Reiterhof Dreililien 5 - Alte Lieder singt der Wind - Ursula Isbel - E-Book

Reiterhof Dreililien 5 - Alte Lieder singt der Wind E-Book

Ursula Isbel

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Beschreibung

Spannende Fortsetzung der Dreililien-Pferdebuchreihe!Für Nell und ihre Pferdefreunde kommt es knüppeldick: Auf dem Reiterhof Dreililien bricht eine Pferdeseuche aus und drei Jungpferde, darunter auch Nells Lieblingsfohlen, müssen eingeschläfert werden. Trost findet die 16-Jährige zunächst bei ihrem Freund Jörn, der im Krankenhaus seinen Zivildienst macht. Doch irgendwie hat er sich in letzter Zeit verändert, findet Nell. Ob ein anderes Mädchen dahinter steckt? Dann kommt es zum Streit zwischen den beiden und Nell muss sich entscheiden. Ist Jörn ihr wirklich untreu? Oder ist Nell zu unrecht eifersüchtig?Mit dem Umzug aufs Land ändert sich Nells Leben komplett: Neue Umgebung, neue Freunde, neue Liebe. Auf dem Reiterhof Dreililien entdeckt der Teenager ihre Leidenschaft für Pferde und findet in Jörn, dem Sohn des Reiterhofbesitzers, ihre erste große Liebe. Im Laufe der zehn Bände, die sich über vier Jahre erstrecken, erlebt Nell so manche Abenteuer, Hindernisse und Turbulenzen auf Dreililien.

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Ursula Isbel

Reiterhof Dreililien – Alte Lieder singt der Wind

Saga

Reiterhof Dreililien – Alte Lieder singt der WindCover Bild: Shutterstock Copyright © 1995, 2019 Ursula Isbel und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726219623

1. Ebook-Auflage, 2019 Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

1

Noch war Sommer und eine von jenen glücklichen Stunden, in denen ich in der Hängematte lag und durch das Gewirr von Blättern und reifenden Äpfeln zum Himmel aufsah, wo auf blauem Grund blaßrosa Wölkchen segelten und Lerchen ihre schwirrenden Kreise zogen. Noch summten Bienen im Rosenspalier am Haus, und die goldenen Köpfe der Sonnenblumen leuchteten vom Garten herüber.

Das Beste aber waren die Geräusche – die leisen, friedlichen Laute von den Koppeln; und dazu der Geruch nach Pferden und frischem Heu, den der Wind mir zutrug.

Ich hatte mein Tagebuch mit in den Garten gebracht, aber ich schrieb nichts hinein. Dabei hätte es so vieles nachzutragen gegeben, vor allem über die letzte Ferienwoche, in der ich mit Jörn zusammen nach Amsterdam gefahren war. Doch jetzt, wo die Schule wieder angefangen hatte, waren solche Hängemattenstunden selten und kostbar. Ich konnte sie nur richtig genießen, wenn ich einfach faulenzte.

Ich streckte die Nase in den Wind, schnupperte nach den Pferden und dachte an Jörn. Heute abend sollte ich ihn im Krankenhaus in Rosenheim abholen, wo er vor einer Woche seinen Zivildienst begonnen hatte. Wir wollten ins Kino gehen. Auch das war ein seltener Luxus, denn meistens fehlte es uns an Geld für solche Abwechslungen. Außerdem waren wir abends für gewöhnlich viel zu müde von der Stallarbeit, um noch in die Stadt zu fahren.

Aus dem Kavaliershäusl erklang Kindergeschrei, und beim Schuppen begann mein Vater Holz zu hacken. Die Stille, die sachten, verträumten Spätsommergeräusche, gingen in den hallenden Schlägen unter; doch auch das gehörte zu unserem Leben auf dem Land.

Ich schaukelte mit der Hängematte hin und her und beobachtete aus halbgeschlossenen Augen, wie Kirsty aus dem Haus kam, mit wirren Haaren und einer fleckigen Schürze. Sie kochte gerade Zwetschgenmarmelade ein und war in den süßen Duft des gezuckerten Fruchtmuses eingehüllt.

„Gut, daß du hier bist, Nell!“ sagte sie seufzend, als sie mich entdeckte. „Ich dachte, du wärst nach Dreililien gegangen. Könntest du dich mal eine Weile um Kathrinchen kümmern? Ich hab gehofft, ich könnte ungestört einmachen, während sie ihren Mittagsschlaf hält, aber natürlich ist sie früher als sonst aufgewacht und hat es irgendwie geschafft, sich von der Eckbank aus ein Glas Marmelade vom Tisch zu angeln. Das Zeug war noch heiß, und sie hat sich von oben bis unten bekleckert und geschrien wie am Spieß, weil ich mir erlaubt habe, sie unters Wasser zu halten. Jetzt brauche ich ein armes Opfer, das sie für eine halbe Stunde ablenkt, bis ich mit der Marmelade fertig bin.“

„Mache ich“, sagte ich großzügig und stieg aus der Hängematte. Es kam nicht oft vor, daß Kirsty mich bat, ihr Kathrinchen, meine Stiefschwester, abzunehmen; außerdem aß ich hausgemachte Marmelade für mein Leben gern.

Kathrinchen lag nackt auf dem Küchenteppich und fuchtelte mit Armen und Beinen. In ihren spärlichen Haaren klebten Spuren von Zwetschgenmus. Herr Alois, Kirstys wuscheliger brauner Hund, saß mit besorgtem Gesicht daneben.

Ich hob Kathrinchen hoch und sagte: „Jetzt legen wir uns in die Hängematte und schaukeln ein bißchen, ja?“

Für gewöhnlich lachte Kathrinchen wie ein Kobold, wenn sie mich sah, aber heute hatte sie offenbar ihren schlechten Tag. Sie verzog den Mund, und ich wiegte sie rasch hin und her, weil alle Zeichen darauf hindeuteten, daß sie gleich zu schreien anfangen würde.

Kirsty seufzte wieder. „Wenn sie jetzt noch mal losbrüllt, lege ich sie in ein Binsenkörbchen und setze sie auf dem Waldweiher aus“, sagte sie.

Ich mußte lachen. Kathrinchen, die ihre Stirn schon in Falten gelegt hatte, sah mich verdutzt an und steckte den Daumen in den Mund.

Ich sagte: „Die Drohung hat gewirkt. Sie gibt keinen Mucks von sich.“

„Vielleicht hält sie bloß die Luft an, damit sie hinterher um so länger und lauter schreien kann.“

Herr Alois folgte mir eifersüchtig zur Tür. Seit einiger Zeit schien er es für seine Pflicht zu halten, Kathrinchen vor allen möglichen eingebildeten Gefahren zu beschützen.

Kirsty rief mir nach: „Aber setz sie lieber auf die Wiese, sie hat keine Windeln an. Sonst pinkelt sie dich noch voll oder so.“

Ich wußte, was sie mit „oder so“ meinte. Die Hängemattenstunde war also endgültig vorüber. Ich legte Kathrinchen ins sonnenbeschienene Gras, ließ mich neben ihr nieder und sah zu, wie sie gelenkig ihren großen Zeh in den Mund nahm.

„Daß du so was kannst!“ sagte ich.

Sie schenkte mir ein verträumtes Lächeln. Ihre gute Laune war wiederhergestellt. Kathrinchen liebte es, ohne Windeln und sonstiges hinderliches Verpackungsmaterial im Garten zu sitzen, Käfern und Spinnen nachzukrabbeln und sie gelegentlich auch in den Mund zu stecken.

Ein Schmetterling kam geflattert und kreiste in taumelndem Flug über uns. Kathrinchen betrachtete ihn aus großen, erstaunten Augen. Da sprang Herr Alois ganz plötzlich mit wildem Gebell auf und raste mit fliegenden Ohren zur Gartenpforte.

„Überfall!“ sagte ich. Kathrinchen ließ vor Schreck ihren Zeh los, und der Schmetterling flatterte davon.

Mattys Kopf tauchte zwischen der Haselnußhecke auf. Herr Alois wedelte und sprang mit freudigem Gekläff an der Pforte hoch. Seine Begeisterung galt jedoch nicht so sehr Matty, den er nur flüchtig begrüßte; denn er lief aus dem Garten, um Ausschau nach Diana zu halten, der gefleckten Jagdhündin von Dreililien.

„Die sitzt an der Wegkreuzung und wartet auf Jörn“, sagte Matty, während er auf uns zukam. „Sie kann immer noch nicht begreifen, weshalb Jörn nicht hier ist, wenn wir anderen zu Hause sind.“

Ich dachte, daß es mir ähnlich ging. Auch ich konnte mich nur schwer an Jörns häufige Abwesenheit gewöhnen. Und es versetzte mir jedesmal einen Stich, wenn ich nachmittags von der Schule zurückkam und Diana an der Wegkreuzung warten sah, mit hängenden Ohren und kummervollen Augen.

Matty ließ sich neben mir im Gras nieder. Seine Haare waren in diesem Sommer wieder ein Stück gewachsen; er trug sie jetzt meist im Nacken zusammengebunden. Auch sein sonnengebräuntes Gesicht hatte sich verändert. Die Nase war unversehens ein Stück größer geworden und sah ein bißchen unförmig aus. Der Mund hatte ebenfalls eine andere Form angenommen, war schmäler und fester geworden. Irgendwie paßte in seinem Gesicht nichts mehr so recht zusammen... „Wie ein Hefeteig, der am Aufgehen ist“, hatte Kirsty einmal gesagt.

Auch Matty seufzte, obwohl er keine Marmelade einkochen mußte. Während er sich über Kathrinchen beugte und sie am Kinn kitzelte, murmelte er: „Mikesch hat sich abgeseilt.“

„Was?“ sagte ich.

„In die Stadt ist er gefahren. Ich glaube, heute hatte er mal wirklich die Schnauze voll.“

„Kein Wunder“, sagte ich. „Aber was ist denn passiert? Gab’s Stunk mit den Reitschülern?“

„Sozusagen.“ Matty ließ es zu, daß Kathrinchen an seinem ziemlich schmutzigen Zeigefinger kaute. „Es war wegen Anja.“

„Anja?“ wiederholte ich. „Die kommt doch sonst immer nur sonntags.“

„Diesmal ist sie heute schon aufgetaucht, weil sie morgen angeblich mit ihren Eltern nach Berlin fliegt oder sonst was. Jedenfalls, sie raucht ja seit neuestem, und heute hat sie es doch tatsächlich fertiggebracht, sich im Stall eine Zigarette anzuzünden!“

Ich starrte ihn an. „Wa-as?“ sagte ich wieder. „Ich glaube, ich spinne.“

„Aua!“ sagte Matty, und Kathrinchen ließ mit einem schmatzenden Geräusch seinen Finger los. „Sie kann schon richtig beißen, das kleine Biest. Also, Mikesch kam dazu, wie Anja sich gerade eine Zigarette ansteckte, und da hättest du ihn mal erleben sollen! Er hat so gebrüllt, daß ich’s bis in den Innenhof gehört habe. Ich kann mich nicht erinnern, ihn je so wütend gesehen zu haben. ,Du saublödes Huhn!ʻ hat er geschrien. ,Hast du in deinem Alter noch nicht genug Grips im Kopf, um zu wissen, daß man in einem Stall nicht raucht? Ein Funken genügt, und schon gibt’s ein totales Feuerwerk! Weißt du, was dann mit den Pferden passiert? Wenn du die einfachsten Grundregeln nicht kapierst, ist es besser, du hängst den Reitsport an den Nagel und verlegst dich auf Sackhüpfen. Dafür reicht’s vielleicht gerade noch!ʻ “

Ich blinzelte erschrocken. Mikesch, der immer so geduldig und verständnisvoll war, sogar im schlimmsten Gewühl ein Fels in der Brandung! „Dann kam er wie ein wütender Stier aus dem Stall gestampft“, fuhr Matty fort, „und ist in der Fuhrknechtskammer verschwunden. Fünf Minuten später war er umgezogen und ist mit dem Lieferauto nach München losgedüst, ohne sich noch um irgend etwas zu kümmern.“

„Oh“, sagte ich. „Und was hat Anja gemacht?“

„Die war rot wie ein Feuermelder. Ich glaube, es hat sie ganz schön geschockt, daß ausgerechnet Mikesch sie so abgekanzelt hat, wo sie bei ihm doch immer so gern Eindruck machen möchte. Außerdem ist sie’s sowieso nicht gewöhnt, daß jemand Ihre Majestät schief anschaut.“ „Dann seid ihr jetzt also mit der ganzen Arbeit allein, du und Helge?“ fragte ich.

„Ja, und deshalb wollte ich dich holen, damit du uns hilfst. Ein paar von den Jungpferden müßten longiert werden, der Stall ist ein einziger Misthaufen, Nofret kann jeden Augenblick ihr Fohlen bekommen...“

„Hör auf“, sagte ich. „Wenn bloß Kirsty schon mit ihrer Marmelade fertig wäre! Aber warte, ich wickle Kathrinchen nur schnell und ziehe ihr was über. Dann nehme ich sie halt im Schultertuch mit.“

Ein paar Reitschüler lehnten noch am Koppelzaun und fütterten die Stuten mit Karotten, Äpfeln und Zwieback, als wir nach Dreililien kamen. Mikesch hatte ihnen nämlich ernsthaft verboten, auch nur ein einziges Stück Zucker zu verteilen.

„Es genügt, wenn wir Menschen uns mit den ewigen Süßigkeiten die Gesundheit verderben“, war seine Meinung. „Da braucht man die Tiere nicht auch noch mit diesem Schwachsinn krank zu machen.“ Und da alle großen Respekt vor Mikesch hatten, brachte jetzt keiner mehr Zucker oder Süßigkeiten mit.

Kathrinchen, die neugierig aus dem Schultertuch spähte, das ich umgebunden hatte, erregte allgemeines Entzükken. Die Reitschüler pfiffen, zischten und schnalzten mit der Zunge, als ginge es darum, die Aufmerksamkeit eines Affenbabys zu erregen, und Kathrinchen sah in die vielen grinsenden Gesichter und schien nicht recht zu wissen, ob sie lachen oder weinen sollte.

„Darf ich sie mal anfassen? Bitte, Nell, darf ich sie mal haben?“ schrie Martina.

„Lieber nicht“, sagte ich. „Sie ist so viele fremde Leute nicht gewöhnt, und wenn sie mal richtig zu brüllen anfängt, hört sie nicht so schnell wieder auf. Sie benimmt sich sowieso schon ziemlich verdächtig.“

Tatsächlich machte Kathrinchen den Mund auf und stieß ein Geräusch aus, das halb Krächzen, halb Quietschen war. Matty sagte hastig: „Am besten, du setzt sie mal auf Hazel, vielleicht lenkt sie das ab.“

Hazel graste auf der Südweide, und dorthin wanderten wir, gefolgt von drei Reitschülerinnen. Auf dem Weg zu den Koppeln raunzte Kathrinchen weiter vor sich hin wie ein wütender Kater. Als aber Hazel zum Gatter kam und mit ihrer braunen Nase erst mein Gesicht beschnupperte, dann freundschaftlich in mein Haar blies und ihre Nüstern schließlich vorsichtig zu dem kleinen Wesen im Schultertuch senkte, um es zu beriechen und ganz aus der Nähe zu betrachten, wurde Kathrinchen plötzlich sehr still. Sie kannte Pferde, aber es schien jedesmal wieder eine überwältigende und unerhörte Sache für sie zu sein, ein derart riesiges, behaartes Gesicht so dicht vor sich zu sehen; das Spiel der Nüstern und die großen, glänzenden Augen zu beobachten und den strengen Geruch einzuatmen.

Nach einer Weile des Erstaunens begann sie aufgeregt und erfreut zu gurgeln. Hazel prustete leise und hob dann wieder den Kopf. Nach diesem Vorspiel war es keine Schwierigkeit für Matty, das zappelnde Kathrinchen aus dem Schultertuch zu heben und auf Hazels Rücken zu setzen.

Meine gutmütige Hazel ließ es sich geduldig gefallen, daß jemand auf ihrem Rücken herumrutschte, sie an den Mähnenhaaren zerrte und durchdringend quietschte. Langsam wie ein Pony auf dem Jahrmarkt ging sie am Koppelzaun entlang, rechts und links begleitet von Matty und mir, denn wir mußten ja Kathrinchen festhalten. Die Reitschülerinnen jubelten und klatschten in die Hände wie bei einer Zirkusvorstellung.

Auch Kathrinchen fand unseren Einfall, sie aufs Pferd zu setzen, sehr gelungen. Sie protestierte entrüstet, als wir sie schließlich wieder herunterhoben.

„Schluß für heute“, sagte ich fest. „Ein andermal darfst du wieder reiten, aber jetzt muß ich arbeiten. Du kommst ins Schultertuch und darfst beim Longieren zusehen.“

Kathrinchen beruhigte sich erst, als ich mit Mandala, einer unserer wertvollsten Jungstuten, auf der Schwammerlwiese stand und sie an der Longe auf der linken Hand gehen ließ. Matty hatte mir geholfen, den Ausbindezügel anzuschnallen, denn dabei konnte man leicht etwas falsch machen. Mit beruhigender Stimme redete ich Mandala zu, wie ich es bei Jörn oft gehört hatte, da mir ihre Bewegungen immer noch zu hektisch vorkamen.

Aufmerksam folgten Kathrinchens Augen dem dunklen Pferd mit dem edlen Kopf, dessen Schweif und Mähne im Wind flatterten.

Meine Stimme war offenbar wirklich sehr beruhigend, denn meine kleine Schwester schlief nach etwa zehn Minuten ein. Nach weiteren zehn Minuten tauchte Helge auf, der seit einigen Monaten auf Dreililien eine Ausbildung als Pferdewirt machte.

Eine Weile sah er uns bei der Arbeit zu. Ich begriff nach einem flüchtigen Blick auf sein Gesicht, daß ihm wieder einmal eine Laus über die Leber gelaufen sein mußte; etwas, das bei Helge fast eine Art Dauerzustand war. Insgeheim nannte ich ihn „die Prinzessin auf der Erbse“, weil er unsagbar empfindlich war, zugleich aber nie auch nur die geringste Rücksicht auf die Gefühle anderer Leute nahm.

Jetzt merkte ich, wie seine Kinnmuskeln arbeiteten, und beschloß, vorsichtig zu sein. Nach längerem Schweigen fragte er: „Weißt du, wann Mikesch wieder zurückkommt?“

„Hat er mir nicht gesagt“, erwiderte ich. „Aber wie ich ihn kenne, ist er spätestens morgen zur Reitstunde wieder da.“

Helge knurrte etwas. Sein Gesicht verfinsterte sich noch mehr. Die Hände in den Taschen seiner Jeans vergraben, verschwand er in Richtung Stall. Meiner Meinung nach hätte gerade er, der so leicht explodierte, am besten verstehen müssen, weshalb Mikesch durchgedreht war; doch es war wohl gerade umgekehrt. Ich hatte immer vermutet, daß der verantwortungsbewußte, unerschütterliche Mikesch, der alles mit der linken Hand zu schaffen schien, für Helge so etwas wie ein Idol war. Daß dieses Idol nun plötzlich einen Wutausbruch bekam und einfach davonfuhr, ohne sich darum zu kümmern, was in seiner Abwesenheit passierte, schockierte ihn wohl. Und wenn man an Helges Vergangenheit dachte, die nur aus Unsicherheit, Hinundhergeschobenwerden und wechselnden Bezugspersonen bestand, konnte man das verstehen.

Als ich Mandala gerade am Ausbindezügel von der Schwammerlwiese führte, das fest schlafende Kathrinchen im Schultertuch, erschien Kirsty. Sie hatte sich umgezogen, roch aber noch immer verlockend nach Marmelade.

„He, paß auf!“ sagte ich. „Du wirst von zwei Wespen verfolgt!“

Sie lachte. „Die fliegen mir schon seit dem Kavaliershäusl nach. Aber sie sind ganz friedlich. Wenn man sie in Ruhe läßt, tun sie einem nichts. Ich wollte dich von Kathrinchen befreien. War sie sehr lästig?“

„Überhaupt nicht. Sie schläft schon seit einer halben Stunde. Vorher ist sie auf Hazel geritten. Aber man kann sie jetzt nicht mehr lange tragen. Sie wird schon verdammt schwer.“

„Kommst du nachher zum Kaffee?“ fragte Kirsty.

Ich überlegte, schüttelte dann aber den Kopf. „Würde ich gern, aber es geht nicht. Ich hab versprochen, Matty bei Nofret abzulösen. Sie kann jeden Augenblick ihr Fohlen kriegen. Mikesch ist nach München abgehauen, weißt du. Er braucht wohl mal ein bißchen Abstand.“ Im Weggehen sagte Kirsty: „Ich bringe euch dann etwas vom Zwetschgendatschi herüber. Übrigens – ich dachte, du hättest heute einen Faulenzernachmittag eingeplant?“ „Eingeplant schon“, erwiderte ich und schob Mandala zur Seite, die unbedingt meine Jacke anknabbern wollte. „Aber es ist mal wieder anders gekommen. Nur... heute abend fahre ich nach Rosenheim und gehe mit Jörn ins Kino, selbst wenn hier alles zusammenkracht. Ich schwör’s!“

2

Ich hatte zu früh geschworen. Am Spätnachmittag mußte Dr. Hofbauer geholt werden, um nach Nofret zu sehen. Er stellte fest, daß das Fohlen verkehrt lag. Das bedeutete, daß er einen Eingriff vornehmen mußte, und zwar schnell. Matty sollte ihm dabei zur Hand gehen, weil Herr Moberg seit zwei Tagen wegen einer Narbenentzündung am Bein im Bett lag.

Helge wäre also mit Abendfütterung und Stallarbeit allein gewesen, denn Sepp, unser Teilzeit-Stallknecht, war zu einer Familienfeier nach Salzburg gefahren. Obwohl keiner ein Wort zu mir sagte, wußte ich genau, daß nur ich einspringen konnte. Doch wenn ich das tat, erreichte ich den Bus nach Rosenheim nicht mehr rechtzeitig.

Ich rief auf dem Bergerhof an, um Carmen zu bitten, nach Dreililien zu kommen und Helge zu helfen, doch sie war nicht da. Es war wie verhext. Als ich das Wohnhaus verließ und über den Innenhof ging, hörte ich Nofrets angstvolles, gepeinigtes Wiehern und wäre am liebsten davongelaufen.

Solche Augenblicke waren selten, denn ich liebte Dreililien und die Pferde und hätte mein Leben hier nicht gegen das verlockendste Luxusdasein eingetauscht. Es war auch schön, gebraucht zu werden – nur an diesem Samstag wäre es mir ausnahmsweise einmal lieber gewesen, keiner hätte mich gebraucht.

Rasch ging ich nach Hause, um meine Stallkleidung anzuziehen. Danach rief ich Jörn im Krankenhaus an.

Es dauerte einige Zeit, bis er an den Apparat geholt wurde. Seine Stimme klang müde und bedrückt, als er sich meldete.

„Oh, verdammt!“ murmelte er nur, als ich ihm erklärte, was passiert war. „Geht’s Nofret schlecht? Was hat Dr. Hofbauer gesagt?“

„Nicht viel. Er hat nur gemeint, es wäre besser gewesen, wenn wir ihn früher gerufen hätten.“

Jörn schwieg eine Weile. „Ich komme nach Hause, sobald ich hier fertig bin“, sagte er dann.

Ich konnte noch nicht einhängen. „Jörn“, sagte ich, „was ist los? Hast du Ärger gehabt?“

„Ärger? Nein. Aber hier sind heute nachmittag zwei Leute eingeliefert worden... Motorradunfall. Das kannst du dir gar nicht vorstellen, Nell. Wenn man so was sieht, vergeht einem die Lust, sich irgendwann im Leben auf so eine Kiste zu setzen. Und falls es den Ärzten gelingt, aus diesen beiden armen Teufeln jemals wieder so etwas wie Menschen zu machen, dann ist das wirklich mehr als ein Wunder.“

Betroffen legte ich den Hörer auf. Das Gefühl, um einen schönen Abend betrogen worden zu sein, war verflogen. Ich fragte mich plötzlich nicht mehr nur, wie ich Jörns lange Abwesenheiten ertragen sollte, sondern überlegte, wie er die langen Tage und Nächte im Krankenhaus ertragen würde, und wie er es schaffen sollte, mit der Erfahrung von Leid, Hilflosigkeit und Tod fertigzuwerden. Ich hatte diese Erfahrung schon gemacht – in den langen und quälenden Monaten der Krankheit meiner Mutter; und ich hatte davon eine Furcht vor Krankenhäusern zurückbehalten, die sehr tief saß. Jetzt sollte Jörn all das erleben, wieder und wieder, wenn auch nicht bei Menschen, die er liebte. Das machte es vielleicht erträglicher. Aber es blieb noch immer schlimm genug.

Ich ging nicht in den ehemaligen Schafstall, wohin wir Nofret zum Abfohlen gebracht hatten. Irgendwie konnte ich an diesem Abend einfach nicht sehen, was mit ihr geschah.

Helge hatte schon angefangen, die Pferde zu füttern. Er hob den Kopf nicht, als ich in den Stall kam. Da mir ebenfalls nicht nach langen Gesprächen zumute war, übernahm ich schweigend meinen Teil der Arbeit und sagte nur manchmal leise ein zärtliches Wort zu einer der Stuten, wie sie es gewohnt waren.

Als Jörn gegen acht Uhr nach Hause kam, machte sich Dr. Hofbauer gerade auf den Heimweg. Der Eingriff war zu spät gekommen. Nofrets Fohlen hatte die Geburt nicht überlebt.

„Und Nofret?“ sagte Jörn. Er sah müde aus. Sie sahen beide müde aus, er und der Tierarzt.

„Sie ist ziemlich schwach. Ihr müßt sie heute nacht im Auge behalten. Wenn sie Fieber bekommt, ruft mich sofort an. Sorgt dafür, daß sie liegenbleibt. Matty weiß Bescheid, was sonst noch zu tun ist. Das Fohlen müßt ihr gleich morgen in die Tierkörperverwertungsanstalt bringen.“

Ich schluckte. Solange ich hier lebte, waren auf Dreililien immer gesunde Fohlen zur Welt gekommen. Nun lag irgendwo auf dem Hof ein totes kleines Pferd, das „beseitigt“ werden mußte.

Mit Jörn zusammen ging ich in den alten Schafstall. Es war, als hätte ich mehr Mut, wenn er bei mir war.

Die Stute lag auf frischer, sauberer Streu. Ihre Flanke bewegte sich matt unter den Atemzügen, die Augen waren halb geschlossen und öffneten sich auch nicht, als wir näher traten. Ihr Fell wirkte ungewohnt struppig.

Matty saß auf einem umgestülpten Eimer in der Nähe von Nofrets Kopf. Er sagte gar nichts, nickte uns nur zu, und Jörn fragte leise: „War’s schlimm?“

„Scheußlich“, sagte Matty mit belegter Stimme.

„Wohin habt ihr es gebracht?“

Matty deutete mit dem Daumen nach hinten, wo eine Verbindungstür zur Gerätekammer führte.

Ich sagte: „Geh jetzt ins Haus und ruh dich aus, Matty. Ich paß schon auf Nofret auf. Du brauchst mir nur zu sagen, was ich tun soll und worauf ich achten muß.“

Einen Augenblick lang musterte er mich schweigend. Es war, als überlegte er, ob er mir diese schwierige Aufgabe anvertrauen konnte. Da mischte sich Jörn ein. „Wir bleiben zusammen hier, Nell und ich“, sagte er. „Ich gehe nur rasch in die Küche und mach mir ein Brot zurecht. In fünf Minuten bin ich wieder zurück.“