmige und extrem ungerechte Ungleichheit geht. Schließlich werde ich in diesem Kapitel darauf hinweisen, dass völlige Gewaltlosigkeit wohl eine kaum zu erreichende Utopie darstellt. Doch lassen verschiedene Gesellschaften mehr oder weniger gewaltförmige Ungleichheiten zu – und in unseren Gesellschaften sind es offensichtlich zu viele.
Das Buch schließt im Ausblick mit einer Reflexion der Frage, warum eigentlich so viele Menschen der Gewalt der Ungleichheit so gleichgültig gegenüberstehen oder sie sogar befürworten: Letztlich lässt sich dies nur als eine Form von Abstumpfung beschreiben, die einen erheblichen Anlass zu großer Sorge darstellt. Den gesellschaftlichen Problemen entgeht man jedoch nicht, indem man das Ausmaß verschiedener Formen der Ungleichheit und ihre Gewaltförmigkeit wegleugnet. Im Gegenteil befördert dies ein weiteres Abgleiten in die Barbarei.
Bevor sich die Gewalt der Ungleichheit untersuchen lässt, ist es wichtig, ein besseres Verständnis davon zu entwickeln, was Ungleichheit überhaupt ist. Vier Aspekte sind wichtig:
Ungleichheiten sind immer soziale und nie einfach nur natürliche Ungleichheiten.
Diese Ungleichheiten stellen nicht immer, aber sehr häufig ein Gerechtigkeitsproblem dar.
Bei sozialer Ungleichheit geht es nicht nur um ökonomische Ungleichheit, auch wenn sie eine prominente Rolle spielt.
Schließlich gibt es in Wahrheit sehr viele verschiedene soziale Ungleichheiten, die auch ungerecht sind und von denen neun hervorgehoben und am Ende dieses ersten Kapitels vorgestellt werden sollen.
Einer weit verbreiteten Meinung nach stellt nicht jede Ungleichheit auch eine soziale Ungleichheit dar. So gibt es etwa physische Ungleichheiten, die sozial irrelevant zu sein scheinen:
Wenn eine Frau 165 cm groß und eine andere Frau 167 cm groß ist, dann ist das in den meisten sozialen Kontexten ziemlich egal.
Auch zeitbezogene Ungleichheiten können irrelevant sein: Wenn ein Mann 1975 und ein anderer 1977 geboren wurde, dann macht das kaum einen Unterschied, wenn sich beide auf dieselbe Führungsposition bewerben.
Auf den ersten Blick macht es ebenfalls keinen Unterschied, ob jemand viele oder gar keine Sommersprossen besitzt. Es ist nicht unüblich, zwischen nichtsozialen Unterschieden und sozialen Ungleichheiten zu unterscheiden, um diesen Punkt zu verdeutlichen.
[16]Allerdings deuten diese scheinbar so harmlosen Beispiele bereits an, dass der Korridor, in dem sozial irrelevante Ungleichheiten bzw. Unterschiede zwischen Menschen vorkommen können, sehr klein sein könnte.
Im Beispiel der Körpergröße ändert sich die Lage sofort, wenn eine Person 150 cm und die andere 210 cm groß ist. Bei Männern etwa macht es mit Blick auf Schönheitsnormen in Ländern wie Deutschland sogar schon einen Unterschied, ob jemand 175 cm oder 182 cm groß ist. Wenn Menschen einer bestimmten Norm nach als zu klein gelten, haben sie einen rechtlichen Anspruch auf medizinische Behandlung, weil ansonsten mit ihrer Anlage Ausgrenzungen und Stigmatisierungen einhergehen.
Körpergröße ist jedoch nicht nur mit der Bewertung, sondern auch mit der Entstehung von sozialen Normen verknüpft. Eine gesunde und ausgewogene Ernährung hat neben anderen Faktoren einen erheblichen Einfluss auf die Körpergröße. Es besteht also ein Zusammenhang zwischen ökonomischer Armut und Körpergröße. Forscher haben beispielsweise untersucht, dass Kinder in strukturschwachen Regionen in Brandenburg im Durchschnitt deutlich kleiner sind als in anderen Gegenden in Deutschland.6
Es ließen sich noch viele weitere einfache Beispiele für die soziale Bedeutung zunächst harmlos wirkender Ungleichheiten finden, die dann eben nicht einfach nur Unterschiede sind: Wenn sich auf eine Führungsposition unter anderen auch zwei Personen bewerben, die 1955 oder 1995 geboren wurden, dann könnte die eine Person allein aufgrund ihres Alters aussortiert werden, weil sie entweder als zu alt oder als zu jung gilt. Hier sind mit dem Alter als zunächst bloß physikalischer und vielleicht noch biologischer Größe recht eindeutige soziale Vorstellungen und Erwartungen verbunden: Sehr jungen Menschen mangele es vielleicht an Erfahrung und Gelassenheit, sehr alten Menschen mangele es vielleicht an Ausdauer und Durchsetzungskraft. Diese sozialen Stereotype sind mit dem Lebensalter verbunden und haben einen erheblichen Einfluss auf Praktiken [17]wie hier die Einstellung von Mitarbeiterinnen.7 Wieder wird aus einem scheinbar natürlichen Unterschied sehr schnell eine soziale Ungleichheit.
Dasselbe gilt für so etwas Alltägliches wie Sommersprossen: Eigentlich handelt es sich dabei nur um Pigmentablagerungen in der Haut, die oft durch Sonnenstrahlung hervorgerufen oder verstärkt werden. Doch wir alle wissen, dass mit diesem Merkmal ästhetische Urteile einhergehen: Im viktorianischen England galten sie als hässliche Flecken, die unbedingt entfernt werden müssten. Zu diesem Zweck wurden Mittel angeboten, die häufig hochgiftiges Quecksilber enthielten. Auch heute können z. B. auf dem Schulhof Sommersprossen noch ein Anlass für unschöne Hänseleien sein. In der Modebranche und in sozialen Medien hingegen gelten Sommersprossen als Schönheitsmerkmal. Es gibt permanentes Make-up und Programme zur Bildbearbeitung, die Sommersprossen extra erscheinen lassen. Kurz: Rein physische Merkmale werden auch hier mit einer sozialen, in diesem Fall mit einer ästhetischen Bedeutung aufgeladen.
Die Beispiele zeigen, dass vielleicht nicht alle Unterschiede zwischen Menschen auch soziale Ungleichheiten sind, aber alle Ungleichheiten sein könnten.
Warum ist das so? Darauf gibt es zwei Antworten:
1. Alle Unterschiede können mit sozialer Bedeutung aufgeladen werden. Dafür braucht es nur ein entsprechendes Narrativ, das auf das Denken und Handeln der Menschen einwirkt.
2. Fast alle Ungleichheiten sind in sozialen Prozessen entstanden oder in ihrer Entstehung mit sozialen Prozessen kausal verbunden, wie Larry Temkin (geb. 1954) und Thomas Scanlon (geb. 1940) in ihren philosophischen Reflexionen über Ungleichheit gezeigt haben.8 Sowohl Genese als auch Geltung von Ungleichheiten, so könnte man sagen, sind also sozial.
Es lohnt sich, beide Zusammenhänge etwas genauer zu betrachten, um die Fragen danach besser zu verstehen, was Ungleichheit ausmacht, was an ihr ungerecht ist und wann sie gewaltsam wird.
[18]Was bedeutet es also, dass Ungleichheiten mit sozialer Bedeutung aufgeladen sind? Zur Beantwortung dieser Frage ist es wichtig, den zutiefst sozialen Charakter der menschlichen Lebensweise zu verstehen. Einem relativ schlanken und hoffentlich nicht allzu kontroversen Verständnis von menschlicher Gesellschaft nach bewegen und begegnen sich Menschen immer in sozialen Strukturen und im Rahmen sozialer Institutionen. Sie sind vertraut mit sozialen Werten und sozialen Narrativen, die ihnen selbst und ihrer Umwelt eine spezifische Bedeutung geben. All dies liefert Orientierung, aber auch relativ klare Grenzen für die persönliche Lebensführung. Menschen sind also zutiefst soziale Wesen. Wie Menschen individuell leben, wie sie die Welt sehen und was sie für wertvoll halten, wird in sozialen Prozessen mitbestimmt.9
Strukturen und Institutionen, Narrative und Werte bilden die Grundlage auch für die soziale Dimension von Ungleichheiten. Je nachdem, welche Rolle verschiedene Ungleichheiten im Kontext dieser sozialen Faktoren spielen, erhalten sie auch eine unterschiedliche soziale Bedeutung.
Um beim Beispiel der Körpergröße zu bleiben, lässt sich dieser Zusammenhang anhand solch eines zufälligen Beispiels wie der Regelung der Mindestkörpergröße bei der Polizei in Nordrhein-Westfalen aufzeigen. Dort müssen Polizistinnen und Polizisten mindestens 163 cm groß sein. Andere Polizeibehörden haben solch eine Regelung nicht. Die Polizei NRW rechtfertigt ihre Regelung damit, dass Polizeibeamte eine gewisse »Physis« – wie sie es ausdrückt – haben müssen, die für ihren eigenen Schutz, ihre Sicherheit und ihre Gesundheit sowie diejenige ihrer Kolleginnen wichtig ist. Diese Regelung wurde gerichtlich bestätigt.10 Die Regel der Polizei NRW als sozialer Institution macht aus scheinbar natürlichen Unterschieden wie der Körpergröße eine soziale Ungleichheit. Wer nur 162 cm an Körpergröße erreicht, ist zu klein für den Polizeidienst.
Nun besteht zwischen Größe und physischer Leistungsfähigkeit kein unmittelbarer Zusammenhang, sondern höchstens [19]in Form einer statistischen Wahrscheinlichkeit. Auf entsprechende Kritik hat die Polizei NRW daher auch einen individuellen Eignungstest für kleinere Menschen eingeführt, der ihnen dennoch einen Weg in den Polizeidienst eröffnen kann, wenn er bestanden wird.
Das ist sicher ein Fortschritt, ändert jedoch nichts daran, dass die Körpergröße nunmehr eine bestimmte soziale Bedeutung hat. Doch was ist eigentlich diese Bedeutung?
Der springende Punkt scheint hier darin zu bestehen, dass durch Praktiken wie diejenige der Polizei NRW gleich eine ganze Reihe von Bedeutungen erzeugt werden. Eignung für den Polizeidienst ist die erste. Doch kommt unmittelbar das Urteil physischer Robustheit und Durchsetzungskraft hinzu, was der Polizei ja als Rechtfertigung der Regel galt. Man kann sich leicht vorstellen, dass verbreitete derartige Zuschreibungen zu einem allgemeineren Urteil über einen Zusammenhang zwischen Körpergröße und Leistungsfähigkeit führen könnten. Das wiederum könnte den Effekt haben, dass Menschen allein aufgrund ihrer Körpergröße positiv beurteilt werden und ihnen sogar eine besondere soziale Stellung zugeschrieben werden könnte.11 Schließlich führt dies vielleicht dazu, dass mit der Körpergröße auch Urteile über die Attraktivität eines Menschen einhergehen.
Ein scheinbar bloß natürlicher Unterschied wie Körpergröße wird also durch Interaktionsprozesse und soziale Praktiken zu einer vielfachen sozialen Ungleichheit mit Blick auf solche Faktoren wie Zugang zu Berufen, Urteile über die individuelle Leistungsfähigkeit, die gesellschaftliche Stellung und die Persönlichkeit eines Menschen. Sie prägt soziale Strukturen und Institutionen zumindest mit.
Ähnliches gilt für andere physische und mentale Ungleichheiten. Möglicherweise gibt es unterschiedliche mathematische Fähigkeiten, die angeboren sind. Welche Bedeutung diese haben, hängt allerdings in hohem Maße von gesellschaftlichen Umständen ab. Ganz plakativ gesprochen tragen mathematische Fähigkeiten in einer Kriegergesellschaft weniger aus als in einer [20]Händlergesellschaft. In einer Wissenschaftskultur, um ein weniger drastisches Beispiel zu geben, in der die Geisteswissenschaften als die höchsten Wissenschaften gelten, sind mathematische Leistungen weniger bedeutsam als in einer Kultur, in der die Naturwissenschaften dominieren.12
Die erste soziale Dimension von Ungleichheiten ist also recht eingängig: Vielleicht werden nicht alle Unterschiede mit sozialer Bedeutung aufgeladen, aber alle Unterschiede könnten mit solcher Bedeutung aufgeladen werden. Erst die unterschiedliche soziale Bedeutung macht sie zu sozialen Ungleichheiten. Und diese Bedeutung stellt eine zentrale Quelle für Ungerechtigkeit und Gewalt dar.
Weniger offensichtlich ist die zweite soziale Dimension von Ungleichheiten: Sie besteht darin, dass so gut wie alle Unterschiede überhaupt erst in sozialen Prozessen entstehen. Es ist also nicht nur so, dass es Unterschiede gibt und sie dann nachträglich durch die Aufladung mit Bedeutung zu sozialen Ungleichheiten gemacht werden. Vielmehr entstehen die meisten und vielleicht sogar so gut wie alle Ungleichheiten, auch scheinbar natürliche, überhaupt erst in sozialen Prozessen und aufgrund sozialer Einflüsse.13
Erneut bietet die Körpergröße ein gutes Beispiel, um diesen Zusammenhang zu verdeutlichen:
Denn es ist gut untersucht, wie eingangs bereits erwähnt, dass die durchschnittliche Körpergröße von Menschen sehr viel mit der Ernährung in der Kindheit und anderen Gesundheitsfaktoren zu tun hat.14 Aus diesem Grund ist die durchschnittliche Körpergröße in strukturschwachen Regionen wie in Brandenburg kleiner als in anderen Regionen. Die Menschen dort werden bereits als Kinder relativ gesehen schlechter ernährt und schlechter medizinisch versorgt.
Die relativ kleinere Körpergröße geht also eindeutig auf soziale und nicht auf natürliche Faktoren zurück. Die Menschen haben weniger Geld, es steht weniger medizinisches Personal zur Verfügung, die gesundheitliche Aufklärung ist schlechter. Diese und [21]viele andere soziale Faktoren beeinflussen solche Ungleichheiten. Die durchschnittliche Körpergröße von Menschen ist also nicht rein natürlich, sondern auch Folge sozialer Strukturen.
Was für die Körpergröße gilt, das trifft ebenso auf andere physische und daher scheinbar natürliche Eigenschaften zu. Es betrifft eigentlich den gesamten Gesundheitszustand von Menschen, und zwar ihr Leben lang: So hat physiotherapeutische Begleitung in den ersten Lebensmonaten eines Menschen einen erheblichen Einfluss auf die Gesundheit des Bewegungs- und Muskelapparates. Auch die hinreichende Versorgung mit Vitamin D in den ersten Lebensmonaten hat einen erheblichen Einfluss auf die Knochenstruktur von Menschen. Die diesbezügliche unterschiedliche Versorgung und die sich daraus ergebenden physiologischen Entwicklungen sind also nicht bloß natürliche, sondern soziale Ungleichheiten, weil sie auf Faktoren wie Aufklärung, finanzielle Ressourcen und Gesundheitsstrukturen zurückgehen.
Was für physische Ungleichheiten gilt, das trifft auch auf psychische Ungleichheiten zu.
Viele kognitive Fähigkeiten wie sprachliche oder mathematische Kompetenz hängen von sozialen Faktoren ab: Kleinkindern möglichst viel vorzulesen, hat einen erheblichen Einfluss auf ihre jeweilige kognitive und sprachliche Entwicklung. Die mathematischen Fähigkeiten von Jungen und Mädchen sind im Durchschnitt gleich bis zu dem Alter, in dem sie mit dem sozialen Mythos konfrontiert werden, dass ›Mädchen schlecht in Mathe‹ sind. Dann werden Mädchen in diesem Fach tatsächlich durchschnittlich schlechter als Jungen.15 Sie passen sich also an die an sie gerichteten sozialen Erwartungen an: ein beeindruckendes Beispiel für die wirklichkeitsschaffende Macht sozialer Narrative und Mythen.
Hier zeigt sich auch ein wichtiger Zusammenhang zwischen nur scheinbar natürlichen Unterschieden von individuellen Personen in ihrer physischen und psychischen Beschaffenheit und auf diesen beruhenden sozialen Unterschieden.
[22]Niemand leugnet natürlich, dass solche Dinge wie etwa das Bildungssystem oder das Wirtschaftssystem soziale Gebilde sind. Doch wird sehr häufig behauptet, dass die unterschiedlichen Positionen, die Menschen in diesen Systemen einnehmen, vollständig oder zumindest hauptsächlich auf unterschiedliche Talente, also natürliche Eigenschaften zurückgehen.16 Wer besonders durchsetzungsstark ist und zugleich motivierend auf andere einwirkt, ist dann eine gute Managerin und macht entsprechend Karriere. Wer bestimmte kognitive Talente wie überdurchschnittliches mathematisches Denken oder besonderes Sprachvermögen besitzt, erreicht entsprechende Bildungsabschlüsse und hat vielleicht das Zeug zum Wissenschaftler.
Eine erste Kritik an dieser Grundlegung und Rechtfertigung sozialer Ungleichheiten aus natürlichen Unterschieden lautet, dass es oft gar nicht diese Talente sind, die über Bildungs- und Karrierechancen entscheiden.17 Managementposten werden sehr häufig über Beziehungen vergeben. Es kann also gut sein, dass die besser vernetzte und nicht die besser geeignete Person solch einen Posten erhält.
Ähnlich ist es in der Bildung: Die besten Universitäten der Welt sind sehr kostspielig. Es hängt also häufig vom Geld oder den Beziehungen der Eltern ab, ob jemand dort studieren kann. Die hervorragende Ausbildung dort verbessert aber natürlich die Chancen für eine wissenschaftliche Karriere erheblich. Zwei Menschen mit gleichen Talenten haben daher sehr unterschiedliche Chancen, abhängig davon, ob sie aufgrund sozialer Faktoren einen Zugang zu einer Eliteuniversität erhielten oder nicht.
Es gibt jedoch noch eine tiefergehende Kritik an dem scheinbar einfachen Zusammenhang zwischen natürlichen Talenten und sozialen Positionen: Denn die Talente sind, wie sich oben gezeigt hatte, in vielen Fällen nur scheinbar natürlich.18 Welche persönlichen Charaktereigenschaften ein Mensch hat und welche kognitiven Fähigkeiten er besitzt, hängt seinerseits selbst von sozialen Faktoren wie dem Elternhaus, Zugang zu guten Bildungseinrichtungen bereits in der frühen Kindheit und [23]weiteren Faktoren ab. Selbst solche sozialen Faktoren wie der Zugang zu einer adäquaten Ernährung haben Einfluss darauf, weil sie eine notwendige Grundlage für die Entwicklung psychischer und physischer Talente liefern. Wer als Kind jahrelang mangelernährt ist, wird womöglich weder die Eigenschaft der Durchsetzungsstärke entwickeln noch sein volles kognitives Potential entfalten.
Diese tiefergehende Kritik kann noch eine zweite Form annehmen: Es ist nämlich durchaus zweifelhaft, ob etwa Durchsetzungsfähigkeit wirklich eine wichtige Führungseigenschaft ist. Möglicherweise sind andere Eigenschaften wie die Fähigkeit, zur Kooperation zu motivieren, viel wichtiger – oder wären es zumindest in anderen Organisationsstrukturen.
Ebenso lässt sich bezweifeln, dass an den Eliteuniversitäten tatsächlich die beste Lehre und Forschung stattfindet. Vielleicht gelingt es ihnen nur, das so aussehen zu lassen oder den besonders prestigeträchtigen Teil von eigentlich viel breiter angelegten Forschungsprozessen für sich zu beanspruchen. Jedenfalls haben Topmanager und Eliteuniversitäten einen erheblichen Einfluss darauf, was überhaupt als gutes Management und gute Forschung gilt.
Von solchen Konventionen hängt jedoch ab, was überhaupt als Talent gilt. Plakativ kann man auch das bereits erwähnte Beispiel aufgreifen: