Reiseziel Utopia - Anja Bagus - E-Book

Reiseziel Utopia E-Book

Anja Bagus

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Beschreibung

Science Fiction – das bedeutete in den vergangenen Jahren literarisch schwerpunktmäßig Dystopien. Das war einmal anders, im goldenen Zeitalter der SF und auch noch in den 1970ern sah das Genre Themen wie Technologie oder gesellschaftliche Entwicklungen oftmals aus einem positiven Blickwinkel, beschrieb ein lebenswerte, eine bessere Zukunft. Die vorliegende Sammlung von Kurzgeschichten möchte an diese Tradition der Science Fiction anknüpfen und einen Blick in eine bessere Zukunft ermöglichen — aber auch positive Utopien sind immer eine Frage des Betrachtungswinkels … Mit Geschichten von: Anja Bagus, Victor Boden, Dieter Bohn, Carmen Capiti, Paul Tobias Dahlmann, Jens Gehres, Marcus R. Gilman, Herbert Glaser, Gerhard Huber, Daliah Karp, Thomas Kodnar, Yann Krehl, Ingo Muhs, A. L. Norgard, Andreas Raabe, Dorothe Reimann, Gernot Schatzdorfer, Olaf Stieglitz und Joachim Tabaczek.

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Reiseziel

Utopia

Stefan Holzhauer

(Herausgeber)

edition roter drache

Impressum

1. Auflage März 2018

Copyright © der Gesamtausgabe 2018 by Edition Roter Drache

Edition Roter Drache, Holger Kliemannel, Haufeld 1, 07407 Remda-Teichel

[email protected]; www.roterdrache.org

Copyright © der Geschichten obliegt dem jeweiligen Autor

Titelbildgestaltung: xanathon.com

Satz: Holger Kliemannel

Lektorat: Isa Theobald

Korrektorat: Nicole Reif

Fonts: Liberation Serif von Red Hat Inc (SIL Open Font License v1.10), Centauri von Tugcu Design Co.

Grafiken: Rahmen um Autorenbilder: von 123rf/Christopher Gurovich, Rakete (Kapiteltrenner): stockunlimited.com

eBook-Erstellung: imagcon.de

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (auch auszugsweise) ohne die schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert, vervielfältigt oder verbreitet werden.

ISBN 978-3-946425-45-8

Vorwort

Eine Utopie ist der Entwurf einer fiktiven Gesellschaftsordnung, die nicht an zeitgenössische historisch-kulturelle Rahmenbedingungen gebunden ist.

[...]

Im alltäglichen Sprachgebrauch wird Utopie (insb. als Adjektiv »utopisch«) auch als Synonym für eine von der jeweils vorherrschenden Gesellschaft überwiegend als schöne, aber unausführbar betrachtete Zukunftsvision benutzt.

Aus der deutschen Wikipedia

Lange Zeit warf die Science Fiction durchaus positive Blicke auf die Zukunft. Neben frühen Stoffen, in denen käferäugige Monstren (»bug eyed monsters«) unsere Frauen klauen wollten, war es immer wieder so, dass man Fortschritt und Technologie als etwas Positives sah, als Hilfsmittel, die die Menschheit weiter bringen konnten und würden. Und auch gesellschaftlich erfand man Modelle, die die Zukunft in weitaus rosigeren Farben zeichnete, als es beispielsweise der kalte Krieg tat. Es gab Geschichten über eine Menschheit, die - allen Widrigkeiten zum Trotz - ihre Probleme überwunden hatte und geeint zu den Sternen drängte.

Doch auch in den positiven Utopien steckte selbstverständlich Konfliktpotential, denn zum einen sollen Geschichten unterhalten, dazu braucht es Gegenspieler, und zum anderen waren scheinbar böse oder andersartige Aliens ein Vehikel, um den ach so hehren Protagonisten einen Spiegel vorzuhalten und ihre Ethik auf die Probe zu stellen. Alan Dean Fosters Humanx Commonwealth sind ebenso ein Beispiel dafür, wie die diversen Star Trek-Inkarnationen.

Und dann veränderte sich die Science Fiction. Ich will nicht wirklich sagen, dass alles mit William Gibsons Cyberpunk begann (H.G. Wells` »Krieg der Welten« ist letztendlich ebenfalls ein Vertreter des Genres, und wurde bereits 1889 erstmalig veröffentlicht), aber ich hatte und habe den Eindruck, dass seit »Neuromancer« vermehrt Postapokalypsen und Dystopien veröffentlicht werden. Und gerade in den letzten Jahren wird der Phantastik-Markt geradezu davon überflutet. Mich persönlich nervt das. Warum? Einfach:

Unsere Welt ist in der Realität auf dem Weg in eine Dystopie. Kriege. Überwachung. Lobbyismus, die Macht der Konzerne und Banken. Postdemokratie. Das erschreckende Erstarken der neuen Rechten. Der Verlust von Empathie. Wenn man dann auch in seiner Freizeit als Eskapismus immer wieder nur Negatives vorgesetzt bekommt, dann festigt das in meinen Augen einen Eindruck, dass das alles eben so sit, und man nichts ändern kann.

Und angesichts dessen könnten wir positivere Blicke auf die Zukunft meiner Ansicht nach derzeit viel besser brauchen, als immer neue Dystopien und Postapokalypsen. Das war der Grund, warum ich dieses Projekt aus der Taufe gehoben habe und dankenswerterweise sind etliche Autorinnen und Autoren dem Ruf gefolgt.

Wer nun meint, dass in den Geschichten alles »Friede, Freude, Eierkuchen« sei, der ist selbstverständlich auf dem Holzweg, denn wie ich bereits weiter oben ausführte, braucht man Gegenpole für die Utopie, man benötigt Reibungspunkte und Antagonisten, um Kontraste zu erzeugen. Und dann gibt es selbstverständlich noch ein weiterer Punkt: Was die eine für eine Utopie hält, mag für den anderen eine entsetzliche Vorstellung sein.

Dieses Buch wird die Welt nicht verändern. Aber es hilft vielleicht ein kleines Bisschen dabei, die Leser daran zu erinnern, dass wir alle durchaus dazu in der Lage sind, etwas zu bewirken. Auch mit Kleinigkeiten. Wenn einfach wir nur positiver denken und ein wenig Toleranz üben. Denn dann ist die angeblich »unausführbare Zukunftsvision« aus dem Wikipedia-Zitat vielleicht gar nicht so unerreichbar.

Ich wünsche viel Vergnügen bei der Lektüre von »Reiseziel Utopia« und bedanke mich bei Autoren und Verleger.

Stefan Holzhauer

Der Wunsch nach Rettung

Olaf Stieglitz

Logbuch des Allianz-Erkundungsschiffes Sigourney – Eintrag Kapitänin Gail Lisani:

Das Singularitätsfeld wurde deaktiviert und wir nähern uns mit zweieinhalbfacher Lichtgeschwindigkeit dem Zielplaneten. Bald werden wir auf den normalen Trägheitsantrieb umschalten. Die Astronavigation gab mir eine geschätzte Ankunftszeit von 11:32 Uhr. Die Statusberichte aller Stationen sind positiv.

Nachtrag für das persönliche Logbuch: Ich bin sehr gespannt, was uns auf diesem Planeten erwartet. Ehrlich gesagt habe ich Zweifel an der Zuverlässigkeit von Dru Brogoff. Es gibt gute Gründe, warum die Erkundungsflotte seit der Entwicklung der Nullzeit-Kommunikation auf den Einsatz von Psionikern verzichtet. Sie gelten als unzuverlässig und zeigten in der Vergangenheit häufig unberechenbare Verhaltensmuster. Allerdings muss ich zugeben, dass ich bis zu diesem Flug keine Erfahrungen mit ihnen gemacht habe. Brogoff ist der erste, mit dem ich zusammenarbeite. Natürlich werde ich als Kapitänin und Leiterin der Mission so unvoreingenommen sein wie möglich.

Als der Summer von Gails Kabinentür ertönte, schloss die Kapitänin der Sigourney die Logbuch-Anwendung. Ein Blick auf den in ihren Schreibtisch eingearbeiteten Monitor zeigte ihr, wer vor der Tür stand. »Wenn man vom Teufel spricht«, murmelte sie leise und drückte dann auf den Türöffner.

Dru Brogoff war 138 Jahre alt. Das wäre für einen Menschen in der Allianz ein zwar fortgeschrittenes, aber keinesfalls hohes Alter gewesen, doch während seiner Zeit in der Erkundungsflotte hatte er sich eine seltene Nervenkrankheit zugezogen, die – ungewöhnlich genug – von der modernen Medizin nicht geheilt werden konnte. Er trug daher ein Exoskelett, durch das sein Körper die volle Bewegungsfähigkeit eines Zwanzigjährigen besaß. Gail selbst hatte als Kapitänin natürlich sämtliche physischen Optimierungsprogramme durchlaufen müssen, doch sie vermutete, dass der verstärkte Anzug aus Verbund-Kunststoffen den Psioniker im Ruhestand mindestens ebenso stark, schnell und geschickt machte, wie sie es war.

»Kapitänin.« Der blassgesichtige Mann mit den weißen Haaren nickte ihr zu. »Ich hörte, dass wir den Planeten bald erreicht haben.«

Gail nickte. Inzwischen hatte sie sich an die helle Hautfarbe Brogoffs gewöhnt. Sie wusste nicht, ob es sich dabei um eine genetische Anomalie oder ob um eine weitere Spätfolge seines Dienstes in der Erkundungsflotte handelte. Die Menschheit hatte in den letzten Jahrhunderten durch Vermischung als Teint einen mittleren Braunton angenommen. Gail selbst war etwas dunkler als der Durchschnitt, wohingegen der helle Phänotyp durch die gestiegene UV-Belastung des späten einundzwanzigsten Jahrhunderts fast komplett verschwunden war. Nicht, dass es in der menschlichen Gesellschaft noch Platz gab für Vorbehalte aufgrund solcher Äußerlichkeiten. Seit die Menschheit sich den 38 anderen intelligenten Spezies in der Allianz angeschlossen hatte, war Rassismus, sowohl intra-, als auch interspeziesistisch kein Thema mehr.

»Bitte nehmen Sie Platz, Herr Brogoff.« Während der Psioniker sich in den Sessel vor ihren Schreibtisch setzte, war Gail bewusst, dass es sich dabei um eine rein formelle Höflichkeit handelte. Mit dem Ganzkörper-Exoskelett, das Brogoff trug, machte Stehen, Sitzen oder Liegen für ihn keinen Unterschied, da die Arbeit komplett von der Apparatur übernommen wurde. Sie kannte das von ihrer Urgroßmutter, die aufgrund ihres hohen Alters ebenfalls darauf angewiesen war. Ihre Ur-Nana schlug sie seitdem regelmäßig bei jedem der Marathonläufe, an denen Gail während ihrer Besuche auf der Erde teilnahm.

»Tatsächlich werden wir in ...«, sie warf einen kurzen Blick auf die in einem Monitor eingeblendete Uhrzeit, »... 25 Minuten in den Orbit von Planet Zenori 487 einschwenken. Haben Sie noch einmal psionischen Kontakt zu den Bewohnern von Zenori aufnehmen können?«

Ein Blick in sein Gesicht genügte ihr, um dort die Antwort zu lesen.

»Ich befürchte nein.« Brogoff tat ihr schon beinahe leid, auch wenn er am Ende wahrscheinlich dafür verantwortlich war, dass sie alle diese Reise umsonst gemacht hatten. »Glauben Sie mir, ich versuche es täglich, aber seit die Verbindung vor zwei Wochen schlechter wurde und schließlich abbrach, ist es mir nicht gelungen, sie wieder herzustellen.«

»Natürlich glaube ich Ihnen, Herr Brogoff«, sagte Gail und meinte es ernst. Zumindest ging sie fest davon aus, dass der alte Psioniker nicht versuchte, Gail oder die Erkundungsflotte absichtlich hinters Licht zu führen. Leider hatte sie jedoch Bedenken, was seine Zuverlässigkeit anging.

»Wie sicher sind Sie hinsichtlich der Lokalisation Ihres Kommunikationspartners? Ich habe noch nie mit einem Psioniker zusammengearbeitet, aber es heißt, dass eine Zielbestimmung oft problematisch ist.«

»Ja, das ist auch wirklich so. Aber die Kommunikation mit Bobby bestand fast einen Monat lang.« Als Gail ihm einen fragenden Blick zuwarf, erklärte er: »Bobby ist ein häufig verwendeter

Name für unbekannte psionische Kontakte. Telepathisch lassen sich Laute meist sehr schlecht übermitteln, sodass wir nicht mit Worten kommunizieren und uns auch nicht mit Eigennamen vorstellen können. Ich verbinde ein Gefühl und bestimmte geistige Eindrücke mit Bobby, aber diese lassen sich sprachlich nicht mitteilen. Von daher Bobby.« Als Gail nickte, fuhr er fort: »Bitte glauben Sie mir, ich war schon in meiner aktiven Zeit sehr viel besser in Lokalisation als meine Kollegen. Und ich hatte lange genug Kontakt zu Bobby, um mir bei seiner Position sicher zu sein.«

Gail nickte erneut. »Sie müssen mich nicht mehr überzeugen, Herr Brogoff, das ist Ihnen bereits beim Kommando der Erkundungsflotte gelungen. Man hat die Sigourney abgestellt, um der Sache nachzugehen.«

Dru Brogoff zog eine Grimasse. »Leider hat es so lange gedauert. Vor Wochen schon habe ich angefangen, um ein Schiff zu betteln. Doch niemand war bereit, mir zu helfen.«

»Nun, niemand bezweifelt, dass Sie wirklich einen Hilferuf von diesem Bobby empfangen haben ...«

»Es geht ja nicht nur um Bobby. Er hat um Hilfe für seine ganze Rasse gebeten! Sie ist in furchtbarer Gefahr. Ich befürchte, dass seiner Welt eine planetare Katastrophe droht ...«

»Ich denke, das hat am Ende auch den Ausschlag gegeben. Sie müssen bedenken, dass eigentlich alle verantwortlichen Stellen der Meinung sind, eine psionische Standortbestimmung wäre zu unzuverlässig.« Gail hob die Hand, als Brogoff etwas erwidern wollte. »Dennoch haben Sie eindrücklich klargemacht, dass die Zukunft einer ganzen Zivilisation in Gefahr sein könnte, obwohl Bobby Ihnen keine konkreten Einzelheiten übermitteln konnte. Daher wurde schließlich trotz allem ein Schiff bewilligt. Es steht einfach zu viel auf dem Spiel, auch wenn die Erfolgschancen noch so gering scheinen.«

Ihr Gespräch wurde unterbrochen, als ein Summton von ihrem Schreibtisch ihre Aufmerksamkeit auf den Monitor lenkte.

»Was ist es?«, fragte Brogoff aufgeregt. »Hat man Kontakt mit Bobbys Welt aufgenommen?«

»Oh mein Gott«, flüsterte Gail.

»Was? Was ist los?«

»Unsere Drohnen senden die ersten Daten. Es sieht so aus, als hätten Sie recht gehabt, Herr Brogoff. Auf Zenori gibt es deutliche Anzeichen einer weltumspannenden Zivilisation. Im Atomzeitalter, wie es aussieht.«

Die Augen des Psionikers leuchteten auf. »Aber das ist doch phantastisch!« Er stockte, als er den erschütterten Ausdruck im Gesicht der Kapitänin sah. »Was?«, flüsterte er.

»Das Strahlenniveau in der Atmosphäre ist extrem hoch. Zu hoch für natürliche Ursachen. Entweder gab es eine gewaltige Katastrophe oder – wahrscheinlicher noch – einen weltweiten nuklearen Krieg.«

Gail blickte Brogoff in die Augen. Sie spürte, dass ihr die Tränen kamen und schämte sich nicht dafür.

»Wie es aussieht, kommen wir zu spät.«

Logbuch des Allianz-Erkundungsschiffes Sigourney – Eintrag Kapitänin Gail Lisani:

Die Stimmung der Mannschaft ist niedergeschlagen und ich kann es ihr nicht verdenken. Die anfängliche Befürchtung hat sich leider voll und ganz bestätigt. Die weltweite Zivilisation von Zenori 487 wurde in einem Krieg zerstört. Einer ersten Schätzung nach wurden über 70% der Oberfläche nuklear verwüstet. Die wissenschaftliche Abteilung unter Cuta Sibillen hat außerdem chemische und biologische Kampfstoffe in der Atmosphäre nachgewiesen. Die Hoffnung auf Überlebende ist gering. Selbst wenn diese auf irgendeine Weise der Strahlung widerstehen könnten, so hat Sibillen doch auch einen Erreger in den Luftproben isoliert, der zu 95% dem Kittarrow-Virus entspricht, der sämtliche höheren Hirnfunktionen zerstört. Unterirdische Bunkeranlagen, in denen es Überlebende geben könnte, wurden von unseren

Sensoren nicht entdeckt. Trotzdem habe ich beschlossen, Bodenerkundungsteams auf die Oberfläche zu schicken, um Klarheit über das Schicksal der Welt zu erlangen. Die Männer und Frauen werden mit Schutzanzügen der Klasse III ausgestattet.

Nachtrag für das persönliche Logbuch: Ich kann nicht aufhören, mich zu fragen, ob wir am Schicksal dieser Welt etwas hätten ändern können, wenn wir früher gekommen wären. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie sich Dru Brogoff fühlen muss, weil er das Kommando der Erkundungsflotte nicht eher überzeugen konnte, ihm ein Schiff zur Verfügung zu stellen.

Dru Brogoff starrte durch das große Panoramafenster des Observationsdecks auf den Planeten hinunter. Zenori 487. Wie es aussah, würden sie niemals herausfinden, wie diese Welt von ihren Bewohnern genannt worden war. Seit Stunden schon stand er hier. Sein Exoskelett ließ ihn keine Ermüdung deswegen verspüren.

»Herr Brogoff?« Der Psioniker drehte sich um und erkannte Cuta Sibillen, die Chefin der wissenschaftlichen Abteilung der Sigourney. Die Frau schaute ihn mitfühlend an. »Möchten Sie sich zu mir setzen und etwas trinken? Ich vermute, Sie fühlen sich nicht besonders und vielleicht tut es Ihnen gut, mit jemandem über die Sache zu reden.«

Brogoff zögerte, dann schüttelte er den Kopf. »Tut mir leid. Sie meinen es sicherlich gut ...« Weiter kam er nicht, denn die Frau hob abwehrend die Hand.

»Ich fürchte, ich kann kein Nein akzeptieren. Anordnung der Kapitänin. Ich soll herausfinden, wie Ihr Befinden ist und Sie, wenn möglich, aufmuntern. Gail kann sehr bestimmend bei so etwas sein.«

»Gail?«, fragte Brogoff überrascht.

Sibillen lachte und hob ihre Hand, an der ein Ring steckte. »Gail Lisani ist meine Lebenspartnerin. Was bedeutet, dass sie mich sowohl beruflich als auch privat herumkommandieren kann.« Sie lachte erneut und Brogoff konnte nicht verhindern, dass die freundliche, offene Art der Frau durch die Schutzwälle drang, die er um sich aufgebaut hatte.

»Kommen Sie«, Sibillen packte ihn einfach am Arm und zog ihn zu einem der Tische in der Nähe. Sie drückte ihn in einen der Stühle und holte zwei Trinkbehälter aus der Tasche ihres Kittels. »Hier, trinken Sie das. Anweisung des Doktors.« Wieder lachte sie. »Was sogar stimmt. Ich habe sieben Doktortitel. Wenn auch keinen in Medizin.« Ihre braunen Augen musterten ihn, als er vorsichtig einen Schluck nahm. Ihr Gesicht wurde ernst. »Erzählen Sie, Dru! Ich werde Sie Dru nennen.« Es war keine Frage.

Der ältere Mann seufzte. »Es ist schwierig ... manche Dinge kann man einem Nicht-Psioniker schlecht erklären. Wissen Sie, wenn man eine telepathische Verbindung mit jemandem hat, dann ist das um einiges intimer, als es eine normale Unterhaltung sein kann. Und ich hatte fast einen Monat lang täglich mit Bobby Kontakt. In dieser Zeit ist er mehr als ein guter Freund für mich geworden. Ich ... ich hoffte so sehr ...« Seine Stimme brach ab und er schloss die Augen.

»Nun, vielleicht wird es ein kleiner Trost für Sie sein, was wir in Erfahrung bringen konnten. Sie hatten vor zwei, drei Wochen noch Kontakt mit ... Bobby, ja?«

»Ja, das stimmt. Warum fragen Sie?« Verwundert schaute Brogoff sie an.

»Wir haben inzwischen herausgefunden, dass der Krieg, der auf dieser Welt stattgefunden hat, mindestens 17 Erdenjahre zurückliegt. So traurig das Schicksal des Planeten auch sein mag – möglicherweise ist es doch nicht die Welt, von der aus Bobby mit Ihnen Kontakt aufgenommen hat.«

Das Exoskelett von Brogoff summte leise, als er auf die Füße sprang. »Nein! Nein, meine Ortsbestimmung war korrekt, das versichere ich Ihnen! Wenn die Zerstörung bereits so lange

zurückliegt, dann kann das nur bedeuten, dass es Überlebende gibt! Überlebende, die vom Kittarrow-Virus verschont geblieben sind. Einer von ihnen muss Bobby sein. Ich muss zu Kapitänin Lisani. Sie muss auf jeden Fall nach Überlebenden suchen!«

Logbuch des Allianz-Erkundungsschiffes Sigourney – Eintrag Kapitänin Gail Lisani:

Die Bodenerkundungsteams haben Kontakte mit den Überlebenden dieser Welt hergestellt. Wie zu erwarten, nachdem der Kittarrow-Virus festgestellt wurde, zeigen sie keinerlei Anzeichen von höherer Intelligenz. Stattdessen sind sie extrem aggressiv. Ich habe das Pro und Contra abgewogen und eine Gefangennahme einiger dieser Wesen für eine weitere Untersuchung autorisiert. Ich übernehme die volle Verantwortung und bin bereit, mich dafür vor der Ethik-Kommission zu rechtfertigen (Querverweis Datei AESIIb-Sigourney-Lisani-Rechtfertigung für Gefangennahme).

So gut die Zusammenarbeit der verschiedenen Spezies innerhalb der Allianz auch funktionierte, so war es doch sehr aufwändig, Raumschiffe zu konstruieren, die den Lebensbedingungen unterschiedlicher Völker gerecht werden konnten. Bei den Schiffen der Erkundungsflotte wurde aus diesem Grund darauf verzichtet. Die Sigourney war auf die Bedürfnisse von Menschen zugeschnitten und außer solchen befanden sich nur ein paar Rothelianer an Bord, deren Physiologie der menschlichen sehr ähnlich war.

Paulmann – ein Name, den es sich nach einem berühmten irdischen Biologen ausgesucht hatte, da Rothelianer für sich keine Namen verwendeten – beendete gerade den medizinischen Bericht über die Überlebenden von Zenori. Die angenehm modulierte Stimme eines prominenten Holo-Sim-Stars erklang aus

seinem Kommunikationsmodul, das die rothelianischen Pfeif- und Zischlaute übersetzte.

»Es liegt eine gewisse traurige Ironie darin, dass diese Wesen aufgrund ihrer körperlichen Besonderheiten als eine der wenigen uns bekannten Spezies in der Lage gewesen wären, einen Atomkrieg zu überstehen. Natürlich wurden auch sie von der Hitze und den Druckwellen in großer Anzahl getötet, doch die Strahlung stellt für die weitere Existenz der Art keine Bedrohung dar. Auch die chemischen Kampfstoffe sind nicht weltweit gleich stark konzentriert, so dass es in den ehemaligen ländlichen Gebieten genügend Refugien gibt, in denen die Zenorier überleben konnten und es auch weiterhin können. Ich spreche deswegen von Ironie, weil der Kittarrow-Virus leider ganze Arbeit geleistet hat. An keinem der Überlebenden wurden Anzeichen höherer Intelligenz festgestellt. Sie sind noch nicht einmal so klug wie rothelianische Baum-Bären oder irdische Primaten.«

Die Kapitänin warf einen Blick auf den großen Monitor, auf dem Bilder von den Zenoriern zu sehen waren. Äußerlich erinnerten sie in gewisser Hinsicht an einige terranische Insektenarten, vor allem an Heuschrecken und Gottesanbeterinnen. Das war nichts, was man heutzutage als abschreckend empfand – manche der wertvollsten Partner in der Allianz sahen noch viel fremdartiger aus.

»Würde sich die Intelligenz wieder neu entwickeln, wenn sie dem Virus nicht länger ausgesetzt wären?« Die Frage kam von Cuta Sibillen und Gail Lisani sah, wie Dru Brogoff den Kopf hob. Hoffnung blitzte in seinen Augen auf.

Paulmann fuchtelte mit den Gesichtsflechten, was von dem Kommunikationsmodul genauso übersetzt wurde, wie das anschließende Pfeifen und Zischen. »Vielleicht könnten ihre Nachkommen wieder höhere Intelligenz entwickeln. Die Tests in dieser Hinsicht sind noch nicht vollständig abgeschlossen, aber die bisherigen Ergebnisse lassen hoffen. Die vorliegende Variante des Kittarrow-Virus zeigt bis jetzt keine Ähnlichkeit zur Esalet-Abart, welche auch das Erbgut langfristig schädigt.«

Kama Eposito, der Chefingenieur der Sigourney, meldete sich zu Wort: »Allerdings sieht es nicht gut aus, was die Entfernung das Virus aus der Atmosphäre angeht. Die Strahlung und auch die chemischen Kampfstoffe wären kein großes Problem, schätzungsweise würde die Reinigung zehn, maximal zwanzig Jahre dauern. Aber der Virus ist stark konzentriert und hat sich in der Vergangenheit sehr hartnäckig gegenüber Beseitigungsversuchen gezeigt. Man würde die Überlebenden auf eine andere Welt evakuieren müssen.«

Gail hasste es, dass sie der hoffnungsvollen Stimmung der Runde einen Dämpfer verpassen musste. »Meine Damen, meine Herren, Paulmann.« Als sie ihre Aufmerksamkeit hatte, fuhr sie fort: »Ich fürchte, die Sache ist nicht ganz so simpel, wie Sie es sich vorstellen. Es handelt sich um eine völlig unbekannte Spezies mit einer völlig unbekannten Kultur und Lebensweise. Wir können sie nicht einfach so von ihrem Planeten wegbringen oder dessen Atmosphäre reinigen, ohne dass man uns darum gebeten hat.«

Gail konnte sehen, wie der Sinn ihrer Worte bei den meisten am Tisch durchsickerte. Der Optimismus, eine ganze Zivilisation retten zu können, war mit ihnen durchgegangen, aber sie kannten die Bestimmungen, auf die sie anspielte. Bei Dru Brogoff schien das allerdings nicht der Fall zu sein.

»Was? Wovon reden Sie denn da, Kapitänin? Das ist doch absurd!«

Gail sah ihm die Wortwahl und den Tonfall nach. Sie konnte den Psioniker gut verstehen. Der Untergang der Zivilisation auf Zenori hatte ihm stark zugesetzt und natürlich wollte er diese Leute retten. Doch dummerweise wusste man nicht, ob sie überhaupt gerettet werden wollten.

»Herr Brogoff, haben Sie schon einmal von der Karhl’tnor-Sekte gehört? Oder von der Gruppe 45q5?« Der Psioniker schüttelte den Kopf, er war einfach zu lange nicht mehr im Dienst. »Diese beiden Gruppierungen sind die prominentesten, wenn auch nicht die einzigen Beispiele für Leute, die ihre höheren Hirnfunktionen freiwillig aufgegeben haben. Die Karhl’tnor-Sekte hat die Veränderungen

bei ihren Mitgliedern chirurgisch und durch die Einnahme von Medikamenten vorgenommen. Gruppe 45q5 setzte dafür den Kittarrow-Virus auf ihrer Welt frei und infizierte damit leider auch den Rest der Bevölkerung. Trotzdem handelt es sich bei dem Vorfall nicht um einen erweiterten Suizid oder um eine Art von Selbstmord-Attentat. 45q5 wollte sich freiwillig auf das Intelligenzniveau von Tieren hinab begeben und hat die Auswirkungen auf den Rest ihrer Welt nicht bedacht oder einfach in Kauf genommen – das ist nicht mehr nachzuvollziehen. Sicher ist aber, dass es innerhalb und außerhalb der Allianz bisweilen zu vergleichbarem Verhalten kommt. Wir wissen nicht, ob die Zenorier nach ihrem weltweiten Krieg sich nicht ebenfalls zu diesem Schritt entschlossen haben. Leider können wir sie nicht mehr fragen.«

Das Gesicht von Brogoff war immer grauer geworden, während die Kapitänin sprach. Doch bei ihren letzten Worten horchte er auf. »Aber das habe ich doch! Ich habe mit Bobby gesprochen! Er hat mich gebeten, dass wir sie retten!«

Gail seufzte. »Leider ist die Sache ein wenig komplizierter. Wir haben keine Bitte um Hilfe durch einen offiziellen Vertreter dieses Volkes. Und da Sie den Kontakt zu Bobby verloren haben, lässt sich auch nicht mehr mit Sicherheit sagen, ob er wirklich von Zenori stammt. Es gibt einige Fakten, die dagegen sprechen. Es sind ungefähr ...« Sie warf einen Blick auf den kleinen Monitor vor sich, »... 200.000 Überlebende auf dieser Welt. Ohne Regierungsvertreter müssten wir daher von mindestens fünfzig von ihnen eine entsprechende Bitte erhalten, damit ich einen derart schwerwiegenden Eingriff in die Autonomie des Volkes rechtfertigen kann. Die Vorschriften sind da leider eindeutig. Wenn Paulmann keine Möglichkeit findet, mit den gefangenen Zenoriern zu kommunizieren ...« Sie warf dem Rothelianer einen fragenden Blick zu. Der Mediziner blähte die seitlichen Kehlsäcke auf, was von seinem Kommunikationsmodul mit einem Nein übersetzt wurde, »... sehe ich leider nur die Option, dass Sie es schaffen, wieder einen psionischen Kontakt aufzubauen. Wenn es Ihnen gelingt, mir die Bitte durch mindestens fünfzig Zenorier bestätigen zu lassen,

dann werde ich wirklich gerne alles Mögliche tun, um diese Rasse zu retten. Aber wir können nichts unternehmen, solange keine Gewissheit besteht, dass dies auch ihr Wunsch ist.«

Logbuch des Allianz-Erkundungsschiffes Sigourney – Eintrag Kapitänin Gail Lisani:

Die Stimmung an Bord ist auf dem Tiefpunkt angelangt. Viele Besatzungsmitglieder haben wenig Verständnis für die Vorschriften, die es uns verbieten, den Zenoriern ungefragt zu helfen. Dru Brogoff versucht rund um die Uhr, einen Kontakt aufzubauen, aber bisher ohne Erfolg. Ich habe alles für den Abflug vorbereiten lassen. Morgen werden die gefangenen Zenorier wieder auf den Planeten verbracht. Danach gibt es nichts mehr, was wir für diese Rasse und ihre Welt tun können. Es fällt schwer, sich damit abzufinden.

Nachtrag für das persönliche Logbuch: Ich persönlich glaube nicht, dass der psionische Kontakt, den Dru Brogoff herstellte, zu einem Bewohner von Zenori bestanden hat. Inzwischen bin ich mir sogar unsicher, ob es eine solche Kommunikation überhaupt je gegeben hat und ich kann nachvollziehen, warum in der Erkundungsflotte, wie fast überall, auf Psioniker verzichtet wird. Sie scheinen einfach nicht besonders zuverlässig zu sein. Trotzdem wünschte ich, dass Brogoff bei dieser Mission Erfolg gehabt hätte.

Cuta Sibillen legte noch nie besonders viel Wert auf Förmlichkeiten und als Brogoff seine Kabinentür nicht öffnete, obwohl sie mehrfach den Summer betätigte, benutzte sie einfach ihre Autorität als Schiffsoffizierin, um die Tür per Stimmbefehl zu öffnen.

Man musste kein Telepath zu sein, um den Dunst aus Trauer und Verzweiflung zu spüren, der in Brogoffs Kabine in der Luft

hing. Nach den Ereignissen der letzten Zeit wunderte es sie nicht, den Psioniker am Boden zerstört zu sehen.

Der Mann lag auf einigen Kissen auf dem Teppich und drehte sich schwerfällig um – scheinbar hatte er das Exoskelett abgelegt und die Bewegung fiel ihm nicht leicht. Die Pupillen waren stark geweitet und füllten seine Augen komplett mit Schwärze aus. Dabei handelte es sich um eine Nebenwirkung der Drogen, die seine telepathischen Fähigkeiten verstärken sollten. Es war ein offenes Geheimnis an Bord, dass Brogoff in den letzten Tagen weit mehr als die zulässige Dosis davon zu sich genommen hatte, aber niemand brachte es über das Herz, deswegen eine Meldung an Kapitänin Lisani zu machen.

Ein einziger Blick in das verhärmte Gesicht genügte und Cuta verkniff sich die Frage, ob der Mann inzwischen Erfolg gehabt hatte. Sie setzte sich einfach neben ihn auf den mit Kissen bedeckten Boden und legte die Hand auf seinen Arm.

»Es tut mir leid, Dru«, sagte sie mit leiser Stimme. Brogoff nickte schwach. Sie fragte sich, warum er das Exoskelett abgelegt hatte. Auch wenn sich unter ihren Doktortiteln keiner der Medizin befand, so erkannte sie doch, dass die Belastung der letzten Tage für den Psioniker zu groß war. Vielleicht hätte man schon früher gegen die Überdosierung vorgehen sollen. Aber die Sigourney würde den Orbit bald verlassen und Brogoff dann hoffentlich von alleine mit seinen Bemühungen aufhören. Anderenfalls musste sie mit Gail darüber reden.

»Sie haben alles getan, was Sie konnten, Dru. Niemand bestreitet das. Aber es sollte einfach nicht sein. Ich fürchte, es ist tatsächlich sehr unwahrscheinlich, dass es telepathisch begabte Zenorier auf dem Planeten gibt. Zwar hat Paulmann ein Gehirnareal bei ihnen lokalisieren können, das große Ähnlichkeit mit den menschlichen Psion-Zellen aufweist, aber das Areal ist verkümmert. Das ist keine Auswirkung des Virus, wahrscheinlicher ist es, dass diese Spezies ihre psionischen Fähigkeiten im Laufe ihrer Evolution verloren hat. Entweder das oder ...«

Cutas Augen weiteten sich, als ihr plötzlich ein Gedanke kam. »Moment mal ... was wäre, wenn ...?«

Bevor der Mann etwas sagen konnte, war sie aufgesprungen und bereits an Brogoffs Kommunikator. »Gail! Gail! Du darfst noch nicht starten! Es gibt noch eine Möglichkeit!«

Logbuch des Allianz-Erkundungsschiffes Sigourney – Eintrag Kapitänin Gail Lisani:

Entgegen des üblichen Protokolls werde ich mich ebenfalls auf die Oberfläche des Planeten begeben, da meine Stimme ein höheres Gewicht hätte, wenn eine Bitte um Hilfe durch die Einheimischen bezeugt werden muss. Ich hoffe, dass Cuta Sibillen und Dru Brogoff mit ihrer Vermutung recht haben. Das wäre als Abschluss der Mission wirklich wünschenswert.

Die Aggressivität der Zenorier ist deutlich ausgeprägter als erwartet. Wie es scheint, hat der Virus zwar die höhere Intelligenz bei ihnen zerstört, aber die Urinstinkte, die sie den von uns gefundenen Ort verteidigen lassen, existieren nach wie vor. Ich musste ein zweites Sicherheitsteam zum Schutz der Bodenmission abstellen und habe die erforderlichen Maßnahmen autorisiert. (Querverweis Datei AESIIc-Sigourney-Lisani-Rechtfertigung für nichtletale Gewalt zum Schutz des Bodenerkundungsteams)

Gail Lisani trat durch das Singularitätsportal auf die Planetenoberfläche. Das Portal war von der Sigourney aus errichtet worden und ermöglichte einen direkten Übergang vom Schiff hierher. Katharina Mbode, die Leiterin der Sicherheitsteams, erwartete sie bereits und war nicht glücklich darüber, dass Gail als Kapitänin den

Planeten und damit quasi ein Kampfgebiet betrat. Am Ende hatte sie aber die Entscheidung akzeptiert.

Die Kommandantin spielte unwillkürlich an den akustischen Empfängern ihres Schutzanzuges der Klasse III, dann warf sie Mbode einen überraschten Blick zu. »Ich höre keine Neuroschocker. Sind die Kämpfe vorbei?«

Die Sicherheitsfrau in dem gepanzerten Anzug nickte. »Ja, Kapitänin. Es ist uns gelungen, ein Energiefeld zu errichten, das so kalibriert wurde, dass es die Zenorier an einem Durchkommen hindert und dabei keine Schäden bei ihnen verursacht.«

Gail konnte das Aber in den Augen der Frau bereits sehen, bevor diese fortfuhr. »Vorher haben wir sie mit den Neuroschockern problemlos betäuben können. Doch leider haben die Zenorier ihre Aggressionen gegen ihre ohnmächtigen Artgenossen gerichtet. Mindestens fünf von ihnen sind dabei zu Tode gekommen, drei weitere wurden verletzt. Paulmann kümmert sich um sie.«

Gail schloss kurz die Augen, als sie die schlechte Nachricht verarbeitete. Fünf Tote! Noch etwas, was sie vor der Ethik-Kommission verantworten musste. Sie atmete tief ein. Nicht nur vor der Kommission. Auch vor sich selbst.

»Danke.« Ihre trübe Stimmung erhellte sich ein wenig, als sie Cuta auf sich zukommen sah. Ihre Lebenspartnerin hatte immer noch diese Wirkung auf sie. Jedes Mal. Seit nun fast sechzig Jahren.

»Wie sieht es aus, Cuta?«, fragte sie die Wissenschaftlerin und erwiderte deren Lächeln.

»Es gibt gute und schlechte Neuigkeiten, Gail. Wie erwartet, handelt es sich bei diesen Örtlichkeiten wirklich um die Brutstätten der Zenorier und sie werden immer noch benutzt.«

»Ich vermute mal, das waren die guten Nachrichten.«

»Ja, genau.« Cuta lachte. »Die anderen sind zwar schlecht, aber nicht hoffnungslos. Hier kriechen eine Menge Larven herum. Das Virus hat bei ihnen bereits Wirkung gezeigt. Leider. Zum Glück beschränkt sich ihre Aggressivität uns gegenüber auf ein böses Fauchen und einen olfaktorischen Schutzmechanismus. Du solltest deine Riechsensoren also lieber ausgeschaltet lassen.« Cuta

zwinkerte ihr zu. »Unsere Hoffnung sind die Eier. Wir haben noch keinen Überblick, aber dort unten befinden sich vermutlich Dutzende davon.«

»Inwieweit können die uns helfen, Cuta?«

»Uns ist aufgefallen, dass die von uns untersuchten Zenorier verkümmerte psionische Zellen besaßen. Nun hoffen wir, dass diese Spezies während des Beginns ihrer Reifung über telepathische Eigenschaften verfügt. Möglicherweise wird über eine Art telepathischem Gruppenbewusstsein die Entwicklung von Intellekt und Persönlichkeit bereits vor dem Schlüpfen gefördert.«

»Du meinst, Bobby könnte die Botschaften aus seinem Ei gesendet haben?«

»Es ist eine Möglichkeit, ja. Bedauerlicherweise würde es auch den Abbruch des telepathischen Kontaktes erklären. Bobby ist vermutlich geschlüpft.«

»Beim Axiom! Das würde bedeuten ...«

»Ja, die Eierschale scheint das Kittarrow-Virus abhalten zu können, zumindest für eine Weile. Der Schlüpfvorgang ist dann das Ende für ihre gerade erst geformte Intelligenz.«

»Die Geburt bedeutet den Tod«, flüsterte Gail und ihr schauderte.

Sie hatten die unterirdische Brutstätte betreten. Im dämmerigen Licht war nicht auszumachen, ob es sich um eine natürliche Höhle handelte oder um ein Bauwerk. Auch die Ausdehnung war nicht absehbar.

Im Schein der aufgebauten Lampen vermochte sie die Umrisse mehrerer Dutzend Eier zu erkennen, alle etwa einen Meter hoch. Mehrere Dutzend, dachte Gail. Hoffentlich waren es genug. Und hoffentlich würden sie mit ihnen kommunizieren können.

Jetzt war sie froh, dass Brogoff ebenfalls auf dieser Mission war. Wie es aussah, stellte ein psionischer Kontakt die letzte Möglichkeit dar, um die Bevölkerung von Zenori evakuieren zu dürfen.

Der ältere Mann kniete ein paar Meter entfernt und umarmte eines der Eier. Durch das Visier des Schutzanzuges konnte die

Kapitänin sein hoch konzentriertes Gesicht mit den völlig schwarzen Augen sehen.

An den Kontaktsensoren ihres Handschuhs spürte Gail, wie Cutas Finger sich um die ihren legten.

»Seit wann kniet er da?«, flüsterte die Kapitänin, nachdem sie einen persönlichen Kanal zu ihrer Lebenspartnerin geöffnet hatte.

»Seit fast einer Stunde«, antwortete Cuta. »Völlig bewegungslos. Wenn Bobby wirklich von dieser Welt stammte, dann muss er ein Ausnahmetalent gewesen sein. Der Kontakt zu seinen Brüdern und Schwestern gestaltet sich sehr viel schwieriger.«

Niemand sagte ein Wort, während sie warteten. Wäre von den Sicherheitsteams nicht das Energiefeld errichtet worden, Gail hätte überlegt, die Bodenmission abzubrechen. Nichts schien zu passieren. Ein Fehlschlag. Was besonders bitter war, nachdem gerade erst die Flamme der Hoffnung neu entzündet worden war.

Dann spürte sie den Druck von Cutas Hand. Etwas geschah! Das Ei, das Brogoff umarmte, begann in einem warmen, roten Licht zu glühen. In seinem Inneren konnte man die Bewegung des Embryos erahnen.

»Sagt es etwas? Hast du Kontakt, Dru?«, flüsterte Cuta aufgeregt.

Die schwarzen Augen des Psionikers waren noch immer starr ins Leere gerichtet, als sein Mund begann, leise zu murmeln: »Ja, ich habe eine Verbindung. Es will nicht sterben. Es bittet um Hilfe. Die Gewalt und das Töten sollen aufhören.«

Cuta wirbelte zu Gail herum, die Begeisterung war ihr anzusehen. »Na, das ist doch was, oder? Was meinst du?« Gail lächelte. Es war immer schwierig, sich nicht von der Wissenschaftlerin mitreißen zu lassen. »Das ist ein Anfang, auf jeden Fall. Denke aber daran, dass wir mindestens fünfzig solcher Bitten haben müssen, wenn wir die ganze Rasse evakuieren wollen. Ich weiß noch nicht einmal, ob genügend Eier hier sind ...«

Sie verstummte, ihre Augen weiteten sich. Um Brogoff herum begannen nun weitere Eier in diesem warmen Licht zu glühen. Das Leuchten verbreitete sich, als immer mehr Embryonen den psionischen Ruf aufnahmen, verstärkten und weiterleiteten, bis

auch die Menschen, die nicht telepathisch begabt waren, in die Lage versetzt wurden, den Inhalt zu verstehen.

Helft uns! Wir wollen leben. Die Gewalt und das Töten sollen enden!

Immer mehr Eier glühten auf. Durch die Schalen konnte man die Embryonen erkennen, die aussahen, als würden sie tanzen.

»Beim Axiom, das müssen Hunderte sein«, murmelte Cuta.

»Nein.« Gail schüttelte den Kopf. »Es sind Tausende.« Sie hatte die Ausdehnung der Höhle völlig falsch eingeschätzt. Abertausende von Eiern bedeckten den Boden und die sanft aufsteigenden Wände. Das rote Leuchten, das den psionischen Wunsch nach Frieden und Zukunft darstellte, breitete sich wie ein Lauffeuer der Hoffnung aus. Die empfangenen Gefühle waren überwältigend. Gail weinte. Sie konnte nicht sagen, ob es aus Freude oder Trauer geschah.

Tausende und Abertausende von Lebewesen riefen telepathisch ihren Wunsch in eine grausame Welt, nicht bei ihrer Geburt sterben zu müssen. Es war ein zutiefst bewegender Moment.

Gail aktivierte einen Kommunikationskanal. »Kapitänin Lisani an die Sigourney. Bitte Kontakt zum Kommando der Erkundungsflotte. Wir brauchen hier mehr Schiffe. So schnell wie möglich. Wir müssen die Zukunft einer Spezies bewahren.«

ENDE

Olaf Stieglitz

Olaf Stieglitz wird von zwei Katzendamen in einer gemeinsamen Wohnung in Wuppertal geduldet.

Nach längerer Schreib-Abstinenz hat er 2016 wieder begonnen, an seiner Karriere als weltberühmter Schriftsteller zu arbeiten. Zur Zeit versucht er sich dabei überwiegend an Kurzgeschichten, mit denen er sich bei verschiedenen Ausschreibungen bewirbt und auch schon erste Erfolge verbuchen konnte.

www.facebook.com/Olaf-Stieglitz-906197966187903/

Der FernhÄndler

Ingo Muhs

Leider hatte ich den erhöhten Sauerstoffverbrauch erst bemerkt, als es für eine Umkehr bereits zu spät war. Also tat ich das Zweitbeste, was man in dieser Situation tun konnte und räumte auf. Das tat ich gewöhnlich nur zu den 1000-Jahres-Treffen.

Der Wohn- und Arbeitsbereich war für drei Menschen ausgelegt, aber ich flog das Handelsschiff schon seit einigen Pejott solo. Da schleifen sich bei uns Junggesellen durchaus ein paar Nachlässigkeiten ein, die ich nun beseitigte.

Ein blinder Passagier war nichts Ungewöhnliches oder Gefährliches für uns Raumfahrer, tatsächlich rekrutierten wir so neue Piloten. Auf vielen Planeten glaubte man, dass irgendwo eine mythische Raumakademie existiere, in der wir Fernhändler ausgebildet werden. Aber das war natürlich Unsinn. Ein klassisches Cockpit hatten die interstellaren Schiffe schon lange nicht mehr, die komplette Steuerung lief über die gleiche Konsole wie die Unterhaltungseinheit. Ich hatte auch direkten Zugriff auf alle Schiffssysteme durch meinen iMplantat (kleines i, großes M, wird gesprochen: »Eimplantat«). Jeder Idiot konnte so ein Schiff fliegen, Reparaturen waren selten notwendig und wurden von den Nanoschwärmen ausgeführt.

Was einen Fernhändler also auszeichnete, waren nicht seine Fähigkeiten, sondern vielmehr die Geisteshaltung. Ob abenteuerlustig oder eigenbrötlerisch, wir mussten in der Lage sein, uns auf fremde Kulturen einzustellen, und wir mussten Dinge hinter uns lassen können. In der alten Weisheit, dass ein Fernhändler jede Welt nur einmal besuchte, steckte viel Wahres.

Ein blinder Passagier, der also gerade seine Heimatwelt für immer hinter sich gelassen hatte und genügend Grips bewies, sich mit den Vorräten an Bord zu schmuggeln, brachte schonmal gute Voraussetzungen für einen Fernhändler mit. Und ich musste gestehen, dass ich mir schon länger einen Assistenten und Lehrling gewünscht hatte – idealerweise jemanden, der meine Leidenschaft teilte. Es konnte natürlich auch sein, dass ich ihn beim nächsten Aufenthalt hinauswerfen musste oder er nach ein paar Stopps das Schiff verließ, um mit einer exotischen Schönheit auf einer freizügigen Welt ein bis drei Familien zu gründen. So etwas konnte man vorher nicht wissen, und umso gespannter war ich, wer wohl mein Gast sein würde.

Als ich mit dem Zustand des Wohn- und Arbeitsbereiches zufrieden war, schaltete ich eine Verbindung zum Vorratslager.

»Herzlich willkommen auf der Axon Zwölf«, ließ ich über das Intercom verlauten. »Ihre Anwesenheit wurde bemerkt und wird mit Skepsis betrachtet. Bitte verlassen Sie Ihr Versteck und zeigen Sie sich der Kamera.« Den Spruch hatte ich geübt und manchmal nach der Abreise von einer hochtechnisierten Welt auch einfach so in den Laderaum übertragen. Man weiß ja nie.

Als sich auch nach einer Weile nichts rührte, fügte ich hinzu: »Sie können natürlich auch in Ihrem Versteck verweilen, das ist mir einerlei. In diesem Fall werde ich Sie auf dem nächsten Planeten wieder entladen. Das wird allerdings ein paar Tage dauern.«

Schließlich rührte sich etwas, und der blinde Passagier wühlte sich durch die Verpackungen ins Freie. Verflucht, blinde Passagiere waren in der Regel zwar jung, aber selten so jung. Das Mädchen war bestenfalls 12 Standardjahre. Mit verheulten Augen blickte sie in die Kamera und schluchzte, so dass man kaum ein Wort verstehen konnte: »Ich habe Mist gebaut. Ich will wieder nach Hause.«

Marja – so hieß unser Ausreißer – saß am Tisch mit einem heißen Tee zwischen ihren Händen (Earl Grey – alte Raumfahrertradition). Ich hatte sie in warme Decken gepackt, denn im Lagerraum war es naturgemäß recht kühl. Bislang hatte ich außer Schluchzen, ihrem Namen und dass sie nach Hause wollte, nicht viel aus ihr herausbekommen. Intensiv starrte sie in die Tasse, als wären dort die Lösungen aller Probleme, und ließ gelegentlich ein leises Schniefen hören.

»Kann es sein, dass ich dich auf dem großen Empfang gesehen habe? Du warst dort mit deinen Eltern, einem Diplomatenpaar vom südlichen Kontinent. Wie hieß er doch gleich? Ich kann mir diese Namen nie merken.«

»Neuropa«, kam eine schüchterne Antwort. Das ist genau der Grund, warum ich mir keine Mühe machte, diese Namen zu lernen. Jeder zweite Kontinent hieß Neuropa, Neu-Afrika oder Neurasien. Viele Städte hießen Perth, Mexiko, Luanda etc. (mit oder ohne »Neu« davor) und Planetennamen waren entweder Terra Novas (in verschiedenen Versionen toter Sprachen), Abarten des Wortes Paradies oder – in einigen Einzelfällen – von Hölle. Planetennamen merkte ich mir. Zum einen gab es davon weniger als Städte und Kontinente, zum anderen gebot das auch die Höflichkeit.

»Ja, genau, Neuropa! Gemäßigte Zone, landwirtschaftlich geprägt«, las ich vom iMplantat ab. »Oh, und der Sitz der Unterhaltungsindustrie.« Sie sah mich fragend an. »Bücher, Filme, Spiele, Cortexdramen?«, spezifizierte ich. »Naja, Cortexdramen eher nicht, dazu ist das technische Niveau nicht ausreichend.«

»Ich hab von Cortexdramen gehört, die sind gefährlich und machen dumm«, beteiligte sie sich endlich am Gespräch. Das Eis brach.

»Das hat man von den anderen Dingen auch irgendwann behauptet«, gab ich lakonisch zurück.

»Aber bei Cortis stimmt es«, schniefte sie in den Tee. Ich zuckte mit den Schultern. Im Moment stand mir wenig der Sinn danach, das Für und Wider verschiedener Medien zu diskutieren.

Mit »Also, was …«, und »Können wir bitte …«, versuchten wir beide gleichzeitig, das peinliche Schweigen zu durchbrechen. Ich bedeutete ihr, auszusprechen.

»Könn … Können wir bitte wieder umkehren? Bitte?« Mit großen Augen sah sie mich an. Ich schluckte.

»Ich fürchte, das ist nicht möglich. Einmal initiert kann der Sprung in ein anderes Sonnensystem nicht mehr abgebrochen werden.«

»Aber dann können wir doch zurückspringen? Ja?«

»Das ist natürlich denkbar, aber ...«

»Und wie lange dauert so ein Sprung?«

»Puh, also, du warst jetzt zwei Tage im Lager, also noch fünf Tage bis zur Ankunft in Neu-Mekka. Jeder Sprung dauert sieben Tage Rel...« Wieder unterbrach sie mich.

»Also etwa zwei Wochen. Das ist ganz schön lang. Mama macht sich bestimmt Sorgen.« Nach kurzen Überlegen fügte sie hinzu: »Und Papa.«

»Ich habe bereits eine Nachricht abgesetzt, dass du als blinder Passagier an Bord bist und es dir gut geht. Standardprozedur, sobald der Name bekannt ist. Ich vermute, es sind an dem Tag nicht viele Marjas verschwunden, also dürfte klar sein, dass du gemeint bist.«

Panisch blickte sie auf, dann schien ihr klar zu werden, dass sie ohnehin in dicken Schwierigkeiten steckte und ihren Ausflug unmöglich noch verheimlichen konnte. Oh Mädchen, du hast ja keine Ahnung, in was für einem Schlamassel du steckst!

Sichtlich erarbeitete sie sich den Mut für die nächste Frage.

»Darf ich vielleicht solange an Bord bleiben? Wenn es keine Umstände macht? … Bitte?«

»Na, ich kann dich ja wohl schlecht aus der Schleuse werfen, oder? Für die kommenden Tage werden wir uns wohl arrangieren müssen.«

»Danke sehr.«

»Sag mal, nach zwei Tagen im Lager – und der Computer zeigt keine Verunreinigungen an – musst du da nicht dringend aufs

Klo?« Sie nickte heftig. Ich wies ihr die Richtung und sie verschwand in der Hygienezelle.

Irgendwie musste ich ihr die schlechten Nachrichten klarmachen. Wenn sie zurückkam? Oder später, ich hatte ja noch fünf Tage Zeit, sie langsam an das Thema heranzuführen. Ich alter Schisser kann mit sowas nicht umgehen.

Historischer Exkurs, Teil I

Die Menschheit hatte sich auf der Heimatwelt – Erde, Earth, Tierra, Земля́, 地球 oder wie man sie in dem Sprachwirrwarr noch nannte – beinahe selbst ausgelöscht. Kaum hatte man die Gefahr der atomaren Verstrahlung technologisch in den Griff bekommen, bombte sich die Nordhalbkugel zurück in die Steinzeit. Zum Schluss musste irgendein Idiot dann doch die schmutzigen Bomben zünden, und wenn erstmal einer anfängt …

Zentren der neuen Zivilisation wurden Südamerika, Afrika und Australien – in dieser Reihenfolge. Es war die selbe krude Mischung, wie man sie heute auch auf weiteren Welten nach planetaren Katastrophen findet. Auf der einen Seite lebte ein Großteil der Bevölkerung auf niedrigstem technischen Niveau. Ich rede hier von Holzhütten und Ochsenkarren – ihr habt doch Ochsen auf eurer Welt? Auf der anderen Seite gab es Zentren der Hochtechnologie. Es gab noch Satelliten, so dass man sich global austauschen konnte. Rohstoffe und Spezialanfertigungen wie etwa Computerchips wurden Mangelware, denn die Förder- und Produktionsstätten lagen – soweit überhaupt noch vorhanden – zu weit auseinander, und die Versorgung mit Treibstoff war vollständig zusammengebrochen.

Es gibt viel Spannendes aus dieser Zeit zu erzählen, von Militärdiktaturen, dem Hungerschwarm und so weiter, aber letztendlich konnte sich die Kooperation durchsetzen. Mit dem, was an Technologie noch vorhanden war und mit dem Wissen, was technisch

möglich ist, baute die Kooperation die Welt langsam wieder auf, hob das allgemeine Niveau erneut auf den alten Stand und breitete sich von den Zentren Mexiko, Perth und Luanda auch auf die Nordhalbkugel aus. Ja, ich weiß, technisch gesehen liegt Mexiko auf der Nordhalbkugel. Schalt die Karte ab und halt die Klappe.

Durch die enge Kooperation in der Kooperation (Daher der Name. Hör auf zu kichern) hat sich auch eine neue Verkehrssprache entwickelt, die zunächst zur Gelehrtensprache und schließlich zur Weltsprache wurde. Nahezu jedes alte Idiom hat Lehnwörter in der Gemeinsprache hinterlassen, aber den größten Einfluss hatten natürlich die afrikanischen Sprachen, Spanisch, Englisch und erstaunlicherweise Deutsch. Zum einen sind viele deutschsprachige Wissenschaftler nach Afrika geflohen, zum anderen gab es in Südamerika einige deutsche Enklaven. Aber ich sehe, ich langweile dich, lassen wir die Linguistik erstmal beiseite.

Die Kooperation hatte, nachdem das Goldene Zeitalter eingeläutet war, ein gewaltiges Problem, meiner Ansicht nach eines der besten Probleme, die man haben kann. Es gab keine Rüstungsindustrie mehr, die zuvor einen großen Wirtschaftsfaktor dargestellt hatte. Wie schon bei den alten Ägyptern mit dem Bau ihrer Pyramiden brauchte man also ein neues Großprojekt als Ausgleich. Schau nicht wie ein Ochse – schlag es nach. Frühgeschichte, Heimatwelt, Ägypten. Halt, nein, nicht jetzt. Mach das später.

Über zwei Jahrhunderte steckte die Kooperation einen Großteil der Ressourcen in den Bau von Generationsraumschiffen zur Besiedelung anderer Welten. Wie gesagt, es füllte die Lücke der Rüstungsindustrie, außerdem wollte man verhindern, dass bei einem möglichen erneuten Zusammenbruch die Menschheit als solche ausgelöscht wurde. Man erstellte also quasi Backups auf fremden Planeten. Und schlussendlich – denn auch in der Kooperation war nicht alles eitel Sonnenschein – nutzte man einige der Schiffe zur ethischen Säuberung der Heimatwelt. Umbringen wollte man Andersdenkende nicht mehr, aber behalten auch nicht, also stellte man diversen Gruppen Raumfahrzeuge zur Verfügung und überredete sie mit Nachdruck, als komplette Einheit die Erde zu verlassen. Die Sklavenhalter von Madagaskar, religiöse Gruppen, Genoptimierte, Anarchisten jeglicher Couleur. Einige gingen freiwillig und mit Freuden, andere wurden geradezu interniert, besonders in der Endphase vor dem Zusammenbruch der Kooperation. Von hier an reden wir nicht mehr über Heimatweltgeschichte, hier beginnt die interstellare Geschichte.

»Nuckelavee! Nuckelavee! Nuckelaviihihihi!« Das letzte Wort in ihrem Song ließ Marja in einem Wiehern enden. Dann fing sie wieder von vorne an. Den gesamten Shuttleflug von Neu Mekka zurück zum Schiff ging das nun so, und wäre ich nicht leicht angetrunken, wäre es mir wahrscheinlich ziemlich auf die Nerven gegangen. Als Teil des Handels hatte ich ein dreitägiges Entertainmentpaket für eine Zwölfjährige erbeten, mit ganz klarer Beschränkung, welche Themen absolut Tabu sind. Marja kommt von einer eher traditionellen Welt, und nicht jeder Planet legt das Mindestalter für Erwachsenenthemen auf dieselbe Weise fest. Auch das Thema Flugdauer und Relativität ließ ich aus offensichtlichen Gründen sperren. Anscheinend hatte sie den letzten Tag im großen Nuckelavee-Freizeitpark verbracht, welcher auf einer Kinderserie beruht, die derzeit auf ganz Neu-Mekka beliebt war. Sie besteht hauptsächlich aus knuddeligen Pferde-Hamster Hybriden, die Abenteuer erlebten und von Freundschaft sangen. Nach kurzer Recherche im iMplantat hatte ich beschlossen, Marja den Tag nicht zu vermiesen, in dem ich sie über die Herkunft des Wortes »Nuckelavee« aufklärte. Für die Produzenten war es wohl einfach ein knuffiges Wort, das irgendwas mit Pferden zu tun hat, und damit war es gut.

»Oh Mann, das war sooo toll!«, begann sie eine weitere Erzählung ihrer Erlebnisse, die nach persönlicher Wichtigkeit sortiert war statt nach Chronologie. Trotz meiner beruflichen Erfahrung mit unterschiedlichsten Erzählstilen konnte ich ihr nicht folgen, allerdings schien es mir, dass pferdeartige Tiere anscheinend eine

ganz besondere Faszination auf junge Mädchen ausübten. Insbesondere, wenn sie bunt waren und sangen.

»Wenn diese ‘Vees einen Pferdekörper, aber einen Hamsterkopf haben, wieso wiehern sie dann? Müssten sie nicht eher pfeifen?«, versuchte ich einen Einwand, aber Marja ereiferte sich bereits über unseren Besuch im Greater Canyon. Wie gesagt – keinerlei Chronologie.

Schließlich ging aber auch ihr die Energie aus, und sie wurde etwas ruhiger.

»Danke, dass du mich überredet hast, den Planeten zu besichtigen, bevor wir zurückfliegen.«

»Naja, wann sieht man schon mal einen fremden Planeten?«

»Das war so ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte.«

»Enttäuscht?«

»Nein, nein, überhaupt nicht!« Sie boxte mich auf den Oberarm, wissend, dass ich sie nur aufziehen wollte. »Ich dachte nur, dass die Leute da ganz anders drauf sind. Wegen dem Namen und so.«

»Wieso das?«

»Naja, Mekka war doch so eine heilige Stadt auf der Heimatwelt, und die Siedler waren streng religiöse Arabier.«

»Woher weißt du denn etwas über Araber?«, hakte ich nach.

»Hab ich nachgelesen! Aber die Leute da waren gar nicht so, sondern richtig nett.«

»Was hattest du dir denn so vorgestellt?«

»Naja«, sie wurde rot, »mehr arabisch halt. Turban und Bart und Pluderhosen, sowas in der Richtung.«

»Meine Güte, wo hast du das denn her? 1001 Nacht?«

Sie nickte. »Aber hier waren ganz normale Leute. Ich musste kein einziges Mal zu Allah beten oder einen Schleier tragen oder so.«

»Ja, so ist das mit den Menschen. Egal was du für eine Gruppe Kolonisten nimmst, nach ein paar Generationen wächst sich das alles raus und du hast wieder dieselbe alte Mischung. Die Welten sind ständig im Wandel.«

»Aber wenn man jetzt zum Beispiel nur superschlaue Leute nimmt …«

»… dann muss immer noch jemand die schwere Arbeit machen. Falls die Schlauköpfe die Aufbauphase der Kolonie überleben, hast du hinterher ganz schnell wieder Gruppen von mehr und von weniger Gebildeten.«

Marja wirkte enttäuscht. »Also sind alle Planeten gleich?«

»Aber überhaupt nicht! Sie sind sich zwar ähnlich, so wie sich zwei Menschen ähnlich sehen – Kopf, Arme, Beine, Nase, Augen – aber trotzdem grundverschieden sein können. Fandest du, Neu-Mekka war genauso wie dein Planet?«

»Die haben hier fliegende Autos! Aber auf dem Klo benutzen sie noch Papier.« Marja kicherte. »War schon anders als zu Hause, aber doch irgendwie ähnlich.«

»Was hältst du davon, dir noch eine Welt anzuschauen?«, wagte ich den Vorstoß. »Auf die eine Woche kommt es jetzt auch nicht mehr an. Wann wirst du jemals wieder eine solche Gelegenheit bekommen?«

Jubelnd fiel sie mir um den Hals. Anscheinend hatte sie selbst schon versucht, den Mut für die Frage aufzubringen. Ich hatte eine Gnadenfrist gewonnen.

Später sichteten wir die Geschenke, die sie von Neu-Mekka mitgebracht hatte. Neben erstaunlich viel Nuckelavee-Merchandising brachte sie besonders ein Prinzessinnen-Diadem in Verzückung. »Das muss unglaublich wertvoll sein!«, vermutete sie.

»Darf ich mal? Das sind wahrscheinlich bloß Diamanten«, erwiderte ich. Reiner Kohlenstoff in Gitterstruktur, das war das Einfachste, was der Assembler zusammensetzen konnte.

»Ja, Diamanten«, bestätigte ich nach der Analyse. »Sehr hübsch gemacht und sicher ein tolles Geschenk, aber das Wertvollste, das du bekommen hast, ist das da.« Ich zeigte auf den Datenträger mit der kompletten Nuckelavee-Serie. »Dafür, mein Kind, fliege ich durch das All. Dafür bin ich Fernhändler.«

»Für Kinderserien?«, fragte sie erstaunt.

»Quatsch, ich handele doch nicht mit Kinderserien!”

»Aber womit handelst du denn dann? Ich hab eigentlich keine Ahnung, was du so durchs All fliegst.«

»Außer blinden Passagieren, meinst du? Also gut, da muss ich etwas weiter ausholen. Zeit für die nächste historische Lektion!«

Sie seufzte gespielt auf, fügte sich aber und hörte mir brav zu.

Historischer Exkurs, Teil II

Das Aussenden der Kolonieschiffe hatte eine gewisse Endgültigkeit. Die ersten Jahre konnte man noch Kontakt halten, aber selbst der beste Richtfunk kann nur beschränkte Entfernungen überwinden, und zumindest die Schiffe verfügten ab einer bestimmten Distanz einfach nicht mehr über Sender mit der ausreichenden Präzision und Stärke. Und da Signale auch nur Lichtgeschwindigkeit erreichen, vergingen Jahre zwischen Sendung und Empfang. Der Philosoph Tayo Osei sagte: »Im Prinzip besteht kein Unterschied zwischen Genozid und dem Exodus – sie sind von dem Planeten getilgt. Wir können lediglich besser schlafen.«

Einige der Kolonien scheiterten kläglich, manche Schiffe erreichten ihr Ziel nie. Der Rest, einschließlich der Heimatwelt, unterlag dem Puls der Zivilisationen. Im ewigen Auf und Ab erlangte immer mal wieder ein Planet die Reife zur interstellaren Raumfahrt. Weitere Kolonieschiffe wurden ausgesandt, aber eine wichtige Variable hatte sich inzwischen verändert. Man wusste nun, dass es da draußen andere von Menschen besiedelte Welten gab, und man wollte erfahren, wie es den Brüdern ergangen war. Man wollte sich mitteilen und man wollte selbstverständlich an den besonderen Reichtümern der Planeten teilhaben.

Ein zum Zweck des Handels gebautes Schiff konnte viel kompakter ausfallen. Es hatte eine kleinere Crew, da man keinen langfristig stabilen Genpool gewährleisten musste. Alle ansonsten wertlose Nutzlast zum Aufbau einer Kolonie ersetzte man durch Laderaum oder sparte sie sich komplett. Der Bau solcher leichteren Raumer war viel früher für eine Zivilisation umsetzbar. Der Nutzen erschloss sich potenziell aber nur für die Crew, die in

Stasis die Jahrhunderte des Fluges überdauerte. Jeder planetare Investor war bis zu der Rückkehr eines Schiffes entweder gestorben, falls es sich um eine Person handelte, oder von der Geschichte hinweggefegt, falls es sich um eine Institution handelte.

Sehr bald – und wir reden hier von Jahrhunderten – stellte man fest, dass sich materielle Güter nicht zum interstellaren Handel eigneten. Nehmen wir mal Rohstoffe, also Metalle, Kristalle, Hölzer und so weiter. Die Menge, die transportierbar ist, ist limitiert und für jede Zivilisation nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Erfährt eine Gesellschaft einen Mangel an einem bestimmten Rohstoff, so hat sie in der Zeit, bis der Stoff von außen geliefert wird, längst Alternativen gefunden, die ähnliche Materialeigenschaften haben. Da bedient man sich eher an den Ressourcen im eigenen Sonnensystem, als auf andere Systeme zurückzugreifen.

Verarbeitete Materialien sind noch schwieriger. Der Nutzen einer Ladung Nanochips hängt ab von dem technischen Niveau des Zielortes zur Zeit der Ankunft. Wer sich hauptsächlich mit Ochsenkarren oder Verbrennungsmotoren herumschlägt, kann mit den Chips nichts anfangen, und wer technologisch viel weiter entwickelt ist, hat nur ein müdes Lächeln für diese Chips übrig.

Klar, sicher, man könnte eine Spannbreite technischer Geräte laden und nur die jeweils Passenden handeln. Oder detaillierte Anleitungen mitgeben, um die Welt auf das jeweilige Niveau zu heben. Das wurde versucht, aber letztlich waren die Geräte den Lagerraum nicht wert. Die technologischen und wissenschaftlichen Daten hingegen, das waren für lange Zeit die wahren Schätze der Fernhändler.

Hier ergab sich ein anderes Problem: Wenn Materielles keinen Wert hat, wie bezahlt man dann den Händler? Nichts, was auf einer Welt gefördert oder produziert wird, hat einen Wert für ihn. Wenn nicht beide ein ähnliches Technologieniveau haben, ist der Austausch für eine Seite uninteressant. Die Lösung zeichnete sich hier schon ab, aber ich will noch kurz auf das Ende der Zeit des Technologietransfers eingehen.

auf die eine oder andere Weise relevant. Und die wahren Schätze sind solche, die von anderen Welten stammen, irgendwann von uns Händlern eingeführt wurden und über das Jahrtausend fest in die lokale Kultur eingeflossen sind. Diesen Test bestehen die allerwenigsten Stories.

Warum wir die einzelnen Planeten so selten anfliegen? Das liegt an der Lichtgeschwindigkeit. Der durchschnittliche Abstand zwischen zwei bewohnbaren Welten liegt bei etwa 80 Lichtjahren, eine Tour besteht bei mir aus 12 Flügen. Das macht dann 960, also knapp 1.000 Jahre, da wir für jedes Lichtjahr exakt ein Jahr brauchen, um die Strecke zurückzulegen. Du guckst verwirrt. Wegen der Zeitdilatation ist es so, dass für uns auf dem Schiff währenddessen die Zeit quasi still steht. Während das Schiff also 80 Jahre fliegt, vergeht für uns keine Zeit. Hey? Hey! Was ist denn los? Wo willst du denn hin? Oh … fuck.

Ich sollte echt nicht trinken und dozieren.

Ich saß mit dem Rücken an der Wand vor Marjas Kabine, die Beine angewinkelt und den Kopf auf den Knien, und wusste nicht, was ich tun sollte. Aus dem Raum kam ihr Schluchzen, mal leiser, mal brach es laut aus ihr heraus.

Normalerweise ist es fantastisch, jemandem im Augenblick einer gewichtigen Erkenntnis beobachten zu können. Wenn endlich alle Puzzleteile zusammenfallen und das große Ganze einen Sinn ergibt. Wenn diese Erkenntnis aber ist, dass alle Verwandten und Bekannten seit Jahren tot sind und man nie wieder in seine Heimat zurückkehren kann, dann ist es einfach nur scheiße. Etwa 170 Jahre waren bereits auf Marjas Heimatwelt vergangen, wenn ich den aktuellen Sprung mitrechnete, während der Abflug für uns nur zwei Wochen zurücklag. Ein Rückflug würde ebenso lange dauern. Genau das hatte Marja nun herausgefunden und begriffen.

Ich war zu feige gewesen, es ihr zu sagen, hatte immer auf »den richtigen Moment« gewartet, obwohl ich wusste, dass es ihn nicht

gab. Ich meine – mal ehrlich – wie muss ein Moment beschaffen sein, in dem man mal so nebenbei sagen kann: »Hey, übrigens, du sitzt erstmal hier fest, alles was du bisher kanntest, ist nicht mehr« ?

Die Kabine war verriegelt, aber als Schiffseigner konnte ich die Verriegelung natürlich aufheben. Wäre das richtig, oder ein weiterer Vertrauensbruch? Was sollte ich nur machen?

Ich beschloss, erstmal nichts zu tun. Armselig, oder?

Irgendwann wurde das Weinen leiser, ich möchte fast sagen, erschöpfter. Dann fragte sie durch die Tür: »Hast du meinen Eltern die Nachricht geschickt?«