Ein Hausfreund kommt selten allein - Karen Hartig - E-Book

Ein Hausfreund kommt selten allein E-Book

Karen Hartig

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Beschreibung

Romea hat sich gerade mit ihren drei Kindern ein neues Leben aufgebaut, als ihr Exmann die Unterhaltszahlungen einstellt. Den Kampf um die Existenz zu gewinnen erfordert mutige Entscheidungen und auch ein Quäntchen Glück. Das hat Romea schließlich, und alles könnte wunderbar sein, wäre da nicht die leise Ahnung, dass ihre neue Beziehung auf wackligen Beinen steht. Doch Cupidos Pfeil fliegt manchmal in Schlangenlinien, man muss es nur merken. Ein heiterer Roman über die Umwege des Lebens – und der Liebe. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 511

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Karen Hartig

Ein Hausfreund kommt selten allein

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Inhalt

Die Frau in der [...]Ich muss mein Kissen [...]Prolog: Und tschüs und wegWas Frauen nicht alles könnenEin Piccolo für den SingleEs irrt der Mensch, solang er strebtMänner sind auch nur Menschen»Ausziehen, hinlegen, umdrehen«Frieden, Flusen und ein FlopSchokolade beruhigt die NervenBlues mit dem HausfreundNeues Jahr, neues GlückHouston, wir haben ein ProblemKomm morgen wieder, Wirklichkeit»Schreiben Sie bitte in Druckschrift«Wie versetzt man einen Berg, Lektion zweiThe whole life is vive la merdeDie Geister, die ich riefEin bisschen Unvernunft muss manchmal seinGretchenfrage und ein SchwurWer will, der kann, sagt mein NachbarIch wär so gern ein SchopfmakakeIt’s showtimeDer Mond scheint auch für NervenbündelLucky Luke zieht seinen ColtGermanisten und andere MissionareGegensätze ziehen sich an – oder ausDie Nacht im NirgendwoTrio oder Quartett?WasserspieleEr hüben und sie drübenZwei alte Tanten tanzen TangoKleine Bitte an Franz LeharBeckers BesterMein Schutzengel heißt CupidoEpilog: Im Paradies gibt’s Toblerone

Die Frau in der Gesellschaft

Herausgegeben von Ingeborg Mues

Ich muss mein Kissen küssenauf dem du gelegen hast

 

Ich muss meine Finger küssendie dich liebkost haben

 

Ich muss meine Zunge küssenaber das kann ich nicht

 

Erich Fried

Prolog: Und tschüs und weg

Das Schlafzimmer lag in völliger Dunkelheit, von ein paar Lichtlinien abgesehen, die durch die metallenen Lamellen der Jalousette drangen. Im Schlafanzug saß ich auf der Bettkante und betrachtete die Spiegelungen der Lichtreflexe auf der Wand. Ich ließ mir viel Zeit. Nachts ist Zeit eine dehnbare Angelegenheit, insbesondere vor dem Tag, an dem man ein neues, ein ganz frisches Leben beginnen wird.

Dieses Fenster ist so unterkühlt und seelenlos wie der ganze Raum, dachte ich. Überall nüchterner Designerkram, überall harte Kontraste. Und wie soll man einschlafen, wie den Geist in jenen taumeligen Zustand zwischen Wachen und Wegtauchen entlassen, wenn da nichts ist, was ihn dämpft? Am meisten war mir immer dieses nackte schwarze Fenster zuwider gewesen. Absurderweise hingen auf beiden Seiten üppige Stoffbahnen aus weißer Voile, ein Gespinst aus dünnsten Baumwollfäden, das sich beim geringsten Luftzug zu blähen begann und das von der Straße einfallende Licht sanft filterte, immer vorausgesetzt, man hätte den Vorhang vor das Fenster gezogen. Eben dieses durfte man jedoch nicht, eine Vorschrift, die dem Mann neben mir im Bett zu verdanken war. Seiner Meinung nach behinderte der Stoff die Frischluftzufuhr.

Ich lauschte für einen Moment. Der Mann, mit dem ich vierzehn Jahre meines Lebens geteilt hatte, atmete gleichmäßig und sehr ruhig. Für gewöhnlich neigte er zum Schnorcheln.

Morgen früh gehe ich, dachte ich, morgen früh sind das alles nur noch Relikte aus vergangenen Ehezeiten. Sowohl der Mann als auch die Geräusche und die ständig wiederkehrende Diskussion um den Vorhang, meist zu nächtlicher Stunde in gereiztem Zischton geführt. Vorhang kommt mit, Mann bleibt hier.

Übrigens besteht für dich absolut kein Anlass zur Sorge. Weder gedenke ich, dich finanziell auszunehmen, noch werde ich dich in einer leer geräumten Wohnung deinem Schicksal überlassen. Ich beanspruche nur das, was mir zusteht: die Hälfte von allem. Ungeachtet deines Standpunktes, dass sich eine abhauende Frau mit dem berühmten Nötigsten zufrieden zu geben habe. Du wirst dich wohl damit abfinden müssen, dass für eine Frau mit drei Kindern der halbe Hausrat mit dem »Nötigsten« gleichzusetzen ist, ob sie nun gerade im Begriff steht abzuhauen oder nicht.

Für den morgendlichen Ritualkuss auf die rechte Wange, diese flüchtige und seit langem überflüssige Kenntnisnahme meiner Person, gibt es längst eine neue Adressatin. Der Ersatz meiner Person ist in deinem Handy gespeichert, hat brünettes Haar und wartet vermutlich darauf, den frei werdenden Platz in diesem Bett einnehmen zu dürfen. Auch der Ersatz wird lernen müssen, dass von dir nur das Nötigste zu erwarten ist.

Mein Nötigstes ist ein anderes Leben.

Der Mann neben mir im Bett wälzte sich von der rechten Seite auf den Rücken. Noch immer atmete er fast geräuschlos. Die Lichtlinien von der Jalousette fielen schräg auf die Bettdecke und verliefen sich über dem Kopfkissen, waren aber zu schwach, um die Konturen des schlafenden Gesichts erkennen zu lassen.

Ach ja, das Bett, dieses polierte anthrazitfarbene Ungetüm. Behalte es ruhig. Meinem Ersatz wird das vorhandene Doppelbett wohl genehm sein, zumindest für den Übergang. Sie wird sich am Ziel wähnen, wo ihr Weg doch erst begonnen hat, sie wird das Schlafzimmer betreten und die dort herrschenden Minustemperaturen registrieren und vielleicht für einen kurzen Moment erschrecken. Dann wird sie, im Umgang mit dir noch unverbraucht und mutig, den Erwerb eines neuen Bettes anregen, wird aber schätzungsweise an deinem materiellen und emotionalen Geiz scheitern. Ersatzweise räumt sie daraufhin den Neonkaktus vom Designerschrank und tauscht ihn durch einen heimeligen Strohblumenstrauß aus, wobei ihr möglicherweise zu dämmern beginnt, dass ihr Ziel noch in weiter Ferne liegt.

Aber meins nicht. Lieber Ex, ab morgen behindert nichts mehr deine Frischluftzufuhr. Morgen gehe ich.

Ich werde wahrscheinlich einen Schutzengel brauchen, dachte ich. Dann stand ich auf, zog den Voile-Vorhang zu und verließ das Schlafzimmer.

Was Frauen nicht alles können

Zwölf Stunden später kniete ich in einem der Kinderzimmer und fluchte. Der Wutausbruch galt weder dem infernalischen Chaos um mich herum noch der Tatsache, dass der Fliesenleger im Bad noch nicht ganz fertig war. Er galt der sperrigen, fünf Meter langen Rolle mit Teppichboden vor mir, die diagonal im Zimmer lag.

Das kommt davon, wenn man unbedingt sparen will, dachte ich reumütig. Die beiden Jungs von der Teppichfirma, die vorhin mit der aufgerollten Auslegeware angerückt waren, hatten so kräftig und vertrauenswürdig ausgesehen. Ruck, zuck wäre der Teppich zugeschnitten, eingepasst und verklebt gewesen, hätte ich nicht darauf bestanden, das bisschen Velours in dem Kinderzimmer selber zu verlegen. Im Badezimmer pfiff der Fliesenleger vor sich hin. Da zu befürchten stand, dass alle drei Kinder demnächst ein menschliches Bedürfnis überkommen würde, hoffte ich sehr, dass er gleichzeitig pfeifen und zügig seine Arbeit vollenden konnte. Kurzer Blick aus dem Fenster Richtung Garten: Ninni, meine Jüngste, grub ihre Füße im Sandkasten ein, der noch von den VorVormietern stammte, die beiden Großen spielten unter den uralten Riesentannen und bewarfen sich mit Tannennadeln. Noch hatte keiner Hunger, noch wollte keiner nach Hause. Alles in Ordnung – noch.

Energisch rollte ich die Hälfte des Teppichbodens ab. Mittlerweile betrachtete ich es als persönliche Herausforderung, mit diesem Ding klarzukommen. Wäre doch eine Schande, erst große Töne zu spucken und anschließend gleich beim ersten kleinen Problem nach männlichem Beistand zu jammern, auch wenn dieses Problem Ausmaße und Gewicht eines jungen Kanalisationsrohres hatte. Ächzend zerrte ich die Kante bis zur Wand und rollte den Rest ab. Blieben nur noch drei Arbeitsgänge: Ausrichten, zuschneiden und verkleben. So schwierig konnte das eigentlich nicht sein.

Es war schwierig. Zwanzig Quadratmeter Teppichboden sind für einen allein kaum zu handhaben, es sei denn, man hat keine andere Wahl. Schwitzend ruckelte ich mal an dieser Seite, mal an jener Seite, bis wirklich kein Fleckchen des grünen Linoleums mehr zu sehen war, trampelte das faltenschlagende und sich überall wellende blaue Ungeheuer notdürftig glatt und griff zum Teppichmesser. Dann säbelte ich genau an der Wand los. Nun ja, ganz sauber war der Schnitt nicht, aber ich hieß schließlich nicht Christiaan Barnard.

»Könnse mal dat Wasser an- un widder abstellen?«, meldete sich der Fliesenleger aus dem Badezimmer.

Ich tat wie geheißen und begab mich daran, die gegenüberliegende Teppichbodenkante zu schneiden. Wenn das geschafft war, bedurfte es nur noch der Feinarbeit; die Seite mit der Türfüllung und dem Heizkörper schien leider etwas kniffeliger zu sein.

»Hörense mal, wat jibt dat denn, wenns fädisch ist?«, vernahm ich plötzlich direkt neben mir. Weiß der Himmel, wie der Fliesenleger es geschafft hatte, sich mit seinem Kugelbauch an den Möbeln vorbeizuzwängen.

»Ein Zimmer mit Teppichboden«, sagte ich kurz und prüfte, ob das Messer noch scharf war.

»Wennse de Fußleisten nit abnehmen, wööd dat aber nix.« Er grinste ebenso breit wie die beiden Jungs von der Teppichbodenfirma vorhin.

Verflixt, die Fußleisten hatte ich glatt vergessen. Schweigend zog ich einen kleinen Schraubenzieher aus meiner Latzhose.

»Fußleisten werden immer jenagelt«, feixte der Fliesenleger.

»Das ist mir bekannt«, sagte ich kühl und wartete auf die Frage, die jetzt unweigerlich kommen musste, diese eine Frage, die ich schon im voraus hasste, an die ich mich aber besser baldmöglichst gewöhnte.

»Sarense mal, warum macht dat denn nit Ihr Mann?«

»Der kann das nicht«, fauchte ich und rammte den Schraubenzieher zwischen Wand und Fußleiste, »Sie sind fertig mit Ihrer Arbeit, nehme ich an?«

»Fädisch?« Er warf mir einen empörten Blick zu. »Fädisch? Näh. Dat Klo is noch nit drin, dat kütt nachher noch. Un verfugt werden muss auch noch.«

»Was meinen Sie mit ›dat kütt nachher‹?!«

»So um fünnef«, meinte er und betrachtete meine fußleistenabreißende Wenigkeit sehr geringschätzig, »und dunnse de Fußleisten lieber auf de Terrasse, wejen de Näjel. Nit dat Se sisch noch verletzen.«

Danke, Chef, dachte ich. Ohne deine Hinweise würde sich das dumme Frauchen garantiert sämtliche Gliedmaßen perforieren oder eine der Fußleisten unter dem Teppichboden vergessen und sich des Abends über die sonderbare Beule mitten im Zimmer wundern. Ich sah auf die Uhr: halb vier. »Und was soll Ihrer Meinung nach geschehen, wenn vor fünf einer mal muss?«

»Dat könnse vorläufisch sowieso nit, hat Ihnen der Vermieter dat nit jesaacht?«

»Ich kann vorläufig was nicht?« Langsam richtete ich mich auf. Insgesamt war die Absicht des Vermieters, unseretwegen die dreißig Jahre alten Fliesen erneuern zu lassen, ja durchaus als freundliche Geste zu werten, doch dass dies eventuell nach unserem Einzug geschehen könne, hatte ich in der Tat nicht in Betracht gezogen.

»Also, vor morjen abend könnse auf keinen Fall in dat Bad«, sagte der Fliesenleger seelenruhig, »erst müssen de Fugen austrocknen. Vorher jeht mir da keiner rein. Könnse nit dem Nachbarn sein Klo benutzen?«

Na, der wird sich bedanken, dachte ich und schluckte. »Darf ich fragen, warum Sie die Fliesen im Badezimmer nicht eine Woche früher verlegt haben? Ich habe einen Mietvertrag zum ersten August, das war Ihnen doch bekannt!«

»Minge Chef is in Urlaub. Wat meinen Sie, wievill Überstunden isch wejen Ihre Bad schon jemacht han. Und mehr als arbeiten kann isch nit.«

Rheinische Gemütlichkeit, was liebe ich dich.

Unvermittelt wurde es laut im Garten. Bäuchlings im Sandkasten liegend, brüllte Ninni Zeter und Mordio. Die beiden Älteren waren nicht zu sehen. Beunruhigt stolperte ich zum Fenster. »Carlo, Suse! Wo seid ihr?«

»Hier, Mama! Pssst«, kam es voll unterdrückter Aufregung von scharf links aus dem Nachbargarten. Entsetzt stellte ich fest, dass meine Sprösslinge mit der Nase direkt an der Fensterscheibe der Erdgeschosswohnung klebten.

»Was macht ihr da?«, rief ich halblaut, »Ninnischatz, warum weinst du?«

»Guck mal, hier stehen drei Computer nebeneinander!«, tuschelte Suse mir zu, »und das ganze Zimmer ist voller Kartons!«

»So ungewöhnlich ist das nicht, Liebes«, sagte ich, »wirf doch mal einen Blick bei uns rein.«

»Garantiert ein Hehler«, sagte Carlo ehrfürchtig, »das Lager einer internationalen Diebesbande. Alles teure elektronische Spielereien, die Dinger hier.«

»Quatschkopf. Nun komm schnell wieder rüber, bevor es Ärger gibt.«

In diesem Moment setzte nebenan wildes Gekläffe ein, eine Frequenz aus dem Kleinhundbereich. Wie von der Tarantel gestochen rasten Carlo und Susanne zurück auf unser Grundstück. Meine Jüngste brüllte noch immer. »Kinder, was ist mit Ninni los? Könnt ihr euch nicht mal ein bisschen um sie kümmern?«

Carlo hob den Kopf. Ich registrierte sogleich einen bräunlichen Schmutzfilm in seinem Gesicht. »Mama, ich hab sie eben schon getröstet! Aber sie hat Sand im Mund, den kriege ich nicht raus.«

»Dann gib ihr was zu trinken. Schau doch mal im Auto nach, in der Seitenablage könnte noch Sprudel liegen. Sonst gib ihr Leitungswasser.«

»Das hab ich längst versucht, aber es kommt ja nichts aus dem Hahn! Können wir jetzt endlich drinnen spielen?«

Ninni schrie und spuckte Sand und schluchzte: »Will zu Mama!«

»Ninni, meine Süße«, redete ich ihr gut zu, »ich bin gleich fertig mit dem Teppich. Nun hör auf zu weinen. Und nachher essen wir Eis, ja?«

»Wir warten schon so lange«, sagte Suse sauer und schoss Ninnis Ball mit Karacho ins Gebüsch, »ich will jetzt ins Freibad.«

Auf der Terrasse nebenan tauchte ein Mann mit brauner Jogginghose und fettigen Haaren auf. Leider machte er durchaus nicht den Eindruck, als wolle er mir einen labenden Willkommenstrunk reichen. In Knöchelhöhe kläffte das Hündchen, ein schneeweißer Malteser. Schade, dass sein Herrchen nicht annähernd so gepflegt und hübsch war. »Geht das hier ein bisschen leiser?«, rief er mürrisch. »Ich habe meinen freien Nachmittag!«

»Das trifft sich gut«, sagte ich liebenswürdig, »ich nämlich auch, deswegen ziehe ich auch heute um.«

»Diese Kinder hier, spielen die immer draußen?«

»Bei schönem Wetter schon«, sagte ich, »wo haben Sie denn als Kind immer gespielt?«

»Gespielt? Dazu hatte ich keine Zeit. Und jetzt sorgen Sie bitte dafür, dass dieses Gebrülle aufhört. Wir sind hier nicht im Zoo.« Er schlurfte zurück ins Haus und knallte die Tür zu.

Während ich ihm mehr oder minder fassungslos nachsah, kam Carlo mit dem Sprudel zurück. »Mama, die Flasche lag in der Sonne und das Wasser ist jetzt total warm und vergammelt. Also, ich trink das nicht.«

»Gib’s Ninni«, sagte ich leise verzweifelnd, »sie soll sich damit den Mund spülen. Bitte seid lieb und spielt noch eine Weile. Es dauert nicht mehr lange.« Das war die Untertreibung des Jahres, dachte ich, selbst Kinder lassen sich irgendwann nicht mehr an der Nase herumführen. Für den Teppich würde ich mindestens noch eine Stunde brauchen.

»Das sagst du schon seit zwölf Uhr, dass es nicht mehr lange dauert«, schrie Suse aufgebracht.

»Muss Pipi«, fügte Ninni hinzu, die den Sand im Mund offensichtlich losgeworden war. Zu allem Überfluss bekundete Carlo nun, mir beim Zuschneiden helfen zu wollen. Dann ginge es vielleicht schneller.

Gott bewahre. Gab es denn in dieser Straße keine anderen Kinder, denen sich die meinen anschließen konnten? Hallo, hat hier zufälligerweise jemand Lust, meinem entwurzelten Nachwuchs für drei bis vier Stunden Familienanschluss zu bieten? Leider ließ sich niemand blicken. Es half also nur noch eins: straffe Organisation kombiniert mit dem Prinzip Hoffnung.

»Kinder, kommt alle her!«, rief ich. Einer nach dem anderen dackelte in meine Richtung. Als Letzte baute sich Suse vor dem Fenster auf. Mit dem rechten großen Zeh bohrte sie missmutig im Gras herum. »Jetzt hört mal zu, ihr drei. Carlo, wie alt bist du?«

»Dreizehn«, sagte er mit einem leichten Kiekser, der auf den Stimmbruch zurückzuführen war.

»Sehr gut. Suse, und du?«

»Elf, Mama, aber das wissen wir doch alle, und außerdem –«

»Ruhe jetzt. Hier stehen also zwei Kinder, die –«

»Und ich bin schon so viel Jahre!«, schrie Ninni dazwischen und brach sich fast die rechte Hand bei dem Versuch, demonstrationshalber drei Finger abzubiegen.

»Genau«, sagte ich, »eine ganz große Ninni bist du schon.«

»Wolltest du nicht mit dem ollen ›Ninni‹ aufhören und sie richtig ›Nadja‹ nennen?«, warf Suse ein.

Mir brach schon wieder der Schweiß aus. Wenn das so weiterging, würde ich bei Einbruch der Dunkelheit noch nicht mit der Ansprache an mein Volk fertig sein. »Doch, Suse, du hast natürlich Recht, aber das ist jetzt nicht so wichtig –«

»Muss jetzt Pipi«, meldete sich Ninni erneut und klemmte beide Hände zwischen ihre Beine. Offenbar eilte es wirklich.

»Carlo, geh bitte mit ihr hinten im Garten ins Gebüsch. Das gilt übrigens für euch alle, wenn ihr mal müsst. Stellt euch vor, das Klo ist noch nicht eingebaut! Lustig, nicht?«

»Ich will nicht in einem Haus wohnen, in dem es kein Klo gibt«, sagte Suse beleidigt, »ich will nach Hause. Wieso konnten wir heute nicht bei Papa bleiben?«

»Weil der arbeiten muss, und –«

»Und warum durfte ich nicht zu Steffi?«

»Ruhe jetzt!«, schrie ich entnervt, »deine Freundin Steffi hat eine Magen-Darm-Grippe, deswegen! So, und nun passt auf: Ich gebe euch jetzt Geld, und dann könnt ihr zum Laden gehen und euch dort ein Eis kaufen und es ganz, ganz langsam essen! Und wenn ihr danach noch Hunger habt, könnt ihr euch noch ein Eis kaufen! Und dann kommt ihr zurück, und bis dahin habe ich wahrscheinlich den Boden hier fertig, und die Mädchen können in ihr Zimmer und ihre Spielsachen auspacken! Und Ninni nehmt ihr an die Hand!!!« Ich verstummte erschöpft.

»Cool«, sagte Carlo, wobei seine Stimmbänder einen erstaunlichen Oktavsprung bewältigten, »dürfen wir auch drei Eis?«

»Will auch Eis«, sagte Ninni.

Suse sagte ausnahmsweise mal nichts. Ich klaubte einen Zwanzigmarkschein aus meiner Hosentasche, faltete ihn zu einem Miniaturflieger und ließ ihn ins Freie gleiten. »Alles klar jetzt?«

»Alles klar«, sagte Carlo. Er fischte den Zwanziger aus den Tannennadeln und nahm Ninni an die Hand. »Ich pass schon auf.«

»Danke, mein Großer. Kauft bitte noch eine Flasche Sprudel, okay?«

Keine Beschwerden mehr. Abmarsch der Kompanie. Aufatmend zog ich mich ins Zimmer zurück und überlegte, wie viel Zeit Kinder benötigen, um drei Eis am Stiel zu verdrücken. Fünf Minuten? Eine halbe Stunde? Wie auch immer, die Frist galt es zu nutzen. In einem ungeheuren Tempo riss ich die letzte Fußleiste von der Wand, schnitt den Teppichboden zu und bewerkstelligte das ganze Unternehmen insofern halbwegs ordentlich, als ich dabei nur ein einziges Mal heftig mit dem Messer abrutschte. So, weiter, linke Hälfte des Teppichs umschlagen und Zimmerboden einkleistern. Ich schritt außerordentlich forsch, aber konzentriert zu Werke, vergaß nicht einmal das vorschriftsmäßige Ablüftenlassen des Klebers; schon machte sich so etwas wie Stolz in mir bemerkbar, weil ich keine der nägelbestückten Fußleisten eingearbeitet hatte und der Teppich nirgendwo überstand, als mir ein paar Beulen unter dem Teppich ins Auge fielen. Luftblasen! Da ich nicht wusste, womit der geübte Do-it-yourselfer diese entfernt, ließ ich mich kurzerhand auf die Knie nieder und schob ein Regalbrett Bahn für Bahn über den Boden. Kurz nachdem ich schmerzlich zu begreifen begonnen hatte, warum der Mensch sich üblicherweise auf seinen Füßen und nicht etwa auf den Kniescheiben fortbewegt, nahm ich Stimmengemurmel im Hausflur wahr. O Gott, die Kinder. So schnell?

Nein, nicht die Kinder, sondern der Fliesenleger erwies mir die Ehre. Verstärkung hatte er sich auch mitgebracht. Schweigend lehnten die beiden Herren an der Türfüllung des Kinderzimmers und sahen mir ein Weilchen zu, wie ich auf allen vieren hinter dem Regalbrett herkroch. Obacht, Jungs, dachte ich, wenn ihr auch nur eine einzige bissige Bemerkung macht, haue ich euch die Fußleisten um die Ohren!

Sie ließen sich viel Zeit. Ich war schon drauf und dran, mich zu erkundigen, ob der Anblick einer kriechenden Frau ihnen irgendeinen Lustgewinn verschaffte, als sich der Neuankömmling von der Türfüllung löste. »Wat Frauen nit alles können«, sagte er in anerkennendem Tonfall und verschränkte die Arme vor der Brust, »Schmitz mein Name, ich bin der Installateur.«

»Sieht rischtisch professionell aus«, bestätigte der kugelbäuchige Fliesenleger, »dat könnt isch auch nit besser.«

Ein Handwerker zollte mir Lob, mir, dem ahnungslosen Frauchen! Beschwingt schlug ich die zweite Hälfte des Teppichs um und kleisterte den Boden ein, alles noch immer unter den interessierten Blicken der beiden Herren. Möglicherweise machten sie sich so ihre Gedanken, ob ich nach Abschluss der Teppicharbeiten auch den Fliesenschneider an mich reißen und die Fertigstellung des Bades in Eigenregie erledigen wollte. Einer wie mir war wahrscheinlich alles zuzutrauen. Dann kam mir plötzlich ein Gedanke.

»Herr Schmitz, wofür genau sind Sie zuständig?«

»Na, für die Leitungen und Anschlüsse und die gesamte Warmwasserversorgung«, teilte er mir auf Hochdeutsch mit. Schon sein ernstes Gesicht drückte in aller Deutlichkeit aus, um welch bedeutungsvolle Tätigkeit es sich hierbei handelte. Einen Wasserhahn aufdrehen konnte jeder Schimpanse, aber damit aus diesem Hahn tatsächlich klares Nass rann und nicht etwa das Abwasser der Dachwohnung – dafür brauchte man ihn, Herrn Schmitz. Diesen Mann musste ich mir unter allen Umständen warm halten. »Dat kann ich aber alles erst anschließen, wenn der Kolleje hier fertig is«, teilte er mir mit und fiel dabei ganz leicht wieder ins Rheinische zurück.

»Und janz zum Schluss kriejen Sie noch Handtuchstangen un dat janze andere Jedöns«, fuhr der Fliesenleger fort, »’ne Ablage für unter de Spiejel un esu, alles jute Machkenqualität. Da is nix ausm Baumarkt.«

»Dann mal tschö«, sagte der Installateur und wandte sich zum Gehen.

»Halt!«, rief ich. »Kriegen Sie wenigstens die Dusche ans Laufen? Heute, meine ich?«

»In dat Bad jeht mir keiner rein«, beharrte der Fliesenleger.

»Aber ich bin dreckig, und die Kinder sind dreckig, und das hält kein Mensch aus bis morgen Abend!« Ich hielt ihm meine klebrigen Hände entgegen.

»Dat jeht nit, junge Frau, da sind doch jar keine Armaturen an der Wand, und die Duschkabine fehlt auch noch«, versuchte der Installateur seine Notlage – das heißt, genau genommen war es ja meine Notlage – zu erklären.

»Aber die Badewanne hat doch schon welche«, flehte ich, »darf ich bittebitte die Badewanne benutzen? Ich verspreche auch, dass wir nicht spritzen!«

»Enäh«, sagte der Fliesenleger stur, »solange de Fugen nit trocken sinn, jeht hier niemand erin. Zähneputzen könnse in de Küsche. Hörense mal, mer ham Sommer, nehmse doch den Jachtenschlauch!«

Der Installateur schien zu zögern. Sogleich witterte ich meine Chance. Ich sah ihn von unten an, ganz kleinmädchenhaft, ganz hilflos. Dann brachte ich die Kinder zur Sprache, wiederholte mehrfach die Wörter »drei« und »Gestank«, flocht ein paar Bemerkungen bezüglich der großen Seuchen der Menschheitsgeschichte ein und kehrte mit einem eleganten Schlenker über die Spätfolgen bakterieller Infektionen in die Jetztzeit zurück.

Herr Schmitz war sehr nachdenklich geworden. Offenbar wollte er sich an der vollständigen Ausrottung dieser vierköpfigen Familie nicht beteiligt wissen. »Pas op, Jupp, wenn mer ne stabile Holzplatte auf den Boden lejen, dann kann doch den Fugen nix passieren. Dat kriste doch hin, Jung.«

Jupp machte ein bedenkliches Gesicht. Wahrscheinlich verwandelten sich vor seinem inneren Auge meine Kinder in eine Horde verdreckter Elefanten, die auf seinen kostbaren Fugen herumtrampelten und auf diese Weise sein Lebenswerk zerstörten. »Na jut«, sagte er schließlich skeptisch, »aber nit in de Fugen treten! Um Himmels willen nit in de Fugen treten! Und versprechen tu isch jetzt noch jaanix!«

Ich garantierte ihm drei brave, wohlerzogene Kinder mit dem Gewicht unterernährter Ameisen, log dabei kunstvoll das Blaue vom Himmel herunter, drückte dem Installateur dankbar den Unterarm und schoss dann ins Kinderzimmer zurück, um die zweite Hälfte Teppichboden zu verkleben. Eilig hämmerte ich die Fußleisten wieder an die Wand. Insgesamt einwandfreie Arbeit, und über der Stelle, an der mir das Messer abgerutscht war und ich wüste Schlangenlinien geschnitten hatte, würde ohnehin Ninnis Bett stehen. Stellte sich nur noch die Frage, wie frau zwei Kinderbetten, einen Schreibtisch und einen Kleiderschrank in das Zimmer bekam. Schieben? Ziehen? Hilfe!

Außerdem musste ich aufs Klo, und zwar pronto. Vor dem Möbeltransport.

Nachbar oder Nachbarin, dachte ich, welche Einstellung auch immer du schmutzigen, klebrigen, verschwitzten Frauen in Latzhosen gegenüber hast – wenn du mir jetzt nicht aus der Patsche hilfst, dann passiert ein Unglück. Ich zwängte mich durch den Flur ins Treppenhaus, rannte nach oben und wandte mich der Wohnung im ersten Stock zu. Vor der Tür eine Fußmatte mit der Inschrift »Welcome on board«, an der Wand ein blankes Messingschild mit zwei Namen: Zoeppel und Steinkrüger. Sturmklingelnd betete ich, dass jemand zu Hause sein möge.

Endlich näherten sich Schritte, die Tür wurde aufgetan, und ein völlig verschlafenes Männergesicht gähnte mich an. »Was – huua – gibt’s?«

»Dürfte ich bitte mal Ihre Toilette benutzen?« Ich wusste, dass ich ihn niederwalzen würde, wenn er ablehnte.

»Bitte«, sagte er nur, gähnte nochmal ausführlich und strich sich dann eher anstandshalber die verstrubbelten Haare aus dem Gesicht, »zweite Tür links.«

Drei Minuten später stand ich wieder im Flur. Der verschlafene groß gewachsene Herr trug einen dunkelroten Frotteebademantel und lehnte mit halb geschlossenen Augen an der Wand; sein Kopf stützte das gerahmte Foto einer Segeljacht. »Tut mir Leid, dass ich Sie geweckt habe«, sagte ich verlegen.

»Macht nix. Ich kann prima wieder einschlafen.«

»Toll«, freute ich mich, »also wenn ich einmal wach war, dann geht bei mir gar nichts mehr, dann wälze ich mich nur noch so herum.«

»Ach ja?« Er gähnte erneut. Es trieb ihm schier die Tränen in die Augen. Wenigstens hielt er sich diesmal die Hand vor den Mund.

»Am besten komme ich noch mal wieder, wenn Sie wach sind«, sagte ich und dachte kurz an meinen Vater, der in solchen Fällen immer lakonisch »Tobias sechs, Vers drei« murmelte. O Herr, er will mich fressen. »Wissen Sie, ich bin Ihre neue Nachbarin. Bei uns im Bad wütet noch der Fliesenleger. Haben Sie vielen Dank.«

»Schon in Ordnung. Man hilft ja, wo man kann.« Offensichtlich fiel die Verschlafenheit nun doch von ihm ab. »Ich bin übrigens Thomas Steinkrüger.«

»Romea Becker«, sagte ich und hielt ihm wohlerzogen die Hand hin.

Er drückte kräftig zu. »Na, das ist aber ein seltener Vorname. Um ehrlich zu sein, habe ich den noch nie gehört.«

»Meine Eltern hatten jedes Mal eine künstlerische Phase, wenn sie Kinder bekamen«, erläuterte ich, »obwohl sie von der Veranlagung her eigentlich grundsolide sind. Mein Bruder heißt Danilo, das ist fast noch schlimmer als Romea. Ein Operettenname.«

Er lachte. »Und Sie, sind Sie eine lustige Witwe?«

Pluspunkt, dachte ich leicht beeindruckt, weil man die Leute an einer Hand abzählen kann, die auf Anhieb wissen, dass der Danilo eine Figur aus der Lustigen Witwe ist. Ich registrierte: Mein Nachbar hat a) extrem wirres Strubbelhaar, b) genügend schlechte Manieren, um ungehemmt in Anwesenheit anderer Leute zu gähnen und c) ein gewisses Bildungsniveau. Interessante Mischung. Seine Augenpartie erinnerte mich übrigens ein bisschen an Gérard Depardieu.

»Witwe mitnichten«, sagte ich herausfordernd, »und wie lustig ich bin, hängt unter anderem von meinem Gegenüber ab.«

Nun zeig mal, was du kannst, Mann, immerhin werden wir es auf Jahre hinaus miteinander zu tun haben! Nur damit du’s weißt: Ich habe Jahre des nachbarlichen Elends hinter mir, von dem ehelichen Elend gar nicht erst zu sprechen. Man hat mich beobachtet und über mich getratscht und gnadenlos gestänkert, beispielsweise wenn der Kinderwagen nicht nach den vertraglich festgelegten trigonomischen Berechnungen des Vermieters ausgerichtet in der Flurecke stand. Deswegen, lieber Herr Thomas Steinkrüger, deswegen dürstet mich nach netten Nachbarn und kleinen, eigentlich selbstverständlichen Hilfeleistungen. Zum Beispiel brauche ich manchmal abends um neun zwei Eier oder eine Zwiebel. Dafür revanchiere ich mich gerne mit Backpulver oder Olivenöl, je nach Bedarf. Ich mag freche Wortwechsel im Treppenhaus und Leute, die nicht bei der kleinsten Nichtigkeit zum Rechtsanwalt rennen, klar? Außerdem bin ich ein friedfertiger Mensch mit einem ausgefüllten Alltag und der Devise »Leben und leben lassen«. Weder pliere ich im Minutenabstand auf die Straße, noch interessiere ich mich für eure nächtlichen Ankunftszeiten, und falls ihr mal nackt und betrunken im Vorgarten die Nationalhymne singen solltet, würde ich das eventuell zur Kenntnis nehmen, aber keinesfalls dem ganzen Viertel davon Mitteilung machen. Im Gegenzug wünsche ich, gleichfalls nicht ausspioniert zu werden. Geht das in Ordnung? Ja?

Ich muss ihn wohl unglaublich flehend angesehen haben, denn er sagte fast erschrocken: »Ist jemand hinter Ihnen her?«

»Nein, nein, es war nur alles ein bisschen viel heute. Und es wird noch Stunden dauern, bis ich halbwegs fertig bin.«

»Wollen Sie vielleicht einen Kaffee?«, gähnte er liebenswürdig. »So ’n Tässchen zwischendurch, das belebt, sogar bei dieser Affenhitze. Ich hab auch noch ein paar Lebkuchen da, aber ob die noch gut sind?«

Ach, kein Gedanke an irgendwelche Erholungsphasen. Im Gegenteil, es würde sich schnellstmöglich eine Lösung für das sanitäre Problem finden müssen. Schlafen konnte man zur Not auf Matratzen, fehlende warme Mahlzeiten ließen sich ein paar Tage lang in Form von belegten Brötchen überbrücken, alles ließ sich improvisieren, eine gewisse Toleranz vorausgesetzt, aber das Klo –

»Tausend Dank«, sagte ich, »aber leider lässt der anarchische Zustand meiner Wohnung keine Pause zu. Vielleicht morgen? Das heißt, wenn Ihnen das recht ist.«

»Na gut. Dann lese ich eben ein bisschen Zeitung. Wissen Sie, ich bin ein Nachtarbeiter, vor zwölf Uhr stehe ich selten auf. Und wenn, dann mache ich nachmittags noch ein Nickerchen. So wie heute.«

»Also, auf gute Nachbarschaft«, sagte ich, »wir sind zwar manchmal laut, aber insgesamt ziemlich nett.«

»Wer, wir? Sie und Ihr Mann?«

»Ich und meine Kinder.«

»Ist Ihr Mann nicht nett?«

»Nicht besonders. Deswegen wohnt er auch nicht hier.«

»Nur Sie und die Kinder?«

»Nur ich und die Kinder.«

»Fein. Dann kommt jetzt wohl Leben in die Bude. Ganz oben wohnt ein kinderloses Ehepaar, und wir hier in der Mitte haben ja nun auch keine Kinder, leider.«

»Das wird bestimmt noch«, sagte ich und freute mich sehr, dass er nichts gegen den Einzug meiner Brut einzuwenden hatte und nicht schon Beschwerden über verschossene Fußbälle, herumliegende Fahrräder und Dreckklumpen aus Gummistiefelprofilen losließ, bevor er die Kinder überhaupt zu Gesicht bekommen hatte. Irgendwie war mir dieser verschlafene Kerl fürchterlich sympathisch.

»Na ja«, er zögerte, »ich glaub nicht mehr daran, dass da noch was kommt. Übrigens, wie viele Kinder haben Sie?«

»Drei. Einen Carlo, eine Susanne und eine Nadja, aber wir nennen sie anders, und sie sind momentan auch nicht da.«

»Aha«, sagte er.

»Sie sind gerade Eis essen«, versuchte ich zu erläutern, »und drei Eis, das dauert mal länger und mal kürzer. Heute mal länger, zum Glück.«

»Natürlich«, sagte er und musterte mich so besorgt, als litte ich gleichzeitig unter einem Hitzschlag und akutem Umzugskoller. »Wann ist Ihr Bad eigentlich benutzbar?« Sein grüblerischer Gesichtsausdruck deutete darauf hin, dass ihm allmählich bewusst wurde, wie sehr diese verschwitzte Frau samt Nachwuchs in der Klemme steckte.

»Wenn ich sehr viel Glück habe, schon heute Abend. Wenn ich Pech habe, dann allerdings erst ab morgen. Der Fliesenleger scheint ziemlich pingelig zu sein, was seine Fugen betrifft.«

»Das war Johann Sebastian Bach wahrscheinlich auch«, erwiderte er so trocken, dass ich in lautes Gelächter ausbrach. Sieh mal an, dachte ich, der Mann im dunkelroten Bademantel besitzt Wortwitz, und genau die Art von Wortwitz, die ich liebe! Und dann sagte er etwas, was genügte, um bei mir auf ewig einen Stein im Brett zu haben, nämlich: »Im Keller haben wir so ein chemisches Campingklo. Nichts Dolles, aber man könnte es sich sogar ins Wohnzimmer stellen, so sauber ist es. Wollen Sie’s haben? Dann stehen Sie bis morgen nicht so unter Druck, sozusagen. Papier schenke ich Ihnen auch dazu.«

Um ein Haar wäre ich ihm um den Frotteehals gefallen. »Toll«, rief ich begeistert, »genau das ist die Rettung!«

»Wissen Sie was? Ich ziehe mich eben um, und dann bringe ich Ihnen das Ding runter, okay?«

»Okay.« Ich strahlte ihn an, und tiefe Zufriedenheit breitete sich in mir aus. Hier ist gut sein, hier bleib ich!

Ich sprang wieder nach unten. Von den Kindern noch keine Spur; schätzungsweise waren sie mittlerweile beim fünften oder sechsten Eis angekommen. Oder sie hatten sich verlaufen und irrten gerade jammernd durch ihnen völlig unbekannte Straßen. Allmählich wurde ich nun doch unruhig. Ich lief hinaus ins Freie, kontrollierte den Garten, den Fußweg vor dem Haus. Nichts. Nervös stürmte ich die Wolframstraße entlang. An deren Ende verlief eine relativ stark befahrene Straße, und wenn Ninni sich losgerissen hatte –

Und dann fand ich die Kinder doch noch. Das heißt, ich sah sie nicht, aber ich hörte sie: Erst Carlos Stimmbruchorgan, mal kieksend, mal sonor, dann Suse, die grundsätzlich ohne Punkt und Komma redete, wenn sie erst mal in Fahrt gekommen war, und dazwischen das helle Stimmchen meiner Jüngsten. Das Ganze wurde begleitet von einem penetranten Quietschgeräusch. »Kinder? Wo seid ihr?«

»Hier, Mama!«, jubelte Ninni von links.

Ich riss den Kopf herum. Verborgen von einer dichten Hainbuchenhecke saßen sie zu dritt in einer Hollywoodschaukel. Carlo hatte Ninni auf dem Schoß, hielt sie am Bauch fest und schwang die Beine derart heftig auf und ab, dass die Metallkonstruktion bedenklich schwankte. Vor ihnen stand eine Frau ins Jeans, die energisch »Herrschaften, bitte nicht so fest!«, rief.

»Entschuldigen Sie«, stammelte ich, »tut mir Leid, wenn die Kinder Sie belästigt haben sollten – Leute, bremsen! – Schluss jetzt!!!«

Suse schlurfte so lange mit den Füßen auf dem Boden herum, bis die Hollywoodschaukel wieder sicher stand. »Ach, Mama, es war gerade so schön! Und wir kriegen noch Apfelsaft von Frau Bronski!«

»Feierabend«, sagte ich streng, »ihr kommt jetzt sofort wieder mit in unseren Garten.«

»Aber –«

»Jetzt«, sagte ich unmissverständlich.

Die Frau wandte sich mir zu. Überrascht stellte ich fest, dass sie mindestens Mitte sechzig war. Trotz der legeren Jeans ging von ihr eine irritierend vornehme Ausstrahlung aus, die durch die hochgesteckten silbergrauen Haare noch verstärkt wurde. Eindeutig Upperclass, dachte ich und kontrollierte unbewusst, ob ich saubere Hände hatte, aber was tut sie dann hier in dieser kleinbürgerlichen Wohnstraße?

»Sie sind die Mutter?«

»Ja«, sagte ich kleinlaut.

»Nett, Ihre Kinder«, stellte sie fest, »und erstaunlich gut erzogen.«

»Ach was«, murmelte ich verblüfft.

»Es ist mir ernst. Die junge Dame hier hat höflichst gefragt, ob sie ein Weilchen in der Schaukel Platz nehmen dürfe, dieweil ihre Mutter gerade umzieht.«

»Einzieht. Vier Häuser weiter im Erdgeschoss.«

»Ich weiß. Und dieser junge Mann bat in wohlgesetzten Worten um die Erlaubnis, wie sagte er gleich, den Ort aufsuchen zu dürfen, an den sogar die Könige zu Fuß gehen.«

»Sie spaßen«, sagte ich fassungslos.

»Mitnichten. Und nun wollte ich den jungen Herrschaften noch einen Apfelsaft zur Begrüßung anbieten. In dieser Straße wohnen fast nur alte Leute, müssen Sie wissen, und ich finde es großartig, dass hier eine Familie mit Kindern einzieht. Endlich wieder Leben und junges Blut! Sie können doch sicher ein halbes Stündchen auf die Anwesenheit Ihrer Sprösslinge verzichten, nicht wahr? Danach müsste ich einige Besorgungen machen, denn morgen verreise ich nach Frankreich. Einverstanden?«

»Aber ja«, sagte ich und starrte blöde auf meine Brut. Da erzieht man jahrelang vor sich hin und sagt elfmal am Tag: »Ellenbogen vom Tisch« und »Lass diese Gossensprache« und »Hand vor den Mund beim Gähnen« und »Schmatz nicht«, jahrelang, ohne jede Resonanz, und längst hat man sich gefragt, ob man nicht ebenso gut ein Tonbandgerät in irgendeiner Ecke des Wohnzimmers aufbauen könnte, das wieder und wieder die gleichen Worte herunterleiert – und dann passiert das Unvorstellbare: Zufällig und bei einem völlig nichtigen Anlass stellt sich heraus, dass wider Erwarten doch etwas hängen geblieben ist. Offensichtlich gibt es doch noch Wunder.

»Sagt mal, wie viel Eis habt ihr eigentlich gefuttert?«

»Jeder drei«, sagte Carlo, »wie abgemacht. Nur für den Sprudel hat’s dann nicht mehr gereicht.«

Nun gut, dann trank ich eben Leitungswasser. Nein, trank ich nicht. Unsere Leitungen waren ja trockengelegt.

»Der Blödmann musste ja auch unbedingt ein Magnum haben«, keifte Suse dazwischen.

»Petze! Und wer hat heimlich eine Dose Cola gekauft?«

Es war nicht zu überhören, dass meine erstaunlich wohlerzogenen Kinder im Begriff standen, ohne Umwege wieder zu ihrer Normalform zurückzukehren. »Leute, wenn ihr euch streitet, wird Frau, äh –« ich sah die ältere Dame fragend an.

»Bronski«, sagte Suse.

»Quatsch, sie heißt Growski!«

»Borowski«, stellte sie lächelnd richtig, »ist für Kinder auch schwer zu behalten.«

»Also, wenn ihr euch so streitet wie zu Hause, wird Frau Borowski sich hüten, euch Apfelsaft anzubieten, meint ihr nicht auch?«

Suse und Carlo sahen sich an. An diesem heißen, chaotischen Tag in einer schattigen Hollywoodschaukel sitzen und Apfelsaft trinken zu dürfen, war ein Angebot, für das man durchaus gewisse Abstriche zu machen bereit war. Später, wenn es dann nur noch Mutters abgestumpfte Trommelfelle waren, die man quälte, würde man alles nachholen. Sie nickten eifrig.

»Prima! Schicken Sie mir die Kinder danach einfach nach Hause, ja?«

»Will auch Apfelsaft«, krähte Ninni.

Alles bestens, dachte ich. Mein Nachbar hilft mir gleich aus der bewussten Verlegenheit, die Kinder kriegen Apfelsaft von dieser netten Frau Borowski und stehen mir infolgedessen nicht zwischen den Füßen herum – alsdann, weiterschaffen! Keines der Kinder nahm noch groß Notiz von mir. Durch die Hecke hindurch vernahm ich die Stimme meines Ältesten. Ohne jeden Kiekser sagte er gerade: »Kann ich Ihnen vielleicht das Tablett abnehmen?«

Völlig perplex trabte ich zurück nach Hause.

Was war als Erstes dran? Ohne große Begeisterung sah ich mich in meiner neuen Wohnung um. Eigentlich war alles als Erstes dran. Wie handhabte ein Single möglichst geschickt die Auflösung einer Möbelblockade, ohne sich dabei drei Wirbel zu brechen? Bald wurde mir bewusst, dass keine andere Möglichkeit blieb, als Kleiderschrank und Schreibtisch auseinander zu schrauben. Leise jammernd durchsuchte ich ein paar Kartons nach dem Tütchen mit den verschiedenen Ikea-Imbusschlüsseln, leider ohne Erfolg. Hatten die Jungs von der Umzugsfirma also meine gebetsmühlenartig wiederholten Aufforderungen, Werkzeug und Papiere gesondert zu verpacken, schlichtweg ignoriert. Und so was nannte sich dann »Profi«.

Lieber Fliesenleger, nun bist du fällig, dachte ich, mit ausgedörrter Kehle Richtung Bad stolpernd. Mittlerweile hätte ich inflationäre Preise für ein Glas Wasser bezahlt. »Hallo, Herr Jupp!«, rief ich, »können Sie mal mit anpacken?«

Niemand antwortete. Niemand pfiff vor sich hin. Das Bad war zwar fertig verfliest und verfugt, aber menschenleer. Und irgendjemand hatte zwei weißbekleckste Bretter diagonal in der Türleibung verkeilt und die Bude somit buchstäblich verrammelt. Nun gut, sei’s drum, dann würden wir eben bis morgen Abend stinken. Ich bedachte die jungfräulichen Fliesen mit einem Fluch, fühlte mich anschließend nur wenig besser und schritt zur Tat, die Kinderbetten betreffend. Sehr überraschend stellte sich heraus, dass der Teppichboden ein ausgezeichnetes Gleitmittel war, sodass sie sich problemlos ins Kinderzimmer ziehen ließen. Die Matratzen waren zwar unhandlich und sperrig, besaßen aber seitliche Griffe, also bereitete auch dieser Transport keine größeren Schwierigkeiten. Nur Suses Schreibtisch passte nicht hundertprozentig durch die Türfüllung, nun, die beiden Schrammen im Lack würde ich später ausbessern, wenn ich mal Zeit hatte.

Fehlte noch der Kleiderschrank. Und der war tonnenschwer. Halbherzig drückte ich ein bisschen hier und da, was jedoch lediglich zur Folge hatte, dass eine der beiden Rückwände aus ihrer Führungsschiene rutschte. Der Schrank selber bewegte sich keinen Millimeter. Erneut sagte ich »Ach, verflucht«, dieses Mal noch etwas wütender und lauter, und ganz unverhofft erwiderte eine Männerstimme im Flur: »Da bin ich! Wo soll ich das Ding hinstellen?« Thomas Steinkrüger, Retter der umziehenden Exehefrau!

»In irgendeine diskrete Ecke«, lachte ich.

»Verehrteste, Sie sind zwar keine lustige Witwe, aber doch ein lustiges Weib. Alle Ecken sind zugestellt, ob nun diskret oder nicht!«

»Probieren Sie’s mal im Schlafzimmer, da könnte noch Platz sein.«

Es folgte ein Quietschgeräusch, anschließend der Kommentar: »Müsste mal geölt werden, die Tür«, und ganz zum Schluss lautes Gelächter.

»Was ist?« Ich hörte auf, die Schrankrückwand wieder in die Schiene zurückzufriemeln, und begab mich in mein zukünftiges Schlafzimmer. Dort lag zum einen meine Matratze auf dem Boden, war allerdings kaum noch zu sehen, da die Umzugsjungs sinnigerweise zwei Etagen Kartons darauf abgestellt hatten. Daneben stand mein Kleiderschrank ohne Türen, unter dem Fenster lehnten zwei Kinderfahrräder. Zwischen Matratze und Schrank stand nun auch noch ein ziemlich unförmiger Kunststoffkasten mit eindeutig brillenförmiger Konstruktion im oberen Bereich herum. »Hübsch«, sagte ich zweifelnd, weil ich noch nie neben einem Klo geschlafen hatte und auch nicht so genau wusste, ob es sich als Nachttisch eignete.

»Eigentlich stören hier drin ja nur die Fahrräder«, bestätigte mein Nachbar. Er hatte sich Jeans und ein weißes T-Shirt angezogen und sah trotz der unveränderten Strähnenfrisur ausgesprochen proper aus. Nun bin ich mit meinen einsneunundsiebzig nicht gerade ein Zwerg, doch musste ich den Kopf ein wenig nach hinten neigen, um ihm in die Augen sehen zu können. Mindestens einsneunzig lang, der Mann.

»Ist ja nur bis morgen Abend«, redete ich mir selber gut zu, »ich hab schon ganz andere Sachen ausgehalten, und das länger als vierundzwanzig Stunden.«

»Sehr lobenswert, diese Einstellung!«

Überlebenswichtig ist das, dachte ich müde und blickte auf sein T-Shirt. »Ich bin ein Clown und sammle Augenblicke«, hieß es dort. Dass mein Nachbar genau elf dieser literarischen T-Shirts besaß, welche er je nach Stimmungslage anzog, konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. Heimlich begann in mir der Gedanke zu schwelen, ihn um Hilfe beim Möbelschleppen zu bitten.

Nein, das wirst du nicht tun, Romea., Dieser nette Herr Steinkrüger hat dir schon mehr geholfen, als du zu hoffen gewagt hattest. Und du wirst klug genug sein, ihm nicht schon am ersten Tag auf die Nerven zu gehen. Du wolltest unbedingt weg von Uwe? Nun sieh du zu!

»Na, geht’s denn voran?«, erkundigte er sich und ließ seinen Blick über den chaotischen Wohnungsflur schweifen. Er sah nicht unbedingt aus, als sei er in Eile.

»Es ist furchtbar, aber es geht«, sagte ich. Der Spruch stammte von irgendeinem Kabarettisten, passte aber zu fast jeder unschönen Lebenslage. Dann dachte ich an meinen schmerzenden Rücken und überwand mich. »Hätten Sie eventuell noch zehn Minuten Zeit?«

»Klar, auch zwanzig. Ob ich nun in einer Stunde zu arbeiten anfange oder erst später, interessiert glücklicherweise keinen Menschen.«

Halleluja! Ich packte ihm am Oberarm. »Kommen Sie, der Kleiderschrank ist mein größtes Problem. Und ich hatte schon befürchtet, das Biest auseinander schrauben zu müssen!«

Gemeinsam bewegten wir den Schrank in das Mädchenzimmer, zentimeterweise nur und unter lautem Keuchen, aber wir bewegten ihn. Und dann verteilte mein Nachbar alle Kartons, die bisher den Flur blockiert hatten, in die richtigen Zimmer, er brachte die Fahrräder aus dem Schlafzimmer auf die Terrasse und organisierte zwischendurch eine Flasche Sprudel, und er befreite sogar meine Matratze von den acht Kartons. Währenddessen verstaute ich die Spielsachen der Mädchen und packte Kleidung und Bettwäsche aus. Auf einmal ging alles rasend schnell. Nach einer halben Stunde gemeinsamen Schaffens waren die Kinderzimmer so gut wie fertig.

»Toll«, sagte ich überwältigt, setzte mich mitten in den leeren Flur und soff den restlichen Sprudel aus. »Ich hätt’s ja eigentlich auch alleine geschafft, bis auf den Schrank natürlich, aber so war es doch bedeutend einfacher. Und mehr Spaß hat’s auch gemacht.«

Mit einer hochgezogenen Augenbraue sah er mich an. Stand auf und holte eine Tafel dreieckiger Schweizer Schokolade von einem der Kartonstapel herunter, ohne den Blick von mir zu wenden.

»Müssen Sie sich und der Menschheit was beweisen?«

»Unsinn.«

»Na also. Immerhin ist mir durch Sie endlich klar geworden, was man unter einer ›selbstsichernden Mutter‹ versteht.« Er zwinkerte mir zu. »Hier, ich habe ein bisschen Marschproviant mitgebracht. Wer schuftet, muss auch essen.«

Sehr einträchtig teilten wir uns die Toblerone. Zwischendurch deutete er mit dem Kopf auf die Tür neben dem Wohnzimmer. »Bei uns ist dahinter die Küche. Bei Ihnen auch?«

»Sicher.« Gierig schob ich mir das letzte Stück Schokolade in den Mund. »Bisschen sehr klein, finde ich. Eher ein Hausfrauenknast als eine Küche.«

»Tja, wir haben oben einen Durchbruch zum Wohnzimmer machen lassen, seitdem wirkt die Küche etwas großzügiger. Aber sagen Sie, gibt es hinter dieser Tür vielleicht auch noch ein paar Dinge, die geschleppt werden müssen?«

»Nö«, sagte ich leichthin, »da drinnen stehen nur Kartons mit Geschirr und Töpfen und so. Die packe ich heute Nacht aus, wenn die Kinder im Bett sind. Alles kein Problem.«

»Im Wohnzimmer auch alles kein Problem?« Irgendwie wirkte er wieder besorgt.

»Na ja … können Sie zufälligerweise mit Bücherkisten umgehen? Die Deppen von der Umzugsfirma haben sie so voll gepackt, dass nur ein Schwarzenegger sie heben könnte, und dann auch noch vor der Terrassentür gestapelt.«

Schweigend stand mein Nachbar auf und marschierte ins Wohnzimmer. Kurz darauf hörte ich Schleifgeräusche und zwei laute Ächzer und dann gar nichts mehr. Obwohl mir alle Muskeln wehtaten, war ich in Sekundenschnelle im Wohnzimmer. Es wäre mir ganz und gar nicht recht gewesen, wenn er von all den Kisten begraben worden wäre und nun bewusstlos zwischen Taschenbüchern, Comics, Klaviernoten und dem fünfbändigen Literaturlexikon läge. Nun, er lag mitnichten. Stattdessen stand er vor einem geöffneten Karton und blätterte ganz versunken in einem Bildband über die Ausgrabungen in Troja. Durch die weit geöffnete Terrassentür drang Sommerduft aus dem Garten herein. Draußen zwitscherte es in allen Tonlagen. Die Riesentannen hinten im Garten bewegten sich ganz sachte. »Ach, ist das herrlich«, sagte ich und atmete vor Zufriedenheit ein paar Mal tief durch.

»Mit der Wohnung haben Sie wirklich Glück gehabt«, bestätigte Steinkrüger kurz und vertiefte sich unverzüglich wieder in die Geschichte Trojas.

Ja, Glück war das richtige Wort. Traumhafte Lage in einer ruhigen Nebenstraße, und die Bushaltestelle nur fünfhundert Meter entfernt. Direktverbindung in die City. Einkaufen um die Ecke. Perfekt! Zum ersten Mal am heutigen Tag hätte ich die Idylle von ganzem Herzen genießen können, wenn da nicht plötzlich das undeutliche Gefühl gewesen wäre, dass etwas mit dem Wohnzimmer nicht stimmte. Aber was? Ratlos setzte ich mich auf die Klavierbank, betrachtete das Chaos und dachte nach. Der Raum war relativ klein, aber in Anbetracht unseres spärlichen Mobiliars spielte das keine Rolle; mehr als einen Zweisitzer, einen Sessel, Bücherregale, Esstisch und Stühle besaßen wir ja nicht. Das antike Vertiko war gerechtigkeitshalber bei meinem Ex geblieben. Was war es, was hier fehlte? Gedankenverloren nahm ich den Telefonhörer ab. Tot.

»Ich müsste jetzt allmählich mal was tun«, unterbrach Steinkrüger meine Gedanken, »würden Sie mir dieses Buch für ein paar Tage ausleihen?« Behutsam klappte er es zu.

»Klar, mit Vergnügen«, sagte ich überrascht und wollte ihn gerade fragen, was das für eine sonderbare Arbeit war, der er immer so spät am Tag nachging, als es plötzlich Sturm klingelte. Gleichzeitig wummerten mindestens vier Kinderfäuste gegen die Wohnungstür. »Mamaaaa, wir sind’s! Mach auf, wir haben Hunger!«

Ich rannte zur Tür, ließ meine Brut herein und hob Ninni hoch. Au! Mein Rücken meldete wieder Protest an. »Seht mal, das Schlimmste ist geschafft! Und das ist Herr Steinkrüger, unser Nachbar von oben. Sagt ihm doch mal, wer ihr seid.«

Nun, offensichtlich hatten die beiden Großen sich in Sachen gutes Benehmen bei Frau Borowski völlig verausgabt. Mehr als ein genuscheltes »Tach« und ihren jeweiligen Vornamen brachten sie nicht mehr heraus.

Ninni hingegen lächelte so bezaubernd, wie ein dreijähriger Fratz nur lächeln kann. »Du-hu? Ich heiße Ninni, und ich bin schon so viele Jahre.« Wieder bog sie so lange an ihren Händchen herum, bis nur noch Mittel-, Ring- und kleiner Finger aus dem Kuddelmuddel herausragten.

Daraufhin lachte der nette Herr Steinkrüger und erklärte kategorisch, man möge ihn mit »Tom« anreden. »Du-hu, Ninni«, ging er vor meiner Jüngsten auf die Knie, »kennst du das: Ritze Rotze Ringelratz, zwei Miezeschwein, ein Grunzekatz, mein Großpapa heißt Lali, der wird des Nachts ganz lila.«

Während Ninni sich noch verschämt hinter mir versteckte, faltete Steinkrüger seine Gliedmaßen wieder auseinander, klopfte Carlo und Suse kollegial auf die Schulter und verabschiedete sich mit der Bemerkung, ich solle nachher nach oben kommen und ein schönes kaltes Bier mit ihm trinken, sofern ich Lust hätte. Wie dies denn funktionieren könne, wo er doch gerade auf dem Weg zur Arbeit sei, erkundigte ich mich. Daraufhin teilte er mir mit, sein Arbeitsplatz liege ein Stockwerk über dieser Wohnung, und dann und wann sei er schon mal dankbar für eine Ablenkung. Meine nächste Frage, ob denn Frau Zoeppel nichts dagegen einzuwenden habe, verneinte er geradezu energisch. Das habe sie mit Gewissheit nicht, im Gegenteil; über einen kleinen Antrittsbesuch meinerseits würde sie sich ebenso freuen wie er selber.

Ich konnte mein Glück kaum fassen. Bis auf den Kinderhasser nebenan hatte ich heute nur liebe Menschen kennen gelernt. Ich hatte eine Wohnung, die zumindest ansatzweise wie eine solche aussah und nicht mehr wie das Lager einer Spedition. Wenn jetzt noch das Telefon funktionierte –

»Carlo«, flüsterte ich, »nimm doch mal ganz vorsichtig den Telefonhörer ab. Wenn’s tutet, bestelle ich uns gleich eine Riesenpizza mit allem drauf. Also mach schon – ganz langsam – naaa?«

»Ich will’s ausprobieren!«, schrie Suse und rempelte Carlo beiseite, der gerade die Hand nach dem Hörer ausgestreckt hatte.

»Mama hat aber gesagt, ich soll den Hörer abnehmen!«, brüllte Carlo. Und dann droschen sie aufeinander ein und schubsten sich und zerrten beide an dem Telefonhörer, und erst als dieser ihnen aus den Händen glitt und laut polternd zu Boden ging, stellten sie die Keilerei für einen Moment ein.

»Pssst«, sagte ich, »nun seid doch mal still!«

Und dann lauschten wir alle gemeinsam und sehr feierlich dem »tuuuut«, das aus dem Hörer tönte.

Ein Piccolo für den Single

Zwei Stunden später hingen wir satt, todmüde und windschief um den Esstisch herum, vor uns ein Stillleben aus Papptellern und einer Hand voll Plastikbesteck. Ich hatte es für sinnvoller gehalten, Glühbirnen in die nackt herunterbaumelnden Fassungen zu schrauben und den Vorhang im Schlafzimmer aufzuhängen, als in den Küchenkartons nach Besteck und Tellern zu graben. Nun war bei allen die Luft raus. Vor lauter Erschöpfung hatten Carlo und Suse beim Essen sogar davon abgesehen, um die Oliven zu streiten oder sich mit den Plastikgabeln die Augen auszustechen, wofür ich ihnen ausgesprochen dankbar war. Ninni rieb sich schläfrig die Augen, ihr Kopf rutschte mehr und mehr Richtung Tischplatte. Armes Kind. Um sechs Uhr morgens war sie aus dem Bett gezerrt worden, weil die Möbelmänner vor der Tür standen, und einen Mittagsschlaf hatte man ihr auch nicht gegönnt. Wie und wo auch?

»Kommt, Leute, ab ins Bett«, gähnte ich, »Zähneputzen findet heute in der Küche statt, ich räume derweil den Tisch ab. Wenn ich es nachher noch schaffe, die Kartons in der Küche auszupacken, dann können wir morgen früh richtig frühstücken.«

»Au ja«, sagte Suse begeistert, »ich hole dann Brötchen und frische Milch.«

»Ist gut. Und nun geht und wascht euch.« Ohne Gegenwehr ließ Ninni sich auf den Arm nehmen. Ich schleppte sie in mein Schlafzimmer zum Campingklo, setzte sie auf die Brille und hoffte inständig, dass die außergewöhnlichen sanitären Umstände sie nicht zu Fragen animieren und infolgedessen wieder aufwecken würden. Besorgt betrachtete ich mein Herzenskind. Mit geschlossenen Augen saß es da, den Kopf auf beide Hände gestützt. Ihre Füßchen baumelten irgendwo auf halber Höhe, am rechten großen Zeh hing ihr gepunktetes Unterhöschen. Nun musste ich doch lachen. Dieser Anblick mitten in meinem provisorischen Schlafzimmer hatte etwas Absurdes.

»Fertig«, murmelte sie im Halbschlaf, und ich nahm sie wieder auf den Arm und trug sie ins Bett. Von der Küche aus drangen plötzlich Kampfgeräusche zu mir herüber. Offenbar focht man ein Scharmützel wegen des Wasserhahns aus.

»Mama, das ist Scheiße hier!«, schrie Suse schrill. »Wie soll man sich die Zähne putzen, wenn alles so total vollgestellt ist! Und Carlo hat mich angespuckt!«

»Ach, Kind«, sagte ich erschöpft und schlurfte Richtung Küche, »nun mach mal halblang, Ninni schläft!«

In diesem Augenblick sah ich es. Und dann wusste ich, was mir vorhin aufgefallen war, als Thomas Steinkrüger noch in dem Bildband über Troja herumgeblättert hatte. Das undeutliche Gefühl, dass irgendetwas im Wohnzimmer nicht stimmte. Dass etwas fehlte.

Das Klavier. Es stand in der Küche. Vor dem Kühlschrank.

»O Gott«, sagte ich schwach. Dann sagte ich eine ganze Zeit lang gar nichts mehr. Betrachtete nur schweigend den Hausfrauenknast, die zwölf Kartons und das querstehende Klavier, ein schwarzes Kawai. Sehen konnte ich von meinen Kindern zwar nicht viel, aber den Geräuschen nach zu urteilen hantierten sie noch immer mit Wasser und Seife. »Carlo«, rang ich mir mühsam ab, »weißt du zufälligerweise, warum die Möbelpacker das Klavier in die Küche gestellt haben?«

»Ja, dasch wollte ich dir noch schagen, dasch war doch wegen den Bücherregalen«, nuschelte er halb erstickt hinter dem Waschlappen. Er hatte zurzeit eine Phase der Reinlichkeit, zumindestens im Gesichtsbereich, seiner Pubertätspickel wegen. »Mama, wo isch mein Clearasil?«

»Vergiss es«, sagte ich kurz, »was war denn nun mit den Bücherregalen?«

»Ach, dasch Klavier war im Weg«, er nahm den Waschlappen aus dem Gesicht, »und dann sagte der Packer, er kriegt die langen Bücherregale nicht rein, weil’s im Wohnzimmer so knüppelvoll und eng war, und da haben sie’s übergangsweise in die Küche gestellt. Tschuldigung, habe ich vergessen, dir auszurichten.«

Ich hatte große Lust, meinen Erstgeborenen anzubrüllen, aber mir fehlte mittlerweile die Kraft dazu, zumal er nun kleinlaut hinzufügte, er habe es doch nicht absichtlich vergessen. »Ist ja schon gut«, sagte ich und drückte ihm einen Kuss auf die Wange, was ich nach zwei Jahren des strikten Kussverbotes so langsam wieder durfte, ohne dass er jedes Mal das Jugendamt zu verständigen drohte. »War alles ein bisschen viel heute, ich weiß. Nun geht schön ins Bett. Suse, sei bloß leise, sonst wird Ninni wieder wach.«

Die letzte Ermahnung war völlig überflüssig gewesen. Meine Elfjährige hatte sich längst in ihrem Bett zusammengerollt. »Mama? Irgendwie ist es hier cool.«

Sie wollte also nicht zurück in die alte Wohnung im dritten Stock. Na bitte.

»Und der Garten ist megacool. Und hoffentlich ist die neue Schule nicht so blöd.«

»Das hat noch zwei Wochen Zeit, meine Süße. Gute Nacht, bis morgen. Nacht, Carlo.«

»Nacht, Mama«, kam es ohne jeden Stimmbruch-Kiekser aus dem zweiten Kinderzimmer. Eine ziemlich baritonale Stimmlage hatte sich der Junge im Laufe der letzten zwei Monate angeeignet. Haare auf den Beinen bekam er auch schon.

Ich schleppte mich zurück in die Küche und warf einen außerordentlich unfrohen Blick auf das Karton-Klavier-Stillleben. Diese hohlköpfigen Möbelpacker! Und das Schlimmste daran war, dass im Kühlschrank und somit unerreichbar genau jener Gegenstand lagerte, nach dem ich mich gerade heftig sehnte. Mein Piccolo. Das Single-Fläschchen Sekt für die Single-Frau zum Feiern der neuen Freiheit! Grimmig starrte ich auf das Klavier und dachte heftig über dessen Gewicht nach.

Das ist doch Wahnsinn, sagte mein Rücken. Morgen ist auch noch ein Tag.

Wahnsinn ist es allerdings, dachte ich trotzig, aber ich will jetzt meinen Piccolo, den hab ich mir weiß Gott verdient. Ich will jetzt mit dem Fläschchen Mumm auf dem Sofa lümmeln und mich an dem Blick auf den dämmerigen Garten erfreuen und die letzten Vögel zwitschern hören. Ich will mich jetzt freuen!

Das gab den Ausschlag. Also, los. Ich nahm sämtliche Kraft zusammen, legte beide Hände um einen der Griffe hinten an dem Kawai und zog, was mein Rücken noch hergab. Mit einem schaurigen Schleifgeräusch rutschte das Klavier vom Kühlschrank weg, etwa fünf Zentimeter weit. Das reichte leider nicht, um den Piccolo zu angeln. Ich kann nicht mehr, dachte ich, lehnte mich gegen einen der Unterschränke und sank langsam bodenwärts. Nichts geht mehr. Blöde Möbelpackerbande. Mit einem letzten Aufflackern meines Kampfgeistes streckte ich beide Beine aus und trat dem Klavier langsam, sehr gezielt und voller Wut in den Bauch. Daraufhin war es erstaunlicherweise zehn Zentimeter weitergerutscht.

Es dauerte ein paar Minuten, bis ich dieses Phänomen begriffen hatte.

Romea, nun denk doch mal nach. Wo liegt der Schwerpunkt bei einem Klavier?

Unten natürlich. Klarer Fall.

Und wo ist der Mensch am stärksten, hm?

Am Oberschenkel. Vorausgesetzt, er hat Halt.

Eben. Mit dem Schrank im Rücken hast du Halt. Und deine Oberschenkel sind nicht aus Pappe. Also worauf wartest du noch? Auf einen Mann???

»Okay«, sagte ich laut, »du kriegst mich nicht klein. Du nicht!«

Und so nahm ich den absurden Kampf auf. Stemmte mich mit dem Rücken gegen den Küchenschrank, holte tief Luft und begann, mit beiden Füßen das Klavier nach hinten wegzudrücken. Keuchend und fluchend zwar, aber ich gewann wieder zehn Zentimeter. Schubweise ging es voran. Und irgendwann stand das Kawai zu zwei Dritteln im Flur. Woher ich dann noch die Kraft nahm, aufzustehen, weiß ich nicht mehr. Vollkommen außer Atem torkelte ich zum Kühlschrank; ein paar Sekunden lang musste ich mich am Griff festhalten, weil meine Beine so zitterten. Aber dann hielt ich ihn in der Hand, meinen Befreiungs- und Umzugspiccolo! Ganz sanft rutschte der Plastikkorken aus dem Flaschenhals. Geschafft.

Was Frauen nicht alles können.

Es irrt der Mensch, solang er strebt

Anderntags erwachte ich mit einem Aufschrei. Jemand bohrte mit einer Stricknadel in meinem rechten Ohr herum. Ich bekam jedoch keine Stricknadel zu fassen, sondern ein Händchen meiner Jüngsten. »Ninni, was machst du denn da? Das tut doch weh!«

»Der ganze Finger war drin«, teilte sie mir zufrieden mit, ließ aber netterweise von meinem Gehörgang ab und rutschte zu mir unter die Decke.

»Mach die Augen noch mal zu«, schlug ich vor. Gott, war ich noch immer müde.

»Kann ich nicht. Guck doch mal, Mama. Meine Augen wollen nicht mehr zugehen! Jetzt guck endlich!«

Gequält sah ich neben mich. Mein kleiner Goldschatz zog sich gerade mit Daumen und Zeigefingern die Lider hoch, so weit, dass beide Augäpfel fast frei lagen. Es sah dermaßen gruselig aus, dass ich trotz aller Müdigkeit kichern musste. »Lässt du mich noch zehn Minuten schlafen, Süße?«

»Och nee, das ist langweilig.«

»Dann geh zu Suse ins Bett.« Ich drehte mich auf die Seite und zog mir die Decke über das Gesicht. In meiner Bandscheibengegend stach es gewaltig. »Oder zu Carlo.«

»Na gut.« Ich hörte noch ihre nackten Füße durch den Flur patschen, dann war wieder alles still. Sofort schlief ich wieder ein. Solange, bis sich die Stricknadel von neuem in mein Ohr bohrte.

»Ich hab Hunger, Mama«, sagte mein goldiges Kleinkind, »und es ist langweilig, wenn man Hunger hat. Und Suse hat auch Hunger.«

»Suse hat doch immer Hunger«, murmelte ich schläfrig und zog Ninnis kleinen Finger aus meinem Ohr. Aufstehen? Schrecklicher Gedanke. Jeder einzelne Muskelfaser schmerzte. Mein Blick wanderte zum Fenster, landete jedoch nicht auf einer kahlen Scheibe, sondern auf zartem weißen Stoff, der sich im sommerlichen Morgenwind blähte. Wunderbar! Und wenn der Fliesenleger nachher sein Werk vollendet hätte, würde ich endlich meinen geschundenen Körper in einem Vollbad abschlaffen lassen können. Ich beschloss, Jupps Lebenswerk systematisch unter Wasser zu setzen. Probeweise machte ich ein paar Schritte hin und her. Mit beiden Händen mein lädiertes Steißbein stützend, watschelte ich in die Küche und hielt mein Gesicht unter kaltes Wasser.

»Carlo? Antreten!« Da war auch schon die Teekanne. Und der Darjeeling. Wie überaus freundlich von den Möbelpackern, diese heilige Zweifaltigkeit nicht in getrennten Kartons verstaut zu haben. Kurz darauf tauchte mein verschlafener Erstgeborener in der Küche auf und begehrte gähnend zu erfahren, warum ich ihn mitten in der Nacht zu sehen wünschte. Und dann klingelte es. Jupp!

»Schönen juten Morjen«, murmelte er und drängte sich schnöde an mir vorbei Richtung Bad.

Ach, hier war wohl jede Kritik, jedes Wort sinnlos. Heimlich schnitt ich eine Grimasse und wandte mich dem neuen Tag zu. Es wurde ein wunderbares Frühstück bei weit geöffneter Terrassentür. Himmlischer Duft nach noch warmen Brötchen durchzog die Wohnung. Zu dritt packten wir schließlich das Geschirr aus, während Ninni im Garten spielte und alle paar Minuten in die Küche kam, um uns einen Sandkuchen zu kredenzen. Bei jedem Besuch zog sie eine breite Sandspur hinter sich her, die ich ebenso wie das Ziehen in meinem Rücken ignorierte. Wir bildeten ein hervorragendes Team, wir vier, und noch immer wollte keiner zurück in die alte Wohnung.

Es klingelte häufig an diesem Tag. Erst statteten mir die Stadtwerke einen Besuch ab und notierten sich verschiedene Zählerstände, dann vergewisserte sich der Postbote, ob die neue Mietpartei im Erdgeschoss tatsächlich Becker heiße, was ich bestätigte, woraufhin er mir meine erste Post, nämlich eine Karte von meinem Bruder Danilo mit guten Wünschen zum Einzug, aushändigte. Kurz nach zwölf schließlich tauchte der Installateur auf. Neben seiner Hüfte ringelte sich vorwitzig der Duschschlauch. Mit wichtigem Gesicht klärte Schmitz mich über seine gestrige Sonderleistung auf: Eigenhändig hatte er in einer zwanzig Kilometer entfernt liegenden Filiale des Sanitärbetriebes ein Tütchen Metallklemmen besorgt, damit der Spiegel über dem Waschbecken noch heute montiert werden konnte!

»Danke«, sagte ich ergriffen.

»War doch selbstverständlisch«, wehrte er ab, »isch weiß doch, wie Frauen sind. Wenn die sisch mal einen halben Tach nit im Spiejel ansehen können, werden die wahnsinnisch.«

Genau. Wir Frauen werden ja mit allen möglichen Dingen fertig, die Männer uns so einbrocken: mit Klavieren vor dem Kühlschrank und halb fertigen Badezimmern, zum Beispiel. Aber wenn man uns den Spiegel wegnimmt, drehen wir durch, klar. Stille Tage in Klischee.

Es vergingen noch etwa vier Stunden des angestrengten Montierens, Bohrens, Schraubens und Silikonabspritzens, bis Herr Schmitz mich in meinem Schlafzimmer aufsuchte. »Kommen Sie mal gucken«, winkte er mich gut gelaunt in das sanitäre Paradies. Offenbar sprach er immer dann Hochdeutsch, wenn es um etwas Wichtiges ging. »Nun ist es fertig.«

Ich auch, dachte ich und registrierte gequält, dass das Hinterlassen der Wirkungsstätte in sauberem Zustand offensichtlich nicht im Preis inbegriffen war. Sämtliche Fliesen waren mit einem weißen Schleier bedeckt, dem garantiert nur mit Scheuerlappen und viel Kraftaufwand beizukommen sein würde. Allein der Gedanke an jene typische halb gebückte Putzstellung ließ mich die Zähne zusammenbeißen. Abgesehen davon sah das hell geflieste Bad wirklich hübsch aus. Ungeduldig wartete ich darauf, dass die Herren endlich ihre Utensilien zusammenpackten. Die Wohnungstür hatte sich noch nicht richtig hinter ihnen geschlossen, als ich schon am Warmwasserhahn drehte.

Es war die beste Dusche meines Lebens. Nach einem viertelstündigen Aufenthalt in der Kabine hatte ich mich genug regeneriert, um für morgen die Behördenbesuche vorzumerken, die nach einem Umzug so anstehen und demselben erst offizielle Gültigkeit verleihen.

»Wer baden will, darf kommen!«, schrie ich durch das Fenster in den Garten. Es wurde dann ein bisschen kompliziert, weil Suse zwar baden wollte, aber nicht mit Ninni gleichzeitig, Ninni hingegen darauf bestand, zusammen mit Suse in der Wanne zu sitzen, und Carlo sich mit einem plötzlichen Anfall von Gschamigkeit rundweg weigerte, in Anwesenheit weiblicher Menschen auch nur das T-Shirt auszuziehen, eine Phase, die ich eigentlich schon überwunden glaubte. Die Mädchen fluteten längst die Bodenfliesen, als er sich noch immer zierte.