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Karen Hartig

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Beschreibung

Corinna hat ihr langweiliges Eheleben zwischen Haushalt und Hausaufgabenbetreuung gründlich satt. Um nicht ganz zu versauern, nimmt sie einen Job als Fotografin bei der örtlichen Tageszeitung an. Corinna genießt das Gefühl, endlich wieder eigenständig zu sein. Und dann ist da auch noch Rüdiger, der charmante Kollege vom Hörfunk … (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Karen Hartig

Reihenhaus-Blues

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Inhalt

Reihenhaus-Blues

Reihenhaus-Blues

»Liebe ist, wenn er zum Essen viel zu spät kommt, und du weißt, daß er entweder irgendwo lebensgefährlich verletzt am Straßenrand liegt oder ein Verhältnis hat, und du hoffst, daß er lebensgefährlich verletzt ist.«

Judith Viorst

–––––

Es gibt Tage, an denen das Leben mit einem macht, was es will. An solchen Tagen kocht man Kaffee und vergißt die Filtertüte. Man verliert seinen Ehering im Abfluß. Man bleibt mit dem letzten intakten Paar Seidenstrümpfen am Hamsterkäfig hängen. Oder die Zylinderkopfdichtung vom Familienwagen geht kaputt. Einfach so.

Solche Tage haben ihre eigene Gesetzmäßigkeit: Murphys Gesetz. Was schiefgehen kann, geht schief. Meistens auch noch in der unangenehmsten Reihenfolge.

An diesem kühlen Maimorgen nahm Murphy seine destruktive Tätigkeit schon frühzeitig auf. Gleich nach dem Frühstück, um genau zu sein. Als erstes traf es die altersschwache Waschmaschine, die beim Schleudern gerne laut brüllend durch den Keller wanderte, weil ich zum Überschreiten der zulässigen Höchstwäschemenge neigte. Wie alle Waschmaschinen hatte sie die Eigenart, bevorzugt freitags in den Generalstreik zu treten, und das wiederum am liebsten nach mehrwöchigen Urlaubsreisen, wenn kein Mensch mehr etwas Sauberes im Kleiderschrank hatte.

Heute jedoch war erst Mittwoch. Und der letzte Urlaub lag Monate zurück. Einen gezielten Racheakt für jahrelange Überfüllung und andere Lieblosigkeiten schloß ich aus, denn unsere Waschmaschine hatte zwar eine gewisse persönliche Note, aber kein nachtragendes Wesen.

Murphy war also wieder am Werk. Ganz eindeutig.

Ich verständigte eilends den Kundendienst und durchwühlte meine Schrankhälfte nach einem halbwegs sauberen Kleidungsstück, fand jedoch zu meinem Leidwesen nur noch die körperfern geschnittene Uraltjeans mit Knopfleiste und einem Ölfleck am linken Oberschenkel vor, die mein liebender Mann ›Beutelhose‹ nannte und die entfernt an einen Müllsack mit Nieten erinnerte. In jener Hose reduzierte ich meine Kontakte zur Außenwelt für gewöhnlich auf das absolute Minimum.

Sodann klingelte das Telefon. Um diese Uhrzeit war das meistens meine Busenfreundin Andrea mit der freundlichen Aufforderung, das zweite Frühstück an ihrem Küchentisch einzunehmen. In Anbetracht des unverhofften Murphy-Besuches jedoch gab ich mich keinen Illusionen hin. Bestenfalls durfte ich mit der zuvorkommend formulierten Bitte des Waschmaschinen-Kundendienstes rechnen, mich mit der Reparatur bis zum Herbst zu gedulden, da zur Zeit sämtliche Monteure mit einer ebenso komplizierten wie langwierigen Blinddarmzerrung das Bett hüteten.

Weit gefehlt. Es war mein liebender Mann Benno, der mich zum Einkaufen abkommandierte, da er dienstlich verhindert sei.

Klar doch. Männer sind meistens dienstlich verhindert, wenn es um reinigungsbedürftige Toiletten, Wochenendeinkäufe oder vom gemeinsamen Nachwuchs Erbrochenes geht. Nicht daß Benno sich gedrückt hätte. Im Gegenteil! Er versicherte mir ebenso regelmäßig wie glaubhaft, wie gern er mich gelegentlich im Haushalt entlasten würde. Aber es gehe mir doch wirklich viel leichter von der Hand. Nicht wahr? Wenigstens durfte ich ab und zu den Rasen mähen. Als Ausgleich sozusagen.

Im Supermarkt erwischte ich den einzigen Einkaufswagen weit und breit mit ausgekugeltem Vorderrad und ausgeprägtem Rechtsdrall. Dissonant quietschend hinterließ er eine Spur der Verwüstung überall dort, wo sich in Kniehöhe Pappkartons befanden, und kollidierte kurz vor der Kasse mit einem Sonderangebot Ketchupflaschen. Danach zogen die Räder hübsche rote Spuren und quietschten nicht mehr. Und meine Beutelhose hatte Masern. Der Einkaufszettel war übrigens auf dem Küchentisch liegengeblieben, was mangels Erinnerungsvermögens dem Aufenthalt im Supermarkt eine gewisse konfuse Note verlieh.

Mein Haß auf Murphy steigerte sich ins Grenzenlose. Raus hier! Und überhaupt, wer außer einem weltfremden Bürohengst konnte etwas derart Abwegiges wie eine stark abschüssige Rampe vor einem Supermarkt konstruieren? Mein gefüllter Einkaufswagen zerrte mich bergab, wobei er erneut Schlagseite bekam und sich selbständig machte, was einen der Joghurtbecher dazu veranlaßte, sich in die Freiheit zu katapultieren. Dies hatte zur Folge, daß etwas Weißliches mit gelben Sprenkeln um meine Füße herumschwappte. Vermutlich handelte es sich nur um Maracuja-Stückchen, aber es sah ziemlich eklig aus.

Meine Laune rutschte geräuschlos vom Keller in die darunterliegenden Betonfundamente. Weg mit dem Einkaufswagen, haderte ich stumm, leg dich ins Bett und übertrage jegliche Verantwortung für die Imponderabilien des heutigen Tages deinem Ehemann. Wofür hast du eigentlich geheiratet, wenn nicht zum gemeinsamen Tragen der Last, die man gemeinhin ›schlechte Tage‹ nennt? Unauffällig ließ ich den Einkaufswagen hinter dem übernächsten Auto verschwinden und rammte den Schlüssel ins Schloß meines Golfs, um die Beifahrertür zu öffnen. Fehlanzeige.

Versuch zwei: Vorsichtiges Rütteln. Nichts.

Versuch drei: Halblautes Fluchen. Nichts.

Versuch vier: Heftiges Rütteln UND lautes Fluchen, wobei ich mich ungehemmt meines weniger erlesenen Vokabulars befleißigte, weil mir ohnehin niemand zuhörte. Nichts.

An der Fahrertür wiederholte sich das Spielchen. Der Schlüssel rutschte widerstandslos ins Schloß. Drehen ließ er sich jedoch nicht. Die Tür war zu, blieb zu, und das alles ohne meine Erlaubnis. Und was jetzt? Mußte ich vielleicht mein eigenes Auto aufbrechen?

»He, Sie!« Eine reichlich laute Stimme riß mich aus meinen destruktiven Überlegungen. Genervt sah ich auf und stellte fest, daß sich im Eiltempo ein seriös gekleideter Mann näherte, der hektisch mit dem rechten Arm ruderte. Mit dem linken Arm konnte er nicht rudern, weil dieser von einer Großpackung Klopapier blockiert war. »Lassen Sie das!«

Ich fummelte ungerührt weiter und brach dabei versehentlich den Schlüssel ab.

»Lassen Sie das doch!!!« Der Zweireiher mit Klopapier kurvte besorgt um den Kotflügel. »Das ist mein Wagen, Sie Blindschleiche!«

»Quatsch, Sie Sanitärheini«, erwiderte ich ebenso unhöflich. »Sagen Sie mir lieber, warum die verdammten Schlösser klemmen.«

Trotz seiner Atemlosigkeit mußte er grinsen. »Weil es MEIN Wagen ist.«

Er deponierte die Klinikpackung ›Dreilagig Komfort‹ sehr dekorativ auf dem blauen Daimler nebenan, schob mich zur Seite und zückte sein Schlüsselbund. Da die Hälfte meines eigenen Schlüssels jedoch das Schloß der Fahrertür blockierte, war auch der Versuch des Öffnens mit technisch versierter Männerhand zum Scheitern verurteilt.

»Ach du liebe Zeit.« Seufzen. Emsig schlitterte er durch die Joghurtpfütze zur Beifahrerseite und ruinierte dabei seinen rechten Schuh. »Und jetzt passen Sie mal auf.«

Er steckte den Schlüssel ins Schloß, drehte ihn ganz sanft und öffnete die Tür.

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte ich nur mäßig begeistert. Gott, war mir das alles peinlich.

»Haben Sie jemals in Erwägung gezogen, zum Augenarzt zu gehen?« Der Zweireiher musterte mich milde-nachsichtig. Eigentlich hatte er schöne Augen. Blaublaublau. Wie Hans Albers.

»Nein. Meine Sehschärfe ist einwandfrei.«

»Wie man sieht. Sie sind ja nicht mal dazu in der Lage, das Kennzeichen zu identifizieren.«

Jaja. Triumph des Männeregos! Frauen sind blind! Finden nicht mal ihr eigenes Auto! Hahaha!

»Okay, der Punkt geht an Sie«, sagte ich und verspürte den leisen Drang, ihn mit seinem dreilagigen Klopapier einzuwickeln wie Ramses den Ersten. Garantiert würde er als Höhepunkt der Konversation gleich ein paar köstliche Bemerkungen zum Thema ›Frauen am Steuer‹ einflechten und anschließend die brüllend komische Episode beim Stammtisch zum besten geben.

Er lachte frohsinnig. Siehste, dachte ich angewidert. Ein chauvinistischer Idiot.

Der Zweireiher verstaute beide Hände in seinen Hosentaschen und lachte immer noch. »Ach ja, das ewige Dilemma aller Golffahrer. Wenn Sie wüßten, wie oft mir dieses Verwechselspielchen schon passiert ist! Allerdings habe ich dabei noch nie ein fremdes Schloß demoliert.« Er zwinkerte mir vergnügt zu.

Vor lauter Überraschung ließ ich mein Schlüsselbund fallen und lächelte ganz gegen meinen Willen. Wo blieben die Mackersprüche?!

Übrigens hatte er wirklich schöne Augen.

»Also gut. Lassen Sie das Schloß reparieren, und schicken Sie mir die Rechnung, okay? Tschüs.« Ich raffte mein Lebensmittelsortiment an mich und schlurfte unzufrieden und mit flatterndem Beutelhintern eine Reihe weiter, wo mein Auto ganz unübersehbar stand und mir eine Nase drehte.

»Hallo, Sie!«

Meine Güte! Was wollte er denn jetzt noch?

»Wohin soll ich die Rechnung schicken?« Er grinste schon wieder und beäugte ganz nebenbei Form und Kurven der Teile, die sich unter der Stoffülle meiner Uraltjeans verbargen.

»Nach Mühlstetten. Fasanenweg drei. Mein Name ist Beifuß.«

»So heißt man nicht«, sagte der Mann mit den Hans-Albers-Augen konsterniert. »So ruft man höchstens seinen Hund.«

»Wenn Sie nichts dagegen haben, heiße ich DOCH so«, erwiderte ich würdevoll und zog meine Hose bis unter die Arme, was eigentlich völlig überflüssig war, da sie ohnehin binnen Sekunden wieder an die Knie sacken würde. »Und Sie?«

»Schuffhauer.«

Auch nicht viel besser, fand ich und überlegte, wo ich jetzt auf die Schnelle einen Zweitschlüssel herkriegen sollte. Meiner existierte ja nur noch in Bruchstücken. Und die entscheidende Hälfte steckte in dem Golf-Doppelgänger.

Der Zweireiher namens Schuffhauer stieg auf dem Beifahrersitz ein und quälte seinen Körper über die Gangschaltung hinweg hinter das Lenkrad. Ein kurzes Winken. Weg war er. Befriedigt stellte ich fest, daß er seine Klinikpackung Klopapier auf dem Mercedesdach vergessen hatte.

Ich befreite den noblen Daimler von der imageschädigenden Zierde und ließ selbige in meinem Korb verschwinden. Dann schleifte ich den Wochenendeinkauf samt erschlichener Hygienebeigabe in die Telefonzelle vor dem Supermarkt. »Benno? Ich bin’s. Kannst du mich abholen?«

Lautes Stirnrunzeln am anderen Ende. Wie er mich abholen solle, wo ich doch den Wagen hätte?

Die Logik war überaus schlüssig. Hastig beichtete ich mein Malheur.

»Okay, ich leih mir ein Auto und bringe dir den Schlüssel.«

Was für ein Glück. Auf Benno war doch Verlaß, auch wenn er mir diese Episode noch im Ruhestand aufs Butterbrot schmieren würde. Ich lehnte mich gegen den Kofferraum und durchsuchte meinen Korb nach einem geeigneten Imbiß. Eine Viertelstunde später hupte es direkt neben mir. Benno saß in einem museumsreifen hellblauen Käfer und betrachtete mißbilligend, wie ich sein Abendessen dezimierte.

»Hallo«, sagte ich erfreut und schluckte das vorletzte Stück Salami herunter, »das ging aber schnell. Warst du nicht dienstlich verhindert?«

»Ich war es nicht nur, sondern bin es bis heute abend. Würdest du jetzt freundlicherweise den Schlüssel an dich nehmen, bevor du auch noch anfängst, den Käse in dich hineinzustopfen?« Er grollte mir sichtlich.

So ein lieber Benno! Läßt alles stehen und liegen, um seiner schusseligen Frau den Autoschlüssel zu bringen.

»Du bist ein Schatz«, sagte ich gerührt und schob ihm den Wurstzipfel in den Mund. »Wem gehört diese babyblaue Rostbeule?«

»Der Auszubildenden.« Kauend zerrte er den Autoschlüssel vom Schlüsselring und brach sich dabei den Daumennagel ab. »Ich hab’s schrecklich eilig. Tschüs, Herzblatt.«

Krachend rastete der erste Gang ein. Benno gab so lange gefühllos Gas, bis der Käfer aufröhrte und sich gequält in Bewegung setzte.

»Ruf mich an, wenn der Wagen verreckt«, schrie ich hinter ihm her, »ich schleppe dich dann gerne ab! Übrigens, die Waschmaschine ist schon wieder kaputt!«

Ich warf die Einkäufe in den Kofferraum, ganz zum Schluß das Klopapier. Schadenfroh dachte ich an den Golf-Doppelgänger mit dem unmöglichen Namen. Hoffentlich besaß er genügend Taschentücher oder sonstigen Ersatz aus Zellulose, um diese papierlose Nacht hinter sich zu bringen. Dann machte ich mich ziemlich satt auf den Heimweg.

Zu Hause, das war Mühlstetten, eine Kleinstadt vor den Toren Frankfurts. Ein bißchen Industrie, ein paar Geschäfte, ausreichend Kneipen und im Sommer busweise Fremdenverkehr wegen der windschiefen Fachwerkhäuser im Ortskern. Nichts exorbitant Aufregendes also, allerdings halbwegs pittoresk in Hanglage und Waldnähe.

Oben am Berg wohnten die Arrivierten, unten im Tal der mittellose Pöbel. Die Häuser am Hang entlockten jedem Immobilienmakler spitze Lustschreie und den Käufern eine atemberaubende Courtage. Alte Buchen, üppiges Grün, dazwischen spitzgiebelige Villen und kostenintensiv verklinkerte Neubauten mit Park und Pool im Schöner-Wohnen-Look, die entweder Zahnärzten gehörten oder Managern aus Frankfurt.

Da Benno nur die niederen Weihen eines Reisebüroleiters zuteil geworden waren, erübrigte sich die Wohnfrage von selbst. Wir residierten nicht am Hang, sondern im unteren Teil von Mühlstetten, einer Art Experimentierwiese für sparsame Reihenhausarchitekten. Damit mehr Häuser gewinnbringend vermietet werden konnten, hatte man sich die Zufahrten zu den Häusern geschenkt und statt dessen formschöne Wege aus quadratischen Betonplatten angelegt, die auf Bürokratendeutsch ›fußläufige Verbindungen‹ hießen. In der Realität bedeutete das nichts anderes, als daß die Bewohner von Haus fünfzehn jeden Kasten Bier schweißtreibende siebzig Meter schleppen mußten und ständig unter Bandscheibenbeschwerden litten, während die Bewohner von Haus eins den Wagen stets vor der Haustür parken konnten und wegen der rückenschonenden Wohnlage in deutlich besserer körperlicher Verfassung waren.

»Kind, das ist ja ein Karnickelstall!« So lautete das vernichtende Urteil meiner Mutter bei ihrem ersten Besuch in Mühlstetten. Sie hätte sich für ihre Tochter etwas Schmuckeres gewünscht, einen hübschen Bungalow mit Pool etwa, aber unter keinen Umständen dieses fünf Meter breite mausgraue Handtuch aus Mauerwerk und Putz, das die heimelige Ausstrahlung einer spätgotischen Gefängniszelle hatte.

Ich verwies damals meine Mutter auf spätere Zeiten und zerrte sie ablenkend auf die ebenso schmale grasbewachsene Parzelle hinter dem Haus, die der Makler vollmundig als ›Garten‹ bezeichnet hatte. Der sogenannte Garten verdankte die Existenz eines mickrigen Beetes, in dem es aus unerfindlichen Gründen von März bis September farbenprächtig blühte, ausschließlich dem botanischen Ehrgeiz unserer Vormieter.

Das Beet hatte meine Mutter teilweise mit dem Karnickelstall versöhnt. »Aber paß mir auf das Unkraut auf, Kind«, sagte sie und hob unheilvoll mahnend ihren rechten Zeigefinger.

Ich verabscheue Gartenarbeit und paßte nicht auf. Folglich wächst und gedeiht es bei uns auch außerhalb des Beetes ganz nach Belieben. Rein botanisch besehen darf sich in unserem Garten breitmachen, wer will. Unser Nachbar zur Linken hatte etwas gegen diese großzügige Einstellung und benutzte eine deutlich unfeinere Formulierung, wenn er sich in wöchentlichem Rhythmus über die Löwenzahninfektion in seinem Zucchinibeet erregte.

Irgendwann zog er die Konsequenzen und bestellte einen Umzugswagen.

Karnickelstall Nummer fünf stand also leer. Ein Umstand, der mir überaus egal war, solange niemand mehr über den Urwald von Nummer drei wetterte. Außerdem hatte der Vormieter uns trotz der vorangegangenen Unkrautdifferenzen gestattet, die reiche Ernte seiner Beete heimzutragen. Dieses Abschiedsgeschenk bescherte uns schon seit Wochen ein umfassendes Salatangebot, dazu verwurmte Möhren und winzige Erdbeeren.

Als ich den Golf vor unserer fußläufigen Verbindung abstellen wollte, versperrte mir ein überdimensionaler Umzugswagen mit Anhänger und Münchener Kennzeichen den Weg. Sieh an! Es schien, als sei die nachbarlose Zeit beendet. Allerdings war mir mehr als schleierhaft, wo jener Mieter auf üppigen fünf Metern Hausbreite den Inhalt des Möbelwagens verstauen wollte. Um das Mobiliar aus dem Anhänger auch noch unterzubringen, würde er auf jeden Fall großzügig anbauen müssen.

Ich parkte in der Nebenstraße und schleppte die Einkäufe voller Interesse gen Heimat. Neue Nachbarn sind immer ein Vabanquespiel. Hat man Glück, entpuppen sie sich als hörgeschädigte Rentner, die jederzeit auf fremde Kinder aufpassen und sich ohne Murren an einen zum Marterpfahl umfunktionierten Wäscheständer fesseln lassen. Hat man jedoch Pech, muß man sich fortan mit kinderhassenden Yuppies herumquälen, die jedes Wochenende mit der halben Firmenbelegschaft ausschweifende Grillpartys feiern. Gedankenverloren bog ich in den Fußweg ein und kollidierte sogleich mit dem bayerischen Oberpacker und einem Klavierhocker. Ich handelte mir einen barschen Verweis ein.

»Gengans, Madl«, schnaubte der Packer durch die Hockerbeine, was vermutlich einer mundartlich geprägten Umschreibung von ›Steh mir nicht im Weg herum‹ gleichkam. Zwei seiner Kollegen schubsten unter hemmungslosen Flüchen das zu dem Hocker gehörende Klavier die Schwelle hoch. Sie benötigten mehrere Anläufe. Schließlich machte das Klavier »Krrräääääng« und rutschte durch die Tür, wobei es unsanft die Füllung touchierte.

»Ist es drin?« Aus dem Badezimmerfenster im ersten Stock lugte ein Yeti hervor. Man sah nur Haare, Bart und Augen. »Ist es drin? Ohne Schrammen???«

Da die Klavier-Sherpas jedoch bereits keuchend den Aufstieg über die Eigernordwand in die erste Etage in Angriff genommen hatten und somit nicht antworten konnten, erlöste ich den Yeti aus der bangen Ungewißheit, was mit seinem musikalischen Kleinod passiert sei.

»Drin isses«, schrie ich nach oben und fragte mich, ob der Yeti gleich seinen Rapunzelbart hinunterlassen würde.

»Wer sind Sie?« schrie das haarige Wesen am Badezimmerfenster mit sonorer Stimme.

»Ihre Nachbarin!« brüllte ich.

»Ave!« Der Yeti wedelte mit der rechten Pfote. Dann rammte mir der Oberpacker einen Bettpfosten ins Kreuz, was mich dazu bewog, eilends den Rückzug anzutreten. Allmählich war es an der Zeit, etwas in die Kochtöpfe zu füllen, damit mein heranwachsender achtjähriger Sohn Julian sich nach der Schule nicht an den Chipsreserven seines Vaters vergriff.

Ich schob die Tür auf, die vom Wohnzimmer in den Garten führte, um einen Salatkopf aus Nachbars Beet zu fischen, als mir im letzten Moment einfiel, daß das nun nicht mehr ging. Bedauernd warf ich einen Blick durch den Busch zwischen den beiden Miniaturterrassen und erstarrte. Vor meinen Augen riß ein ausgestopfter Storch seinen Schnabel auf und fixierte mich böse. Daneben ein Vogelbauer mit einem Beo, der mißgelaunt in seiner Voliere herumflatterte und als Begrüßung ein knappes »Mistkerl« krächzte.

Ach du liebe Zeit. Ein Yeti mit Klavier und gefiedertem Freund! Im Geiste sah ich ihn schon des Abends am Klavier sitzen, mit seinen haarigen Pranken auf den Tasten herumhämmern und zweistimmig mit dem Beo Schuberts Lied von der Forelle grölen. Mit den geruhsamen Sommerabenden auf der Terrasse schien es fürs erste vorbei zu sein.

»Ave!« schrie der Himalaja-Bariton schon wieder. Die Stimme kam diesmal aus dem Wohnzimmer des Nachbarhauses. Offensichtlich war das Treppenhaus nicht mehr vom Klavier blockiert. »Nachbarin, euer Fläschchen!«

»Wie bitte?« sagte ich erstaunt.

»Goethe. Faust. Kennen Sie nicht?«

Ob das wohl die vielzitierte Gretchenfrage war? Mühsam entsann ich mich des Restbestandes gymnasialer Bildung in meinem Gehirn. Zum Thema Faust war mir im wesentlichen nur Auerbachs Keller im Gedächtnis haften geblieben. Ich schwieg peinlich berührt.

Es raschelte hinter dem Feldahorn. Der Rapunzelbärtige schob sich durch die Zweige wie ein Faun. »Ich bin Erwin Ripsleder.«

»Corinna Beifuß«, erwiderte ich in flüssigem Deutsch, wenn auch leise irritiert, »sehr angenehm.« Obwohl das nicht unbedingt der Wahrheit entsprach.

Ripsleder winkte mich näher zu sich heran. »Junge Frau«, sagte er vertraulich und wischte sich mit dem Bartende die Finger ab, »Sie haben jetzt einen raram avem zum Nachbarn, einen seltenen Vogel. Und das auch noch aus München! Ich bin Ornithologe, wissen Sie. Bei mir piept’s sozusagen.« Er lachte herzlich über seinen eigenen Scherz. »Seit ich Rentner bin, lebe ich für die Vogelwelt. Mein Fachgebiet sind die Limikolen. Und kaum einer hat Verständnis dafür. Nur Elsbeth.«

»Ist das der ausgestopfte Storch?« fragte ich verständnislos und fand es zumindest passend, daß Ornithologe Ripsleder sich im Fasanenweg eingenistet hatte und nicht in der Kuhgasse.

Der Yeti rückte noch ein Stück näher. Er machte den Eindruck, als ob Elsbeth und die Limikolen Dinge waren, über die man besser nur hinter vorgehaltener Hand sprach.

»Elsbeth ist meine Frau«, flüsterte er.

»Und die Limikolen?« Gebannt wartete ich auf allerlei anstößige Details.

»Prachtvolle Tiere! Kiebitze, Wasserläufer, Säbelschnäbler. Einfach phantastisch! Verstehen Sie?« Die braunen Augen unter den fingerdicken und ziemlich struppigen Waigel-Brauen blitzten vor lauter Glück.

»Mistkerl!« unterbrach ihn der Beo heiser.

»Und diese Doppelschnepfen! Haben Sie vielleicht schon mal einen Hoplopterus spinosus gesehen?«

»Nein«, sagte ich wahrheitsgemäß.

»Dann waren Sie auch noch nie im Senegal.«

»Nein«, sagte ich wieder und sah mich unauffällig um, ob gerade ein Notarztwagen mit Zwangsjacke im Gepäck um die Ecke bog. Irgend jemand hatte hier einen Knall. Ich war mir nur noch nicht sicher, wer.

»Schade. Waren Sie schon mal an der Nordsee?«

»Ja, doch. Meine Mutter brachte mich in Hamburg zur Welt.« Verzweifelt sah ich mich um. Warum klingelte nicht endlich das Telefon?

»Dann müßten Sie wenigstens den Austernfischer kennen. Roter Schnabel, schwarzweißes Gefieder. Rosa Beine. Dieser Vogel mit seinem charakteristischen ›quit-quit-quit‹ ist ab-so-lut unverwechselbar.«

»Aha«, sagte ich schwach. Murphy! Ich knall dich eines Tages ab.

»Und in der Balz – wissen Sie, welche Geräusche der Austernfischer während der Balz von sich gibt?«

»Nein«, sagte ich und hatte jetzt endgültig genug. Es war mir vollkommen gleichgültig, ob ein Austernfischer vor der Kopulation wieherte oder grunzte, Hauptsache, er kam ans Ziel.

Endlich! Das Telefon!

»Das Telefon klingelt«, bemerkte ich überflüssigerweise und schlich mich von dannen. »Tschüs, bis demnächst.«

Der Yeti rief hinter mir her: »He, junge Frau! Frau, äh, Beifuß!!«

»Ja?« Ich drehte mich um. Ripsleder stand am Zaun und flatterte mit den rotkarierten Hemdsärmeln.

»Der Austernfischer – er macht ›pütpütpüt‹!«

Ich rannte ins Haus, sank benommen auf das Sofa und ergriff das Telefon. Ob das Yeti-Weibchen Elsbeth während der Balzzeit auch pütpütpüt-Schreie ausstoßend durch das Wohnzimmer stelzte? Der Gedanke allein reichte.

»Beifuß!« röhrte ich in den Hörer und benäßte um ein Haar meine Uraltjeans.

»Was ist denn mit dir los?« fragte Benno am anderen Ende eher mißtrauisch.

»Wir haben einen neuen Nachbarn«, krähte ich frohsinnig und klemmte die Beine zusammen, um nicht von meiner vollen Blase überrumpelt zu werden. »So eine Art Vogelhändler vom Mount Everest.«

»Herzblatt, hast du getrunken???«

»Natürlich nicht. Kann ich etwas für dich tun?«

»Du kannst. Bitte pack mir meine Tennistasche, ja?«

»Wird gemacht«, sagte ich folgsam und leise enttäuscht. Wie hatte ich nur einen fanatischen Freizeit-Tenniscrack ehelichen können?!

»Darf ich mich auf einen Soloabend einstellen?«

»Nicht unbedingt. Kannst du die Tennishose noch schnell waschen?«

»Ich schon, aber die Waschmaschine nicht.« Im Geiste überlegte ich mir bereits eine sinnvolle Beschäftigung für den heutigen Abend. Lesen? Fernsehen? Den Keller aufräumen? Rasen mähen? Tagsüber war es eigentlich öde genug. Meine Fingerspitzen verspürten den Wunsch nach der Gesellschaft meines Angetrauten.

»Schon wieder kaputt? Nächste Woche kaufe ich eine neue.«

»Das sagst du schon seit einem Jahr«, sagte ich mit einem leisen Hoffnungsschimmer. Eine neue Waschmaschine! Für die tüchtige Hausfrau! Unglaublich!

»Wirklich. Nächste Woche. Versprochen.«

»Alles klar, mein Schatz«, erwiderte ich gerührt und beschloß, mich heute abend unauffällig bei Andrea blicken zu lassen, die auch einen achtjährigen Sohn hatte und dazu ein zehn Monate altes Baby namens Marie. Zusammen mit ihrem Gatten Johannes wohnte sie vier Karnickelstallreihen weiter. Immerhin gehörten Lemkes zu den privilegierten Zeitgenossen mit Eckhaus. Privilegiert deshalb, weil ihr mausgraues Domizil über zwei Fenster mehr verfügte und somit statt eines dunklen Flurverlieses ein lichtdurchflutetes Entree vorweisen konnte. Außerdem kam man von der Straße ohne Umweg durchs Wohnzimmer direkt in den Garten, was den Teppichboden enorm schonte.

Das Eckhaus vom Pirolweg stand also wie alle Eckhäuser der Reihenhauskolonie im Rang einer besseren Adresse. Nur donnerstags abends nicht. Exakt um neunzehn Uhr nämlich betrat ein pickeliger Jüngling mit Trompete das Haus und ließ sich von Johannes in der Kunst des gefühlvollen Musizierens unterweisen.

»Ein Glück, daß Maurice André noch nie versehentlich hier vorbeigekommen ist«, lästerte Benno gerne, »er würde vermutlich nie wieder freiwillig hessischen Boden betreten. Gegen dieses Gequäke müssen die Trompeten von Jericho wie Sphärenmusik geklungen haben!«

Wie gesagt, donnerstags abends zwischen sieben und acht legten die meisten Reihenhausbewohner keinen besonderen Wert auf Johannes Lemke als Nachbarn. Ich schon. Ich mochte ihn rund um die Uhr.

Johannes war schmächtig, bärtig und ein Freund. Tagsüber mühte er sich mit lustlosen Mühlstettener Gymnasiasten ab, um deren gameboy- und fernsehgestreßten Hirnen die Grundbegriffe der französischen Sprache und der Musik einzutrichtern. Abends gab er dann und wann Privatstunden.

Donnerstags half eigentlich nur Ohropax.

Andrea trat an solchen Abenden ganz gerne den Fluchtweg an und rettete sich samt verstörtem Nachwuchs und hysterischem Familienhund, einem Neufundländer namens Samson, in den Fasanenweg drei. Unsere Freundschaft war übrigens so alt wie unsere Söhne, und letztere schrieben mittlerweile schon seit zwei Jahren in der Schule voneinander ab.

Julian sparte sich meistens die Mühe, seine Hausaufgaben in dem dafür vorgesehenen Heft zu notieren. Dafür hatte er ja Oliver. Den ordentlichen, gewissenhaften Oliver mit fehlerfreien Diktaten, perfekt sortiertem Federmäppchen und beängstigend geräuschlosen Eßmanieren. Mein hoffnungsvoller Sprößling hingegen neigte zum Chaotischen. Sein zerrupftes Federmäppchen barg bestenfalls einen chronisch leeren Füller und einen zerkauten Bleistiftstummel. Seine Buntstifte bröckelten irgendwo im Dunkel des Schulranzens neben einem angeschimmelten Butterbrot von vorletzter Woche vor sich hin, die Hefte waren fleckig und eselsohrig, und seine Auffassung von Orthographie und Grammatikregeln äußerte er in grenzenloser Großzügigkeit.

Julians Hosen hatten sowohl vorne als auch hinten grundsätzlich handbreite Löcher und waren eigentlich nur ein einziges Mal sauber, nämlich beim Kauf. Und er fraß wie ein Scheunendrescher. Andererseits war er dazu in der Lage, schwierige mathematische Berechnungen wie 47 plus 19 in Sekundenschnelle aufs Papier zu bringen. Fast unleserlich, aber fehlerfrei.

Oliver und Julian ergänzten sich bedauerlicherweise wie Castor und Pollux und nutzten das schamlos aus.

An diesem Mittwochmittag machte Julian sich wie immer an der Haustür bemerkbar, was man daran erkannte, daß die Elektrik der Klingel fast verschmorte, und trabte ins Haus. Seinen Schulranzen schmiß er ins Gästeklo neben der Tür. »Hallomamaichhabhunger.«

Die Schuhe blieben im Abstand von zwei Metern im Flur liegen, der Turnbeutel machte eine Notlandung im Wohnzimmer, die Jacke rutschte wie jeden Tag vom Haken. Klappernde Topfdeckel. »Was ist da drin?«

»Nudeln.«

»Au ja.« Er wusch sich ohne Aufforderung die Hände und setzte sich gesittet an den Küchentisch.

Sofort schrillten sämtliche mütterlichen Alarmglocken. So ein Verhalten legte er sonst nur Heiligabend an den Tag. Außerordentlich verdächtig.

»Habt ihr den Aufsatz zurückgekriegt?« erkundigte ich mich mißtrauisch.

»Mmmmmh.«

»Und?«

»Herr Paschke hat gesagt, ich hätte interessante Ideen.« Er drehte das Salzfaß um.

Soso. Für diese tiefe Erkenntnis hatte der Grundschullehrer Paschke also zwei Jahre benötigt. »Und?«

»Nix«, sagte Julian und dekorierte das Rosensträußchen in der Tischmitte mit Salzkörnern. »Guck mal, es hat geschneit!«

Ich nahm ihm das Salzfaß weg. Durchdringender Blick aus gestrengen Mutteraugen. »Nun rück schon das Heft raus!«

»Jetzt? Ich hab aber Hunger!« Entsetzen in den Zweitkläßleraugen. Er schleppte sich wehklagend und mit hängenden Schultern ins Gästeklo zum Schulranzen und wieder zurück. »Da.«

Hochinteressiert schlug ich das Heft auf. So eine Sauklaue, dachte ich erschüttert. Also, von mir hatte er das nicht.

»Treffpungt Ferien«, entzifferte ich mit Mühe. Zwei Wörter und nur ein Rechtschreibfehler – nicht schlecht.

»Wir waren an der Ostsee.« Fehlerfrei!

»Als wir da waren war es schon Schbet.« Auweia.

»Am nechsten Tag sind wir sofort an den Schtrand gegangen. Ich wollte Sörfen. Ich habe einen gefragt op ich Sörfen darf. Er hat gesagt ia klar und wir sind Freunde geworden.«

Halb erschlagen klappte ich das Heft zu. Dieser Aufsatz war schlichtweg begnadet. Im übrigen hatten wir zwei Wochen im Harz verbracht und in der gesamten Zeit zwar jede Menge wackere Wandersleut, aber kein einziges Surfbrett gesichtet. Also, von mir hatte er das auf gar keinen Fall!

»Julian, wir waren doch gar nicht an der Ostsee!!!«

Treuherziger Kinderblick. »Aber ich wußte nicht, ob man Harz mit zwei a oder mit tz schreibt. Also hab ich einfach Ostsee geschrieben. Gute Idee, nicht?«

Doch, ja, irgendwie hatte der Knabe recht. Ich fütterte ihn mit Nudeln ab und nahm mir insgeheim vor, täglich mit ihm eine Stunde Diktat zu üben.

»Nachher pauken wir«, sagte ich streng.

»Brauch ich nich. Herr Paschke hat gesagt, wenn ich weiter so schmiere und falsch schreibe, kann es mit mir noch mal heiter werden. Und heiter ist doch gut, oder?«

O ja. Gerührt strich ich meinem Sohn durch die strubbeligen Locken, die jeder Haarbürste den Garaus machten und somit höchstens dreimal im Jahr gestriegelt wurden. Der Junge war eine Miniaturausgabe von Benno. Dunkelblond, graublaue Augen, schmales Gesicht, Grübchen im Kinn. Die Sommersprossen waren eigentlich das einzige, was er von mir geerbt hatte. Es ist manchmal erschreckend, festzustellen, wie wenig sich die eigenen Gene durchsetzen können.

Julian schob vorwurfsvoll meine Hand weg. Große Jungen schmusen nicht mit ihren Müttern! Große Jungen brauchen keine Mutterküsse, sondern Taschenmesser, Seile, Äxte, Taschenlampen, Nägel und Bretter.

Die Mutterküsse brauchen sie erst dann wieder, wenn der Nagel den Daumen perforiert hat.

»Nebenan zieht einer ein. Ham die Kinder?«

Ich überlegte einen Moment und verneinte dann, da ich mir nicht sicher war, ob sich Yetis überhaupt auf normale Art und Weise fortpflanzten.

»Krieg ich mein Taschengeld?«

Moment mal. Hatte ich nicht erst vor ein paar Tagen -? Taschengeld gab es immer sonntags. Ich warf einen Blick auf das Datum der ›Mühlstettener Rundschau‹, die auf Bennos Stuhl lag und darauf wartete, dem Hamster als Verdauungsunterlage zu dienen.

»Julian, heute ist Mittwoch. Du hast dein Taschengeld längst gekriegt.«

»Hab ich schon?« Ein angestrengter Denkvorgang setzte ein, was daran zu erkennen war, daß die Sommersprossen sich kräuselten. Dann bemühte er wieder seinen treuherzigsten Augenaufschlag und entblößte lieblich lächelnd drei bildschöne Zahnlücken. »Hab ich EHRLICH schon??«

»Ehrlich.«

»Krieg ich einen kleinen Vorschuß? Olli und ich wollen uns Schildkröten kaufen.«

Schildkröten??? Wir hatten schon einen domestizierten Frosch, der seit fünf Tagen in einem modderigen Grasnest in der Badewanne hauste und sich meistens auf dem Klodeckel aufhielt, und einen Hamster namens Hugo. Das reichte. »Nächste Woche. Vielleicht.«

Maulend verschwand er; vermutlich stattete er dem neuen Nachbarn seinen Antrittsbesuch ab. Ich zog mich mit einem Schmöker aufs Sofa zurück. Immerhin gelang es mir, zwei Seiten zu lesen. Auf Seite neunundvierzig wurde ich jäh unterbrochen.

»Mann, Mama! Der neue Nachbar ist echt cool!!!« Julian stürzte mit glühenden Wangen durch die Gartentür ins Wohnzimmer. »Er hat lauter irre Sachen! Wie bei Sielmann, nur in echt!«

Damit meinte er zweifellos den ausgestopften Storch.

»Und Helga sagt immerzu ›Mistkerl‹, und ich darf Erwin zu ihm sagen, und sein Bart geht bis hierhin!« Er deutete auf seine Knöchel.

Beglückt betrachtete ich meinen Nachwuchs. Da sollte noch mal einer behaupten, die Jugend von heute sei videofixiert und nicht begeisterungsfähig. Direkt vor meinen Augen stand das Gegenbeispiel!

Immerhin hatte ich so erfahren, daß der liebenswürdige Beo Helga hieß. »Aha. Und was hast du jetzt vor? Wie wär’s mit Hausaufgaben?«

»Später. Ich geh erst mal zu Oliver.« Rums. Die Haustür knallte. Exodus des begeisterungsfähigen Sohnes. Ich angelte mir wieder meinen Schmöker. Mitten auf Seite dreiundfünfzig klingelte das Telefon.

»Hallo Corinna, hier ist Andrea. Sag mal, was habt ihr für einen bemerkenswerten Nachbarn? Julian war eben hier und kriegte sich kaum ein vor Begeisterung.«

Das konnte ich mir lebhaft vorstellen. »Es handelt sich um einen seltenen Vogel aus dem Himalaja«, klärte ich sie auf. »Er liebt Goethe und die Limikolen. Du verstehst?«

»Nein, ich verstehe nicht. Aber seine Frau ist offensichtlich ein unfreundlicher Hausdrachen. Sie nennt ihren Mann ›Mistkerl‹.«

»Du meinst Helga? Das ist nicht seine Frau.«

»Sondern?«

Ich schüttete mich aus vor Lachen. »Seine Geliebte. Hast du heute abend ein bißchen Zeit?«

»Wieso seine Geliebte???«

»Erklär ich dir später. Also, hast du Zeit?«

»Klar. Johannes muß noch ein paar Hefte korrigieren, aber er könnte Marie eigentlich zwischendurch ins Bett bringen. So gegen acht bei dir?«

Acht Uhr war gut. Um diese Zeit entschwand auch mein hoffnungsvoller Aufsatzschreiber ins Bett. Befriedigt legte ich auf. Murphy schien für heute das Revier gewechselt zu haben, obwohl er im Normalfall erst während der Nachtstunden seine Besuche beendete.

Voller Wonne legte ich wieder die Füße hoch und versuchte ein drittes Mal mein Glück mit meiner Mittagslektüre. Ich kam völlig ungehindert bis auf Seite sechsundfünfzig. Dann erst klingelte es an der Haustür. Gleichzeitig ertönte hinten im Garten unheilvolles Getöse von splitterndem Holz und klirrendem Porzellan. Da das Klingeln vorn mir galt, der Weltuntergangsradau hinten jedoch eindeutig dem Umzugschaos des Yeti zugeordnet werden konnte, entschloß ich mich, die Anträge behördenmäßig nach Reihenfolge ihres Eingangs zu bearbeiten.

Draußen stand ein bezaubernd lächelnder Mittzwanziger mit blonder Mähne, der sich mit »Gestatten, Alexander Eggebauer« vorstellte. Da ich gestattete, gestand er mir wortgewandt, er habe mich dazu auserkoren, seinen wunderbaren wattstarken Staubsauger Marke Rohrzwerg zu testen. Neuestes Modell natürlich. Und er hatte ihn für MICH reserviert.

Für mich, die Karnickelstallmutter mit Beutelhose und fleckigem Pullover! Beglückt lud ich ihn ein, näher zu treten und mir bei einem Täßchen Kaffee die Vorzüge seines Rohrzwerges zu erläutern.

Im Garten krachte und knirschte es immer noch beängstigend laut. Ich verschob das Kaffeekochen auf später, zerrte den ziemlich überraschten Mittzwanziger auf die Terrasse und spähte vorsichtig auf das Nachbargrundstück. Dortselbst bot sich mir ein grauenhafter Anblick. Der ausgestopfte Storch war umgefallen und hatte sich im Feldahorn zur letzten Ruhe gebettet. Die Voliere des Beos lag mitten auf dem Rasen. Helga selber hockte verschreckt im hintersten Winkel des Käfigs, flatterte hektisch mit den Flügeln und krächzte Unflätiges, das entfernt an das Götz-Zitat erinnerte.

Was um Himmels willen war geschehen?!

Ich beugte mich noch weiter vor, um einen Blick auf die Yeti-Terrasse zu erhaschen. Möglicherweise lag Ripsleder röchelnd in seinem eigenen Blut und bedurfte dringend der Reanimation, weil ihm ein Karton mit präparierten Schnepfenschnäblern auf den Kopf gefallen war! Er erfreute sich glücklicherweise bester Gesundheit und beschäftigte sich fluchend damit, die Einzelteile eines völlig demolierten Möbelstücks zusammenzuklauben. Selbiges maß in der Breite mindestens vier Meter und bestand aus furnierter Spanplatte. Ein erstklassiges hölzernes Markenfabrikat. Und gleichzeitig eine erschreckend geschmacklose Demonstration deutscher Möbeltischlerkunst.

»Jo mei! Do lecktsmidogleiamorsch!!!«

Ach du liebe Zeit! Wenn ein hochgebildeter Mensch wie Ripsleder, der fundierte Kenntnisse sowohl über Goethe als auch über paarungsbereite Piepmätze vorweisen konnte, in seinen Heimatdialekt verfiel, stand es schlimm um ihn.

»Sakra!« Er warf ein zersplittertes Regalbrett in die Terrassenecke.

»Klarer Fall. Auch Sie brauchen einen Rohrzwerg«, mischte sich der schöne Mittzwanziger ein und gesellte sich unauffällig zu mir an den Zaun. »Der saugt die Splitter auf wie nix! Und durch die neue Saugblastechnik mit Mikroausblasfilter ist die ausgeblasene Luft sauberer als die eingesaugte!«

Ripsleder warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Junger Mann, ich habe einen Besen«, sagte er sehr akzentuiert und auf hochdeutsch. »Der bläst nicht, saugt nicht und braucht schon gar keinen Mikrodings – Sie wissen schon.«

»Mikroaufsaugfilter?« schlug ich hilfsbereit vor.

»Ausblas.« Der schöne Alexander Eggebauer neben mir sah mich betörend an. »Es heißt Ausblasfilter.«

»Ach ja. Pardon. Was ist eigentlich passiert, Nachbar Ripsleder?«

»Mistkerl!« schrie Helga und verzichtete vorläufig auf das Götz-Zitat. Offenbar hatte sie den Schock überwunden und sich wieder ihrer humanistischen Erziehung besonnen.

»Und das Unheil schreitet schnell! Ich hatte alles exakt berechnet und ausgemessen. Die Schrankwand paßte auf den Zentimeter genau.« Ripsleder wiegte grübelnd sein haariges Haupt hin und her.

»Und dann?« fragte ich voller unverhohlener Neugierde. Ich fand es unglaublich, daß ein Mann beim Ausmessen einen Fehler begangen haben konnte. Benno behauptete immer, so etwas passiere nur Frauen.

»Das Holz muß beim Transport gequollen sein.«

Genau, dachte ich. So muß es gewesen sein. Diese überzeugende, simple und überaus naheliegende Erklärung hätte auch Benno abgeliefert.

»Jedenfalls paßt es jetzt nicht mehr. Also wollte ich die linke Hälfte vorerst auf die Terrasse schieben. Und dabei ist die Vitrine heruntergerutscht. Elsbeth!!!« Mit wehendem Rapunzelbart stürmte er ins Wohnzimmer.

»Ich könnte meinen Rohrzwerg holen und Ihnen, verehrte Frau Beifuß, die Wirksamkeit unseres neuesten Modells anhand der Nachbarterrasse demonstrieren«, schlug der schöne junge Mann neben mir vor. »Sie werden staunen, gnädige Frau!«

»Au ja«, sagte ich erfreut. ›Gnädige Frau‹ hatte lange keiner mehr zu mir gesagt. »Ich koch uns derweil einen Kaffee.«

»Mit was für einem alten Schrottsauger hat Ihr Herr Gatte Sie eigentlich die mühsame Hausarbeit verrichten lassen?« Der blonde Schöne sah mir tief in die Augen.

»Ist noch nicht so alt«, überlegte ich angestrengt. »Mein Herr Gatte hat mir erst zu meinem achtundzwanzigsten Geburtstag einen nagelneuen Schwiele-Sauger geschenkt.«

»Zu Ihrem achtundzwanzigsten!« hauchte der nette Herr Eggebauer und breitete verheißungsvoll einen wunderbar bunten Hochglanzprospekt auf dem staubigen Gartentisch aus. »Dann ist er ja noch ganz neu!«

Ich lachte herzlich. Was für ein liebenswürdiger Charmeur!

»Sie vergiften sich allerdings die ganze Raumluft mit dem Ding«, sagte er mit bedenklich umwölkter Stirn. »Denken Sie mal an die Folgen – Asthma, Hausstaubmilben, Neurodermitis, Masern, Angina pectoris!«

»Alles durch den Staubsauger?« Entsetzt riß ich den Prospekt an mich. Was war ich nur für eine Rabenmutter und -ehefrau! Setzte die Gesundheit meiner Lieben aufs Spiel, weil mir ahnungslosem Weib schlichte Sauberkeit reichte, wo doch porentiefe Reinheit erforderlich war!

»Wieviel kostet er?« fragte ich beschämt.

»Das sage ich Ihnen, wenn Sie die Demonstration erlebt haben. Kommen Sie, verehrte gnädige Frau! Geben Sie meinem Rohrzwerg eine Chance!«

»Geht in Ordnung.«

Er holte sein bestes Stück, das im Hausflur auf Herrchen wartete. Blaumetallic mit Rallyestreifen. Ein ausgesprochen sportliches Modell. »Wohin?«

»Nach oben.« Voller Vorfreude hopste ich die Treppe hoch. Dem Rohrzwerg eine Chance? Jaaa!

»Bitte.« Ich öffnete Julians Zimmertür und strahlte den Schönen erwartungsvoll an.

»HIER???«

»Hier. Wieso, funktioniert er nicht in Kinderzimmern?«

Er schluckte mehrfach. »Doch, doch. Aber ich weiß nicht, inwieweit er auch müllhaldentauglich ist.«

»Ja dann los«, sagte ich munter. »Aber saugblasen Sie nicht versehentlich den Hamster auf. Er macht um diese Zeit meistens ein Nickerchen unter dem Bett.«

Der Rohrzwerg verschonte löblicherweise den Hamster Hugo. Dafür entsorgte er gründlich, schnell und äußerst effizient ein Nest verklebter Gummibärchen, vier einzelne Socken, drei fast leere Chipstüten, ein halbes Puzzle und Julians letzte Rechenarbeit.

Ich fand das enorm. Mein Schwiele-Sauger stellte bei Papierfetzen im DIN-A4-Format meistens röhrend die Arbeit ein.

»Her damit«, schrie ich begeistert. »Was kostet er denn nun?«

»Für Sie kommt selbstverständlich ein Sonderpreis zustande, gnädige Frau«, flötete der hübsche Herr Eggebauer.

»Wieviel?!«

»Komplett, verehrte gnädige Frau, mit Kundenservice, einer Spezial-Hinterglasbürste, der integrierten Autoaschenbecherdüse und fünf Ersatz-Mikrofiltern genau neunhundertneunundneunzig Mark.«

Das fand ich ebenfalls enorm. »Kann Ihr Rohrzwerg auch bügeln?«

Der Schöne lachte gezwungen. »Haha, gnädige Frau, welch reizender Humor.«

»Kann er oder kann er nicht???«

»Er kann nicht.«

Ernüchtert zog ich den Stecker aus der Dose. »Dann ändern Sie das. Kommen Sie mich anschließend wieder besuchen, ja?«

»Selbstverständlich, verehrte Frau Beifuß. Ganz wie Sie wünschen.« Eggebauer hatte es plötzlich eilig. Er verstaute seine sensationelle Hinterglasbürste im Kofferraum des Saugblasers und verabschiedete sich knapp.

Wenigstens befand sich Julians Zimmer in einem klinisch reinen Zustand, was allerdings nicht allzuviel zu bedeuten hatte. Achtjährige sind mühelos dazu in der Lage, einen leeren, sauberen Raum innerhalb von sieben Minuten in ein völlig verdrecktes Katastrophengebiet zu verwandeln. Draußen auf der fußläufigen Verbindung herrschte mittlerweile Ruhe. Der Möbelwagen hatte sich aus dem hessischen Staub gemacht und den Yeti sich selbst überlassen. Diesem jedoch war es offensichtlich nicht gelungen, beim Einrichten seines Karnickelstalls das Tempo der Packer einzuhalten. Vor der Haustür standen ein knappes Dutzend Stühle, ein Couchtisch und mindestens fünfzig Kartons. Nebeneinander, wohlgemerkt. Die akkurat angelegte chinesische Mauer aus Pappe erstreckte sich bis zur Straße.

Endlich war alles still!

Für ganze zwei Stunden wollte tatsächlich keiner was von mir. Dann erst verlangte Julian stöhnend nach Unterstützung bei den Hausaufgaben. Schließlich lief auch Benno im heimischen Hafen ein. Ausgezehrt und erschöpft von des Tages harter Arbeit riß er seine Tennistasche an sich. Küßchen für Corinna. Männlich-markantes Schulterklopfen für Julian. Kurzer Abstecher zum Kühlschrank. Weg war er.

Familienleben war was Schönes. Ganz eindeutig.

Gegen acht klingelte Andrea. Sie trug pastellgeblümte Leggins mit passendem Pullover ohne Babybrei-Flecke und sah deutlich gepflegter aus als ich.

Die Phalanx der Umzugskartons hatte sich zwischenzeitlich auf knappe zwanzig reduziert. Auch der Couchtisch war verschwunden. Aus dem Yeti-Haus drang lautes Hämmern und ebenso lauter Gesang. Ripsleder intonierte ›Am Brunnen vor dem Tore‹, wohin ich ihn sogleich wünschte. Oder noch weiter weg.

Andrea hielt mir eine Plastiktüte hin. »Zur Sicherheit habe ich was Leckeres zu trinken mitgebracht. Bei euch kriegt man ja nur dieses staubtrockene Zeug, von dem man dauernd husten muß.«

Spontan wanderte eine Gänsehaut von meinen Knienkehlen Richtung Rücken. Wenn Andrea Wein als ›lecker‹ bezeichnete, handelte es sich meist um Spätlese oder Beerenauslese, je nach Stimmung. Der Lemkesche Weinkeller war in dieser Hinsicht außerordentlich gut sortiert. Je lieblicher, desto besser. Bei mir erzeugte das Gesöff grundsätzlich Kopfschmerzen. Aber glücklicherweise wartete ja eine Flasche Frascati auf mich.

Zwei Tauchgänge im Kühlschrank endeten wider Erwarten erfolglos. Ich fand zwar den langgesuchten Zipfel Kalbsleberwurst wieder, den Benno am Samstag vor zwei Wochen endlos lamentierend vermißt hatte und der mittlerweile mit einem graugrünen Pilzrasen überzogen war. Der Frascati jedoch war weg. Vom Winde verweht. Das bedeutete entweder, daß Murphy neuerdings zu den Alkoholikern gehörte und sich bei seinen Opfern durchschnorrte oder daß mein liebender Mann Benno sich den Wein unrechtmäßigerweise unter den Nagel gerissen und mit zum Tennisplatz genommen hatte.

Ersteres hielt ich für wenig wahrscheinlich. Phantome bechern Weißwein nicht flaschenweise und räumen auch nicht anschließend ihr Altglas weg. Also Benno. Na warte!

»Rümpf nicht so laut die Nase«, sagte Andrea. »Du mußt den Wein nicht unbedingt trinken.«

»Doch«, schnaubte ich erzürnt. »Benno hat den Frascati geklaut.«

Was hilft gegen zu süßen, zu faden, zu sauren Wein? Aqua Miserable. Ich schüttete mir ausgesprochen lustlos eine Schorle ins Glas und ließ mich Andrea gegenüber auf das zweite Sofa fallen. Anschließend preßte ich leidend zahlreiche kellertiefe Seufzer aus mir heraus. Statt mich mitfühlend nach dem Grund meiner beginnenden Depression zu befragen, den ich im übrigen selber nicht genau benennen konnte, schob Andrea ihre Brille auf der Nase zurecht und zerrte aus der zweiten Tüte ein völlig verheddertes Chaos von Wollknäueln.

»Das war Samson«, sagte sie lakonisch und verzog ihr Gesicht zu einer wilden Grimasse. »Ich könnte dem Vieh dafür den Hals umdrehen. Geht einfach an meinen Wollkorb und schleift den Inhalt mit den Zähnen auf die Terrasse! Ich bring ihn um! Ehrlich, ich bring ihn um.«

Sie murmelte grauenhafte Drohungen in ihre schurwollene Anarchie. »Hundekuchen hat mir der Köter auch noch reingespuckt! Ach, mir reicht’s. Gib mir mal ’ne Schere! Übrigens, wußtest du eigentlich, daß Oliver und Julian heute nachmittag im Falkenweg selbstgezimmertes Niespulver verkauft haben? Irgendeine obskure Mischung aus Cayennepfeffer und Zwiebelsalz. Damit es nicht so auffällig roch, haben sie die Sache mit Lebkuchengewürz aufgepeppt. Aber mehr als drei Tütchen sind sie nicht losgeworden.«

Ich nippte an der Schorle und zündete mir eine Zigarette an, weil der Wein trotz Verdünnung nach Kopfschmerzen schmeckte.

»Wo ist eigentlich Benno? Und was hat Julian für eine Note im Aufsatz bekommen? Und wieso bist du so einsilbig???«

»Erstens: auf dem Tennisplatz. Zweitens: ein wohlwollendes ›Ausreichend‹. Drittens: Ich bin nicht einsilbig«, sagte ich ziemlich einsilbig. »Außerdem hat mir Murphy heute den Tag verpfuscht. Und das ausgiebigst.« Ich drehte meiner Wut den Gashahn ab und schilderte ihr nur minimal ausgeschmückt die Ereignisse des Tages, angefangen vom Golf-Doppelgänger über den Einzug des Yeti bis hin zum Rohrzwerg.

»Komisch«, wunderte sich Andrea nach Beendigung meiner farbenfrohen Büttenrede, »mir passiert so was nie.«

»Mir passiert NUR so was. Gestern hat Benno zu mir gesagt, das einzig Geregelte an mir sei mein Katalysator!«

Ich fühlte mich gräßlich. Bitterlich seufzend schüttete ich die Schorle in den Abfluß und goß mir einen doppelten Cognac ein. Wenigstens den hatte Benno mir gelassen. Danke, lieber Benno! So ein großzügiger Ehemann! Kutschiert in geliehenen Autos mit Golfschlüsseln durch die Gegend und verspricht voller Güte den Erwerb einer neuen Waschmaschine, obwohl Corinna sich heute keinerlei Existenzberechtigung verdient hat!

Nichtsnutzige Corinna! Hat keine Spritzer unterm Klo weggewischt, hat nicht gebügelt, hat nicht Fenster geputzt. Hat noch nicht einmal selber die dreckigen Hinterlassenschaften der eigenen Leibesfrucht weggesaugt, sondern wegsaugen lassen. Hat also den ganzen Tag nur dummes Zeug gemacht, Bennos Geld ausgegeben, mit Rohrzwergen Konversation betrieben und gelesen!

Böses Mädchen. Schäm dich, Corinna.

Der Cognac schmeckte um Klassen besser als die Spätlese und ersetzte einen Teil der lästigen Schuldgefühle durch ein angenehm warmes Gefühl im Bauch. Ich war mir selber nicht ganz geheuer. Diese trübe Stimmung, gemixt aus Schuldkomplexen mit einem Bodensatz von Selbstmitleid, ließ sich jedoch vorzüglich mit ein bis zwei hochprozentigen Trostpflastern beheben. Das wußte jeder Kindergartenzwerg, der einmal versehentlich im verkabelten Abendprogramm herumgezappt und in jedem Film einen frustsaufenden Detektiv, Ehemann oder Ölmagnaten zu Gesicht bekommen hatte.

»Putzt Johannes manchmal das Klo?« erkundigte ich mich gramvoll bei Andrea, die endlich bei ihren elf Knäueln durchblickte und allerlei hochkomplizierte Zählmüsterchen in einen Kinderpullover hineinarbeitete.

Stricken konnte ich übrigens auch nicht. Nur Fingerhäkeln. Böses Mädchen!

Sie blickte irritiert auf. »Vor Muttertag kündigt er es immer an. Aber wenn dann Muttertag ist, sagt er jedesmal, nun wollen wir uns doch nicht den Tag mit dem Putzlappen versauen, sondern lieber was Schönes unternehmen. Wieso?«

»Nur so.« Ach, Männer waren doch alle gleich!

»Hast du Zoff mit Benno?«

»Nein!« Ich schüttelte wild den Kopf. Wie kann man Zoff mit jemandem haben, der seine Freizeit schwitzend auf dem Tennisplatz verbringt, voller Begeisterung desertierte gelbe Filzbälle aus Brennnesseln fischt und vorher die alkoholischen Reserven seiner in Langeweile verendenden Ehefrau konfisziert hat?

Einen ganz kleinen Trost-Cognac konnte ich mir wohl noch genehmigen. Nur noch einen wenzigen Schlock.

»Hast du echt keinen Zoff?« Andrea beäugte kritisch den eher großzügig bemessenen Inhalt meines Cognacschwenkers. »Du säufst doch sonst nur, wenn es geknallt hat!«

»Laß den Geierblick«, fauchte ich peinlich berührt. »Sag mir lieber, wie es Johannes geht. Deinem supertollen Klassemann, der schon wieder die Kinder hütet, ohne daß du vorher den Antrag in dreifacher Ausfertigung bei der Schulbehörde eingereicht hast.«

»Ach, daher weht der Wind. Du hast deinen Weltschmerz-Abend, ja?«

»Nein«, log ich bockig.

»Hast du Hormonstörungen?«

»NEIN!« Niemand verstand mich. Niemand wollte mich verstehen. Das Selbstmitleid wallte wieder in mir auf wie Spaghetti beim Überkochen. Frustriert kippte ich meinen wenzigen Schlock herunter, woraufhin meine Speise- und Getränkeröhre Feuer fing.

Statt eines weiteren überflüssigen Kommentars zu meinem Schnapskonsum feuerte Andrea Stricknadeln und Wolle in ihre Tüte zurück. »Herrje, bist du heute anstrengend! Wie soll man dabei stricken? Gib mir auch mal so was.«

Ich versorgte sie fürsorglich mit einem Doppelten. Dann rächte ich mich voller Wonne an Benno, indem ich seine letzte Chipstüte aus seinem hinterhältigsten juliansicheren Versteck – dem Schnellkochtopf – holte und zwischen Andrea und mir aufbaute.

Ha, was würde er nach seiner schweißtreibenden Rennerei auf dem Platz gleich nach salziger Kalorienzufuhr lechzen! Nach diesen Serve-und-Volley-Orgien liebte er es feurig. Ungarisch und möglichst scharf mußte es sein und zum Dessert ein bißchen Corinna. Bei letzterem war die Tendenz nachlassend. Diesmal allerdings würde sein Verlangen ungestillt bleiben. Und nicht nur das Verlangen nach feurigen Kartoffelprodukten, sondern, so vorhanden, auch das nach Dessert. Pech gehabt, Benno!

»Was machst du eigentlich so den lieben langen Tag?« Ich stopfte mir eine Handvoll Ungarisches in den Mund und kaute geräuschvoll. Jeder krachende Bissen galt Benno und seiner blöden Chipssucht.

»Du hörst dich an wie meine Schwiegermutter«, sagte Andrea mit vollem Mund und ziemlich undeutlich. »Außerdem weißt du das genau. Haus, Garten, Oliver und das Baby. Reicht das nicht?«

»Doch. Abends ist der Tag um.« Ich starrte apathisch in mein Cognacglas. »Das Wohnzimmer ist immer noch dreckig, Julians Hosen sind es schon wieder. Benno grätscht athletisch auf dem Tennisplatz herum und versprüht zwei Drittel seines überwältigenden Charmes auf der Asche, nachdem er das erste Drittel im Büro gelassen hat. Ansonsten passiert nichts, aber auch gar nichts Interessantes. Wenigstens kriege ich eine neue Waschmaschine, und du nicht. Ätsch.«

»Meine ist auch nicht kaputt«, sagte Andrea ziemlich schlüssig. »Lecker, diese Chips. Und du bist heute ein Jammerlappen! Warum verschwindet Benno eigentlich dauernd? Hat er Streß?«

»Es geht. Im Moment nervt ihn das neue Lehrmädchen. Seiner eigenen Aussage nach ist sie strohdoof.«

»Ein Lehrmädchen, soso«, meinte Andrea vielsagend.

»Nix soso«, konterte ich. »Benno ist zufällig verheiratet, und das ganz passabel, soweit ich das beurteilen kann.« Der Gedanke, daß Benno seine graublauen Augen auf ein anderes weibliches Wesen werfen könnte, war vollkommen abwegig. Außerdem hätte ich ihn in diesem Fall augenblicklich um die Ecke gebracht. Eine postpubertäre Auszubildende! So ein Schwachsinn.

»Hast du vielleicht Streß?«

»ICH??? Wovon denn?«

»Siehste. Du ödest dich selber an und Benno gleich mit.«

»Der Rohrzwerg fand mich nicht langweilig. Der hat ›gnädige Frau‹ zu mir gesagt.«

»Der wollte auch was verkaufen.«

Ich brütete vor mich hin. »Vor ein paar Tagen ist mir der Salat etwas zu sauer geraten«, sagte ich voller Melancholie. »Da regte sich Benno dermaßen auf, als ob ich ein komplettes Monatsgehalt verjubelt hätte.«

»Und was hast du gemacht?« erkundigte sich Andrea und stopfte die leere Chipstüte hinter ein Sofakissen.

»Ich? Nichts weiter. Ich empfahl ihm, vom Verzehr des Salates Abstand zu nehmen, wenn er ihn so eklig fand. Woraufhin er seine Gabel in die Gurken schmiß und abrauschte.«

»In den Tennisclub?«

»Wohin sonst? Das ist sein bevorzugtes Auffanglager in allen Lebenslagen. Corinna schlechtgelaunt? Salat zu sauer? Feierabend? Julian zu anstrengend? Ab auf den Tennisplatz. Wahrscheinlich hilft das bei ihm auch gegen nächtliches Bettnässen und Warzen.«

»Du bist gemein«, sagte Andrea etwas knurrig. Sie mochte Benno.

Das fand ich nicht. Benno war gemein. Und ich so allein. Ich hätte jetzt gerne ein Weilchen weitergestänkert, statt dessen goß ich uns noch einen ein. Danach war die Cognacflasche leider leer. Leicht benebelt zielte ich nach dem Papierkorb und verfehlte ihn ganz knapp. Die Flasche ging kurz hinter den Teppichfransen auf den Fliesen zu Boden und löste sich klirrend in ihre Molekularstruktur auf. Auf flinken Glasbeinchen verdünnisierten sich die Scherben leise klingelnd bis in den Hausflur.

»Hübsche grüne Scherben«, lobte mich Andrea. »Und so viele!« Unter normalen Umständen hätte sie augenblicklich Besen und Schaufel an sich gerafft und das Malheur beseitigt. Wenn Andrea etwas nicht ertragen konnte, dann waren das Unordnung und Dreck. Ein Wunder, daß sie sich seit neun Jahren mit mir, der chaotischen Möchteungernhausfrau, abgab. Heute rührte sie sich jedoch nicht vom Fleck.

Ich auch nicht. Scherben brachten bekanntlich Glück. Je länger sie herumlagen, desto mehr Glück, hoffte ich deprimiert.

»Was Benno betrifft, solltest du dir was Raffiniertes anziehen und seine Aufmerksamkeit vom Tennisplatz weg auf DICH lenken«, sagte Andrea angesäuselt, doch mit Nachdruck.

»Was Raffiniertes? Leder mit Schrittverschluß etwa?«

»Quatsch. Schwarzer Satin! Morgen gehen wir zusammen einkaufen!« Sie hatte rote Bäckchen und glühende Augen. Wessen wöchentliches Alkoholpotential bei einem Fingerhut voll Spätlese liegt, dessen Hirn gerät spätestens nach dem dritten Glas Cognac in mephistophelische Schwingungen. »Und abends nach dem Dienst ist Benno wie vom Donner gerührt, seine eigene Gattin wieder als leibhaftige Traumfrau vor sich zu sehen. Er zeigt sich spontan begeistert, läßt sein Köfferchen fallen, nimmt seine zauberhafte junge Frau auf beide Arme, trägt sie ins Schlafzimmer und legt sie sanft aufs Bett. Schnitt. Überblendung in die nächste Szene. Bei gedämpftem Licht erkennt man zwei nackte Leiber, die glücklich aneinandergeschmiegt – «

»Halt«, brach ich ihr ausgetüfteltes Szenario illusionslos und ziemlich rüde ab. »Erstens würde der jeansgewöhnte Benno einen Lachkrampf erleiden beim Anblick seiner in Satin gehüllten Ehefrau. Und das auch noch in Schwarz! Zweitens würde er sein Köfferchen vor Schreck auf meine nackten Füße fallen lassen. Nicht besonders erotisch, finde ich. Drittens zöge er sich einen Hexenschuß zu bei dem Versuch, mich auf beide Arme zu hieven. Auch das ist, rein sexuell gesehen, der weiteren Entwicklung nicht gerade zuträglich. Und Satin ist mir zudem viel zu glitschig.«

»Bist du phantasielos«, sagte Andrea mißbilligend und mühte sich gewaltig, einen Anfall von Schluckauf in den Griff zu bekommen. »Sieh zu, wie du deinen Mann vom Tennisplatz wegkriegst. Warum spielt er denn nicht mal mit dir? Du kannst das doch, oder? Hicks.«

»Wie ein Pinguin. Kein Topspin, kein Slice, dafür Aufschlag von unten und jede Menge Lachnummern. Ich bin einfach nicht begabt.«

Tennis fiel also flach als Freizeitbeschäftigung mit dem eigenen Mann. Das sah sie ein. Ersatzweise schlug sie mir nacheinander und zunehmend undeutlich den Besuch der Volkshochschulkurse ›Ikebana für vernachlässigte Hausfrauen‹, ›Wir töpfern Vibratoren für Weihnachten‹ und ›Kisuaheli für Bäckergesellen‹ vor. Ich verweigerte rigoros. Ihre angetrunkene Kreativität gipfelte schließlich in der Idee, mit ihr im Kirchenchor zu singen. Einmal wöchentlich, mittwochs von sieben bis neun.

»Man wird dich exkommunizieren«, sagte ich erschüttert. Andrea scheute offensichtlich vor nichts zurück. »Ich singe genauso, wie ich Tennis spiele.«

»Macht nix. Ich kann noch nicht mal Noten lesen. Hicks.«

Das fand ich bemerkenswert. Musiklehrer Lemke war wegen beruflichen Versagens bei mir schlagartig unten durch. Seine eigene Frau! Kann keine Noten lesen, aber singt Bach-Motetten!

»Weiß das der Chorleiter?«

»Nein. Hicks.«

»Und woher weißt du, was du singen sollst?«

»Kein Problem. Wenn die kleinen Punkte mit den Schwänzchen unten sind, singe ich tief, wenn sie oben sind, singe ich hoch.«

So einfach war das also mit der Sangeskunst. Trotzdem wollte ich nicht in den Kirchenchor. Schon gar nicht hatte ich das Bedürfnis, mich stimmlich nach kleinen Punkten mit Schwänzchen zu richten. Mir war eher danach, irgendwas Vernünftiges zu machen. Etwas mit Hand und Fuß. Keinen Zeitvertreib.

»Ach nee. Eher gehe ich wieder arbeiten.«

»Dann tu’s doch.«

»Okay.«

»Okay.«

Feierlich hoben wir unsere leeren Cognacschwenker. Es war ein bemerkenswerter Moment.

Gleich morgen würde ich mich ins Fotostudio Franke begeben und meine erstklassigen Dienste beim Fotografieren von pinkelnden Säuglingen anpreisen. Oder in einer Werbeagentur verruchte Mädels mit verheißungsvollem Augenaufschlag und Sahnejoghurt im Mund ablichten oder so ähnlich. Jedenfalls würde ich wieder fotografieren. Und zur Abwechslung mal für Geld, nicht nur für zahlungsunwillige Freunde. Jawoll!

»Ist die Agfaklix kaputt, hol Corinna, die knipst gutt!« reimte Andrea hochpoetisch. »Was trinken wir darauf?«

»Ich hatte keine Ahnung, daß in deinen Adern Literatenblut fließt!« schrie ich begeistert und stemmte mich ächzend vom Sofa hoch. Es war zwar etwas kompliziert, durch die Scherben an den Barschrank zu staksen, aber es ging. Großzügig baute ich eine Batterie angebrochener Flaschen auf dem Couchtisch auf.

»Le Rest de la reste«, sagte Andrea in fließendem Französisch und griff erfreut mit einer großartigen Gebärde nach dem Ouzo. Bedauerlicherweise holte sie zu weit aus, woraufhin sich die Anzahl der äußerlich unversehrten Flaschen um exakt zwei reduzierte.

»Oh«, sagte sie erstaunt. »Ich glaube, mir ist was umgefallen. Hicks.« Statt des Ouzos verteilte sie mindestens einen halben Liter Grand Marnier auf unsere Gläser und wälzte sich vom Sofa auf den Boden.

»Ich trinke hiermit auf die Starfotografin«, sagte sie mit schwerer Zunge und klopfte einladend auf den Teppich. »Komm runter. Hier ist es zwar nebelig, aber viel bequemer.«

O Gott! In einem kurzen Anfall von Klarsicht ging mir auf, daß Andrea gewaltig einen sitzen hatte. Wenn ich ihr nicht bald das Glas wegnahm, würde Johannes sie vor übermorgen nicht aus der ehelichen Ausnüchterungszelle herauslassen. Unauffällig riß ich ihr das Glas aus der Hand, bevor sie sich mit dem Grand Marnier den alkoholischen Gnadenschuß verpassen konnte.

»Weg mit dem Zuckerwasser«, sagte ich entschlossen. »Wir trinken jetzt was Anständiges!«

»Aber du hast doch nichts«, protestierte sie und angelte angestrengt nach ihrem Cognacglas.

»Doch. Schampus. Das ist dem Anlaß angemessen.«

Ich überlegte. Das Denken fiel mir im Moment extrem schwer, was vermutlich daran lag, daß eine halbe Flasche Cognac sämtliche verfügbaren Gehirnwindungen lähmte. Irgendwo in meiner Kommode mußte noch eine uralte Flasche Sekt ein beschauliches Rentnerdasein führen. »Warte mal, ich hab noch was in petto.«

Ich torkelte in halbwegs aufrechter Haltung die knarrende Holztreppe nach oben. Auf der vierten Stufe bemerkte ich das Fehlen des Treppengeländers, das hier einstmals installiert gewesen war. Welcher Blödmann hatte das Geländer abgesägt? Wer in der Nachbarschaft brauchte Brennholz??? Murphy! Du Ratte!

Mangels Geländer erreichte ich die oberste Stufe auf allen vieren und mißbrauchte den säulenförmigen Wäschepuff im Flur, um mich aufzurichten. Bäh! Aus dem geflochtenen Deckel des Korbes waberte mir eine säuerliche Gaswolke entgegen. Müffelnde Tennissocken. Polohemden mit dem gut abgelagerten Achselschweiß meines liebenden Ehemannes. Unterwäsche, die sehr sexy war und den kleinen Benno höchst animierend verhüllte, die aber jetzt so erotisch roch wie ein ungeputzter Raubtierkäfig. Ich beschloß spontan, Bennos Müffeldessous in der Sammelstelle für Sondermüll abzugeben.

Angewidert versenkte ich meinen Oberkörper in der mittleren Kommodenschublade. Hier hortete ich allerlei Brauchbares, was noch nicht kaputt genug zum Wegschmeißen war, und nicht mehr Brauchbares, was jedoch nicht kaputt war. Eingelaufene T-Shirts mit Farbstich, die Julian gelegentlich zum Fahrradputzen benötigte. Ein übriggebliebener Still-BH, den ich aufgehoben hatte, weil ich ein sentimentales Huhn bin. Reserve-Griffbänder von Bennos Tennisschläger in unmodischem Neonpink. Ein Päckchen Kondome mit Himbeergeschmack, deren orale Annahme ich standhaft verweigerte. Ein Dutzend Männersocken ohne Partner. Und ein Schuhkarton voller Puzzleteile, die nirgendwo reinpaßten.

Da, endlich. Die Flasche.

Es war ein ganz besonderes Stück Trinkkultur, das ich aus der hintersten Ecke herauswühlte. Die Flasche war durchgehend mit Silberfolie geschmückt, und das Etikett war handschriftlich betextet. ›Bredenbekshorster Schlüpferstürmer‹ lautete die Inschrift in schnörkeligen Buchstaben, darunter ›Champagner, Hausmarke Henry‹.

Achgottachgott. Henry! Schamvoll stierte ich auf das Etikett und verdrängte jeden ehefraulich streng verbotenen Gedanken an meinen lustvollen Vier-Wochen-Ausrutscher aus Hamburger Ausbildungstagen. Henry, der studierende Hobbybauer mit gebärfreudiger Muttersau und tuckerndem Trecker, der montags, nach ausgiebigem Stallaufenthalt, besonders streng roch. Sein Pflug jedoch war große Klasse und ging die Sache meist hinterwäldlerisch-rustikal, dafür erfrischend natürlich an. Ich war leise bedauernd von der Agrarnummer abgesprungen, nachdem Henry mich eines Abends etwas zu ausführlich und für meine Begriffe allzu zukunftsträchtig anhand des Küchenbesens in der virtuosen Handhabung einer Mistforke unterwiesen hatte.

Das Detail mit dem unermüdlich seine Furchen ziehenden Pflug war dem latent eifersüchtigen Benno übrigens bisher vorenthalten worden. Sonst hätte er die Flasche schon vor der Hochzeit in der Kloschüssel ausgeleert, mit Waschbenzin gefüllt und an Henry zurückgeschickt.

Ich klemmte mir die Flasche unter den Arm und rutschte sicherheitshalber auf dem Hosenboden die Treppe herunter, obwohl sich das Geländer mittlerweile wieder angefunden hatte. Andrea saß breitbeinig vor dem Sofa und starrte verklärt lächelnd in den Grand Marnier. Mit knackenden Gelenken klappte ich meine Beine unter den Couchtisch.

»Endlich. Ich hab tierischen Durst. Was issn das, Mensch?«

»Champagner. Den trinken wir jetzt aus Schnapsgläsern, dann hält er länger.«

»Du bist plemplem«, bemerkte Andrea schlicht. Wenigstens hatte sie keinen Schluckauf mehr. »Quassel nicht, sondern mach endlich die Flasche auf. Außerdem ist da bestimmt kein Champagner drin. Höchstens Faber Dröhnung.«

»Wieso?« Empört drehte ich die Flasche um ihre eigene Achse. Henry hatte mich zu seiner kopftuchtragenden hauptberuflichen Stallausmisterin machen wollen! Da mußten doch ein paar Mark für echten Champagner drin gewesen sein!! Soviel war ich ihm mit Sicherheit wert gewesen.

»Wer Dom Perignon verschenkt, überklebt das Etikett nicht.«

Die Logik war entwaffnend. Voller Respekt sah ich Andrea an. Sturzblau und trotzdem bei klarem Verstand! Toll! In diesem Zustand neigte ich dazu, drittklassige Zoten zu erzählen, die Benno regelmäßig hochnotpeinlich waren und mir anderntags mit vorwurfsvollem Cockerspanielblick vorgehalten wurden.

Ach, Benno! Irgendwie tat er mir plötzlich leid.

Ich watete durch den Scherbenteppich, der jeden nordindischen Fakir an den Rand eines mentalen Höhepunktes gebracht hätte, und holte frische Gläser. Dann köpften wir den Champagner-Sekt. Weil er so warm war, knallte der Korken mit Karacho aus dem Flaschenhals und schoß die Eßtischlampe aus. Außerdem gab es eine ziemliche Schweinerei auf dem Couchtisch.

Das paßte zu Henry. Ein Hobbybauer verursacht immer Schweinereien. Befriedigt über den schicksalhaften Ausgang des Abends schlug ich jede Warnung Andreas in den Cognacdunst, der sanft über dem Wohnzimmer lag, und probierte Henrys Präsent.

Ach du liebe Zeit. Es war unmöglich Champagner. Es war noch nicht einmal Faber Dröhnung. Eigentlich gehörte es in die Kategorie ›Chemische Kampfstoffe‹. In diesem Moment beglückwünschte ich mich noch einmal zu der Entscheidung, nicht in die ländliche Misthaufen-Idylle eingeheiratet zu haben. Einen Geizkragen mit grunzendem Anhang zum Mann? Nie. Egal, ob und wie er pflügen konnte.

»Siehst du?« Andrea bohrte mir schmerzhaft ihren Ellenbogen in die Rippen und versuchte, mit ihren momentan etwas haltlosen Augäpfeln den aufsteigenden Kohlensäurebläschen zu folgen. Der Versuch mißlang mehrmals, da sie wie immer ab einem ganz bestimmten Pegel anfing zu schielen. »Nur wo Champagner draufsteht, ist auch Champagner drin.«

»Es steht doch Champagner drauf«, wandte ich erstaunt ein und angelte mir die letzte Marlboro aus der Schachtel.

Andrea war von dieser Replik vollkommen irritiert und mußte länger überlegen. »Du hast recht. Aber irgendwie ist das unlogisch.«

»Du bist albern, und du schielst«, sagte ich streng. »Nach diesem Glas schicke ich dich nach Hause. Johannes kettet dich sonst abends am Sofa fest. Und mich läßt er nicht mehr rein, weil ich die Moral seiner Ehefrau versaue.«

Sie kicherte und quälte ihre Augäpfel mühsam in die Parallele. »Gib mir noch ein Schlückchen. Außerdem ist Johannes sowieso geschockt. Ich war heute frech.«

»Du?!« Ausgeschlossen. Andrea war lieb, gefügig und ungefähr so aufsässig veranlagt wie ein Angorahase. Voller Todesverachtung schüttete ich die perlende Liebesgabe aus dem hohen Norden in mich hinein. Jetzt war sowieso alles egal. Morgen würde ich mich fühlen wie nach dem Verzehr von Salmonellenpudding. Morgen? Wollte ich mir nicht morgen einen Job suchen?

Dann doch lieber übermorgen. Trunkenbolde mit Dauerlutschern aus Alka-Seltzer stellte sogar im alkoholseligen Mühlstetten niemand ein.

»Ich. Heute mittag rief ich Johannes vom Schreibtisch weg, weil das Waschbecken im Bad ein Loch hatte.«

»Du meinst, der S-s-siphon tropfte«, stellte ich sachlich richtig. So was reparierte unsereins übrigens mit links. Kleinigkeit. Einen verbeamteten Ehemann brauchte ich dafür nicht.

»Jaja, das Dings unten dran. Johannes bastelte geschlagene zwanzig Minuten an dem Gewinde herum, bis es nicht mehr tropfte, sondern fontänenartig spritzte. Dann sagte ich zu Johannes, er solle sich abtrocknen und die Haare fönen. Ich würde derweil Herrn Walcher holen. Wer bitte schön Herr Walcher sei, fragte Johannes. Daraufhin sagte ich, Herr Walcher sei der Agent Nullnull mit der Lizenz zum Löten. Da war Johannes beleidigt. Wo er doch so viel auf seine Reparaturkünste hält. Männer sind manchmal komisch.«

»Jawoll!« brüllte ich und kippte noch ein Gläschen Bauernfusel. »Und Benno ist der Allerkomischste von allen! Und nächste Woche fange ich an, Geld zu verdienen, und dann kaufe ich mir die blöde Waschmaschine selber!«

Triumphierend dachte ich an die Herrendessous mit Raubtieraroma. Die konnte Benno dann selber in die Trommel quetschen. Ich würde nämlich ab nächster Woche keine Zeit mehr dazu haben.

»Sag mal, wie sch-sch-spät ist es eigentlich?« erkundigte sich Andrea und raufte sich die Haare. »Mir ist irgendwie komisch.«

»Gleich elf.« Irgendwie war mir auch komisch. Das Wohnzimmer widersetzte sich plötzlich jeglichen Gesetzen der Physik und bewegte sich unvorschriftsmäßig im Kreis herum. Und mein liebender Gatte war auch noch aushäusig.

»Halt doch mal die Schrankwand an«, sagte Andrea flehend.

In diesem Moment drehte sich ein Schlüssel in der Haustür. Beschwingte Schritte Richtung Wohnzimmer. Klirren. Ein paar zertretene Scherben knirschten auf den Fliesen. Bennos Kopf schob sich zentimeterweise durch die Wohnzimmertür. In seinen Augen stand das blanke Entsetzen. »Hallo, die Damen!«