Reise Know-How KulturSchock Afghanistan - Susanne Thiel - E-Book

Reise Know-How KulturSchock Afghanistan E-Book

Susanne Thiel

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Beschreibung

Dieses Buch blickt hinter das von Krieg und Gewalt bestimmte Bild Afghanistans. Wie ein buntes Mosaik zeigt sich das von kultureller und ethnischer Vielfalt geprägte Leben der Menschen. Afghanen sind traditionell und fühlen sich ihrer Folklore verpflichtet, versuchen andererseits aber auch, ein neues Land mit einem modernen Staat aufzubauen. Sie gelten als kriegerisch und hüten ihre Ehre wie ein Heiligtum, heißen Fremde aber mit einer umwerfenden Gastfreundschaft willkommen. Sie sind schwermütig und singen traurige Lieder, lieben aber gleichzeitig heitere Geschichten. Unterhaltsam und leicht verständlich räumt die Autorin kulturelle Stolpersteine aus dem Weg und vermittelt fundiertes Hintergrundwissen zu Geschichte, Gesellschaft, Alltagsleben und Traditionen. Wer auf Tuchfühlung mit Afghanen gehen will, erhält eine Vielzahl an praktischen Verhaltenstipps. So ist das Zusammenleben von Frauen und Männern von Distanz und vielfältigen Regeln geprägt. Auf der anderen Seite erfahren die Leser aber auch, über welche Themen man sich bestens austauschen kann, was von Besuchern und persönlichen Gästen erwartet wird und warum viele Afghanen Deutschland bewundern.

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Seitenzahl: 386

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Vorwort

Dieser KulturSchock Afghanistan befasst sich mit einem Land, das nach über drei Jahrzehnten Krieg und Bürgerkrieg versucht, zu sich selbst zu finden und die vielfältigen Schwierigkeiten zu überwinden, die auf dem Weg zu Frieden und Wohlstand vor ihm liegen. Noch hat der Wiederaufbau nicht alle Winkel Afghanistans erreicht und große Teile der ländlichen Bevölkerung und der aus den Nachbarländern zurückkehrenden Flüchtlinge sind unterversorgt. Die in Kriegszeiten etablierten Machtstrukturen funktionieren weiterhin; Drogenhandel, Korruption und Sicherheitsprobleme beherrschen das Land und lassen die Bevölkerung nicht zur Ruhe kommen. Alte Kriegswunden sind noch nicht verheilt, viele Menschen leiden an schweren Traumatisierungen. Ein Aussöhnungsprozess, der zur Gesundung der Gesellschaft beitragen könnte, kommt nur langsam in Gang.

Trotz der schwierigen Rahmenbedingungen sind viele Afghanen motiviert, ihre Situation zu verbessern und das Land wieder aufzubauen. Rasante Entwicklungen haben im Bildungsbereich stattgefunden, die Gesundheitslage der Bevölkerung hat sich verbessert und die Wirtschaft belebt sich. Sogar in den Künsten und im Unterhaltungsbereich gibt es neue Impulse. Langsam wird aus den Trümmern eine neue Gesellschaft geformt.

Besonders beeindruckend ist der starke Wille der Jugend, ihre Zukunft positiv zu gestalten – und endlich haben auch Mädchen wieder die Möglichkeit, am öffentlichen Leben teilzunehmen. Sie sind neugierig auf die Welt und die Menschen „da draußen“, interessieren sich für technische Errungenschaften und die neuen Medien. Die heranwachsende Generation ist die große Hoffnung des Landes auf eine bessere Zukunft. Zu den hervor ragenden afghanischen Eigenschaften gehören Großzügigkeit, Höflichkeit und eine großartige Gastfreundschaft, die durch die langen Zeiten der Not und des Elends bewahrt wurden. Besucher Afghanistans können von diesen Charakterzügen profitieren, die auch über viele Schwierigkeiten in diesem nicht immer einfachen Land hinweg helfen werden.

In diesem Buch soll ein Überblick über kulturelle Erscheinungen und Grundzüge der afghanischen Gesellschaft vermittelt werden, um dem Leser dadurch zu einer größeren Sicherheit im Verhalten zu verhelfen – soll ihn aber auch ermuntern, den Blick einmal auf sich selbst und die eigene Kultur zu richten. Es kann hilfreich sein, das eigene Rollenverständnis zu überprüfen, die persönlichen Werte und Normen und die des Gastlandes zu reflektieren. Es werden Unterschiede zwischen der eigenen und der Kultur des Reiselandes aufgezeigt und es wird der Versuch unternommen, afghanische Verhaltensweisen zu erklären. Um den Kontrast zwischen kulturellen Erscheinungen und Verhaltensmustern in Afghanistan und den Ursprungsländern der Besucher deutlicher und lesbarer zu machen, werden den „afghanischen“ Phänomenen „westliche“ gegenüber gestellt. Der Begriff soll verallgemeinernd den christlich geprägten europäischen Kulturraum mit Fokus auf deutschsprachige Länder bezeichnen. An manchen Stellen ist es für das Verständnis hilfreich, beispielsweise Eigenschaften einer speziellen Volksgruppe in Afghanistan mit denen der Deutschen zu vergleichen.

Eingefahrene Vorstellungen von „dem Fremden“ wachsen in Jahrhunderten und werden gespeist von Begegnungen, geschichtlichen Ereignissen, literarischen Erzeugnissen und den Medien. Sie zu ignorieren oder zu leugnen wäre falsch, denn trotz ihrer vereinfachenden Banalität können sie auch Wahrheiten enthalten. Werden diese Ansichten bewusst gemacht, können sie zum gegenseitigen Verstehen beitragen. Dieser Band möchte eine Orientierungshilfe sein und erklären, wie Afghanistan zu dem Land wurde, das es heute ist. Es werden geschichtliche Entwicklungen erläutert, denn heutige Probleme und Konflikte lassen sich oft nur vor diesem Hintergrund verstehen. Die Geschichte hat auch das Selbstverständnis der verschiedenen Volksgruppen in Afghanistan beeinflusst. Das Buch beschreibt den Friedensprozess und Staatsaufbau und auch die vielfältigen Probleme Afghanistans, aber den Mittelpunkt bilden die Menschen mit ihren Denk- und Verhaltensweisen. Die afghanische Kultur soll anhand von einigen Grundmustern und Einzelerscheinungen verständlich gemacht werden und dieses Wissen soll dem Besucher des Landes helfen, sich vorzubereiten und seine Erlebnisse und Wahrnehmungen einordnen und verstehen zu können. Die Schilderungen werden aus einem persönlichen Blickwinkel vorgenommen und müssen bei der Fülle der Themen unvollständig bleiben. Bei dem hier vorliegenden Buch handelt es sich um eine Situationsbeschreibung von Anfang 2017. Da aufgrund der hohen politischen Dynamik die weitere Entwicklung Afghanistans nicht vorhersehbar ist, kann es gerade in Politik und Wirtschaft, aber auch in gesellschaftlichen Bereichen zu Veränderungen kommen. Kapitel, die auf diese Themen oder die Sicherheit („Alltägliche Gefahren“) Bezug nehmen, könnten daher in absehbarer Zeit überholt sein.

Afghanistan ist kein einfaches Land und zeigt sich seinen Besuchern manchmal so schroff wie seine raue Gebirgslandschaft. Aber es ist auch ein spannendes Land, und seine Bewohner sind liebenswürdig und gastfreundlich – es ist ein lohnendes Abenteuer, sich auf Afghanistan einzulassen.

Susanne Thiel

Extrainfos im Buch

ergänzen den Text um anschauliche Zusatzmaterialien, die von der Autorin aus der Fülle der Internet-Quellen ausgewählt wurden. Sie können bequem über unsere spezielle Internetseite www.reise-know-how.de/kulturschock/afghanistan18 durch Eingabe der jeweiligen Extrainfo-Nummer (z. B „#1“) aufgerufen werden.

Inhalt

Vorwort

Verhaltenstipps A–Z

Vergangenheit und Gegenwart

Drehscheibe der Kulturen

Verbreitung des Islam

Ursprünge des afghanischen Staates

The Great Game – die Kolonialzeit

Krieg am Hindukusch

Die Taliban-Herrschaft und ihr Fall

Wiederaufbau und Staatsbildung

Der Weg zum Frieden

Mühevolle Schritte zur Demokratie

Die Jahrtausendziele für Afghanistan – Probleme und Chancen

Die „Problemzonen“ Afghanistans

Wirtschaftliche Perspektiven

Die Drogenökonomie

Kulturelle Pfeiler der afghanischen Gesellschaft

Religion und Weltbild – der Islam

Ethnische Gruppen und Stammesstruktur

Stadt und Land

Gesellschaftliche Strukturen

Familie und Verwandtschaft

Die afghanische Familie

Kinder und Erziehung

Partnerwahl und Hochzeit

Eine ganz besondere Beziehung: Männer und Frauen in Afghanistan

Alltagsleben in Afghanistan

Kommunikative Verhaltensweisen

Religion im Alltag

Feiertage und Feste

Beruf, Arbeitsleben und die Zeit

Die Bedeutung von Besitz

Freizeitaktivitäten

Einladungen und Ausgehen

Alkohol und Drogen

Afghanische Esskultur

Kaufhaus und Basar

Rückkehr von Unterhaltung und Künsten

Alltägliche Gefahren, Kriminalität und Terrorismus

Auto und Verkehr

Afghanistan und die Fremden – Fremde in Afghanistan

Afghanisches Selbstverständnis

Der Blick auf das Fremde

Afghanen und Deutsche – eine besondere Beziehung

Männer und Frauen im interkulturellen Spannungsfeld

Der Kulturschock – ein unvermeidliches Phänomen?

Zu Gast in Afghanistan

Anhang

Glossar

Literaturtipps

Internettipps

Register

Übersichtskarte Afghanistan

Karte Afghanische Provinzen

Die Autorin

Exkurse zwischendurch

Djihad

Zukünftige Hilfe zum Wiederaufbau

Bagh-e Zanana – der Kabuler Frauenpark

Deutsches Engagement in Afghanistan gestern und heute

Das Omen – eine Mullah-Nasruddin-Geschichte

Pashtunwali

Der letzte Jude in Kabul

Kollektivistische und individualistische Gesellschaften

Fremd oder zugehörig?

Zwei Schritte vorwärts, ein Schritt zurück

Ehre und Schande

Ost trifft West – unterschiedliche Kommunikationsmodelle

Das edle Pferd

Buzkashi – wilde Reiter aus dem Norden

Zu Gast bei Abdullah Khan

Die „Antwort des Tees“

Khabilie-Palau – die afghanische Leibspeise

Saba Sahar – eine tollkühne Polizistin jagt Verbrecher

Eine ganz alltägliche Geschichte aus Kabul

Eine Kultur der Gastfreundschaft

Verhaltenstipps A–Z

Aberglaube: Der Hang zur Spiritualität ist in Afghanistan sehr ausgeprägt. Dies steht für viele Menschen nicht im Widerspruch zu den Regeln des Islam, auch wenn der Glaube an unsichtbare und oftmals unheilbringende Übermächte aus vorislamischen Vorstellungen stammt. Geistern (Djinn) und dem „Bösen Blick“ (Nazar) wird mit einer Vielzahl von Abwehrpraktiken begegnet. Dazu gehören als Schutzformeln genutzte Koransprüche, Amulette, Spiegel oder die Darstellung des Auges, die als Schmuckelemente getragen werden. Auch der Zuspruch „heiliger“ Männer und Besuche von Heiligenschreinen werden gern genutzt, um ungute Kräfte abzuwehren.

Alkohol: Nach allgemeiner Rechtsauffassung ist Muslimen der Konsum von Alkohol verboten. Der Koran ermahnt die Gläubigen, nicht betrunken zum Gebet zu erscheinen, in einigen Versen wird Alkohol als Sünde und Satanswerk bezeichnet. Alkoholverkauf und -konsum ist in Afghanistan verboten. Besonders im städtischen Bereich wird aber von einigen Personen Alkohol hinter verschlossenen Türen konsumiert. Die Spirituosen stammen dann vom Schwarzmarkt oder werden in Heimproduktion hergestellt.

Ansehen, Gesicht wahren: Ansehen und Ehre spielen eine große Rolle in zwischenmenschlichen Beziehungen und nehmen Einfluss auf die Stellung eines Individuums in seiner Umgebung und der Gesellschaft. Viel Mühe wird darauf verwendet, das Gesicht zu wahren; Beleidigungen oder Ehrverletzungen können schnell zu heftigen Reaktionen führen, die der Wiederherstellung der Ehre dienen. Die Ehre der Frau ist oftmals mit Reinheits- und Moralvorstellungen verbunden.

Armut und Bettelei: Die Mildtätigkeit und das Verteilen von Almosen gehören zu den wichtigsten religiösen Regeln. Neben Zakat, der Pflichtspende, die jährlich entrichtet werden soll, gelten aber auch freiwillige Abgaben als ehrenhaft.

Baden/Nacktbaden: Baden gehört in Afghanistan nicht unbedingt zu den gängigen sportlichen oder Freizeitvergnügungen. Das Baden für Frauen ist wegen der großen Geschlechterdistanz und rigider Bekleidungsregeln in der Gesellschaft ganz und gar unüblich; auch Männer sind beim Baden in Flüssen und Seen meist ganz oder teilbekleidet. Aufgrund der Verhaltensvorschriften und Bekleidungsregeln sollten auch Besucher und Besucherinnen nur in entsprechender Badekleidung (die nicht zu knapp ausfallen sollte) baden.

Extrainfo 1(s.S. 6): Der Fotograf Steve McCurry zeigt in seinem Blog faszinierende Impressionen aus Afghanistan

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Mildtätigkeit in Mazar

Begrüßung: In der afghanischen Gesellschaft ist eine ausführliche und herzliche Begrüßung üblich. Die Frage nach dem Wohlbefinden des Gegenübers und seiner Familie steht dabei im Vordergrund. Teilweise haben sich lange Abfragerituale entwickelt, die einige Minuten in Anspruch nehmen. Lassen Sie sich auf das ausführliche Begrüßungsritual ein und fallen Sie nicht „mit der Tür ins Haus“. Bei der Beantwortung der Fragen nach dem Wohlergehen kommt es zunächst nicht auf das tatsächliche Befinden an; die Antworten sind durchweg positiv. Fragen Sie nicht direkt nach dem Wohlergehen der Frauen des Hauses, sondern indirekt nach der Familie. Männer begrüßen sich mit Handschlag und gute Bekannte umarmen sich. Frauen verhalten sich untereinander ähnlich. Afghanische Männer und Frauen grüßen einander meistens nur verbal, manchmal neigen Männer höflich den Kopf oder legen die rechte Hand auf das Herz. Ausländische Männer sollten einheimischen Frauen nicht automatisch die Hand hinstrecken, sondern abwarten, wie die Dame sich verhält. Auch ausländischen Frauen wird eine abwartende Haltung empfohlen; nicht alle afghanischen Männer sind es gewohnt, Frauen die Hand zu reichen. Sollten sich Besucher und Besucherinnen in diesem Kontext unsicher fühlen, tun eine verbale Begrüßung, ein freundliches Lächeln, die angedeutete Verbeugung oder die rechte Hand auf dem Herz auch ihren Dienst.

Bekleidung: Kleidung dient nicht nur dem Schutz vor Witterungseinflüssen, sondern nach Vorschriften des Koran auch dem Bedecken der Schamhaftigkeit und ist somit ein Ausdruck der Frömmigkeit. Diese Regeln gelten für beide Geschlechter, aber für Frauen ist die Kleidungsfrage in den meisten Fällen komplexer. Bei Frauen sind kurze Röcke, tiefe Dekolletés und eng anliegende Kleidung nicht akzeptabel; Hosen, bodenlange Röcke und über die Hüften reichende Oberteile sind eher angebracht. Männer sollten auf ärmellose T-Shirts oder kurze Hosen verzichten. In Afghanistan drückt gepflegte Kleidung Respekt vor dem Gegenüber aus. Dies sollte besonders bei offiziellen und formellen Gelegenheiten bedacht werden.

Berührungen/Körperkontakt: Der Körperkontakt zwischen nicht miteinander verwandten Männern und Frauen ist aufgrund der strikten Geschlechtertrennung in Afghanistan sehr eingeschränkt. Bewahren sie eine höfliche Distanz zu den Angehörigen des jeweils anderen Geschlechts (oder fordern sie diese ein, sollte sie von „der anderen Seite“ überschritten werden).

Drogen: Auch wenn Afghanistan zu den Ländern gehört, die große Mengen Opium produzieren, ist Drogenhandel und -konsum verboten. Rohopium wird aber weiterhin als traditionelle Medizin genutzt. Das Rauchen von Haschisch ist weit verbreitet und auch die Zahl der Heroinabhängigen nimmt stetig zu (es existieren aber keine verlässlichen offiziellen Zahlen).

Ehre: Der Ehrenmann ist sehr auf seinen tadellosen Ruf bedacht – der durch eigenes unehrenhaftes Verhalten, das seiner Familienmitglieder und besonders seiner Frau, Schwester oder Tochter beschädigt werden kann. Sofortige Reaktionen auf die Verletzung der Ehre sind erforderlich und führen manchmal zu Vergeltungstaten, Ehrenmorden oder Familienfehden. Das Idealbild der ehrenhaften Frau beinhaltet Keuschheit vor der Ehe, bedingungslose Loyalität der Familie gegenüber und tadelloses moralisches Verhalten. Begegnen Sie, besonders als ausländischer Mann, afghanischen Frauen mit distanziert höflichem Verhalten, um sie nicht in Situationen zu bringen, die Zweifel an ihrer Ehrbarkeit aufwerfen. Vermeiden Sie Vertraulichkeiten und Körperkontakt.

Ess- und Trinksitten: Die afghanische Gesellschaft ist traditionell „möbellos“. Zum Essen wird ein Tuch auf dem Boden ausgebreitet und die Speisen werden darauf angeboten. Man sitzt mit eingeschlagenen Beinen um dieses Tuch herum, welches nicht mit den Füßen berührt wird. Im Familienverband wird oft gemeinsam aus den bereitgestellten Schüsseln gegessen, besonders im städtischen Bereich gibt es eigenes Geschirr. Getränke werden meist erst nach dem Essen gereicht.

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Ja, Sie dürfen mich gerne fotografieren

Fotografieren: Aufgrund religiöser und gesellschaftlicher Vorstellungen (Bilderverbot und „Unsichtbarkeit“ der Frau) stehen einige Afghanen dem Fotografieren kritisch gegenüber. Männer und besonders kleine Jungen posieren in der Regel aber gern für Fotos – auch das überall in Afghanistan verbreitete Smartphone hat zu Veränderungen beigetragen. Trotzdem: Fotografieren Sie Menschen – und ganz besonders Frauen – nur mit ihrer Erlaubnis.

Frau und Mann: Innerhalb jeder Gesellschaft gibt es unterschiedliche kulturelle Sphären für Frauen und Männer – im Falle Afghanistans ist diese Spaltung sehr ausgeprägt. In der männlichen Sphäre, die gleichzeitig auch die Öffentlichkeit darstellt, fehlen Frauen fast gänzlich, was sich in allen politischen, gesellschaftlichen und sozioökonomischen Bereichen bemerkbar macht und Frauen auf breiter Linie benachteiligt. Das Phänomen der Geschlechtertrennung beeinflusst das Denken und Handeln der Menschen in Afghanistan und hat natürlich auch Auswirkungen auf den Arbeitsalltag und das Leben von Ausländern im Gastland. Akzeptieren Sie die Spielregeln der Geschlechtertrennung und Aufteilung der Räumlichkeiten in privaten und beruflichen Zusammenhängen und vermeiden Sie vorschnelle Kritik an den vorherrschenden Verhältnissen. Paare und gemischte Kollegengruppen müssen damit rechnen, Feierlichkeiten getrennt verbringen zu müssen. Ausländische Frauen können meistens zwischen den Männer-/Gasträumen und den Frauenräumen wählen; Männern ist diese Flexibilität nicht gestattet. Hochzeiten in der Stadt werden oft in Hotels mit getrennten Sälen für Männer und Frauen gefeiert. Auch hier ist eine Grenzüberschreitung nicht möglich.

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Sehr unterschiedliche Lebensmodelle treffen hier aufeinander

Frauen unterwegs in Afghanistan: Nichtverschleierte Frauen, die sich frei auf den Straßen, in Ämtern und Geschäften bewegen oder sogar selbst Auto fahren, sind in Afghanistan immer noch die Ausnahme und erregen dementsprechend viel Aufsehen. Auch in ländlichen Gebieten, wo die Menschen wenig Kontakt zu Ausländern haben, erhalten reisende Frauen viel Aufmerksamkeit. Die ständige Beobachtung und das „Anstarren“ wird von den meisten Frauen als Belästigung und äußerst störend empfunden. Treten Sie bestimmt und selbstbewusst auf und lassen Sie sich von den starrenden Blicken nicht aus der Ruhe bringen. Vermeiden Sie provozierende Reaktionen. Laufen Sie nicht allein durch unübersichtliche Bazare oder Ihnen unbekannte Stadtteile/Gegenden. Sollten Sie belästigt werden, wenden Sie sich an Passanten, ältere Männer oder Ladenbesitzer, die die meist jugendlichen Störenfriede zur Ordnung rufen können. Fahren Sie nicht allein Auto. Neben der allgemeinen Sicherheitsgefährdung sind besonders Frauen Belästigungen und rüdem (Verkehrs-)Verhalten ausgesetzt.

Extrainfo 2(s.S. 6): Die Dokumentation „Afghanistan – Schweres Los für Frauen“ der Deutschen Welle von 2015 beschäftigt sich mit der Situation der Frauen im Land

Freundschaften entstehen in Afghanistan aufgrund der Geschlechtertrennung in der Regel zwischen gleichgeschlechtlichen Menschen. Für Ausländer gelten diese gesellschaftlichen Regeln zwar nur bedingt, aber auch sie sind den örtlichen Moralvorstellungen unterworfen. Wenn Gruppen von befreundeten Menschen ausgehen, bestellt z. B. im Restaurant einer der Freunde für alle und übernimmt auch die Rechnung. Die Aufteilung in Einzelrechnungen erscheint Afghanen befremdlich.

Gastfreundschaft: In Afghanistan hat sich eine hohe Kultur der Gastfreundschaft entwickelt, auf die jeder Afghane und jede Afghanin stolz ist. Zunächst einmal geht man in Afghanistan davon aus, dass der Fremde in freundlicher Absicht kommt, dass er außerdem schutzbedürftig ist und man ihm daher in jeder Hinsicht zu helfen hat. Gerade in Dörfern bricht oft ein regelrechter Streit darüber aus, wer den Neuankömmling bewirten darf. Von dem Gast wird keine Gegenleistung in Form von Geld oder Geschenken erwartet. Der ausländische Gast wird in dieses System der Gastfreundschaft mit einbezogen. Nehmen Sie die Gastfreundschaft an, eine freundliche Begrüßung, ein kleines Gespräch und eine Tasse Tee gehören immer dazu. Versuchen Sie nicht, für erwiesene Gastfreundschaft zu „bezahlen“, dies könnte vom Gastgeber als Beleidigung aufgefasst werden.

Afghanen freuen sich ungemein – und erwarten sie manchmal geradezu – über lobende Bemerkungen über das Essen, die Landschaft, ihre hochgeschätzte Gastfreundschaft und überhaupt das ganze Land!

Geschenke: Rituelle Geschenke sind bei gegenseitigen Besuchen nicht notwendig, kleine Aufmerksamkeiten (Obst, Nüsse, Süßigkeiten) immer gern gesehen. Bei wichtigen Anlässen wie Hochzeiten usw. sind größere Geschenke angebracht.

Gespräche: Afghanen sind äußerst kommunikativ – sie unterhalten sich gern und viel. Treffen sich zwei oder mehrere Personen, führen sie zumindest ein kurzes Gespräch und selten sitzen mehrere Menschen schweigend beisammen, denn Schweigen und Alleinsein gelten als höchst unsoziale Zustände und verursachen Unbehagen. Am Anfang eines Gesprächs findet meist ein langes Abfrageritual statt, in dem man sich nach dem Wohlbefinden des Gesprächspartners, der Familie und der Kinder erkundigt. Erst wenn diese Erkundigungen mehrmals hin und her gegangen sind, beginnt das eigentliche Gespräch.

Gesprächsthemen: Alles rund um Familie und Verwandtschaft, die aktuelle Lebens- und Berufssituation, das Herkunftsland, aber auch Politik und Sport sind beliebte Themen. Schwierige politische oder religiöse Fragen und Kritik an bestehenden Verhältnissen sollten zunächst ausgeklammert und erst bei größerer Vertrautheit angesprochen werden.

Halal und Haram: Beachten Sie die Einteilung von Dingen, Nahrungsmitteln, Verhaltensweisen usw. in Halal und Haram, was mit erlaubt und verboten interpretiert werden kann. So sind z. B. Schweinefleisch oder Alkohol Haram, also für Muslime verboten, was Sie bei Einladungen beachten sollten. Dem erweiterten Konzept der „Reinheit“ zufolge gelten auch manche Haustiere, z. B. Hunde, als unrein und manche Muslime vermeiden den Kontakt mit ihnen.

Hand, linke: Die linke Hand gilt als unrein, mit ihr wird die Reinigung nach dem Toilettengang vorgenommen. Gegessen wird mit der rechten Hand und auch Anreichungen werden mit der „reinen“ Hand vorgenommen, um das Gegenüber nicht zu beleidigen.

Handeln/Feilschen: Handeln und Feilschen gehört im Bazarbereich zum Einkaufen dazu. Besonders bei Ausländern werden die Preise gern etwas höher angesetzt. In Kaufhäusern und Supermärkten sind die Waren mit Preisen ausgezeichnet; Handeln ist hier nicht üblich.

Hochzeit: Die eigene Hochzeit ist das wichtigste Ereignis im Leben jedes Afghanen und jeder Afghanin. Hochzeiten werden meistens von langer Hand geplant und die Feierlichkeiten ziehen sich über viele Tage hin. Eine große Zahl von Gästen erhöht das Ansehen der an der Hochzeit beteiligten Familien. Für den zu entrichtenden Brautpreis und die Feierlichkeiten verschulden sich manche Familien über Jahre.

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Unterwäsche gefällig? Straßenverkauf in Imam Sahib

Homosexualität ist ein Tabuthema in Afghanistan und die offen gelebte Homosexualität nach religiösen Regeln und Gesetzen verboten. Die „Szene“ bleibt im Verborgenen und kommuniziert heute teilweise über spezielle Internetforen. Ein sehr dezenter Umgang mit diesem Thema wird empfohlen.

Koran: Das heilige Buch des Islam, der Koran, wird in Afghanistan mit großem Respekt behandelt. Es wird meist geschützt vor Verunreinigung im Haushalt aufbewahrt. Die ungebührliche Behandlung des Korans (Entfernen oder Zweckentfremden von Seiten usw.) wird unter dem Tatbestand der Blasphemie geahndet.

Kritik (im Gespräch): In afghanischen Gesprächen steht das Bewahren von Harmonie im Vordergrund. Man zieht es vor, zunächst Gemeinsamkeiten zu thematisieren, um durch den Konsens ein angenehmes Umfeld zu schaffen. Man kommt nicht wie in Deutschland direkt zum Punkt, sondern kreist das Problem langsam ein. Das klare und direkte deutsche „Nein“ gilt als unhöflich und wird möglichst vermieden. Kritik sollte immer behutsam und höflich vorgebracht werden, denn direkte Kritik kann sehr verletzend sein und wird in Afghanistan sehr vorsichtig gehandhabt. Kritisieren Sie Mitarbeiter oder Kollegen nur unter vier Augen, um eine Kränkung der Ehre oder dem Verlust von Ansehen vorzubeugen.

Mondkalender: Zu religiösen Zwecken und der Festlegung der islamischen Feiertage dient der islamische Mondkalender. Das Mondjahr besteht aus zwölf Monaten, die stets an Neumond beginnen, mit jeweils 29 Tagen. Der Mondkalender ist mit 354 Tagen elf Tage kürzer als der Sonnenkalender, weshalb sich die Feiertage im Lauf von 33 Jahren rückwärts durch das Sonnenjahr bewegen (pro Jahr verschieben sich die Feiertage um ca. elf Tage). Die genaue Festlegung der Daten der islamischen Feiertage richtet sich nach der tatsächlichen örtlichen Mondbeobachtung. Aufgrund der geografischen Lage und der unterschiedlichen Zeitzonen ergeben sich zwischen den einzelnen islamischen Ländern Verschiebungen um einen oder mehrere Tage.

Moscheebesuch: Erkundigen Sie sich, welche Moscheen (auch von Frauen) problemlos besucht werden können, aber verzichten Sie am Freitag auf Besuche. An diesem Tage wollen viele der zahlreichen Moscheebesucher nicht gestört werden. Ziehen Sie vor dem Betreten einer Moschee die Schuhe aus; Frauen müssen den Kopf bedecken. Steigen Sie nicht über einen Betenden hinweg oder laufen vor ihm her.

Nauruz ist das Neujahrs- und Frühlingsfest, das in Afghanistan und vielen anderen islamisch geprägten Ländern am 20. oder 21. März gefeiert wird. Wörtlich aus dem Persischen übersetzt bedeutet es „neuer Tag“. Die Begehung des Festes lässt sich zurückverfolgen bis zu den zoroastrischen Vorfahren der heutigen iranischen Völker. Es ist ein willkommener Anlass, sich im großen Familienkreis zu treffen und nach dem langen, dunklen Winter unbeschwert und fröhlich zu feiern. Auch wenn das Fest streng genommen kein religiöser Feiertag ist, hat es bei vielen Afghanen auch religiöse Bedeutung erlangt: Man besucht die Gräber von Familienangehörigen und betet für ihr Seelenheil. Schiitische Afghanen pilgern zu Alis Grab in Mazar-e Sharif, um die Fahne Alis aufzurichten. In Afghanistan ist Nauruz ein offizieller Feiertag. Da das Fest auf vorislamische Ursprünge zurückgeht, wird es von den Taliban abgelehnt und war während ihrer Regierungszeit verboten.

Privatsphäre: Beachten Sie, dass in Afghanistan deutlich zwischen öffentlichen und privaten Räumen unterschieden wird: Betreten Sie fremde Häuser oder Höfe nicht unaufgefordert, besuchen Sie Dörfer möglichst nur mit Einladung. Männer sollten nie ohne Voranmeldung und Abstimmung mit dem Hausherrn ein afghanisches Haus besuchen, um die anwesenden Frauen nicht in Verlegenheit oder Schwierigkeiten zu bringen. Männer sollten sich in afghanischen Häusern nur in den Gasträumen aufhalten und niemals ungefragt die Familienräume betreten. Halten Sie ganz generell Distanz zum anderen Geschlecht, um Missverständnisse zu vermeiden.

Ramadan: Im „heiligen“ Monat Ramadan legt der Koran die Bedingungen der Enthaltsamkeit (Essen, Trinken, Rauchen, Geschlechtsverkehr) von der Morgendämmerung bis zum Sonnenuntergang fest. Es finden viele zusätzliche Koranlesungen und gemeinsame Gebete in Moscheen statt. Beachten Sie die besonderen Verhaltensregeln im Fastenmonat Ramadan: Essen, trinken und rauchen sie tagsüber möglichst nicht in der Öffentlichkeit.

Religion: Die meisten Afghanen sind bedingungslos von ihrem Glauben überzeugt, auch wenn nicht alle die Riten des Islam regelmäßig praktizieren. Die Zeit der Taliban hat allerdings Spuren hinterlassen: Der öffentliche Druck und die gesellschaftliche Kontrolle bezüglich der Einhaltung der islamischen Regeln haben sich verstärkt.

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Und welches Paar gehört jetzt mir? Moscheebesuch in Afghanistan

Respekt: Afghanen sind sehr höflich: Man lässt einander den Vortritt, begrüßt sich höflich, behandelt Gäste äußerst zuvorkommend. Bei formellen Anlässen achten Afghanen auf eine Gesprächsordnung; ältere Menschen, Würdenträger, Vorgesetzte und überhaupt alle sozial höherstehenden Personen haben das Recht auf das erste und letzte Wort, auch ihre Monologe werden selten unterbrochen.

Schuhe: Schuhe gelten als unrein. Um den Schmutz der Straße nicht in die Häuser und auf die als Sitzfläche dienenden Teppiche zu tragen, werden die Schuhe an der Haustür abgestellt. Häuser werden nur in Socken oder barfuß betreten. Vor jedem Betreten einer Moschee ist das Schuheausziehen obligatorisch.

Spucken: Das bei uns übliche Naseputzen und die Benutzung eines Taschentuches sind in Afghanistan unüblich. Es gilt sogar als unfein, sich die Nase in Gesellschaft anderer oder sogar beim Essen zu putzen. Dies verrichtet man allein im Badezimmer. Das kräftige Ausspucken der Männer zur Reinigung von Nasen- und Rachenraum auf der Straße ist aber durchaus üblich und wird ausgiebig praktiziert.

Tabus: Es gibt keine Tabuthemen für Gespräche im eigentlichen Sinn, aber gerade wenn ein Gesprächspartner noch nicht näher bekannt ist, sollten manche Themen mit Vorsicht angesprochen werden. Afghanen meiden folgende Themen: Homosexualität, Prostitution, Diskriminierung von Frauen und Minderheiten.

Halten Sie sich mit Kritik an religiösen Themen zurück, ebenso mit dem Bekenntnis, Sie seien Atheist. Sprechen Sie nicht negativ über die islamische Religion und den Propheten Mohammed.

Toiletten: In Afghanistan ist die einfache Hocktoilette verbreitet. Meistens ist dort ein Gefäß mit Wasser zur Reinigung vorhanden, die mit der linken Hand erfolgt. Nur in besseren Hotels und Restaurants und in Häusern wohlhabender Afghanen gibt es Toiletten nach westlichem Vorbild und Toilettenpapier.

Verschleierung: Die Verschleierung afghanischer Frauen reicht von einem leichten Kopftuch bis zur Burka, welche die Person komplett verhüllt. Die Zugehörigkeit zu Stadt- oder Landbevölkerung, wohlhabenden, modernen oder konservativen gesellschaftlichen Schichten bestimmen den Grad der Verschleierung. Eine Verschleierung oder die Bedeckung des Kopfes ist für Ausländerinnen in Kabul nicht zwingend notwendig, in den Provinzen oder Dörfern kann es aber durchaus angebracht sein, ein Kopftuch zu tragen.

Vetternwirtschaft und Korruption: Netzwerke – und besonders verwandtschaftliche – sind von größter Wichtigkeit für das Bestehen des afghanischen Individuums in seiner Gesellschaft. Um die persönliche Position im Netzwerk zu stabilisieren und auszubauen, kann es beispielsweise von Vorteil sein, einem entfernten Verwandten einen Gefallen zu tun – er wird sich bei Gelegenheit revanchieren. Das persönliche Verhältnis hat Vorrang vor jeder sachlichen Aufgabe und jedem Auftrag. Auch bei Stellenbesetzungen werden die Angehörigen der eigenen Gruppe bevorzugt. Nicht jede Handlung, die durch diesen soziokulturellen Kontext bedingt wird, ist mit Vetternwirtschaft oder Korruption in unserem Sinn zu vergleichen. Für viele Afghanen ist die Bevorzugung eines Angehörigen eine Selbstverständlichkeit und/oder Notwendigkeit.

Aber auch Korruption ist im Land weit verbreitet und eine Plage besonders für die wirtschaftlich weniger gut gestellten Schichten, da z. B. für viele Dienstleistungen ein Extra-Obolus entrichtet werden muss. Ausländer bekommen von dieser Form der Korruption in der Regel nicht viel mit.

Zärtlichkeiten: Kulturelle und religiöse Vorstellungen haben zu einer großen Distanz der Geschlechter in der Öffentlichkeit geführt. Sollten Sie Afghanistan mit Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin bereisen, tauschen Sie in der Öffentlichkeit keine Zärtlichkeiten aus. Selbst das zwischengeschlechtliche Händchenhalten gilt als ungewöhnlich, wohingegen es bei gleichgeschlechtlichen Menschen akzeptabel ist.

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Gebetszeiten

Zeitverständnis: Menschen aus westlichen Gesellschaften orientieren sich permanent an der Uhrzeit; sie nehmen exakte Planungen und Zeiteinteilungen vor und messen Zeitvorgaben und Pünktlichkeit einen großen Wert bei. Afghanen sind mit ungefähren Zeitangaben zufrieden. Die Zeit wird subjektiv-persönlich gehandhabt. Die Zeiteinteilung hat in Afghanistan eine geringere Bedeutung, was sich auf die Pünktlichkeit auswirken kann (im geschäftigen Kabul hat sich dies aber bereits geändert). Unpünktlichkeit sollte deshalb nicht mit Unzuverlässigkeit gleichgesetzt werden und lässt nicht auf Desinteresse schließen.

Vergangenheit und Gegenwart

Drehscheibe der Kulturen

Afghanistan, das uns heute als karges Hochgebirgsland mit knappen Ressourcen und einer langen Kette von gewaltsamen Auseinandersetzungen erscheint, hat eine überaus lebhafte und abwechslungsreiche Geschichte zu bieten. In den unterschiedlichen historischen Darstellungen wird es oft als „Wiege vieler Reiche des Altertums“, „Kreuzweg der Kulturen“ und „Drehscheibe der Völker“ bezeichnet. Afghanistans einzigartige Kultur entstand tatsächlich in einem Schmelztiegel vieler Völker und Religionen zwischen Hindukusch, Seidenstraße und Wüstenregionen. In den Jahrtausenden seiner Geschichte wurden das Land und seine Bevölkerung von Zarathustra, dem Buddhismus, den Griechen und schließlich islamischen Einflüssen geprägt. Große Reiche, die weite Teile Persiens und Indiens umfassten, hatten ihr Zentrum in Afghanistan. Gerade auch aufgrund seiner geostrategischen Lage zwischen Mittel-, West- und Südasien hat Afghanistan immer wieder Besucher mit weniger friedlichen Absichten angelockt. Sie fielen gewaltsam in das Land ein, zerstörten Hinterlassenschaften ihrer Vorgänger und drückten der Gesellschaft – bevor sie weiterzogen – ihren eigenen religiösen, kulturellen und sprachlichen Stempel auf.

Der geografische Raum, in dem sich Afghanistan befindet, wurde im Laufe der Geschichte mit drei verschiedenen Namen benannt. Aryana hieß das Land seit Ankunft der Arier in der zweiten Hälfte des 2. Jahrtausends v. u. Z., in der Herrschaftszeit der persischen Sassaniden ab dem dritten Jahrhundert nach christlicher Zeitrechnung wurde es „Land des Ostens“, Khorasan, genannt. Diese Region umfasste das heutige Afghanistan, Ostiran und die südlichen mittelasiatischen Länder. Erst im 18. Jahrhundert wurde das Gebiet unter dem Namen Afghanistan bekannt.

Die paläolithischen Bewohner Afghanistans lebten vor 100.000 Jahren auf Flussterrassen, in Höhlen und unter Felsvorsprüngen. Bei Ausgrabungen westlich von Ghazni wurden steinzeitliche Werkzeuge wie Äxte, Klingen und Schaber gefunden, die sich so weit zurückdatieren lassen. Teile Afghanistans wurden von den Neandertalern bewohnt, aber auch Formen des modernen Homo sapiens kamen schon vor. In der Gegend der alten Stadt Balkh, in der Nähe des heutigen Mazar-e Sharif, wurde eine große Anzahl von prähistorischen Steinwerkzeugen gefunden. Das frühe Kunstschaffen wird in einer außerordentlichen Steinschnitzerei aus Aq Kupruk in Nordafghanistan sichtbar: Auf einem kleinen unscheinbaren Stein ist eindeutig das Antlitz eines Menschen zu erkennen. Erstaunlich ist das Alter des Fundes: Er ist auf 20.000 v. u. Z. zurückzudatieren.

Mit dem Ende der letzten Eiszeit um 8000 v. u. Z. begann das Neolithikum und der Mensch erlernte die Pflanzenzucht, die Domestizierung von Tieren und erlangte somit die Kontrolle über seine Nahrungsmittelversorgung. Diese Errungenschaften kamen einer Revolution gleich. 7000 v. u. Z. begannen die Menschen von Aq Kupruk Täler zu besiedeln, in denen günstigere Pflanzbedingungen herrschten. Die Landwirtschaft entwickelte sich, Dörfer und Städte entstanden. Said Qala, in der Nähe Kandahars gelegen, konnte schon in der Bronzezeit um 5000 v. u. Z. mehrräumige Gebäude aus Lehmziegeln vorweisen.

Die Ausgrabungsstätten Deh Morasi, Mundigak und Said Qala sind voller Beweise für frühe religiöse Entwicklungen in Afghanistan. Sie zeugen auch von den Anfängen der Stadtkultur und den frühen wirtschaftlichen Netzwerken im 3. Jahrtausend vor Christus. Deh Morasi, 27 Kilometer südwestlich von dem heutigen Kandahar gelegen, war der erste prähistorische Fundort, der in Afghanistan erforscht wurde. Mundigak, 51 km nördlich von Deh Morasi, kann bereits als Stadt bezeichnet werden; Deh Morasi und Said Quala waren eher halbnomadische Dörfer. In allen drei Orten finden sich große Gebäude, die wahrscheinlich sakralen Zwecken dienten. In Deh Morasi wurden sogar Überreste eines altarähnlichen Gebildes ausgegraben – aus luftgetrockneten Ziegeln erbaut, enthält der Schrein Objekte, die auf religiöse Rituale schließen lassen. Neben Ziegenhörnern, Kupfersiegeln und Alabaster-Bechern wurden auch Tonfiguren gefunden, welche die Muttergottheit darstellen sollen. Die Muttergottheit ist von üppiger Gestalt; sie übt Macht über Leben und Fruchtbarkeit, aber auch über die Dunkelheit und den unbekannten, Furcht einflößenden Teil der Welt aus. Deh Morasi wurde 1500 v. u. Z. aufgegeben, vielleicht weil sich der Lauf des Flusses allmählich veränderte. Mundigaks Ende kam nur 500 Jahre später – nachdem es 2000 Jahre bestanden hatte.

Der Handel erstreckte sich über weite Regionen: Die Ornamente auf den Waren und naturalistische Darstellungen weisen stilistische Ähnlichkeiten mit den vorherrschenden Richtungen in Mesopotamien, Iran, dem Indus-Tal und Zentral-Asien auf. Die Minen Badakhshans, die zum Teil noch immer in Betrieb sind, lieferten Lapislazuli, einen blauen Halbedelstein und eines der gefragtesten Handelsgüter Afghanistans.

Eine Zeit großer Veränderungen brach an, als indoarische Nomadenstämme in das südasiatische Gebiet einfielen. Der Rigveda (Aufzeichnungen der vedischen Arier) zufolge, spielte sich dieses Ereignis etwa um 1500 v. u. Z. ab. Das Ursprungsgebiet der Arier ist unbekannt; die Afghanen, welche immer wieder Bezüge zu ihren „arischen Vorfahren“ herstellen, siedeln sie gern im nordafghanischen Baktrien an. Die Wahrheit wird unter dem Schleier der vergangenen Jahrtausende verborgen bleiben.

Zarathustra, ein bedeutender religiöser und politischer Führer, lebte zwischen 1000 und 600 v. u. Z. in dieser Gegend. In der Avesta sind seine Doktrinen niedergeschrieben und der Leser erfährt über die Unterweisungen des Gottes Ahura Mazda, dessen Gebote Zarathustra mit „guten Gedanken, guten Worten und guten Taten“ beschrieb. Diese Lehre wurde zur Grundlage der späteren Staatsreligion der Perser. Ein wichtiges Element der Religion ist der Feuerkult. Trankopfer wurden dem Feuergott und den Göttinnen des Wassers dargebracht und damit den beiden kostbarsten lebenserhaltenden Kräften gehuldigt. Charakteristisch und viel beschrieben sind ihre traditionellen „Türme des Schweigens“, auf denen die Toten der Gemeinde aufgebahrt wurden, um die Erde nicht mit dem verfaulenden Fleisch zu verunreinigen. Die Leichen wurden sich selbst und den Aasvögeln überlassen. Zarathustra gilt als erster Monotheist in dem Sinn, dass er einen Gott über die anderen, von seinen iranischen Vorgängern verehrten Götter erhob.

In dieser Zeit wandten sich die nomadischen Arier der Landwirtschaft zu und die fruchtbaren Ebenen Baktriens erblühten in Wohlstand. Die Region, in der Teile des heutigen Afghanistans liegen, wurde Aryana genannt.

Unter Cyrus dem Großen (550–529 v. u. Z.) und Darius I. (522–486 v. u. Z.) wurde das Gebiet Teil des großen Reiches der Achämeniden, die ihren Einfluss vom Ursprung in Südpersien bis zum Mittelmeer und zum Himalaja ausdehnten. Darius I. hatte berühmte Orte wie Susa und Persepolis erbauen lassen. Handelsrouten wurden durch das Land gelegt und Statthalter bestimmt, die Abgaben und Gehorsam leisten mussten. Die achämenidische Kontrolle der afghanischen Region wurde durch Alexander den Großen, König von Makedonien, beendet. Von 330 v. u. Z. bis 328 v. u. Z. zog Alexander mit seinen Heerscharen durch Afghanistan und errichtete einen Basis-Standpunkt in Bactra. Die Anwohner leisteten Widerstand gegen die vorrückenden Truppen, einige Häuptlinge aber ergaben sich. Der letzte Achämeniden-Herrscher Darius III. wurde von baktrischen Verbündeten Alexanders ermordet. Der Zug der Makedonier durch das Land war von unzähligen Kämpfen gegen aufständische Gebietsfürsten und unberechenbare Bergvölker begleitet. Trotz der Unruhe im eigenen Lager, viele seiner Soldaten waren kriegs- und wandermüde geworden und wollten zurück in ihre Heimat, zwang Alexander die Truppen weiter nach Osten – Indien war sein großes Ziel. Er führte schätzungsweise zwischen 27.000 und 30.000 Männer über den Khyber-Pass nach Osten. 326 v. u. Z. gelang es seinen Truppen endlich, die Heimkehr zu erzwingen. Alexander gründete mehrere Städte namens Alexandria auf afghanischem Gebiet, einige Orte nehmen auch für sich diese Ehre in Anspruch – archäologische Beweise lassen sich in vielen Fällen aber nicht erbringen. Auch Balkh kann in diesem Sinne nicht eindeutig als das historische Bactra identifiziert werden. Drei Jahre nachdem Alexander aus Indien zurückgekehrt war, starb er 323 v. u. Z. in Babylon. Der große Feldherr und Abenteurer wurde nur 33 Jahre alt. Alexander der Große ist im historischen Gedächtnis der Afghanen sehr lebendig geblieben. Oftmals wird der Ursprung der blonden und helläugigen Menschen im Land auf eine Vermischung mit seinen Truppen zurückgeführt.

Afghanistan musste viele Invasionen über sich ergehen lassen, aber Alexander und der griechische Einfluss bewirkten eine tiefe Prägung. Das gräko-baktrische (griechisch-baktrische) Reich stellt eine Besonderheit dar: am Rande der zentralasiatischen Steppe entstanden, von Nomaden umgeben, weit entfernt von den Kulturen des Mittelmeeres, deren Erbe es in sich aufnahm. Einige der Städte glichen in ihrem Aufbau der hellenistischen Polis, womit ein antiker städtischer Siedlungskern mit dazugehörigem Umland bezeichnet wird. Alexander hat diese Form des griechischen Stadtstaates verbreitet. Felsgravierungen aus der Zeit des intensiven griechischen Einflusses, die 1967 in der Nähe von Kandahar gefunden wurden, enthalten zweisprachige Texte, verfasst in der offiziellen Sprache der Achämeniden und in Griechisch. Die Inschriften belegen nicht nur, dass eine griechische Gemeinde in Kandahar gelebt hat, sondern auch, welch großen Einfluss die hellenistische Kultur auf die frühen Bewohner Afghanistans hatte und dass die Vermischung eine neue Kultur hervorbrachte.

Griechische und persische Einflüsse wurden durch den Buddhismus bereichert, den Ashoka, ein Herrscher des altindischen Maurya-Reiches, nach seiner eigenen Bekehrung verbreitete. Er entwickelte sich zum Friedensförderer, unterstützte die soziale Wohlfahrt und lehnte den Krieg ab. Unter Ashoka erlebte der Buddhismus in Indien seine Blütezeit. Während seiner Herrschaft von 268 bis 233 v. u. Z. errichtete Ashoka Tausende von buddhistischen Stupas (ursprünglich Grabhügel, entwickelten sich Stupas zu Denkmälern für Buddha und zu Symbolen des Buddhismus) und Klöstern und schickte Missionare durch das Land. Sie bereisten die Weiten Asiens und zogen mit Karawanen entlang der Seidenstraße, um die Lehre der neuen Religion bis nach China zu bringen. Afghanistan ist übersät mit Ruinen dieser einstmals großartigen buddhistischen Stätten. In der „buddhistischen Zeit“ herrschten Frieden und Wohlstand, doch nach dem Tod des Herrschers zerfiel das Reich.

Das gräko-baktrische Reich hatte sich immer wieder gegen Invasionswellen zentralasiatischer Nomaden zu wehren. Skythen, Hephthaliten, Seltschuken und Yüe-tschi waren Völker, die mit ihrem Eroberungsdrang Afghanistan überrollten. Anfang des ersten Jahrhunderts v. u. Z. konnten die Gräko-Baktrier ihre Herrschaft nicht weiter aufrechterhalten. Mit der Jahrtausendwende hatten die Yüe-tschi das Kabultal erreicht und gründeten das Kushan-Reich. König Kanishka, dessen Regentschaft vermutlich um 100 u. Z. begann, dehnte das Kushan-Imperium von Nordwest-Indien zum Aralsee und bis Kashgar und Yarkand aus. Sein großer Reichtum, der sich in luxuriösen Gütern und Bauwerken widerspiegelte, wurde durch die tragende Rolle der Seidenstraße als Handelsroute zwischen Ost und West begründet. Die Kushan waren vermutlich Anhänger des persischen Religionsstifters Zarathustra und huldigten dem Feuerkult, aber sie verehrten auch griechische und hinduistische Gottheiten. Dieser religiösen Vielfalt nicht genug, wurde Kanishka zum großen Förderer des Mahayana-Buddhismus.

Aus der Vermischung indischer, persischer und gräko-baktrischer Kultur und Kunst entstand eine dynamische und kreative Kunstrichtung, die auch als Gandhara-Stil bezeichnet wird. Die reichen Funde dieser Zeit in Form von aussagestarken und lebensnahen Skulpturen und Reliefs beinhalten sowohl östliche als auch westliche Motive. Darstellungen von Gottheiten aus der griechischen Mythologie und aus persischen, hinduistischen und zentralasiatischen Vorstellungswelten tragen zur Vielschichtigkeit der Kunst Gandharas bei. Auch Buddha wurde mit einem Körper versehen und bekam ein menschliches Gesicht. Im zentralafghanischen Bamiyan, am Kreuzweg zweier Handelsrouten gelegen, entstanden große Buddha-Statuen und zahlreiche Felsenklöster, die von buddhistischen Mönchen und Pilgern bewohnt wurden.

Die zwei Hauptstädte des Kushan-Reiches waren Kapisa, unweit der jetzigen afghanischen Hauptstadt Kabul gelegen, und Peshawar im heutigen Pakistan. Der wirtschaftliche und politische Einfluss der Herrscher verbreitete sich von diesen Städten ausgehend in der ganzen Region. Im 3. Jahrhundert u. Z. begann der Zerfall des Römischen Reiches und zeitgleich der Han-Dynastie in China. Der internationale Handel ging zurück, was direkte Konsequenzen für das Khushan-Reich und seine Einnahmen durch den Handelsweg entlang der Seidenstraße hatte. Bürgerkriege erschütterten das Reich nach Kanishkas Tod, bis es in kleine Königreiche unter der Herrschaft von einzelnen Kushan-Prinzen auseinander brach.

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Auf dieser Zeichnung von 1885 sind die beeindruckenden Buddha-Statuen von Bamiyan noch an ihrem Platz

Extrainfo 3(s.S. 6): Originalaufnahmen von einer Reise nach Bamiyan im Jahr 1975 (da gab es die Buddha-Statuen noch)

Die persische Sassaniden-Dynastie nutzte die Schwäche, um ihren eigenen Einfluss geltend zu machen. Die Sassaniden nahmen Baktrien und das Kabultal ein und drangen weiter nach Süden bis Gandhara vor. Sie nannten ihr Herrschaftsgebiet Khorasan. Bis in das 4. Jahrhundert u. Z. konnten sie ihre Regentschaft ausdehnen, dann wurden sie von einer erneuten Invasionswelle aus Zentralasien überrollt und geschwächt.

Befehlshaber der Hunnen, die auch als Hephthaliten bezeichnet werden, eroberten in den darauffolgenden Jahrhunderten weite Gebiete Südasiens und herrschten fast 200 Jahre lang. Viel ist nicht über sie überliefert worden, aber buddhistische Bauwerke und Kunsterzeugnisse wurden im großen Stil zerstört. Einige der Herrscher bezeichneten sich wohl als Buddhisten, andere als Hindus. Chinesische Quellen berichten von Hindu-Reichen zu dieser Zeit auf afghanischem Gebiet, in Koh Daman und Gardez wurden sowohl Statuen des Elefanten-Gottes Ganesh als auch Abbilder Shivas und Dergas gefunden.

Verbreitung des Islam

Khorasan ist die Auster der Welt und Herat ist die Perle darin.

(Afghanisches Sprichwort)

Eine neue Ära brach an, als arabische Heere die Region Khorasan erreichten und ihre Religion, den Islam, verbreiteten. Sie zerschlugen die Streitkräfte der schon durch zahlreiche zentral-asiatische Invasionen geschwächten persischen Sassaniden-Dynastie und setzten ihr somit um 642 u. Z. ein Ende. Die Araber bewegten sich schnell Richtung Nordosten und brachten den Islam nach Samarkand. Die Region südlich des Hindukusch blieb noch einige Hundert Jahre von den Islamisierungsversuchen verschont. Die arabischen Eroberer sahen sich einer großen kulturellen Vielfalt gegenüber, da Afghanistan als Durchzugsgebiet wichtiger Handelsstraßen von jeher ein kultureller Schmelztiegel war. Die dortigen Fürsten wehrten sich gegen die Eindringlinge und blutige Auseinandersetzungen säumten den Weg der Eroberer. Langsam begannen arabische Einflüsse die ganze Region zu prägen, Schrift und Sprache der Invasoren etablierten sich und die neue monotheistische Religion griff mit ihren Gesetzen und Regeln in das Leben der Menschen ein. Gleichzeitig wurden aber auch viele Elemente der traditionellen Vorstellungen sowie Teile aus den älteren Religionen beibehalten und in die neue Glaubensrichtung integriert. Der Islam hat – so wie andere große Religionen auch – im Laufe der Jahrhunderte viele lokale Traditionen und alte religiöse Vorstellungen aufgenommen und erst durch diese Vermischungen seine heutige Form erhalten. Im neunten Jahrhundert galten große Teile Khorasans als islamisiert, nur einige Hochburgen älterer Religionen konnten ihre vorislamischen Kulturen länger beibehalten. So blieb Bamiyan weitere 300 Jahre als buddhistisches Zentrum bestehen, bis es sich dem Islam in der Zeit der Abbassiden nicht länger widersetzen konnte. Die Lage Bamiyans im unzugänglichen Hochland des jetzigen Zentralafghanistans hat sicherlich zu der späten Islamisierung beigetragen. Die Zoroastrier, Anhänger der Lehre Zarathustras, konnten sich bis zum 11. Jahrhundert in Sistan halten und die Kafiren (Ungläubige) in Kafiristan widerstanden der Zwangsbekehrung sogar bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Dieses Grenzgebiet zwischen den Regionen nordöstlich von Kabul und dem heutigen Pakistan wird seit der Islamisierung Nuristan, „Land des Lichts“, genannt.

Extrainfo 4(s.S. 6): Wunderbare Aufnahmen aus dem Bamiyan-Tal in Zentralafghanistan bietet der Phoenix-Filmbeitrag „Die Buddhas von Bamiyan – Hoffnung aus den Trümmern“ von 2017

Arabische Kalifen der Omayaden- und Abbassiden-Dynastien lenkten die Geschicke der islamischen Welt von Arabien aus. In den neu eroberten Ländern wurden Statthalter eingesetzt, die meist auf recht selbstständige Weise für Recht und Ordnung sorgten und die islamische Lebensweise überwachten. Islamische Dynastien wechselten sich in den kommenden Jahrhunderten in rascher Folge ab; zu ihnen gehörten die Taheriden, Saffariden, Samaniden, Ghaznawiden und die Ghoriden. Während ihrer Herrschaft gewann die Seidenstraße als Handelsroute wieder an Bedeutung und bescherte einzelnen Stationen an dieser Strecke Wohlstand und herausragende Bauwerke. Die Städte Balkh, Herat, Ghazni und Kandahar wurden zu Herrschafts- und Kulturzentren. Ghazni erblühte in der Zeit der Ghaznawiden und besaß nicht nur prächtige Moscheen und Paläste, sondern auch die erste islamische Universität in der Region. Die Samaniden herrschten von Balkh aus über ganz Mittelasien, verlegten ihr Zentrum aber in späteren Jahren nach Bukhara (im heutigen Usbekistan). Das Reich der nachfolgenden Ghaznawiden erstreckte sich von Khorasan bis an den Ganges. Die Ghaznawiden förderten die persische Kultur: Der Dichter Firdousi schrieb in dieser Zeit das berühmte „Buch der Könige“ und Al-Biruni wurde der bekannteste Naturwissenschaftler seiner Zeit. Die Ghoriden regierten ihr Gebiet vom Westen des Landes, der Gegend um Herat, aus. Sie sorgten für die Verbreitung des Islam in Nordindien. Ihre Macht schwand zu Beginn des 13. Jahrhunderts und mit ihnen verabschiedete sich die letzte große Dynastie für viele Jahrhunderte.

Die persische Sprache, umgesetzt in arabische Schrift, dominierte den ganzen Raum bis Zentralasien. Es war die Sprache der Dichter und Denker. Arabischer Wortschatz beeinflusste aber zunehmend alle lokale Sprachen und wurde verwendet, um religiöse oder wissenschaftliche Belange auszudrücken. Wissen und Bildung in Afghanistan basierten damals stark auf islamischen Quellen und fanden im religiösen Rahmen statt. Da Arabisch immer eine Fremdsprache blieb und Persisch als Bildungsund Dichtersprache diente, gab es seit dem Beginn der Islamisierung Verständnisprobleme bezüglich der religiösen Inhalte. Gläubige lernten jahrhundertelang das Lesen und Rezitieren der Koransuren in einer für sie unverständlichen Sprache. Den religiösen Ritualen folgend ist es notwendig, die Koransuren auf Arabisch vorzutragen und noch heute werden Übersetzungen des Korans von einigen islamischen Rechtsgelehrten abgelehnt. Vielleicht konnte der mystische Islam in der persischen Region eine so große Bedeutung erlangen, weil die Religionssprache immer fremd geblieben ist und nur die Sufis, islamische Mystiker, es verstanden, eine verständliche und volkstümliche Version zu vermitteln. Die Sufik, mit ihren Orden, mystischen Dichtern und heiligen Männern ist ebenso alt wie der Islam in Afghanistan. Verbindungen der sufischen Bewegung zu mystischen Elementen anderer traditionell regionaler Glaubensrichtungen halfen den Bekehrten, sich an die neue islamische Religion zu gewöhnen und sie in ihr Weltbild zu integrieren.

Nach dem Zerfall der ghoridischen Dynastie zerbrach das Reich in viele kleine Fürstentümer.

Djingis Khan (gest. 1227) wird als ein Großkhan aller Mongolen bezeichnet, der turko-mongolische Stämme vereinigte und weite Teile Zentralasiens und Nordchinas unter seine Kontrolle brachte. Er zog im 13. Jahrhundert brandschatzend durch das Land und tötete Mensch und Vieh. Auch unter Timur Leng (1328–1405) wurden wieder Städte und Bewässerungssysteme, die bedeutenden Bauwerke und viele Zeugnisse aus buddhistischer Zeit zerstört. Timur Leng, der seinen Namen aufgrund einer Lähmung am rechten Bein erhielt, galt in seinen jungen Jahren als Räuber und Pferdedieb. Er heiratete in die Familie Djingis Khans ein und entwickelte sich zu einem großen Eroberer, der schließlich die Timuriden-Dynastie begründete. Ghazni, Herat und Balkh wurden dem Boden gleichgemacht. Die Zerstörungswut der Mongolen schien unerschöpflich zu sein. Djingis Khansoll sich selbst als „sengende Sonne Satans“ bezeichnet haben und eine berühmt-berüchtigte Überlieferung aus Timur Lengs Herrschaftszeit ist die Schädelpyramide aus Köpfen von Menschen, die den Eroberungszügen zum Opfer gefallen waren. Das Gebiet des heutigen Afghanistans brauchte Jahrhunderte, um sich von der Invasion der Mongolen zu regenerieren.

Ursprünge des afghanischen Staates

Im 16. und 17. Jahrhundert wurde das Gebiet des heutigen Afghanistans von der indischen Dynastie der Moghuln, den Safawiden in Persien und von mittelasiatischen Reichen beeinflusst. Afghanistan fungierte als Pufferstaat – so wie es sich noch mehrmals im Laufe der Geschichte wiederholen sollte. Der Westen des Landes mit der Stadt Herat wurde von der safawidischen Dynastie beherrscht; in Kabul gründete der Moghul-Herrscher Babur ein neues Reich. Babur verlagerte sein Zentrum später nach Nordindien, wurde aber in Kabul begraben – seine Bauwerke können noch heute in restaurierter Form in „Baburs Garden“ in Kabul bewundert werden. Die Herrschaft der jeweiligen Machthaber erfolgte oft indirekt über Statthalter, die zwar versuchten, auf die Anführer der lokalen Stämme Einfluss zu nehmen und Tribut zu fordern, aber vor Ort nur über eine schwache Machtbasis verfügten. In dem Maß, wie die indischen Moghuln und persischen Safawiden schwächer wurden, gewannen die pashtunischen Stämme an Stärke. Einer der Gründe für den Machtverlust können schwindende Einnahmen gewesen sein, denn die Seidenstraßenroute verlor im Zug des aufstrebenden Seehandels an Bedeutung.

Im Prozess des Aufbegehrens pashtunischer Stämme gegen die jeweiligen Herrscher spielten die Führer mystischer Orden eine große Rolle. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts einte der Mystiker Ansari mehrere Stämme, die dann gemeinsam gegen die Moghuln rebellierten. Die Herrscher waren von vielen Völkern in der Region als „Kolonialisten“ empfunden worden. Auch ein Jahrhundert später musste der Moghul Aurangzeb eine schwere Niederlage gegen pashtunische Stämme bei Landikotal (auf dem Khyber pass) hinnehmen. Einer der herausragenden Pashtunen jener Zeit war Khushal Khan Khattak, der sich auch als Dichter einen Namen machte und noch heute große Verehrung erfährt.

Im 18. Jahrhundert schlossen sich mehrere pashtunische Stämme zu einem Bündnis zusammen und bezeichneten sich als Ghilzai-Stammesverband. Durch die zunehmende Schwäche der Moghuln und der persischen Safawiden entstand ein Machtvakuum, dass die pashtunischen Stämme ausnutzten. Sie erwiesen sich im Verbund als so stark, dass sie die Safawiden-Herrschaft endgültig beenden konnten. Im Jahr 1747 wurde die große Ratsversammlung in der Stadt Kandahar zusammengerufen, um über die Form eines zukünftigen Staates Afghanistan zu sprechen. Da sich viele Gruppen vordrängten und einen Führer vorschlugen, wurde ein Schiedsrichter bestimmt, der über einen König, Padshah, entscheiden sollte. Er wählte Ahmad Shah Abdali, der später den Ehrentitel Durrani bekam. Der damalige König wird heute auch manchmal Ahmad Shah Baba genannt, der Vater des modernen Staates Afghanistan. Aufgrund dieser Überlieferungen können die Anfänge der afghanischen Nationalgeschichte wahrscheinlich auf das Jahr 1747 datiert werden. Anderen historischen Quellen zufolge soll Ahmad Shah die Macht mit Gewalt an sich gerissen haben, aber die Afghanen (und besonders die Pashtunen) bevorzugen die Version, dass er ein von allen Seiten anerkannter Herrscher war, der zudem von edlen Ehr- und Rechtsvorstellungen geleitet wurde (siehe M. Elphinstone, 1818). In der Zeit seiner Herrschaft, die ein Vierteljahrhundert umspannte, kontrollierte Ahmad Shah einen lockeren Herrschaftsverbund von vielen kleinen Fürstentümern. Das Reich hatte größere Ausmaße als das heutige Afghanistan: Es reichte von Maschhad im Iran bis zum indischen Kaschmir, vom Amu Darya im Norden bis an die Küsten des Indischen Ozeans. Die bereits existierenden Machtverhältnisse blieben unangetastet, einzelne Gebiete autonom – Macht und Kontrolle wurden nur indirekt ausgeübt. Der Sohn des Herrschers, Timur Shah, konnte sein Regime nur noch mühsam aufrechterhalten. Bei seinem Ableben zeigte sich, dass nach wie vor die Einzelinteressen die Handlungsweisen der Stämme bestimmten.

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Im Afghanischen Nationalarchiv lagern viele Schätze aus der Anfangszeit des afghanischen Staates