Reiterhof Dreililien 3 - Der Frühling des Lebens - Ursula Isbel - E-Book

Reiterhof Dreililien 3 - Der Frühling des Lebens E-Book

Ursula Isbel

0,0

Beschreibung

Neues Pferdeabenteuer von Nell und ihren Freunden vom Reiterhof Dreililien!Auf Nell und ihre Freunde wartet ein Winter voller Abenteuer: Zum ersten Mal nach langer Zeit wird auf Dreililien wieder ein Fohlen geboren. Matty verliebt sich in Maja, die auf Dreililien ihre Ferien verbringt. Nell plant zu ihrem 16. Geburtstag eine riesige Party, zu der natürlich auch ihr Freund Jörn eingeladen ist. Doch dann kommt es zum Streit zwischen den beiden und es herrscht Funkstille. Werden sich Jörn und Nell noch rechtzeitig zur Party wieder vertragen?Mit dem Umzug aufs Land ändert sich Nells Leben komplett: Neue Umgebung, neue Freunde, neue Liebe. Auf dem Reiterhof Dreililien entdeckt der Teenager ihre Leidenschaft für Pferde und findet in Jörn, dem Sohn des Reiterhofbesitzers, ihre erste große Liebe. Im Laufe der zehn Bände, die sich über vier Jahre erstrecken, erlebt Nell so manche Abenteuer, Hindernisse und Turbulenzen auf Dreililien.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 182

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ursula Isbel

Reiterhof Dreililien 3 ‒ Der Frühling des Lebens

Saga

Reiterhof Dreililien 3 ‒ Der Frühling des LebensCopyright © 1994, 2019 Ursula Isbel und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726219609

1. Ebook-Auflage, 2019

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmontwww.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmontwww.egmont.com

1

Es war Herbst ‒ der fünfzehnte meines Lebens, mein erster Herbst auf Dreililien, fern von der Großstadt. In unserem Tal zwischen den Wäldern verfärbten sich die Buchen, das Laub der Birken wurde gelb und trocken und raschelte im Wind. Noch war das Gras grün und saftig, und die Pferde weideten auf den Koppeln und genossen die milde Wärme der Oktobersonne.

Ich saß auf dem Querbalken eines Koppelzaunes. Um mich her taumelten Blätter durch die Luft, sanken lautlos ins Gras. Eins blieb auf meinem Knie liegen, ein zweites auf meiner Schulter. Die Luft roch herb nach nassem, schon faulendem Laub, nach Moos und Baumschwämmen, vor allem aber nach Pferden. Und ich dachte flüchtig, wie gut diese Gerüche doch zusammenpaßten.

Für mich war der Geruch nach Pferden auf alle Zeit untrennbar mit der Erinnerung an den vergangenen Frühling verbunden, an die Zeit, als ich zum erstenmal widerstrebend hierhergekommen war ‒ ein Großstadtmädchen, voller Vorurteile dem Landleben gegenüber. So viele Empfindungen barg dieser Geruch für mich, gute und schlimme. Auch die Erinnerung an das Gefühl von Haß und Verzweiflung, weil ich meinen Vater plötzlich nicht mehr für mich allein hatte. Im letzten Frühling hatte er, lange nach dem Tod meiner Mutter, wieder eine Frau gefunden, die er liebte. So vieles war damals geschehen. Und was mir am wichtigsten von allem erschien, war meine Begegnung mit Matty und Jörn Moberg von Dreililien gewesen.

Das Gestüt Dreililien, dieses Tal mit seinen Koppeln und Wäldern, mein ganzes neues Leben auf dem Land ‒ dies alles würde für mich immer mit dem Geruch von Pferden verbunden sein.

Ich schloß die Augen und dachte eine Weile an gar nichts. Seit ich hier lebte, hatte ich gelernt, jede freie Minute gründlich auszukosten und jede Gelegenheit zum Faulenzen zu genießen. Eigentlich gab es immer Arbeit im Stall und im Freien, und seit dem Ende des Sommers auch wieder in der Schule. Es kam selten genug vor, daß ich einmal untätig herumsaß.

Fast wäre ich eingeschlafen, wenn mich nicht plötzlich jemand so in den Rücken gepufft hätte, daß ich um ein Haar vom Zaun gefallen wäre. Ich klammerte mich gerade noch rechtzeitig am Balken fest. Da tauchte dicht neben mir ein großer brauner Kopf auf, und eine feuchte Nase beschnupperte mein Gesicht.

Es war Hazel, mein Pferd. Ich wandte mich um, schlang die Arme um ihren Hals und vergrub mein Gesicht in ihrer Mähne.

Hazel war ein wichtiger Teil dieses neuen Lebens geworden. Manchmal kam es mir vor, als wäre die Freundschaft, die uns verband, von ganz besonderer Art, anders als die übliche Beziehung zwischen einem Reiter und einem Pferd. Denn Hazel war nicht mein Reitpferd, und ich war auch nie darauf versessen gewesen, ein eigenes Pferd zu haben. Ich hatte es Herrn Moberg abgekauft, dem Besitzer des Gestüts Dreililien, weil sie sonst zum Abdekker gebracht worden wäre ‒ das war die schlichte und nicht besonders romantische Wahrheit.

Im Sommer hatte Hazel plötzlich Hufrehe bekommen, und es war wohl jedem außer mir sofort klargewesen, daß das ihr Todesurteil bedeutete; denn ein Pferd mit Hufrehe kann kein vollwertiges Reit- oder Zuchtpferd mehr werden. Als ich das endlich begriffen hatte, gab es für mich nichts mehr zu überlegen. Ich hatte Hazel um einen Spottpreis gekauft, und seitdem gehörte sie mir. Daß sie nur noch sehr vorsichtig geritten werden konnte, störte mich nicht weiter. Hauptsache, sie hatte es gut und konnte weiter auf Dreililien bleiben. Als Entgelt für ihren Stallplatz und das Futter half ich bei der Arbeit. Das war ein Abkommen zwischen mir und Herrn Moberg, das wir beide fair fanden.

Hazel blies mir zärtlich ins Haar, wie sie es immer machte. Eine Weile schmusten wir so miteinander. Plötzlich aber zuckte sie zurück, wandte den Kopf und schnaubte. Als ich mich umsah, merkte ich, daß Jörn Moberg den Weg vom Dorf her geritten kam. Er nahm die Abkürzung über eine der Wiesen im Galopp, und sein halblanges Haar flatterte im Wind.

„Sieht er nicht wie ein blonder Indianer aus, Hazel?“ flüsterte ich.

Mit gespitzten Ohren beobachtete die Stute Pferd und Reiter. Ich hob den Arm und winkte, aber Jörn sah mich nicht.

Noch während ich ihm mit den Blicken folgte, wie er durch die Hofeinfahrt ritt, sah ich plötzlich, wie Emily, die Schimmelstute, leicht scheute. Jörn zügelte sie und sah sich um. Von der Wegkreuzung her näherte sich ein schwarzer Mercedes mit Pferdeanhänger.

Der Wagen machte vor dem alten Torbogen des Dreililienhofes halt. Ein dicker Mann stieg schwerfällig aus. Da schwang sich Jörn vom Pferd, ging auf ihn zu und führte Emily am Zügel neben sich her.

Die friedliche Stimmung war zerstört. Ich wandte mich ab und biß mir auf die Lippen. Der dicke Mann mit dem Mercedes war Friedrich Horkheimer. Ich hatte ihn schon ein paarmal von weitem gesehen. Er war Herrn Mobergs bester Kunde, ein Pferdehändler, der regelmäßig kam, um Pferde aus der Zucht von Dreililien zu kaufen.

Wieder stieß Hazel ein Schnauben aus. Ich streichelte geitesabwesend ihren Hals. „Das Geschäft mit Pferden ist hart, Nell“, hatten Jörn und sein Bruder Matty oft zu mir gesagt. „Für Gefühle ist da wenig Platz. Pferde haben ihren Marktwert, genau wie jede andere Ware; sie müssen Gewinn bringen und werden an den Meistbietenden verkauft. Nur wer Geld im Überfluß hat, kann aus Liebhaberei Pferde züchten und sie auch behalten ‒ und wer hat das schon?“

Ja, ich hatte inzwischen begriffen, daß auch Dreililien kein absolutes Paradies war, in dem man seine Tage unbeeinflußt von den harten Tatsachen des Lebens verbringen konnte. Ich hatte es begriffen, aber im tiefsten Herzen hatte ich es noch lange nicht eingesehen. Immer, wenn ein Pferd verkauft wurde, wenn seine Box im Stall plötzlich leer war, tat es mir weh; und ich wußte, daß es Matty und Jörn ebenso ging.

Wenn er nur Nell nicht verkauft! dachte ich plötzlich. Sie ist doch noch so klein und hilflos ‒ ich möchte, daß sie hierbleiben kann, daß sie nicht in fremde Hände kommt . . .

Während Hazel langsam wieder zu den anderen Stuten zurückkehrte, erinnerte ich mich an die Sommernacht, als Nell zur Welt gekommen war, Marnies Fohlen. Sie war das erste Fohlen, bei dem ich Geburtshilfe geleistet hatte. Zusammen mit Jörn hatte ich geholfen, Nell zur Welt zu bringen.

Jörn hatte dem Fohlen meinen Namen gegeben; und es war seitdem kein Tag vergangen, an dem ich nicht zur Koppel gegangen wäre, um nach Nell zu sehen und zu bewundern, wie sie wuchs und stark wurde und lernte, sich gegen die anderen Fohlen zu behaupten.

Jetzt mochte ich nicht länger auf dem Koppelzaun sitzen. Ich wußte, daß ich es nicht geschafft hätte, von weitem mitanzusehen, wie eines der Pferde in den Anhänger geführt wurde, wie Herr Horkheimer es in seinem dicken Mercedes für immer wegbrachte. Ich sprang ins Gras, zog meinen Pullover über den Kopf und ging zu Tante Karens Haus zurück.

Jetzt war das kleine gelbe Haus mit dem tiefgezogenen Dach und dem Rosenspalier bereits vom Pfad aus zu sehen. Noch vor einer Woche war es hinter dem Laub der Eiche, die in unserem Garten wuchs, verborgen gewesen. Nur noch ein paar letzte Rosen blühten am Spalier, und im Vorgarten, den Kirsty so liebevoll pflegte, streckten die Dahlien ihre runden Köpfe der Sonne entgegen.

Tante Karens Haus ‒ oder das Kavaliershäusl, wie Matty und Jörn es nannten ‒, gehörte Kirsty, Vaters Freundin. Sie hatte es von einer Tante geerbt; doch es war längere Zeit unbewohnt gewesen, bis Vater und Kirsty sich kennenlernten und beschlossen, hier zusammen zu leben. Das war im Spätfrühling dieses Jahres gewesen. Ich konnte mir kaum noch vorstellen, weshalb mir damals die Entscheidung so schwergefallen war, mit ihnen aufs Land zu ziehen.

Nun war ich hier zu Hause. Ich öffnete die Gartenpforte. Herr Alois, Kirstys wuscheliger brauner Hund, kam mir entgegengelaufen, sprang an mir hoch und versuchte mich zu küssen. Aus der Werkstatt erklang das Geräusch der Töpferscheibe.

Mit Herrn Alois ging ich ums Haus herum und durch den Obstgarten zur Tür des alten Schuppens, den mein Vater und Kirsty zur Töpferwerkstatt umgebaut hatten. Kirsty saß mit dem Rücken zur Tür, in ihrem tonbeschmierten Arbeitskittel, das goldbraune Haar unter einem Tuch verborgen. Sie hörte mich nicht kommen.

Plötzlich fiel mir ein, daß ich sie lieber nicht stören wollte, während sie an der Töpferscheibe saß, denn diese Arbeit verlangte ihre volle Aufmerksamkeit. Also machte ich wieder kehrt und setzte mich auf die Bank unter der Eiche. Herr Alois ließ sich seufzend zu meinen Füßen im Gras nieder.

Ich lehnte den Kopf gegen den rissigen Stamm und sah in das Gewirr der Zweige auf. Es war wie verhext ‒ sofort sah ich wieder den schwarzen Mercedes mit dem Pferdeanhänger und Horkheimers dicke Gestalt vor mir. Wie viele Pferde würde er kaufen? Vielleicht bloß eins ‒ wenn es nur nicht Nell war! Nein, Unsinn, Nell war noch zu jung. Was konnte der Pferdehändler schon mit einem Fohlen anfangen, das erst im Sommer geboren worden war?

Ich versuchte mich damit zu trösten, daß Jörn, Matty und ich immerhin das Schlimmste verhindert hatten. Zu Beginn der großen Ferien hatte es ganz so ausgesehen, als müßten die meisten Pferde von Dreililien verkauft werden, weil das Gestüt nicht mehr genug Geld einbrachte. Herr Moberg selbst war durch einen schweren Verkehrsunfall gehbehindert und konnte nicht mehr mitarbeiten. So war die Pferdezucht im Laufe der Zeit zu einem Verlustgeschäft für ihn geworden.

Um die Pferde zu retten, waren Jörn, Matty und ich auf die Idee gekommen, auf Dreililien eine Reitschule zu eröffnen und dort Reiterferien zu veranstalten. Herr Moberg hatte sich bereiterklärt, den Versuch zu wagen, doch nur unter der Bedingung, daß wir uns selbst um alles kümmerten.

Inzwischen hatten wir dreizehn Reitschüler ‒ sechs Anfänger und sieben Fortgeschrittene. Doch ohne Mikesch hätten wir es wohl trotzdem nie geschafft. Mikesch... Den hatte uns der Himmel geschickt.

Wir hatten Mikesch über eine Anzeige in einer alternativen Münchner Zeitung gefunden und schon beim ersten Kennenlernen festgestellt, daß er genau der war, den wir brauchten. Er kannte sich mit Pferden aus wie kaum ein anderer, war bereit, auf dem Land zu leben und für kaum mehr als ein Taschengeld zu arbeiten, konnte Reitunterricht erteilen und verstand es großartig, mit besorgten Müttern und verliebten Reitschülerinnen umzugehen.

Mikesch war einfach „die Antwort auf unsere Gebete“, wie Jörn einmal halb spöttisch, halb ernsthaft gesagt hatte. Darüber hinaus war er auch noch schön wie ein junger griechischer Gott.

Ich mußte unwillkürlich kichern, als ich daran dachte, wie verdutzt Matty und ich bei Mikeschs erstem Besuch gewesen waren. Keiner von uns hatte erwartet, daß auf unsere bescheidene Anzeige hin ein etwa achtundzwanzigjähriger Mann mit schwarzen Locken und strahlend bläuen Augen auftauchen würde, der aussah wie ein Dressman oder ein Fotomodell für Zigarettenreklame.

Seltsamerweise hatte uns sein gutes Aussehen anfangs durchaus nicht für ihn eingenommen, im Gegenteil. Als wir jedoch feststellten, daß Mikesch überhaupt nicht eingebildet und alles andere als ein Schönling war, hatten wir unsere Vorurteile schnell vergessen.

Jetzt gehörte Mikesch mit dazu. Ohne ihn konnte ich mir Dreililien nicht mehr vorstellen; und wenn der Reitschulbetrieb wirklich ein Erfolg wurde und genug Geld einbrachte, um das Gestüt zu retten, war das wohl in erster Linie ihm zu verdanken.

Der Wind trug mir das schrille Gewieher eines Pferdes von Dreililien her zu. Ich zuckte zusammen und dachte: Der Teufel soll diesen Horkheimer und seinesgleichen holen! Dann quietschte die Gartenpforte. Herr Alois sprang auf und rannte bellend über die Wiese.

Jemand kam um die Hausecke. Ich sah auf; es war

Matty. Zum erstenmal streichelte er Herrn Alois nicht, der ihn freudig umsprang. Mit verschlossenem Gesicht kam er zu mir, setzte sich neben mich auf die Bank und sagte: „Ich hab’s nicht mit ansehen können. Er hat Isabell und Odin abgeholt.“

2

Isabell — die schöne, eigenwillige Stute mit dem isabellfarbenen Fell, und ihr Hengstfohlen Odin, das erst zu Beginn dieses Sommers zur Welt gekommen war! Sie waren verkauft und wurden vielleicht gerade jetzt über die holprige Straße abtransportiert.

Stumm starrte ich Matty an. Er wandte den Blick von mir ab. Ich dachte, wieviel schlimmer es doch für ihn sein mußte als für mich, denn er war ja mit den Pferden von Dreililien aufgewachsen und liebte jedes einzelne.

Isabell und Odin ‒ ich würde sie nie Wiedersehen.

Ich schluckte, um den Kloß in meiner Kehle loszuwerden. Meine Augen brannten.

„Aber Odin“, sagte ich. Meine Stimme zitterte. „Er ist doch noch so jung!“

„Horkheimer hat die beiden im Auftrag eines westfälischen Züchters gekauft. Sie sind von besonders guter Rasse. Odins Vater ist ein erfolgreiches Rennpferd, ein Araber.“

Einen Augenblick lang wünschte ich, Isabell und Odin wären nur ganz gewöhnliche, stinknormale Pferde gewesen, die niemanden interessierten. Aber das war natürlich

Unsinn. Ein Gestüt wie Dreililien lebte davon, edle Pferde mit möglichst großem Gewinn zu verkaufen; und dieses Geschäft ging schlecht genug. Trotzdem wünschte ich, daß sich der Pferdeverkauf wenigstens etwas menschlicher abgespielt hätte, daß nette, tierliebende Privatleute gekommen wären, um sich ein Reitpferd bei uns auszusuchen ‒ Leute, denen man ansah, daß die Pferde es gut bei ihnen haben Würden. So aber nahm Horkheimer sie mit, und wir wußten nicht einmal, wie ihre neuen Besitzer sie behandeln würden.

Ich merkte, daß Matty mit den Tränen kämpfte, und legte den Arm um seine Schulter. Das war der einzige Trost, den ich ihm im Augenblick geben konnte.

Einige Zeit saßen wir so beisammen und sagten gar nichts, weil es nichts zu sagen gab. Erst nach einer Weile fragte ich: „Und Jörn? Was sagt Jörn dazu?“

„Gar nichts. Du kennst ihn ja. Wenn ihm etwas zu schaffen macht, zieht er sich in sein Schneckenhaus zurück. Er hat sein Laßt-mich-doch-alle-in-Ruhe-Gesicht aufgesetzt und ist in sein Zimmer verschwunden. Jetzt hört er Musik.“

Ich nickte. Ja, das war typisch Jörn. Er hatte mir einmal erklärt, daß er gelernt hätte, Probleme mit sich selbst abzumachen. Deshalb fiel es ihm jetzt schwer, damit zu anderen zu gehen, selbst wenn er das wollte.

„Und Mikesch?“ fragte ich.

„Der ist vor einer Stunde nach Frasdorf gefahren, um Futter zu holen.“

Matty fuhr sich mit dem Pulloverärmel über die Nase. Dann stand er auf. „Ich muß jetzt wieder hinüber“, sagte er. „Der Hufschmied kommt, und ich hab versprochen, ihm zu helfen. Joschi und Vroni machen beim Beschlagen immer Schwierigkeiten.“

Ich sah zu ihm auf und dachte plötzlich, wie hart er doch mit sich selbst war ‒ vielleicht konnte man es auch tapfer nennen. Er war fünfzehn, ein halbes Jahr jünger als ich; und doch kam er mir manchmal sehr erwachsen vor ‒ erwachsener sogar als Jörn mit seihen fast achtzehn Jahren.

Ich wußte sehr genau, daß Matty jetzt alles andere lieber getan hätte, als in den Stall von Dreililien zurückzugehen, daß auch er sich am liebsten irgendwo verkrochen hätte, nur um Isabells leere Box nicht sehen zu müssen. Doch wenn Matty etwas versprochen hatte, hielt er es, auch, wenn es ihm noch so schwerfiel. Das war eine Eigenschaft, die ich an ihm bewunderte.

Unwillkürlich sagte ich: „Ich komme mit dir, Matty.“

„Das ist lieb von dir“, erwiderte er dankbar. „Vielleicht könntest du Mikesch später beim Abladen helfen. Wer weiß, wann Jörn wieder auftaucht. Wir können Mikesch ja nicht alle Arbeit allein machen lassen.“

„Er schuftet sowieso für drei“, stimmte ich zu, während wir aus dem Garten gingen. „Für die Arbeit, die er leistet, müßte er eigentlich ein Ministergehalt kriegen.“

„Und dabei können wir ihm nur einen Hungerlohn zahlen“, sagte Matty. „Aber du, ich glaube, das macht ihm nichts aus. Erst kürzlich hat er zu mir gesagt, daß er viel lieber eine Arbeit tut, die ihm Spaß macht und wenig Geld einbringt als eine, die ihm nicht gefällt, aber gut bezahlt ist. Außerdem ist’s ihm wichtig, daß er auf dem Land leben kann.“

„Und daß er mit Pferden zu tun hat“, fügte ich hinzu. „Schließlich ist er auf einem Gestüt aufgewachsen.“

Matty nickte, aber ich merkte an seinem Gesichtsausdruck, daß er mit den Gedanken nicht bei der Sache war. Genau wie ich dachte er wohl an Isabell und Odin. Um uns beide abzulenken, sagte ich: „Was meinst du, warum er nicht zu Hause geblieben ist?“

„Wer?“ fragte Matty.

„Mikesch natürlich. Ich meine, sein Vater ist ein bekannter Rennstallbesitzer. Da wär’s doch für Mikesch das Naheliegendste gewesen, zu Hause zu bleiben, mit seinem Vater zusammenzuarbeiten und später mal den Rennstall zu übernehmen, oder?“

„Du hast doch gehört, was Mikesch gesagt hat“, erwiderte Matty leicht ungeduldig. „Die beiden haben sich nicht verstanden.“

„Aber ist das ein Grund, gleich den ganzen Kontakt mit zu Hause abzubrechen? Da muß schon etwas Einschneidendes vorgefallen sein. Ich glaube eigentlich nicht, daß Mikesch so ein unversöhnlicher Typ ist.“

Matty runzelte die Stirn. „Nein, das glaube ich auch nicht. Jedenfalls hat er sich bisher über die Sache ausgeschwiegen, und dafür wird er seine Gründe haben. Er will offenbar nicht darüber reden. Das müssen wir akzeptieren, Nell.“

Ich sagte angriffslustig: „Wenn du denkst, daß ich neugierig bin, hast du dich getäuscht. Es ist nur so, daß ich Mikesch mag, und deshalb ist’s mir auch nicht gleichgültig, wie es ihm geht. Ich glaube, er ist manchmal verdammt einsam, und die Geschichte mit seinem Vater macht ihm bestimmt zu schaffen, auch wenn er nicht darüber redet oder – gerade, weil er es nicht tut.“

Wir starrten uns an. Es hätte nicht viel gefehlt, und wir hätten Streit bekommen, Matty und ich ‒ zum erstenmal, seit wir uns kannten. Doch da hatten wir den Hofplatz von Dreililien erreicht. Und als wir sahen, daß Horkheimers Mercedes mitsamt dem Anhänger verschwunden war, vergaßen wir unsere Meinungsverschiedenheit.

„Sie sind weg“, murmelte ich. „Vielleicht sind sie schon auf der Autobahn.“

„Wenigstens sind sie zusammen, Isabell und Odin.“

Der Hufschmied kam in seinem klapprigen Ford angefahren und ging mit Matty in den Stall. Ich mochte nicht mitkommen. Im Augenblick hätte ich am liebsten alles vergessen, was mit Pferden zusammenhing.

Ich sah zu dem alten Torbogen mit der zerbrochenen Kutscherlampe und dem steinernen Wappen auf, das drei Lilien zeigte. Der Torbogen verband Wohnhaus, Stallgebäude, Remise, Geräteschuppen und das ehemalige Gesindehaus zu einem Viereck, schirmte den Hof gleichsam gegen die Außenwelt ab. Hinter dem Rundbogen sah man den Innenhof mit den alten Gebäuden, die Hauswände mit den Baikonen, den stuckverzierten Fenstern und dem bröckelnden Verputz, und in der Mitte des Hofes den Ziehbrunnen unter der Linde, die ihre gelben Blätter auf die abgetretenen Pflastersteine streute.

Man merkte, daß der Gutshof einst bessere Zeiten gesehen hatte. Ursprünglich war Dreililien ein Rittergut gewesen, das ein Vorfahr der Mobergs als Lohn für treue Kriegsdienste vom Kaiser zum Geschenk bekommen hatte. Heute war der einstige Glanz verblaßt. An allen Ecken und Enden wären Reparaturen nötig gewesen, für die das Geld fehlte. Und doch lag ein besonderer Zauber über dem großen Hof, ein Zauber, dem der beginnende Verfall nichts anhaben konnte. Immer, wenn ich hierherkam, spürte ich aufs neue diesen Zauber, und wie so oft dachte ich auch heute: Dreililien ‒ das ist eine Welt für sich.

Aus dem Stall erklang Joschis Gewieher. Sie hatte eine ganz besondere, unverkennbare Art zu wiehern, wenn ihr etwas nicht paßte; und diesmal brauchte ich nicht lange zu raten, was es war. Joschi hatte eine alte Abneigung gegen den Hufschmied. Er mußte ihr einmal unabsichtlich beim Beschlagen weh getan haben, und das würde sie ihm wohl nie vergessen, so lange sie lebte.

Von der Wegkreuzung her hörte ich das vertraute Knattern des Lieferwagens. Ich hob den Kopf und sah mich um. Da kam Mikesch; seine schwarzen Locken glänzten hinter der Windschutzscheibe.

Auch er mußte mich bemerkt haben, denn er hupte, steuerte den Wagen mit einer quietschenden Rechtskurve auf den Hofplatz und rief aus dem Fenster: „He, Nell, war Horkheimer hier?“

„Ja“, sagte ich und ging zu ihm, während er anhielt und aus dem Führerhaus sprang. „Hast du ihn unterwegs gesehen?“

„Ich bin ihm kurz vor der Zufahrt zur Autobahn begegnet.“ Er sah mich forschend an. „Hat er Pferde gekauft?“

Ich nickte. „Isabell und Odin.“

Mikeschs blaue Augen verrieten nicht, was er über den Verkauf dachte. „Ich wußte gar nicht, daß Herr Moberg die beiden weggeben wollte“, war alles, was er sagte. Dann aber legte er die Arme um meine Schultern, genau wie ich es vorher bei Matty gemacht hatte. „Das sind eben die Schattenseiten, Nell.“

Ich sah zu ihm auf. „Aber Mikesch, warum muß immer alles Schattenseiten haben? Kann’s denn auf der Welt gar nichts geben, was einfach mal schön und problemlos ist?“

„Ach, Nell“, erwiderte er, „ich fühle mich wie ein Urgroßvater bei dem, was ich dir jetzt sage ‒ aber je älter ich werde, um so mehr begreife ich, daß jedes Ding seine zwei Seiten hat. Das ist wohl so eine Art Naturgesetz. Alles hat seine Licht- und Schattenseite; eines scheint ohne das andere nicht möglich zu sein. Es gibt nichts, was nur gut oder nur schlecht ist.“ Er lächelte. „Aber da stehen wir herum und philosophieren, während wir eigentlich die Säcke abladen sollten. Du hilfst mir doch, oder?“

„Klar. Ich bin ja deswegen gekommen. Matty ist im Stall. Der Hufschmied ist da, und du weißt, daß Joschi und Vroni ihn nicht leiden können.“

Mikesch fragte nicht, wo Jörn wäre. Er wußte, was es für uns alle bedeutete, wenn Pferde verkauft wurden, und daß jeder von uns anders darauf reagierte. Gerade für Jörn hatte er eine Menge Verständnis. Es war noch nicht lange her, daß er zu mir gesagt hatte, Jörn sei eben schwierig wie alle besonders empfindsamen Menschen. Mikesch verstand und akzeptierte vieles bei anderen, auch wenn er keine großen Reden schwang und nicht mit einem Heilsarmee-Gesicht herumlief.