Reifung  und Konflikt (Leben Lernen, Bd. 194) - Michael Klöpper - E-Book

Reifung und Konflikt (Leben Lernen, Bd. 194) E-Book

Michael Klöpper

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Beschreibung

Bindungstheorie, Säuglingsforschung und Entwicklungspsychologie haben seit den 90er Jahren weitreichende Erkenntnisse über die Reifungsprozesse des Selbst gewonnen, die mit Hilfe dieses Buches Eingang in die tägliche praktische Arbeit der Psychotherapeuten finden können. In der Entwicklungspsychologie hat sich in den letzten 15 Jahren eine »stille Revolution « ereignet, die nicht nur dieses spezielle Fachgebiet völlig verändert hat, sondern auch die praktische Psychotherapie auf den Prüfstand stellt. Säuglingsforschung, Bindungstheorie und das Konzept der Mentalisierung haben das Wissen um die Reifungsschritte des Selbst bzw. die Bedingungen, die diese behindern, enorm erweitert. Die neuen Konzepte sind für die Arbeit des Praktikers deshalb so wichtig, weil der tiefenpsychologisch ausgebildete Therapeut ein Zentrum seiner Arbeit mit dem Patienten in der Möglichkeit der Nachreifung des Selbst sieht. Damit Patienten von diesen Erkenntnissen profitieren können, faßt der Autor die neuen Theorieansätze in nachvollziehbarer und anschaulicher Weise zusammen und stellt die Konsequenzen für die Behandlung mittels zahlreicher Fallbeispiele eindrucksvoll dar. Tiefenpsychologisch ausgerichteten Therapeuten und Beratern im psychosozialen Bereich vermittelt das Buch gesichertes Wissen in kompakter und anwendungsbezogener Form.

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Seitenzahl: 418

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Informationen zum Autor

Michael Klöpper, Dr. med., ist als Facharzt für Psychotherapeutische Medizin und Psychoanalytiker in eigener Praxis tätig. Er ist Dozent, seit über 20 Jahren Supervisor von postgraduierten Psychotherapeuten und Lehranalytiker (DGPT) an der Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie Hamburg (APH), war deren 1. Vorsitzender und Mitglied des wissenschaftlichen Leitungsteams der Psychotherapiewoche Langeoog.

Michael Klöpper

Reifung und Konflikt

Säuglingsforschung, Bindungstheorie und Mentalisierungskonzept in der tiefenpsychologischen Psychotherapie

Impressum

Leben Lernen 194

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2006 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-89024-2

E-Book: ISBN 978-3-608-10106-5

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20313-4

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Informationen zum Autor

Vorwort

Einleitung

1. Kapitel Zum Verständnis der Theorie des Selbst und seiner Reifungsprozesse

2. Kapitel Das Selbst

3. Kapitel Einführung in die Bindungstheorie

4. Kapitel Entwicklung des Affekterlebens

5. Kapitel Denkfunktionen: Symbolisieren, Mentalisieren, Reflektieren

6. Kapitel Implizites Beziehungswissen

7. Kapitel Motivational-funktionale Systeme als psychische Strukturen

8. Kapitel Die Entwicklung unbewusster Konflikte

9. Kapitel Reifung und Struktur des Selbst

10. Kapitel Zum Verständnis der Störungen des Selbst

11. Kapitel Die Themenzentrierung in der tiefenpsychologischen Psychotherapie

12. Kapitel Zur Integration von Metatheorie und Behandlungspraxis:Was wirkt in der tiefenpsychologischen Psychotherapie?

Schlussbemerkungen

Anhang Diagnostikliste

Glossar

Die Sage des Ödipus

Literaturverzeichnis

Vorwort

Als ich mich gegen Ende der Siebzigerjahre in der Schlussphase meiner psychotherapeutischen Weiterbildung befand, begriff ich zunehmend, dass ich nicht zwischen Psychotherapie und Psychoanalyse unterscheiden kann. Damals absolvierte ich meine Ausbildung an einem psychoanalytischen Institut, und alle Seminare wurden für lernende Psychoanalytiker und Psychotherapeuten gemeinsam angeboten. Was mir zunächst als progressiv erschien, erwies sich zunehmend als irritierend: Der Unterschied zwischen den beiden Methoden wurde nicht nur nicht deutlich, sondern verlor sich. Diese in der Ausbildung verpasste Differenzierung holte mich gemeinsam mit einer Reihe von Kolleginnen und Kollegen wieder ein, als wir 1990 die »Arbeitsgemeinschaft für integrative Psychoanalyse, Psychotherapie und Psychosomatik Hamburg« (APH) gründeten und nun selbst damit begannen, Psychotherapeuten auszubilden. Damit standen wir nämlich vor der Herausforderung, zu differenzieren und definieren, was wir unter tiefenpsychologischer Psychotherapie verstehen. Es folgte eine Phase intensiver Auseinandersetzung mit diesem Thema, während wir gleichzeitig als Dozenten lehrten und als Supervisoren anleiteten. Und parallel dazu stellten wir uns der weiteren, selbst gestellten Anforderung, ein integratives Verständnis zu entwickeln, womit wir die Vorstellung verbanden, unseren Ausbildungsteilnehmerinnen und Teilnehmern eine möglichst große Schulenbreite psychoanalytischen Denkens zu vermitteln. Denn in unserer Gruppe hatten sich Analytiker und Therapeuten der unterschiedlichen Schulen (in der Nachfolge von Freud, Adler, Jung und später Kohut) zusammengefunden, welche die gemeinsame Überzeugung verband, dass analytisches Denken die Grundlage psychotherapeutischen Handelns bilden müsste. Ferner waren die zentralen Theoriegebäude unseres Verstehens und Handelns betroffen von dem allgemeinen wissenschaftlichen Fortschritt in unserem Fach, der im Auftauchen neuer Theorien bestand, wie etwa den Ergebnissen der Säuglings- und Bindungsforschung sowie der Affekt- und Mentalisierungstheorie.

Persönlich erlebte ich die hier nur kurz skizzierte Entwicklung als eine Herausforderung besonderer Art. Denn vor dem Hintergrund meiner einstigen Erfahrung als Ausbildungskandidat empfand ich es jetzt als Ausbildungsleiter zunehmend als unverzichtbar, die komplexen Zusammenhänge, wie sie spezifisch sind für das Verstehen in der tiefenpsychologischen Psychotherapie, unter dem Aspekt der Integration schriftlich zu formulieren. Das Ergebnis dieser Bemühungen lege ich hiermit vor.

Ich möchte dieses Buch den Kandidatinnen und Kandidaten der APH widmen, die sich mit enormem Engagement und Interesse ihrem psychotherapeutischen und psychoanalytischen Studium widmen und die mit hohem persönlichen Einsatz die Entwicklung ihrer Therapeutenpersönlichkeit vorantreiben. Ich betrachte ihre Arbeit mit größtem Respekt, und es ist mir eine Freude, sie dabei begleiten zu können. Dieses Buch lege ich in der Hoffnung vor, einen kleinen Beitrag dazu leisten zu können, dass ihnen das Erlernen der tiefenpsychologischen Psychotherapie damit etwas leichter fällt.

Darüber hinaus verbinde ich mit dem Buch natürlich die Hoffnung, dass es sich für möglichst viele Kolleginnen und Kollegen als hilfreich erweist in ihrem Bemühen, die so wichtigen Ergebnisse der neuen Theorien in die tiefenpsychologische Arbeit integrieren zu können. Denn das ist mein zentrales Anliegen: die Integration des Neuen in das bestehende und bewährte Alte. Und: Ich würde mich über Ihre Rückmeldung freuen, die mich – durchaus kritisch – darüber informiert, worin Sie die Stärken und Schwächen des Buches sehen und wie es verbessert werden kann.

Mit der Herausgabe meines Buches möchte ich einigen Menschen danken, die so wesentlich zu seinem Entstehen beigetragen haben. Allen voran ist Dr. Theo Piegler (Hamburg) zu nennen, der mich nicht nur stets ermuntert hat, sondern der mir im entscheidenden Moment, als ich zum Aufgeben neigte, den Anstoß und die Ermutigung gab, mein Projekt auf jeden Fall weiter zu verfolgen. Daneben haben mir einige meiner Supervisanden sehr wesentliche Anregungen gegeben, wenn wir entlang an ihren Fällen das Verständnis der Psychodynamik und die dazu hilfreichen Theorien erörterten; sie haben manche Irrläufer meiner Gedanken und Ideen gebremst und anderes beflügelt. Unter ihnen möchte ich Frau Dipl.-Psych. M. Baymak-Schuldt, Frau S. Fiala, Frau Dipl.-Psych. U. Niemann und Frau Dr. E. Reinken (alle Hamburg) besonders danken. Daneben hat Frau Dipl.-Psych. K. Siemens (Uelzen) den Text des Buches kontinuierlich kritisch begleitet und mir eine Vielzahl von Anregungen gegeben, wie es gerade auch auf die Bedürfnisse der niedergelassenen psychologischen Psychotherapeuten abzustimmen ist. Das war mir eine außerordentlich wertvolle Hilfe.

Ein besonderer Dank geht auch an Herrn Prof. Rudolf (Heidelberg). Er hat das Manuskript aus der Perspektive seiner vielfältigen Erfahrung als Kliniker, Autor und Gutachter durchgesehen und mir zahlreiche Anregungen gegeben, durch die ich mich sehr unterstützt fühlen konnte.

In der Schlussphase der Erstellung des Manuskriptes war es mir eine große Hilfe, im regelmäßigen Kontakt mit Frau Dr. M. Amler (München) zu stehen. Sie hat mich als Fachberaterin der Reihe Leben Lernen, Klett-Cotta, nicht nur frühzeitig ermutigt, mein Projekt fortzuführen, sondern sie hat so lustvoll, engagiert und kritisch anregend daran mitgearbeitet, dass es eine Freude war, die Arbeit am Manuskript zu Ende zu führen. Ferner danke ich dem Verlag Klett-Cotta und besonders Frau Dr. Treml für ihre engagierte und kompetente Lektoratsarbeit während der Vorbereitung der Herausgabe; ich hatte nicht zu hoffen gewagt, dass die Zusammenarbeit mit dem Verlag in dieser Phase so angenehm und leicht sein kann.

Dieses Buch wäre sicher nicht zustande gekommen, wenn meine Frau es nicht stets verständnisvoll und kollegial anregend gefördert hätte. In manchem Urlaub hat sie die »Triangulierung« mit dem Notebook akzeptiert, bevor wir es schließlich zum Betrachten einer DVD und somit doch noch zur Erholung genutzt haben. Für diesen und manch anderen Verzicht, vor allem aber für ihre unverbrüchliche Unterstützung während der Arbeit am Manuskript bin ich ihr von Herzen dankbar.

Hamburg, den 14.5.2006

Einleitung

Mit diesem Buch verfolge ich das Ziel, tiefenpsychologischen Psychotherapeuten ein Konzept der Themenzentrierung der psychotherapeutischen Arbeit vorzustellen, das auf neuen Theorien der jüngeren Vergangenheit basiert. Dieses Konzept gestattet dem Therapeuten, die unbewusste Thematik seines Patienten zu erfassen und ihn in einem Prozess der Nachreifung des Selbst zu begleiten, um ihm so zu ermöglichen, dass er neue Lösungswege für seinen unbewussten Grundkonflikt oder seine strukturelle Störung findet. Darauf wird die therapeutische Arbeit zentriert.

In den vergangenen 15 Jahren ist aus verschiedenen Wissenschaftszweigen eine Reihe neuer Erkenntnisse über die Entwicklung des Kindes veröffentlicht worden, die einerseits ein differenzierteres Verständnis der Reifungsprozesse des Selbst ermöglicht und die andererseits erlaubt, die Diagnostik und Behandlung der tiefenpsychologischen Psychotherapie sicherer zu handhaben. Es ist mir ein Anliegen, den Leser an dem Verständnis teilhaben zu lassen, wie das neue Wissen in die Theorie und Praxis der Psychotherapie integriert werden kann. Während meiner Darstellung folge ich stets der Frage, welche Theorien der Therapeut in seinen Reflektionen benötigt, wenn er versucht, die unbewussten Hintergründe für das Erleben seines Patienten metapsychologisch zu verstehen. Ich möchte zeigen, welch große Bedeutung die neuen Befunde gerade auch für die tiefenpsychologische Psychotherapie haben.

Wir befinden uns in einer Zeit des Wandels der Theorie in der Psychotherapie und Psychoanalyse. Wenn Psychotherapeuten in solchen Zeiten neue Konzepte in ihre Arbeit integrieren, ergeben sich Kontroversen, die ab und zu bis zum Streit gehen können. Im vergangenen Jahrzehnt geschah dies häufiger, denn seit Anfang der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts sind wir mit Entdeckungen der Entwicklungspsychologie konfrontiert, die manch Altes infrage stellen. Das macht neugierig und fordert heraus, sich mit dem Wandel zu befassen. Deshalb wende ich mich mit diesem Buch vor allem an Psychotherapeuten und Psychoanalytiker, die Interesse daran haben, sich mit dem Einfluss des Neuen auf die niederfrequente Psychotherapie zu befassen. Aber auch Seelsorger, Berater im psychosozialen Bereich und interessierte Laien, die sich mit dem aktuellen Stand der Diskussion in den zeitgenössischen Publikationen der Psychoanalyse und Psychotherapie vertraut machen wollen, dürften das Buch mit Gewinn lesen. Ich möchte meine Leser in die Grundgedanken neuer Erkenntnisse und Forschungsergebnisse der Säuglingsforschung, der Bindungstheorie, der Entwicklungspsychologie und der strukturbezogenen Psychotherapie einführen und aufzeigen, wie davon in der tiefenpsychologischen Psychotherapie gewinnbringend Gebrauch gemacht werden kann. Die hier dargestellten Befunde haben bislang noch recht wenig Eingang in die Alltagspraxis der Psychotherapie gefunden. Hier soll der Schwerpunkt dieses Buches liegen, in der täglichen klinischen Praxis. Dazu skizziere ich die neuen Befunde in Kürze und zeige an Fallbeispielen, wie sie für die praktische Arbeit in Klinik und Praxis relevant sind. Diese Darstellung erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, sondern soll nur die Grundlagen schaffen, wie sie zum Verständnis des Patienten und der Modifikation der klinischen Praxis notwendig sind.

Der Leser wird zunächst mitgenommen in die Grundgedanken, denen er im Verlauf der Lektüre immer wieder begegnen wird. Dabei wird sozusagen der rote Faden gesponnen, welcher ihm zur Orientierung dienen soll, wenn er im Gestrüpp der Details, der Theorien und verschiedenen Denkansätze den Zusammenhang verlieren sollte. Diese Gefahr ist bei dem vorliegenden Thema durchaus gegeben. Denn der Leser wird in ein Gefüge von miteinander verknüpften Theorien und Konzepten geführt, die untereinander ähnlich zusammenhängen wie verschiedene Subsysteme in einem komplexen System. Dies sollte aber weder verwundern noch verwirren, denn es ist hier ja die Rede von der menschlichen Psyche, ihrer Reifung, ihrer Entgleisung in Pathologien und deren Behandlung. Und von ihr, der Psyche, sowie von dem ihr innewohnenden Geschehen wissen wir mittlerweile, wenn auch nur in ersten Anfängen, dass sie am ehesten als ein komplexes System zu begreifen ist, zu dem eine Vielzahl von Subsystemen gehört. Dieses System nennen wir das Selbst.

Anschließend werden die neuen Theoriegrundlagen zum Selbst und der Reifung seiner Struktur mit der klinisch-praktischen Situation in Verbindung gebracht. Hier wird ein neues Konzept der Zentrierung der tiefenpsychologischen Psychotherapie auf den zentralen unbewussten Konflikt vorgestellt und in Verbindung gebracht mit Störungen der Struktur des Selbst. Abschließend werden im Kapitel »Was wirkt in der tiefenpsychologischen Psychotherapie« die behandlungstechnischen Implikationen der neuen Theorien dargestellt. Darin finden sich wesentliche Konzepte der psychoanalytischen Selbstpsychologie wieder.

Der Leser sollte zur Konzeption und zum Gebrauch dieses Buches vorab wissen, dass es die verschiedenen Ebenen der Reflektion (z.B. Entwicklungspsychologie, verschiedene Theorien zur Genese von psychischer Krankheit, die Metatheorie des individuellen Falles, Theorien der Behandlungstechnik und vor allem seine Gegenübertragung), die der Psychotherapeut bei seiner Arbeit im Kopf behalten muss, als rote Gedankenfäden Kapitel für Kapitel verdeutlichen soll, sie vor allem aber vernetzen will. Um dem Leser diese gedankliche Vernetzungsarbeit zu erleichtern, sind alle Absätze mit Zahlen versehen. Sie sollen es Ihnen, verehrte Leser, ermöglichen, die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Reflektionsebenen zu erfassen. Wenn Sie während der Lektüre den in den Text eingefügten Hinweisen folgen, so können Sie rasch die miteinander vernetzten Themen im Buch aufsuchen. In Klammern geschriebene Zahlen zeigen Ihnen an, in welchem Kapitel und in welchem Absatz Sie Textstellen finden können, die in den jeweiligen Zusammenhang einführen oder ihn vertiefen; hin und wieder wird auch auf die jeweils vertiefenden Kapitel oder Unterkapitel verwiesen. Der Sinn dieser Vorgehensweise wird sich Ihnen zunehmend erschließen, wenn Sie bei fortgeschrittener Lektüre die Komplexität der hier skizzierten Vernetzung entdecken und das Bedürfnis verspüren, das eine oder andere Detail noch einmal nachzulesen. Was dabei miteinander vernetzt wird, sind die Sichtweisen verschiedener Theorieansätze, die einander nach meiner Auffassung ergänzen und zu einem Gesamtverständnis integriert werden können.

Im Glossar am Ende des Buches wird dem Leser eine weitere Hilfe zum Verständnis des Textes zur Verfügung gestellt. Darin sind die wesentlichen in diesem Buch verwendeten Begriffe in knapper Form erklärt und durch Hinweise mit anderen Begriffen so vernetzt, dass hier rasch Sinnzusammenhänge geknüpft werden können. Diese Vorgehensweise wurde gewählt, um gerade auch dem lernenden Psychotherapeuten, der beginnt, sich in die Materie einzuarbeiten, eine Orientierung in der komplexen Theorienvielfalt, auf die hier Bezug genommen wird, zu ermöglichen.

Autor und Verlag verknüpfen mit der Einführung der Absatznummerierung, des beschriebenen Verweissystems, des Glossars und mit der Darstellung zahlreicher Übersichtstabellen die Hoffnung, dass das Buch Psychotherapeuten als Handbuch und Nachschlagewerk dienen kann. Und sie hoffen, dass die synthetisierende Perspektive darin es ermöglicht, die komplexen und vielfältigen Ebenen der Reflektion, die bei der psychotherapeutischen Arbeit zu beachten sind, zu einem kohärenten Zusammenhang zu integrieren. Inhaltliches Ziel der Integrationsarbeit dieses Buches ist es, deutlich werden zu lassen, wie die neuen Theorien der jüngeren Vergangenheit sinnvoll und hilfreich in die klinische Arbeit des Therapeuten einbezogen werden können.

Psychotherapie ist in den gesellschaftspolitischen und wissenschaftlichen Rahmen eingebunden, in dem sie stattfindet. Wenn ich mich in diesem Buch vor allem auf die Arbeit in der tiefenpsychologischen Psychotherapie als einer Form der zeitlich begrenzten psychoanalytischen Behandlung konzentriere, so geschieht das vor dem Hintergund des aktuellen politischen Wandels der sozialen Systeme. Die weltweite Krise der Ökonomie hat in den meisten westlichen Industrienationen zu einer qualitativen und quantitativen Änderung der Angebotspalette der sozialen Versorgung geführt. Diese Entwicklung macht auch vor der Psychotherapie nicht halt. Beispielsweise werden gegenwärtig in Deutschland diagnosenbezogene Therapiekonzepte entwickelt, die Psychotherapeuten und Patienten enge Rahmenbedingungen für ihre gemeinsame Arbeit auferlegen. Diese Entwicklung muss kritisch beobachtet werden, besonders wenn sie dazu führt, dass künftige Psychotherapiekonzepte vorwiegend symptomatische Änderungen zum Ziel haben und psychodynamische Gesichtspunkte für den therapeutischen Prozess eine nachgeordnete Rolle spielen. Solche Veränderungen der Rahmenbedingungen erfordern eine Diskussion über zeitlich begrenzte Psychotherapien, ihre theoretischen Grundlagen, ihre verändernd wirksamen Faktoren, Fragen der Behandlungsdauer u.v.a.m. Für diese Diskussion sind hier vielfältige Argumente zu finden.

In Deutschland gibt es bereits seit langem Erfahrung mit zeitlich begrenzter Psychotherapie, die den sozialökonomischen Bedingungen Rechnung trägt. Sie ist im Regelwerk der gesetzlichen Krankenkassen als »tiefenpsychologische Psychotherapie« konzipiert und wird als Sonderform der psychoanalytischen Behandlung verstanden. Diese Therapieform ist durch formale Regularien (Rüger, Dahm, Kalinke, 2005: Kommentar Psychotherapie-Richtlinien) strikt definiert. Aber sowohl die Theorie als auch die Behandlungstechnik der tiefenpsychologischen Psychotherapie ist bislang recht wenig im Detail beschrieben worden, obwohl die Methode seit 1967 eingeführt ist. In den vergangenen 10 Jahren wurde sie wissenschaftlich umfassender dargestellt (z.B. Ahrens u. Schneider, 1997; Heigl-Evers et al., 1997; Hohage, 1997; Reimer u. Rüger, 2003; Wöller und Kruse, 2001) und weiter entwickelt (z.B. Rudolf, 2004). Ich bin der Meinung, dass Psychotherapeuten eine hohe Verantwortung tragen, daran mitzuwirken, dass ihre Arbeit so effektiv wie eben möglich erfolgt, aber auch dafür zu sorgen, dass Psychotherapie im Rahmen des Regelwerks der Sozialversicherungen bestehen bleibt. Sie darf nicht zu einer inflationistisch angewandten Massenbehandlung für alle möglichen psychischen Probleme werden, sondern muss eine Maßnahme zur Behandlung von Krankheit bleiben, gerade um ihre Existenz in diesem Versorgungssystem zu sichern. Andernfalls würden vor allem die Schwachen unter den Betroffenen, unseren Patienten, die Leidtragenden sein.

Viele Psychotherapeuten sind mit der Konzeption der tiefenpsychologischen Psychotherapie bislang unzufrieden. Zu diesem Behandlungskonzept gehört eine zeitliche Begrenzung auf maximal 100 Sitzungen, in der Regel einmal pro Woche; ihm liegt als zentrale theoretische Annahme die Vorstellung zugrunde, dass psychogene Erkrankungen durch einen umschriebenen unbewussten Konflikt oder eine strukturelle Störung des Selbst verursacht werden. Aus dieser Annahme wird gefolgert, dass eine tief greifende Bearbeitung dieses unbewussten Konfliktes oder der strukturellen Störung eine Besserung oder Heilung der Erkrankung bewirke. Tatsächlich lässt sich dies durch geeignete Studien belegen (Leuzinger-Bohleber et al., 2001; Ermann u.a., 2001). Niedergelassene Psychotherapeuten klagen aber häufig über einen Mangel an Literatur, die ihnen ein Verständnismodell dafür an die Hand gibt, wie sie die durch die Psychotherapie-Richtlinien geforderte Beschränkung der Behandlung auf »Teilziele« (Rüger, Dahm, Kalinke, 2005, S. 38) erreichen können. Diesem Bedürfnis versuche ich im zweiten Teil des Buches Rechnung zu tragen.

Ich wende mich zwei Themen des tiefenpsychologischen Behandlungskonzeptes zu: (1) Ob und wie sich die neuen Theorien in das bestehende Gebäude psychoanalytischer Behandlungskonzepte einfügen lassen sowie (2) ob und wie unsere Patienten mit Hilfe dieser neuen Theorien metapsychologisch zu verstehen sind, anders oder gar besser als mit den bisherigen Verständnismodellen. Bei diesen Themen folge ich der Vorstellung, dass jeder Therapeut während der konkreten psychotherapeutischen Arbeit im Hintergrund dessen, wie der Patient emotional zu »begreifen« ist, ein metapsychologisches»Verstehen« benötigt, das auf wissenschaftlich anerkannten Theorien gründet. Mit seinem ständigen Ringen um Begreifen und Verstehen steht der Therapeut gleichzeitig immer in konfliktreicher Spannung mit den Realitäten des gesundheitspolitischen Versorgungssystems; zwischen diesen Polen emotionalen Begreifens, metapsychologischen Verstehens und sozialpolitischer Realität begrenzter Behandlungskontingente muss er einen Kompromiss finden, der ihm eine hohe kreative Leistung abverlangt. Die banale Realität, welche ihm diese Leistung abverlangt, besteht darin, dass er die tiefenpsychologische Behandlung in maximal 100 Behandlungsstunden erledigen muss.

Die bislang veröffentlichten Grundlagentheorien und behandlungstechnischen Vorschläge zur tiefenpsychologischen Psychotherapie basieren weitgehend auf den Annahmen der Psychoanalyse, besonders denen der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie. Allerdings stellt heute weder die Psychoanalyse noch die Objektbeziehungstheorie ein einheitliches Theoriegebäude dar. Vielmehr sind wir hier mit einer Theorienvielfalt (Ermann, 1999; Thomä, 1999) konfrontiert, die den Therapeuten neben der sozialpolitischen Realität vor eine zweite Herausforderung stellt, nämlich die, in dieser Vielfalt wissenschaftlicher Theorien und psychotherapeutischer Methoden seine eigene Position zu bestimmen. Allerdings gibt es einen weitgehenden Konsens für Grundannahmen des psychoanalytischen Verstehens und der Arbeit damit. Das erleichtert dem Therapeuten die Orientierung.

Zu diesem Konsens gehören die Konzepte des psychodynamisch wirksamen Unbewussten, der unbewussten Fantasien, der Wirksamkeit von Abwehr als einer Funktion innerhalb der Struktur der Psyche und das Konzept der Wirksamkeit von Repräsentanzen, die Beziehungserfahrung als unbewusste innere Abbilder organisieren. Weiter besteht Übereinkunft darin, dass der psychoanalytisch denkende Therapeut der Arbeit mit der Beziehung in der therapeutischen Begegnung besondere Bedeutung zumisst und dass Übertragung als ein sich unbewusst wiederholendes Beziehungserleben im therapeutischen Prozess eine herausragende Rolle spielt. Schließlich sind sich analytisch orientierte Therapeuten darin einig, dass die therapeutische Arbeit im verbalen Dialog stattfindet, wodurch alles Erleben im Verlauf der Psychotherapie bzw. Psychoanalyse erst Bedeutung erlangt. Sicher besteht mittlerweile auch darin Einigkeit, dass im Prozess der analytischen Psychotherapie Veränderung nur entstehen kann, wenn es gelingt, während der therapeutischen Sitzungen das emotionale Erleben des Patienten zu mobilisieren und in den Mittelpunkt der Arbeit zu stellen. Diesem Konsens wird mit diesem Buch uneingeschränkt zugestimmt, aber es soll Wesentliches hinzugefügt werden.

In diesem Sinne stelle ich Grundlagentheorien und behandlungstechnische Ansätze vor, die bislang noch nicht zum common sense der Psychoanalyse und tiefenpsychologischen Psychotherapie gehören, wohl aber die Fachdiskussion inzwischen zunehmend bestimmen. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei nochmal betont, dass die im Folgenden vorgestellten Konzepte in den oben skizzierten Konsens der psychoanalytisch-therapeutischen Denk- und Arbeitsweise integriert werden sollen.

1. KapitelZum Verständnis der Theorie des Selbst und seiner Reifungsprozesse

1

Im Zentrum der klassischen psychoanalytischen Theorie und ihrer Behandlungstechnik steht die Triebtheorie Sigmund Freuds und mit ihr eine Konzeption der dreigeteilten Struktur der Psyche, die geprägt ist von der Annahme, dass Triebe die primäre unbewusste Antriebsquelle des Menschen seien. Damit verbunden ist eine Theorie des Unbewussten mit dem Es als zentraler Quelle für Erleben und Antrieb. Nach dieser Theorie sichert die überwiegend unbewusste Abwehr das Ich vor einer Überflutung durch die triebhaften Inhalte aus dem Es. Heute gehören die Konzepte der primären, dualen Triebhaftigkeit und der dreigeteilten psychischen Struktur (Ich – Es – Überich) zu den umstrittenen Diskussionsthemen der Psychoanalyse (z.B. Denecke, 1999; Emde, 1991; Fonagy, 2003; Gedo, 1996; Lichtenberg et al., 2000). Ferner wird heute kritisiert, dass Freuds Vorstellungen von der Entstehung der Psychoneurosen und der narzisstischen Neurose die Konzeption einer vorwiegend monadisch gedachten psychischen Entwicklung innewohnt. Darin wird, so die Kritik, die Entwicklung der intrapsychischen Struktur des Kindes als weitgehend unabhängig von der Begleitung durch Pflegepersonen gedacht. Michael Balint nannte diese »orthodoxe Sichtweise eine ›one-body-psychology‹« (Mertens, 2000, S. 92).

2

Im Laufe der Wissenschaftsgeschichte der Psychoanalyse hat es allerdings schon früh andere als diese »one-body«-Sichtweisen gegeben: So gilt Sándor Ferenci heute als Vorläufer der Objektbeziehungstheoretiker, die sich in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zunehmend mit dem Einfluss der Pflegepersonen auf die Entwicklung des Kleinkindes befassten. Später ging sein Schüler Michael Balint »im Gegensatz zu Freud … nicht von einem primären Narzissmus des Säuglings aus, sondern er postulierte, beeinflusst von Ferenci, … eine primäre Liebe, bei der nicht nur das Kind geliebt werden will, sondern auch auf seine kindliche Weise lieben will. … Kommt diese primäre Liebe nicht zustande, so entsteht … eine Grundstörung, die bei jeder schweren psychischen und psychosomatischen Erkrankung anzutreffen sei« (Mertens, 2000, S. 83). Heute stellt das Konzept der Objektbeziehungen »einen geradezu paradigmatischen Bestandteil der Theorie« (ebd., S. 92) der Psychoanalyse und Psychotherapie dar1.

3

Die zunehmende Beschäftigung der Psychoanalytiker und Psychotherapeuten mit der Bedeutung der Beziehung zwischen aufwachsenden Kindern und ihren Pflegepersonen führte zu einer Schwerpunktverlagerung der Aufmerksamkeit. Mehr und mehr geriet nun ins Blickfeld, wie die subjektive interpersonelle Erfahrung der frühen Kindheit die Entwicklung der psychischen Struktur und die Funktionsfähigkeit des Individuums beeinflusst. Der Begriff »Selbst« wurde vermehrt reflektiert und damit angedeutet, dass die intrapsychische Struktur vorstellungsmäßig anders denn als dreiteilig gedacht werden muss (Jacobson, 1973). Auch die systematische Beobachtung von Säuglingen und ihrer Entwicklung begann bereits in der Mitte des 20. Jahrhunderts, etwa mit den Arbeiten von Renè Spitz (1967, 2000) oder M. Mahler (1979). Damit eröffnete sich die Möglichkeit, die so genannten frühen Störungen2 besser, d.h. differenzierter, zu verstehen. Mittlerweile hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass Borderline-Persönlichkeiten, Psychosomatosen, Essstörungen und alle Arten von narzisstischen Störungen mit erfahrungsnah beschreibenden und entwicklungspsychologisch geprägten Theorien zu begreifen sind, die das Geschehen in der Mutter-Kind-Dyade vom ersten Lebenstag an genau und differenziert erfassen und beschreiben, wie sich die Erfahrungen in den primären Beziehungen in intrapsychische Struktur umwandeln. Ich werde eine zeitgenössische Sicht der Theorien über die Entwicklung der psychischen Struktur im frühen Lebensalter darstellen und aufzeigen, dass die Reifungsentwicklung des kindlichen Selbst auf den kontinuierlichen Austausch mit der Mutter angewiesen ist und welche große Bedeutung dabei die sichere Bindung zwischen beiden hat.

4

Die Entwicklung des Säuglings (Kap. 4) ist geprägt durch die non-verbale Kommunikation mit seinen Pflegepersonen. Solange Sprache im Leben des Kleinkindes noch keinen sinnvollen Informationsgehalt transportieren kann, verständigen sich Mutter und Kind handlungsdialogisch. Ihre Kommunikation verläuft dabei multimodal, d.h. über verschiedene Ausdrucks- und Wahrnehmungswege. Bei der Wahrnehmung spielen die Qualitäten des Sehens, Riechens, Hörens und propriozeptive Qualitäten (Tasten und Körperwahrnehmung) die entscheidende Rolle. Aktive Ausdrucksmittel bilden die Mimik, die Körperhaltung und -bewegung und dabei vor allem die Kontaktaufnahme mit den Augen sowie die Kopfzu- oder -abwendung. Jede Form von vokaler Zuwendung (Lautstärke, Sprachmelodie, Rhythmus) stellt von Anfang an Vorläufer auf dem Weg zum Spracherwerb dar; aber auch vokale Kommunikation ist so lange Handlungsdialog, wie noch kein verbaler Dialog erfolgt. Von entscheidender Bedeutung für das Gelingen des Handlungsdialogs ist die Gestaltung des Wechselspiels beider Beteiligter, vor allem das Gelingen des Wechsels zwischen »Hören« und »Sprechen«, wozu spezifische »Schaltpausen« gehören.

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Die Kommunikation zwischen dem Kind und seinen wichtigen Pflegepersonen transportiert vor allem Affekte, deren Ausmaß an Erregung sowie intentionale Inhalte, die als erster Ausdruck von unbewusstem Erleben und motivationalem Wollen des Kindes gesehen werden können. Vom Gelingen der Kommunikation dieser Inhalte ist abhängig, ob sich das Kind verstanden fühlt. Wichtiger aber ist zunächst, dass das Kind diese kommunikative Erfahrung macht, denn diese Erfahrung wird durch ihre stete Wiederholung zu einem Muster. Die Vielzahl von Erfahrungsmustern während des Säuglingslebens summieren sich. All diesen Erfahrungen ist gemeinsam, dass sie in Beziehung mit den frühen Beziehungspersonen (in der Regel sind dies Vater und Mutter) gemacht werden. Der Erfahrungsschatz, den Säuglinge auf diese Weise im ersten Lebensjahr ansammeln, wird als implizites Beziehungswissen (Lyons-Ruth, 1998) bezeichnet (Kap. 6) und bildet in Übereinstimmung mit den Ergebnissen der Neuropsychologie einen Teil des Inhalts vom implizit-prozeduralen Gedächtnis (Schüßler, 2002). Dies stellt eine zentrale Basis unbewussten Wissens dar.

6

Indem Unbewusstheit in dieser Weise verstanden werden kann, wird jedoch zugleich deutlich, dass Unbewusstes von nun an theoretisch in neuer Weise konzipiert werden muss. Das Unbewusste Sigmund Freuds besteht aus angeborenen Inhalten des Es und dem Verdrängungsunbewussten, welches aufgrund von Abwehrvorgängen sekundär entsteht. Bei den Inhalten des implizit-prozeduralen Gedächtnisses haben wir es dagegen mit einer Konzeption zu tun, derzufolge Unbewusstheit unmittelbar aufgrund von interpersonaler Erfahrung entsteht. Aus dieser Konzeption des impliziten Beziehungswissens lassen sich Modifikationen der Behandlungstechnik ableiten, welche es erlauben, den Prozess der Psychotherapie spezifischer an die Art der Störung des Patienten anzupassen.

7

Die Wechselseitigkeit der Mutter-Kind-Begegnungen lässt Muster der Bindung entstehen, die in der Literatur der Bindungsforschung ausführlich dargestellt werden (Kap. 3). Die Erfahrung des Kindes mit der Mutter schlägt sich bereits im ersten Lebensjahr in Form präverbaler Repräsentanzen nieder. Im gelingenden Fall entwickelt das Kind eine sichere Bindung an die Mutter. Das ist der Fall, wenn die Mutter in einer feinfühligen Weise auf das Kind eingestellt ist und es ihr in überwiegendem Ausmaß gelingt, das Kind empathisch zutreffend zu erfassen. Wenn jedoch im bewussten Vordergrund von Erleben und Verhalten eine andere Emotionalität empfunden wird als im unbewussten Hintergrund, so kann die Pflegeperson auch als Quelle von Gefahr erlebt werden. Aufgrund solcher Erfahrungen bilden sich Bindungsmuster (ambivalent-vermeidend, unsicher-vermeidend, desorganisiert) heraus, die später am Patienten klinisch erkennbar sind. Die Bindungstheorie (z.B. Brisch, 1999; Fonagy, 2003) hebt das Bedürfnis nach sicherer Bindung als eigenständige Motivation von herausragender Intensität hervor. Nach Fonagy (Fonagy et al., 2004) reifen die kognitiven Fähigkeiten des Kindes in Abhängigkeit von der Qualität der primären Bindung schrittweise. Sie durchlaufen verschiedene Stufen der ›Mentalisierung‹ (Kap. 5); ein Scheitern dieser Entwicklung führt zu Pathologien des Selbst wie beispielsweise der Borderline-Störung. Andere Forscher (z.B. Beebe und Lachmann, 2002; Jaffe, Beebe et al., 2001) bestätigen diese Zusammenhänge. Insgesamt wird in bislang ungewöhnlicher Klarheit deutlich, welch eindeutige Verbindung besteht zwischen sicherer Bindung im Säuglingsalter und gelingender Reifungsentwicklung des Selbst. Diese Entdeckung hat Einfluss auf die Gestaltung der therapeutischen Beziehung (Kap. 12).

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Zu den ersten kommunikativen Erfahrungen des Kindes gehört, ob und wie die Mutter auf seine Affekte und seine aktiven Bedürfnisse, mit der Umwelt in Kontakt zu treten, reagiert. Dazu muss das Kind neben den angeborenen Affekten über ein motivationales Bedürfnissystem verfügen, welches seine Aktivität in Gang setzt. Joseph Lichtenberg (1991b; Lichtenberg, Lachmann, Fosshage, 2000) geht in seiner Theorie der funktional-motivationalen Systeme (Kap. 7) im Unterschied zu Freud in seiner dualen Triebtheorie davon aus, dass sich die unbewusste Motivation des Selbst aus fünf Systemen herleitet: (1) dem Bedürfnis3 nach physiologischer Regulation, (2) dem Bedürfnis, aversiv oder mit Rückzug zu reagieren, (3) dem Bedürfnis nach Selbstbehauptung und Exploration, (4) dem Bedürfnis nach Bindung sowie (5) dem Bedürfnis nach sinnlicher, erotischer und sexueller Erregung und deren Befriedigung. Die Integration dieser motivationalen Systeme in das Selbst bedarf eines mehrjährigen Prozesses der Reifung.

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Die Literatur der psychoanalytischen Säuglingsforschung (Beebe und Lachmann, 1988, 2002; Dornes, 1993a, 2000; Lichtenberg, 1991a; Stern, 1979, 1992) beschreibt detailliert Vorstellungen über den Reifungsprozess, d.h. die Entwicklung, Entfaltung und Integration der Gefühle, Affekte und motivationalen Absichten des Kindes in sein entstehendes »Selbst«, d.h. in die psychische Struktur des Kindes (Kap. 4). Die Säuglingsforschung hebt die Bedeutung der Pflegeperson (in der Regel der Mutter) als Vermittlerin wesentlicher Entwicklungsleistungen des Kindes besonders hervor. Dabei sind Prozesse von Wechselseitigkeit und Kommunikation in der Mutter-Kind-Dyade von herausragender Wichtigkeit. Sie lassen das Paar als ein System verständlich werden. Der durch Affekt und Handlung geprägten primärprozesshaftenKommunikation dieses Paares im ersten Lebensjahr folgt die von Emotionen und Worten geleitete, symbolisierte Kommunikation, die am Ausgang des ersten zum zweiten Lebensjahr ihren Anfang nimmt. Ge- und Misslingen der präverbalen Kommunikationsweisen wirken bei der Entwicklung und Ausformung der Kommunikation durch Symbolbildung (verbale Sprache) entscheidend mit. Die jüngsten Ergebnisse der Entwicklungsforschung zeigen die Prozesshaftigkeit der psychischen Reifung des Selbst auf und stellen das »Wie« des interaktionellen Geschehens besonders heraus, nämlich wie sich die Beziehung zwischen Kind und Pflegeperson vollzieht, im gelingenden ebenso wie im misslingenden Fall. Diese Zusammenhänge finden ihren Niederschlag in den Repräsentanzen des Kindes, die in ihrer Gesamtheit zum zentralen strukturellen Inhalt des Selbst gehören. Präverbale Repräsentanzen stellen bereits im ersten Lebensjahr die mentale Speicherung der interaktionellen Erfahrungen des Selbst mit dem Anderen in einer generalisierten Form dar (Stern, 1992). Nach diesem Verständnis enthält die präverbale Repräsentanz stets den Kontext von Erfahrung im dyadischen System. Mit Erfahrungskontext wird sowohl beschrieben, was die Inhalte prägt, z.B. Handlungs- und Gefühlserfahrung, als auch wie die Erfahrung beider miteinander erfolgte. Damit kann man in letzter Konsequenz formulieren, dass es ein isoliertes Selbst nicht gibt. Denn die Erfahrungsdimension mit dem Anderen, also das Beziehungssystem, innerhalb dessen die Repräsentation der Erfahrung entstand, ist stets im Unbewussten präsent. Das Selbst ist somit eine komplexe, von Anfang an dyadisch entstehende Struktur. Dieser Zusammenhang erfordert es, dass die Diagnostik des Selbst und seiner Struktur stets im Kontext seiner Reifung in Beziehung mit den Pflegepersonen zu untersuchen und zu reflektieren ist.

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Die kognitive Entwicklungspsychologie hat in der jüngsten Vergangenheit detailliert beschrieben, wie das Kind die Fähigkeit erwirbt, sich seines emotionalen Erlebens bewusst zu werden. Es sind vor allem die Arbeiten des englischen Psychoanalytikers Peter Fonagy und seiner Mitarbeiter (2002, 2003, 2004) sowie die des ungarischen Entwicklungspsychologen György Gergely (2002, 2004), in denen beschrieben wird, dass das Kind in der Art eines psychosozialen Biofeedbacks durch mütterliche Affektspiegelung in einem langjährigen Prozess die Fähigkeit entwickelt, die eigenen Affekte wahrzunehmen, zu symbolisieren und zu regulieren (Kap. 4.2). Dabei erwirbt das Kind weit mehr, als zunächst erwartet werden darf. Denn es begreift durch diesen Prozess der Affektspiegelung nicht nur seine Gefühlswelt und deren Differenzierung, sondern es bringt darüber hinaus auch in Erfahrung, wie die Mutter Gefühle intrapsychisch verarbeitet. Gerade dieser Erwerb der mütterlichen Funktionen, die ihr beispielsweise ermöglichen, von ihren Gefühlen nicht überflutet zu werden oder sie nicht augenblicklich in einen Handlungsimpuls einmünden zu lassen, trägt ganz zentral dazu bei, dass das Kind Affektkompetenz entwickelt.

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Den genannten Autoren, Fonagy, Gergely und Mitarbeitern, verdanken wir ferner die ausführliche Beschreibung eines weiteren Konzeptes der Entwicklungspsychologie. Sie haben (1998, 2001, 2004) beschrieben, wie das Kind die Fähigkeit zur »Mentalisierung« entwickelt. Mentalisierung (Kap. 5) ist mehr als Denkvermögen und etwas anderes als Symbolisierung, denn damit ist die komplexe mentale Leistung gemeint, die darin besteht, in sich eine differenzierte Vorstellung davon zu entwickeln, dass der Mensch in sich eine gänzlich individuelle, subjektive »psychische Realität« trägt, das Kind ebenso wie die Eltern, dass keine individuelle innere Welt wie die Andere ist und dass sie an Gefühlserleben gebunden ist. Die Autoren beschreiben, dass die Fähigkeit reifer Mentalisierung aus Vorstufen hervorgeht, für deren Überwindung das Kind die Begleitung feinfühlig eingestimmter Eltern braucht, die in der Lage sind, die anfangs noch unreife Mentalisierung des Kindes ähnlich spiegelnd zu beantworten, wie dies auch für das Gelingen der Affektentwicklung notwendig ist. Das Scheitern dieses Reifungsprozesses hat gravierende Folgen für das kindliche Selbst (Kap. 10).

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Die Fähigkeit des Individuums, zum eigenen Selbst (d.h. zur ›Welt der inneren Erfahrungsbilder‹, den Repräsentanzen) in eine innere Beziehung treten zu können, sowie die Fähigkeit zur Reflektion der Vorgänge im eigenen Selbst (Gedanken, Gefühle, Fantasien und Handlungsimpulse) werden heute mit dem Begriff »Narzissmus« (Altmeyer, 2000) verknüpft (Kap. 9.2). Versteht man Narzissmus als die Fähigkeit der reflektiven Beziehung zum eigenen Selbst, so beinhaltet ein auf diese Weise konzipierter Narzissmus auch die Bedingungen, unter denen das Selbst entstand, nämlich die Qualität der prägenden Beziehungen mit den Pflegepersonen, mit denen das kindliche Selbst reifte. Oder anders ausgedrückt: Die Fähigkeit der reflektiven Beziehung zum Selbst entwickelt sich in Abhängigkeit davon, wie gut es den Pflegepersonen gelingt, dem Kind ein ›metabolisierender‹ Spiegel seines Selbst zu sein. Die Spiegel-Metapher wird leicht missverstanden. Mit ihr ist gemeint, dass es die Aufgabe der Pflegeperson ist, dem Kind seine Innenwelt zu spiegeln, allerdings nicht einfach eins-zu-eins, sondern die Spiegelung gemeinsam mit einer eigenen emotionalen Reaktion zur Verfügung zu stellen. Dies tut eine Mutter beispielsweise, wenn sie ihrem heftig weinenden Kind nicht nur Empathie und Trost anbietet, sondern zusätzlich Überraschung zum Ausdruck bringt, weil sie vielleicht die Heftigkeit des kindlichen Weinens für unangemessen hält. Die Überraschung stellt in diesem Beispiel die Metabolisierung der Mutter dar und signalisiert dem Kind mehr als empathisches Verständnis. Vorausgesetzt, die Mutter stellt regelmäßig eine metabolisierte Reaktion zur Verfügung, so ist es diese Beifügung, die es dem Kind schrittweise ermöglicht, seinen Zustand zu reflektieren, infrage zu stellen und ggf. zu korrigieren.

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Die skizzierten Themen und Inhalte der Säuglingsforschung, Bindungstheorie, Motivationslehre und Entwicklungspsychologie lassen einige zentrale theoretische Konzepte erkennen, die für das Verständnis der psychischen Reifungsentwicklung des Selbst wichtig sind. Sie können das bisherige Denkgebäude der Psychoanalyse und der von ihr abgeleiteten tiefenpsychologischen Psychotherapie sinnvoll ergänzen:

Das

Selbst

bildet die zentrale Struktur der Psyche, welche Freud den ›psychischen Apparat‹ nannte. Es ist das differenziert strukturierte Funktionszentrum des Subjekts und hat die Binnenstruktur eines komplexen Systems.

Bindung

stellt ein zentrales motivationales Bedürfnis des Selbst dar. Sicherheit in der Bindung an die bedeutenden Pflegepersonen der Kindheit ist die entscheidende Voraussetzung für die gelingende Reifungsentwicklung des kindlichen Selbst.

Die Fähigkeit zur Wahrnehmung und zum Erleben von

Affekten

und von

motivationalem Antrieb

entwickelt sich in Abhängigkeit von der emotionalen Verfügbarkeit der Pflegepersonen und deren Vermögen, kommunikativ resonant zu reagieren.

Das Kind ist darauf angewiesen, dass die Mutter ihm bei der

Regulation der Erregung

seiner Affekte und Handlungsimpulse Orientierung gibt. Dasselbe gilt für alle körperlichen Bedürfnisse.

Das Kind sammelt bereits im ersten Lebensjahr in rasantem Tempo eine enorme Menge von Beziehungserfahrung, welche ihren Niederschlag in den präsymbolischen

Repräsentanzen

des Selbst findet. Der Inhalt dieser Repräsentanzen stellt als

implizites Beziehungswissen

einen zentralen Inhalt des Unbewussten dar.

Die Fähigkeit des Kindes zur differenzierten Kommunikation schreitet vom anfänglichen Handlungsdialog zur

Fähigkeit der Symbolisierung und Mentalisierung

voran. Dabei entsteht die Fähigkeit, bildhafte Fantasien, kognitive Abstraktionen und schließlich eine Vorstellung von psychischer Realität zu entwickeln.

Vom Ausmaß des Gelingens der symbolisierten Kommunikation mit den Pflegepersonen und deren spiegelndem Umgang mit den Fantasien des Kindes hängt es ab, ob

reflektive Fähigkeit

und speziell die Fähigkeit zur Selbstreflektion entstehen können.

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In diesen sieben Punkten fasse ich die Themen zusammen, welche die neuen Forschungsrichtungen als Theorien oder Konzepte an die Psychoanalyse und tiefenpsychologischen Psychotherapie herantragen. Sie beschreiben die Struktur des Selbst mit seinen motivationalen Bedürfnissen und psychischen Funktionen (wie beispielsweise Affektwahrnehmung, Regulation, Symbolisierung, Mentalisierung, Reflektion) sowie den Erwerb unbewussten Wissens (implizites Beziehungswissen) als Ergebnisse der psychischen Entwicklung des Kindes, das auf den permanenten Austausch in der Mutter-Kind-Dyade angewiesen ist, damit der Reifungsprozess gelingt. Diese Struktur des Selbst entsteht in ihren Grundzügen bereits im ersten Lebensjahr. Die Forschungsergebnisse sowie die Konsequenzen für das Verständnis des Selbst lassen sich recht gut in das bestehende Gedankengebäude der Psychoanalyse integrieren und bereichern das Verständnis des Patienten im Behandlungsverlauf ganz wesentlich.

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Die neuen Theorien verändern auch das Verständnis der Entwicklung von unbewussten Konflikten. Konflikte treten auf, wenn einzelne Strukturelemente des Selbst Bedürfnisse entstehen lassen, aufgrund derer das Individuum in unterschiedliche Richtungen strebt. Das Konzept vom unbewussten Konflikt wurde in der psychoanalytischen Ära der dreiteiligen Struktur der Psyche (Ich – Es – Überich) entwickelt. Gibt z.B. das Es dem Ich ein triebhaftes Bedürfnis zu fühlen, dem das Überich als Instanz des Gewissens nicht zustimmen kann, so befindet sich das Ich in einem Konflikt. Die Inhalte des Überich sind in objektpsychologischer Sicht an den Inhalt der Objektrepräsentanzen gebunden und stellen damit zu einem wesentlichen Teil das Ergebnis von Beziehungserfahrung dar. Seitdem wir aber davon ausgehen müssen, dass bereits der Säugling präverbale Repräsentanzen bildet, in denen Wesenszüge der Pflegeperson gespeichert sind, müssen wir annehmen, dass Konflikte in ihren tiefsten Wurzeln dyadisch geprägte Abbilder frühester Beziehungserfahrung sind, die als »implizites Beziehungswissen« (Lyons-Ruth, 1998) repräsentiert werden (Kap. 8.2). Die Auseinandersetzung mit der Reifung der Mentalisierungsfunktion legt ferner nahe, auch das weitere Schicksal solcherart gebildeter konflikthafter Interaktionsrepräsentanzen neu zu überdenken (Kap. 8.3 und 8.4). Die Reflektion des Konfliktkonzeptes ergibt, dass der Konflikt tief in der Struktur des Selbst in Gestalt unbewusster, präverbal-interaktioneller und symbolischer Repräsentanzen verankert ist.

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Die Überlegungen zum Verständnis der Theorie des Selbst und seiner Reifungsprozesse mündet schließlich in ein Modell der Struktur des Selbst ein, worin es als zweigeteilt verstanden wird. Die vielfältigen Funktionen des Selbst stehen dem Inhalt des Selbst zur Seite. Mit der Bezeichnung Inhalt wird die innere Welt der (Selbst- und Objekt-)Repräsentanzen erfasst, die wiederum sowohl die konstitutionellen Anlagen des Kindes als auch seine gesamte Beziehungserfahrung umfasst.

2. KapitelDas Selbst

»Wie jeder Analytiker weiß, sind unsere Schlussfolgerungen … nicht das Ergebnis unserer intellektuellen Fähigkeit, mittels geschickter Manipulation der zahllosen Einzeldaten … kohärente und sinnvolle Konfigurationen zu schaffen; sie sind vielmehr das Resultat unserer Fähigkeit, Schlussfolgerungen aufzuschieben, Schlussfolgerungen versuchsweise anzuwenden, die Reaktionen des Analysanden auf unsere (tastenden) Deutungen zu beobachten und eine möglichst große Vielzahl von Erklärungen zu erwägen. Wenn wir uns … an diese Regeln halten, beginnt die allgemeine Richtung des gesamten lebendigen analytischen Prozesses, beeinflusst durch unser … Verständnis … des Analysanden und unser Eingestimmtsein auf die entscheidenden Erfahrungen seines Lebens schließlich, uns eine verständliche Geschichte zu erzählen. … Der Fortschritt in der Wissenschaft (wird) mehr von unserer Bindung an altes Wissen behindert als von unserer Unfähigkeit, neues Wissen zu erwerben« (Kohut, 1987, S. 184f.).

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Kohut ermutigt dazu, dass wir uns ständig mit den widersprüchlichen Theoriemodellen der Psychoanalyse auseinander setzen, vor allem aber ermutigt er uns, dass wir uns in der klinischen Situation nie rasch mit nur einer denkbaren Hypothese des Verständnisses vom Patienten zufrieden geben.

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Gelingt es, sich dieser Aufforderung zu erinnern, so wird es auch leichter glücken, die subjektive Innenwelt der Patienten, d.h. ihr Selbsterleben, zu ergründen und vor dem Hintergrund unterschiedlicher, wenn nicht gegensätzlicher Theorien zu verstehen. Mit Kohuts Ermutigung im Hinterkopf wird es uns leichter fallen, unseren Patienten die vielfältigen und unbewussten Dimensionen ihres Erlebens verfügbar werden zu lassen. Ich betone die Vielfältigkeit des Erlebens, weil die klinische Erfahrung lehrt, dass Lebenserfahrung und subjektives Erleben nicht eindimensional verstanden werden können, sondern dass deren Ursachen und Kontexte meist mehrfach determiniert sind.

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Wenn ich mich den Reifungsprozessen und Konflikten des Selbst in der Kindheit zuwende, so werde ich in meiner theoretischen Bezugnahme immer wieder zwischen den Konzepten der Selbstpsychologie und denen der Objektbeziehungspsychologie wechseln. Das hat seinen Grund darin, dass ich im Sinne der Kohut’schen Ermutigung eine Integration der Inhalte dieser beiden Theorien als hilfreich erachte, wenn ich den Versuch unternehme, meine Patienten in der klinischen Situation zu begreifen und zu verstehen (siehe Einleitung). In Verbindung mit den im Folgenden dargestellten Theorien und Konzepten gelangt man zu einer Psychologie des Selbst, das im Zuge eines Reifungsprozesses, der vom Kind und seinen Pflegepersonen kontinuierlich gemeinsam ko-konstruiert (Beebe und Lachmann, 2002) wird, entsteht. Auf diese Weise entsteht ein psychologisches Verständnis des Menschen, das man im Grunde als eine Psychologie der Funktionen des Selbst und seiner inneren Objekte bezeichnen müsste. Fonagy et al. (2004) verstehen diesen Wandel im psychoanalytischen Verständnis der Entwicklung des Selbst als eine Verschiebung im Fokus der Aufmerksamkeit »von der Internalisierung des containenden Objekts auf die Internalisierung des denkenden Selbst, das im Inneren des containenden Objekts wahrgenommen wird« (S. 293).

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Ich folge mit diesem Buch also Kohuts Anregung und setze mich mit dem »Fortschritt der Wissenschaft« auseinander. Dazu führt dieses Kapitel in die Entwicklungspsychologie des Erlebens und der Organisation des Selbst unter dem speziellen Aspekt neuer Theorien ein und beschreibt deren Relevanz für die psychotherapeutische und psychoanalytische Arbeit. Die Erkenntnisse der Säuglingsforschung, der Bindungstheorie, der Entwicklungspsychologie und der Neurowissenschaften stellen den in psychoanalytischen Zusammenhängen denkenden Psychotherapeuten vor die Herausforderung zu prüfen, ob und wie das neue, auf reliablen Forschungsergebnissen basierende Wissen über die frühkindliche Entwicklung die Theorie- und Behandlungskonzepte beeinflussen kann, mit denen er arbeitet. Ziel des folgenden Abschnittes ist es aufzuzeigen, welche Ergebnisse der neuen Wissenschaften sich mit den bestehenden und bewährten Konzepten der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie und der Selbstpsychologie zu einem kohärenten Verständnis der Entwicklung des Selbst integrieren lassen. Dabei lasse ich mich von der Vorstellung leiten, dass erst eine detaillierte und genaue Kenntnis von der Entwicklung des Selbst den Therapeuten dazu befähigt, seinem Patienten in der klinischen Situation gerecht zu werden.

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Der Schwerpunkt meiner Darstellung bezieht sich auf die ersten Lebensjahre, weil der Fortschritt der Forschungsergebnisse, die ich darstellen möchte, besonders diesen Zeitraum betrifft. Es geht mir um die Integration der neuen Befunde in die bestehende Theorie der Selbst- und Objektbeziehungspsychologie. In der Darstellung dessen, was ich in diesem Sinne synthetisieren möchte, verwende ich häufig und bewusst den Stil des Zitats, um dem Leser unzweifelhaft erkennbar werden zu lassen, welche Inhalte aus welchen Quellen und damit aus welchen wissenschaftlichen Schulrichtungen kommen. Diese Art der Darstellung soll es ermöglichen, besser nachvollziehen zu können, wie ich zur Integration meiner Position gelange. Der Text führt in mehreren Kapiteln durch die verschiedenen Themen der Entwicklung des Selbst und mündet in einer abschließenden Synthese meiner Hauptgedanken über das Selbst, die unbewussten Hintergründe des Erlebens und dessen Pathologie.

2.1 Selbst: Ein Begriff mit wechselnder Bedeutung

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Der abstrakte Begriff »Selbst« wird in verschiedenen Bedeutungszusammenhängen verwendet. Er beschreibt einerseits das »Selbsterleben« als eine Dimension psychischer Erfahrung, d.h. eines Erlebens, die jeder Mensch nur subjektiv für sich allein haben kann. Andererseits bezeichnet der Begriff eine gedachte psychische Struktur. Sprechen wir in unserer Theoriesprache also vom Selbst oder vom Selbsterleben unserer Patienten, so versuchen wir eine Innenwelt in Worte zu bringen, die wir per abstrahierender Hypothesenbildung oder mittels Empathie erschließen. Ein solches Selbst und Selbsterleben gibt es allerdings weder als materielle Struktur der Psyche noch als einen statischen mentalen Zustand. Zwar sind wir Menschen aufgrund unserer Selbstbeobachtung geneigt anzunehmen, dass es in uns ein ›Ich‹ oder ein ›Selbst‹ geben muss. »Diese Selbstwahrnehmung täuscht aber gründlich« (Denecke, 1999, S. 29). »Es ist nicht ein ›Ich‹ oder ein ›Selbst‹ … (welches) … wir … für den Prozess der Strukturbildung heranziehen möchten. ›Ich‹4 oder ›Selbst‹ sind Konstrukte« (ebd., S. 35), die im Gehirn gebildet werden. Die spezifische Informationsverarbeitung im Gehirn durch Parallelverarbeitung von Reizen und Vernetzung von Subsystemen führt dazu, dass die Gesamtleistung des Gehirns psychische Phänomene entstehen lässt, die mit dem Konzept von ›Emergenz‹ verstanden werden können« (ebd., S. 119; auch Schüßler, 2002, S. 196). Eine zentrale Annahme der Emergenztheorie ist, dass »psychische Zustände, … Vorgänge und Prozesse … gegenüber solchen der zellulären Komponenten des Gehirns als emergent zu betrachten« sind (ebd., S. 119). In diesem Sinne sind Selbst und Selbsterleben als vorübergehende emergente, mentale Phänomene der neurophysiologischen und zellulären Hirnleistung anzusehen.

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Somit ist die Entwicklung des psychischen Phänomens ›Selbst‹, gleich unter welchem Theorieaspekt es beobachtet und verstanden wird, stets auch in diesem Zusammenhang zu sehen, nämlich als Phänomen der Hirnreifung und -wandlung mit ständig neu entstehenden neuronalen Verknüpfungen, die ständig neue Emergenzen entstehen lassen. Sprechen wir in diesem Verständnis von ›Selbst‹ und ›Selbstempfinden‹, so sollten wir uns stets dessen bewusst sein, dass wir damit ein komplexes gedankliches Konstrukt meinen, das vom Individuum erlebt und auch als relativ gleichbleibend erfahren werden kann, welches jedoch nur immateriell und inkonstant besteht, indem es immer von neuem mental aufgerufen, d.h. durch Bahnung von neuronalen Vernetzungen gebildet wird. Dies geschieht im Verlauf der Entwicklung und lebenslang, dabei zunehmend komplexer und differenzierter werdend. Psychotherapie führt in diesem Verständnis lediglich den Prozess der Entwicklung des Selbst fort, indem sie die Komplexität und Differenziertheit der mentalen Prozesse fördert.

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Ich verwende die Begriffe ›Selbst‹ und ›Selbsterleben‹ hier zur Benennung von zwei unterschiedlichen Phänomenen. Mit dem Begriff ›Selbst‹ erfasse ich das Gesamt der Binnenstruktur der psychischen Phänomenologie auf einer überindividuellen Ebene; Binnenstruktur (= Struktur des Selbst) verstehe ich als ein theoretisches Konstrukt, das nur immateriell besteht und als emergentes Phänomen ständig von neuem gebildet wird. Somit beschreibt der Begriff ›Selbst‹ einen Inhalt, wie er nur als theoretische und generalisierende Abstraktion der psychischen Phänomenologie existiert, welche subjektiv allerdings tatsächlich erlebbar ist. Dem ›Selbst‹ steht damit das ›Selbsterleben‹ gegenüber, welches als Begriff das subjektive und individuelle Erleben des psychischen Innenraumes einer Person beschreibt.

2.2 Zentrale Theoriekonzepte der Reifung des Selbst

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Die Selbstpsychologie, Säuglingsforschung, Bindungstheorie, Entwicklungspsychologie und die Motivationslehre stellen einige theoretische Konzepte für das Verständnis der psychischen Reifungsentwicklung, der Entwicklung des Selbst und des Selbsterlebens zur Verfügung, die so zentral sind, dass ich sie zunächst in knapper Form einführe.

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Das Selbst stellt das zentrale theoretische Konstrukt der Psyche dar, welches Freud (1900) als den ›psychischen Apparat‹ bezeichnete. Es enthält als qualitativen Inhalt innere Bilder von Beziehungserfahrungen, Repräsentanzen, die dem Selbst Struktur verleihen, indem sie in differenzierter Weise deren Affekte, Emotionen, Motivationen und Kognitionen enthalten. Das Selbst existiert nicht von Anfang an, sondern es entwickelt sich. Es entsteht ab dem ersten Lebenstag des Kindes (in ersten Spuren bereits intrauterin) unter den Bedingungen der Beziehung mit den wichtigsten Pflegepersonen. Diese Beziehung ist am besten mit dem Konzept eines Systems zu verstehen. Das Selbst kann als strukturiertes, komplexes Repräsentations- und Funktionszentrum des Subjektes gedacht werden, das sich lebenslang in Entwicklung befindet; es hat seinerseits die Binnenstruktur eines komplexen Systems.

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Bindung (Kap. 3) stellt das zentrale motivationale Bedürfnis des Selbst dar. Weil die Reifung des Selbst von der Erfahrung einer gelingenden Beziehung mit wichtigen anderen, in der Regel den Eltern, abhängig ist, ist die Sicherheit der Bindung an sie essenziell. In dem Umfang, wie die förderlichen Pflegepersonen in der Lage sind, emotional-intime, d.h. stimmig eingefühlte, Beziehungen zum Kind aufzunehmen, wird das Kind zunehmend befähigt, auch mit dem eigenen Selbst Intimität (Lichtenberg, 2002) zu entwickeln, d.h. mit seinen Emotionen, Affekten, Intentionen (Handlungsabsichten), Fantasien und Gedanken vertraut zu werden. Sicherheit der Bindung an die primären Pflegepersonen stellt die zentrale Voraussetzung dafür dar, dass die Reifungsentwicklung des kindlichen Selbst gelingen kann.

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Die Fähigkeit zur Wahrnehmung von Affekten (Kap. 4) und von motivationalem Antrieb (Kap. 7) entwickelt sich in Abhängigkeit von der emotionalen Verfügbarkeit der Pflegepersonen und ihrem Vermögen, kommunikativ resonant zu reagieren. Die differenzierte Integration der Vielfältigkeit von Affekten und Motivationen ins Selbst ist auf das Gelingen des wechselseitigen Austausches mit den Pflegepersonen über eben diese Affekte und Motivationen angewiesen. Emotionen und Affekte stehen häufig in einem unmittelbaren Zusammenhang mit Motivationen, indem Affekte Motivationen (zielgerichtete Absichten) bahnen. Dabei entstehen sekundäre Affekte, Emotionen und Motivationen, z.T. mit triebhafter Qualität.

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Während des kommunikativen Austausches über Affekte und motivationale Impulse verständigen sich Kind und Pflegeperson in aller Regel auch über deren Intensität. Das Kind ist darauf angewiesen, dass die Mutter ihm bei der Regulation der Erregung (Intensität) seiner Affekte und motivationalen Impulse hilfreich Orientierung gibt. Dasselbe gilt für die Befriedigung körperlicher Bedürfnisse.

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Das Kind sammelt im ersten Lebensjahr in rasantem Tempo eine enorme Menge von Beziehungserfahrung, welche ihren Niederschlag findet in den präsymbolischen Repräsentanzen des Selbst. Der Inhalt dieser Repräsentanzen (innere Bilder) stammt aus handlungssprachlichen Kontexten, ist also nicht verbal kodiert, bleibt unbewusst und stellt als implizites Beziehungswissen (Kap. 6) einen zentralen Inhalt des implizit-prozeduralen Gedächtnisses dar. Das Kind entwickelt dabei individuelle Muster des Seins in Beziehung, welche je nach Theorie unterschiedlich benannt werden, z.B. Abwehr (Psychoanalyse), innere Arbeitsmodelle (Bindungstheorie) bzw. Modi der Mentalisierung (Entwicklungspsychologie).

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Im Zuge der Entwicklung schreitet die Fähigkeit zur differenzierten Kommunikation in Abhängigkeit vom Angebot der Beziehungspersonen voran. Dabei entsteht die Fähigkeit zur Symbolisierung, d.h., mit ihr vollzieht sich der Erwerb der Wortsprache und die Fähigkeit zur bildhaften Vorstellung. Mit der Entwicklung des Sprachvermögens entsteht also zugleich die Fähigkeit, bildliche Fantasien und kognitive Abstraktionen zu entwickeln, d.h. die innere sowie die äußere Welt zu denken. Die Entwicklung dieser Fähigkeit zur »Mentalisierung« wird in Kap. 5 beschrieben.

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Vom Ausmaß des Gelingens der präsymbolischen (= präverbalen) und der symbolischen Kommunikation mit den Pflegepersonen sowie des Überganges von der einen zur anderen Kommunikationsform hängt die Entwicklung der Fähigkeit zur Reflektion ab, speziell die der Fähigkeit zur Selbstreflektion. Mit ihr im Zusammenhang steht die Entwicklung der Fähigkeiten zur Selbst(be)achtung, der Selbstsicherheit und des Empfindens von Selbstwert (Kap. 5 und 9). Die Reflektionsfähigkeit ermöglicht dem Kind ferner, schrittweise kognitive Repräsentanzen vom Selbst und den Anderen (= Objekte) zu entwickeln und damit eine innere »Landkarte« der psychischen Wirklichkeit seines Selbst und der Objekte zu entwerfen: Das Kind lernt sich und die Anderen in den psychischen Zusammenhängen zu denken, in denen gelebt und erlebt wird. So kann das Kind beispielsweise denken: Mama ist beunruhigt, weil Oma krank ist; Papa ist wütend, weil ihm jemand eine Beule in sein Auto gemacht hat. Der Gewinn, den das Kind von solchen Denkvorgängen hat, ist, dass es die Gefühlszustände der Eltern nicht länger als auf sich selbst bezogen fantasieren muss. Das Kind vermag die »psychische Realität« (Fonagy et al., 2004) in angemessenen Zusammenhängen zu erfassen.

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Mit diesen Themen (Selbst und System, Bindung, Wahrnehmung von Affekt und dessen Regulation, Integration von motivationalem Antrieb, Fähigkeit zur Mentalisierung, Symbolisierung und Selbstreflektion, Entwicklung von implizitem Beziehungswissen) fasse ich die Inhalte zusammen, welche die neuen Forschungsrichtungen als Theorien oder Konzepte an die Psychoanalyse und die analytisch orientierten Psychotherapien herantragen. Sie sind zu einem Teil neu und ergänzen zum anderen Teil bereits bestehende Konzepte der Psychotherapie und Psychoanalyse. Diese Themen beschreiben einerseits unbewusste Entwicklungsaufgaben des Kindes, andererseits Strukturen bzw. Strukturelemente des reifenden infantilen Selbst: (1) Das Selbst ist die übergreifende Gesamtstruktur, welche die Binnenstruktur eines Systems mit Repräsentanzen als Substrukturen besitzt; (2) Bindung stellt das zentrale motivationale Bedürfnis des Selbst dar, neben anderen (3) Motivationen als unbewusstem Antrieb; funktionale Fähigkeiten sichern dem Selbst seine Beziehung nach innen wie nach außen, so (4) die Affektwahrnehmung und -regulation sowie (5) die Fähigkeit zur Symbolisierung, Mentalisierung und Reflektion; (6) innere Arbeitsmodelle bzw. Abwehr stellen innere Grenzen des Selbst her gegenüber den Inhalten des Unbewussten wie (7) dem impliziten Beziehungswissen über Erfahrungen in der präverbalen Entwicklungszeit; Letzteres wird verstanden als eine Erweiterung des bisherigen Verständnisses der symbolischen Repräsentanzen.

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Das Selbst entsteht erst im Verlauf der psychischen Reifung, die als kontinuierliche Entwicklung in fortlaufenden Beziehungen zu Bedeutung gebenden Anderen, in der Regel den Eltern, verstanden werden kann. Entwicklung lässt nur im gelingenden Fall Reifung entstehen. Sie vollzieht sich als prozesshaftes Geschehen lebenslang. Misslingt der Entwicklungsprozess, so entstehen Störungen der Struktur des Selbst und unbewusste Konflikte (Kap. 8), die das Selbst lebenslang beeinträchtigen können. Ich beschäftige mich in diesem Buch nicht mit der Beschreibung von Krankheit (Nosologie), sondern lediglich mit der Entwicklung des Selbst und deren Störung.

2.3 Die Entwicklung des Selbstempfindens

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Stern (1992) hat für die Entwicklung des Kindes vier Formen des Selbstempfindens beschrieben, die – gleichsam als emergente Phänomene der Aktivität des Gehirns – im Kind als Zeichen von Reifungsschritten entstehen:

‖ Das auftauchende Selbst in den ersten Lebensmonaten ist geprägt durch die erkennbare und vor allem gezielte Aktivität des Säuglings (S. 63f.);

‖ zum Empfinden des Kernselbst, das ab dem siebten bis neunten Monat auftaucht, gehört vor allem die Entdeckung des Kindes, selbst Urheber seiner Handlungen zu sein (S. 106);