Reiterhof Dreililien 8 - Wenn der Sommer geht - Ursula Isbel - E-Book

Reiterhof Dreililien 8 - Wenn der Sommer geht E-Book

Ursula Isbel

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Beschreibung

Spannender achter Teil der Dreililien-Pferdebuchreihe!Seit ihrer Zeit in Österreich steht für Nell fest: Sie möchte Gärnterin werden! Doch wie soll sie das nur ihrem Vater klar machen? Der hat für seine Tochter nämlich ganz andere Pläne. Auch auf dem Reiterhof gibt es Streit. Reitlehrer Mikesch möchte drei alte Rennpferde auf dem Hof unterbringen – gegen den Willen von Gutsbesitzer Morberg. Gibt es einen Weg, wie Mikesch Herrn Morberg doch noch überzeugen kann?Mit dem Umzug aufs Land ändert sich Nells Leben komplett: Neue Umgebung, neue Freunde, neue Liebe. Auf dem Reiterhof Dreililien entdeckt der Teenager ihre Leidenschaft für Pferde und findet in Jörn, dem Sohn des Reiterhofbesitzers, ihre erste große Liebe. Im Laufe der zehn Bände, die sich über vier Jahre erstrecken, erlebt Nell so manche Abenteuer, Hindernisse und Turbulenzen auf Dreililien.

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Ursula Isbel

Reiterhof Dreililien 8 - Wenn der Sommer geht

Saga

Reiterhof Dreililien 8 - Wenn der Sommer gehtCover Bild: Shutterstock Copyright © 1994, 2019 Ursula Isbel und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726219654

1. Ebook-Auflage, 2019

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

1

Der erste Vogel sang, als ich erwachte. Die klaren, süßen Triller der Drossel fielen wie Tropfen in die Stille des Spätsommermorgens. Ich schlug die Augen auf und sah mich in meinem Zimmer um. Zweieinhalb Wochen war ich fort gewesen, hatte in Österreich in einer Gärtnerei gearbeitet. Es war schön, wieder zu Hause zu sein, in meinem eigenen Bett aufzuwachen, mit dem vertrauten Blick auf das Fenster zwischen schrägen Wänden und dem kühlen Duft der Rosen, die sich bis zum Dach hochrankten.

Jemand hatte einen Strauß Wiesenblumen gepflückt und auf den Bambushocker neben mein Bett gestellt. Ich schlug die indianische Decke zurück und schwang die Beine über die Bettkante. Sogar die Flickenteppiche unter meinen Füßen fühlten sich vertraut an wie alte Freunde.

Auf dem Schreibtisch stand ein Foto meiner Mutter in hellem Holzrahmen. Ich nahm es in beide Hände und dachte wieder einmal, wie ähnlich wir uns doch waren. Ich hatte ihr rotes, lockiges Haar geerbt, ihre braunen Augen, den herzförmigen Gesichtsschnitt und sogar die dunklen, geraden Brauen.

„Du, ich glaube, ich werde Gärtnerin“, sagte ich zu dem Bild. „Wie findest du das? Ich hab das Gefühl, daß es mir Spaß machen würde...“

Sie sah mich mit ihren sanften, ein wenig traurigen Augen an. „Ich vermisse dich noch immer, weißt du“, sagte ich leise. „Manchmal. Aber sonst ist mein Leben schön. Es könnte gar nicht besser sein.“

Ich blies die dünne Staubschicht vom Glas und stellte das Foto auf seinen Platz zurück. Das Dachfenster stand weit offen; ich ging hin und lehnte mich hinaus. Noch stand der Mond hinter den Wäldern, doch über dem Gebirge färbte sich der Himmel schon rosig. Die Wiesen und Koppeln lagen im Morgendunst. Rehe grasten am Waldrand, und Dreililiens Ziegeldächer glänzten vom Tau.

Ich schloß die Augen und atmete den Duft dieses Septembermorgens ein – eine unvergleichliche Mischung von Heu und Pferden, von Rosen, feuchtem Gras und Fichtenwald.

Nach einer Weile zog ich meine Stallkleider an und steckte eine große Packung Kekse in die Brusttasche meiner Latzhose. Leise ging ich in die Küche hinunter, nahm mir einen Apfel und ein Butterbrot und verließ das Haus. Meine Gummistiefel standen wie immer auf dem Vorplatz. Ich schlüpfte hinein und ging den Kiesweg entlang zwischen den Haselnußsträuchern nach Dreililien.

Die Drossel hatte aufgehört zu singen, doch jetzt waren andere Vögel aufgewacht. Wildtauben gurrten eindringlich in den Hecken, und aus Dreililiens Innenhof kamen Schwalben gesegelt, schossen zwitschernd durch den Torbogen aus und ein oder saßen dicht aneinandergedrängt auf dem Dachfirst wie Perlen an einer Schnur.

Sonst war noch alles still, wie ausgestorben; so still, daß ich einen verrückten Augenblick lang das Gefühl hatte, ich wäre noch immer in Hobendoblers Gärtnerei und sei nur im Traum nach Hause zurückgekehrt.

Doch nichts konnte wirklicher sein als der Stall. Ich öffnete die Tür, und alles war so, wie ich es kannte, wie es sein sollte – die großen, edlen Köpfe über den Boxwänden, die glänzenden Augen, die mir forschend entgegensahen, das Scharren und Stampfen und Schnauben, die Wärme der Tierleiber und der herbe Geruch von Pferdemist und Urin – und dann ein helles, geliebtes Gewieher über all den anderen Geräuschen...

Lange stand ich in Hazels Box, die Arme um ihren Hals geschlungen, und flüsterte ihr allerhand dummes, zärtliches Zeug ins Ohr, wie sehr ich sie vermißt hätte, und daß sie meine Schönste wäre, meine Gute, das beste Pferd der Welt – bis es Joschi in der Nachbarbox zu bunt wurde. Plötzlich bekam ich von hinten einen derart kräftigen Puff zwischen die Schulterblätter, daß ich umgefallen wäre, wenn Hazel nicht so dicht neben mir gestanden hätte.

Ich drehte mich zu Joschi um und mußte lachen, so komisch vorwurfsvoll war ihr Pferdegesicht; wie das einer alten Tante, der man zu spät zum Geburtstag gratuliert. Sie rümpfte die Nase und zog die Oberlippe hoch, daß man ihre riesigen gelblichen Zähne sah; eine Angewohnheit, die die meisten Ferienreiter anfangs ziemlich erschreckte, bis sie begriffen, daß es Joschis Art war, um Leckerbissen zu betteln.

Als ich die Keksschachtel öffnete, streckte Joschi ihre Zunge heraus, so weit sie nur konnte. Die Oberlippe hatte sie noch immer hochgezogen und gekräuselt, und ich sagte ihr, daß sie höchst unvorteilhaft aussähe, was ihr jedoch offensichtlich egal war. Sie rückte immer näher und wäre am liebsten über die Zwischenwand geklettert, wenn sie gekonnt hätte. Von hinten bedrängte mich Hazel, so daß ich Platzangst bekam. Rasch gab ich ihr und Joschi je einen Keks und verzog mich schleunigst auf die Stallgasse.

Dann verteilte ich weiter Kekse – an Katama und Marnie, Emily, Solveig, Vroni, Jule, Julka und all die anderen. Dabei mußte es sehr genau und gerecht zugehen, sonst hätte es Streit gegeben.

In Rapunzels ehemaliger Box stand nun Polly, eine unserer Nachkömmlinge. Sie war zweieinhalb Jahre alt und durfte erst in einem halben Jahr zugeritten werden. Die Jährlinge waren den ganzen Sommer über draußen auf der Koppel; aber Jungpferde hatten wir nur wenige, weil Herr Moberg sie meist schon früh verkaufte – zu früh, wie wir fanden. Doch für uns war es eigentlich immer zu früh, wenn eines von den Pferden Dreililien verlassen mußte.

Die ersten schwachen Sonnenstrahlen fielen durch die Stallfenster, als ich meine Begrüßungsrunde beendet hatte. Ich ging in die Sattelkammer, um Hazels Putzzeug zu holen. Mit Kardätsche, Bürste, Hufkratzer und Mähnenkamm bewaffnet, kehrte ich auf die Stallgasse zurück und entdeckte, daß die Stalltür offen war. Auf der Schwelle stand Mikesch im Sonnenlicht, unverschämt gut aussehend mit seinen gelockten schwarzen Haaren, den unglaublich blauen Augen, umrahmt von langen Wimpern, den schwarzen Brauen und der wohlgeformten Kinnpartie, die jetzt von Bartstoppeln geziert war. Wieder einmal verstand ich, weshalb so viele Reitschülerinnen sich auf Anhieb in ihn verliebten, und weshalb fast jede Frau im Umkreis von zwanzig Meilen eine Schwäche für Mikesch hatte. Und wer weiß, vielleicht hätte auch ich mich schon längst in ihn verliebt, wenn Jörn nicht gewesen wäre.

„Ich hab mich schon gefragt, wer hier so früh herumgeistert“, sagte er und nahm mich mitsamt dem Putzzeug in die Arme. „Hallo, Nell – gut, daß du wieder da bist. Ich hab dich vermißt!“

„Ich dich auch. Dich, die Pferde, euch alle... Es ist so schön, wieder zu Hause zu sein! Sag, läßt du dir einen Bart wachsen?“ Er nickte. „Ich hab das ständige Rasieren satt. Wie war’s in Österreich?“

„Nicht schlecht“, sagte ich. „Wenn man mal von der Entfernung absieht.“

„Jörn meint, das Gärtnern hätte dir Spaß gemacht?“ Er hielt mich ein Stück von sich ab und sah mir prüfend ins Gesicht.

„Ja, das hat es wirklich. Vielleicht werd ich sogar mal Gärtnerin.“ Ich sagte es mit einem Lachen, weil ich selbst noch nicht genau wußte, ob es mir ernst damit war.

„Gärtnerin? Das würde nicht schlecht zu dir passen“, erwiderte Mikesch unerwartet.

Eigentlich hatte ich immer gedacht, ich wäre jemand, zu dem überhaupt nichts paßt – jemand ohne besondere Interessen oder Fähigkeiten, sozusagen ein hoffnungsloser Durchschnittstyp. Jetzt entdeckte ich langsam, daß das offenbar doch nicht ganz stimmte.

„Hast du die Windpocken gut überstanden?“ fragte ich, und er lachte.

„Erinnere mich bloß nicht daran! In meinem Alter noch Kinderkrankheiten zu kriegen, und ausgerechnet in den großen Ferien, wo’s hier rundgeht! Jetzt fehlt nur noch Ziegenpeter in meiner Sammlung. Tut mir echt leid, daß ihr meinetwegen um eure Toskana-Reise gekommen seid, du und Jörn.“

„Macht nichts“, sagte ich. „Dafür hab ich Geld verdient und weiß vielleicht sogar, was ich später mal machen will. Den Urlaub können wir im Frühling nachholen.“

„Na, dann hab ich die Windpocken ja nicht ganz umsonst gehabt“, sagte Mikesch. „Jetzt werde ich mal nach Jorinde sehen. Sie gefällt mir nicht recht.“

„Bekommt sie nicht in ein paar Wochen ihr Fohlen?“

„Ja, in ungefähr achtzehn Tagen ist es soweit. Aber sie ist schon jetzt so verdammt unruhig, und das Fohlen bewegt sich zu wenig.“

Gemeinsam gingen wir zu Jorindes Box. „Hast du schon mit Dr. Hofbauer gesprochen?“

„Er hat sie untersucht, konnte aber nichts feststellen. Seiner Meinung nach ist alles in Ordnung. Hoffen wir bloß, daß er recht hat.“

Ich neigte dazu, mehr auf Mikeschs Urteil zu vertrauen als auf das von Dr. Hofbauer. Dr. Hofbauer war ein guter Tierarzt; er kannte sich mit Pferden aus, ebenso wie mit Hühnern und Schweinen und Kühen. Mikesch dagegen war auf einem Gestüt geboren und mit Pferden aufgewachsen.

Vorher, als ich von Box zu Box gegangen war, hatte ich nichts Ungewöhnliches an Jorinde bemerkt; abgesehen davon, daß ihr

Bauch noch praller geworden war. Jorinde war eine unserer wertvollsten Stuten. Für den Reitunterricht wurde sie nicht eingesetzt; sie war Zuchtstute. Ihre Fohlen waren längst in alle Winde verstreut; einige hatten Preise auf Turnieren gewonnen. Sie war eine Araberstute, ein ausgesprochen edles, wenn auch schrecklich nervöses Pferd, das sich nur von Mikesch oder Matty striegeln ließ. Ich paßte immer auf, daß ich ihr nicht zu nahe kam, und hätte mich nie in ihre Box gewagt.

„Aber sie hat doch schon früher Fohlen gehabt“, sagte ich. „Und es ist immer gutgegangen.“

„Na ja, gut ist vielleicht übertrieben. Die letzten beiden Male ging’s ja ohne größere Probleme, aber Herr Moberg hat mir erzählt, daß sie vor ein paar Jahren eine Totgeburt hatte, und einmal lag das Fohlen verkehrt. Bei diesen hochgezüchteten Pferden kann man nie genau Vorhersagen, was passiert.“

Er öffnete eine der Boxtüren auf der linken Stallseite und ging hinein. Jorinde wich zurück. Das hatte sie bei Mikesch bis jetzt noch nie getan.

„Hab keine Angst, mein Mädchen“, murmelte er. „Es passiert ja nichts. Wie geht’s dir heute?“ Und über die Schulter sagte er: „Jedenfalls nehme ich stark an, daß es eine Frühgeburt wird.“ Das konnte bedeuten, daß wir das Fohlen nicht durchbrachten; und das wiederum bedeutete einen weiteren finanziellen Verlust für Dreililien, nachdem wir in diesem Jahr schon genug Schwierigkeiten gehabt hatten. Der Reaktorunfall in Tschernobyl hatte uns neben aller Angst und Unsicherheit auch zusätzliche Geldsorgen gebracht. Im Frühling hatten wir die Pferde wochenlang nicht auf die Weide bringen und das fette Maigras nicht verfüttern können. Wir hatten Trockenfutter kaufen und das Gras vernichten müssen; und in den Pfingstferien waren weniger Ferienreiter als sonst gekommen. Dann war die Stute Rapunzel gegen ein Auto gelaufen und gestorben. Ich seufzte.

Mikesch strich Jorinde über die Flanken. Er sah mich an und sagte: „Der alte Moberg dreht durch, wenn’s mit dem Fohlen nicht klappt. Er hat eine Menge Deckgeld gezahlt. Aber warten wir erstmal bis zum nächsten Frühling, wenn die Stuten ihre Fohlen bekommen, die in diesem Mai erst kurze Zeit trächtig waren. Da wird das dicke Ende wohl erst noch auf uns zukommen.“

„Du meinst, die Fohlen könnten mißgebildet sein?“ fragte ich erschrocken.

„Radioaktivität kann das Zellwachstum bei Ungeborenen empfindlich stören“, sagte Mikesch ruhig. „Sowohl bei Menschen als auch bei Tieren. Es hat keinen Sinn, vor solchen Dingen die Augen zu verschließen, Nell. Die Sache ist noch lange nicht ausgestandenim Gegenteil. Die Folgeschäden können in einem Jahr, vielleicht auch erst in zehn Jahren auftreten – und nicht nur bei unseren Pferden.“

Hazels Putzzeug fest an mich gedrückt, ging ich über die Stallgasse zurück. Ich hatte versucht, die Ängste zu verdrängen, die nach dem Reaktorunfall bei uns allen aufgekommen waren. Irgendwie war es fast lebensnotwendig für mich, Abstand davon zu gewinnen, denn wenn ich an all die Kernkraftwerke und Wiederaufbereitungsanlagen dachte, von denen wir umgeben waren – in unserem eigenen Land, in Frankreich, in der DDR, in England –, hätte ich durchdrehen können vor Angst und hilflosem Zorn. Mikesch war kein Schwarzseher und Miesmacher, doch er hielt auch nichts davon, den Kopf in den Sand zu stecken. Er war einer von den wenigen Erwachsenen, die ich für wirklich verantwortungsbewußt hielt, und gerade weil ich ihn ernst nahm, traf mich seine düstere Prophezeiung besonders.

Während ich Hazel striegelte, wurde ich wieder ruhiger. Die Wärme ihres Körpers, die milden Augen und ihre sanfte Art hatten mich stets getröstet, wenn ich mutlos oder traurig war. Ich dachte plötzlich, daß es keinen Sinn hatte, sich Sorgen zu machen. Sicher, man mußte auf alles vorbereitet sein, mußte Gefahren klar erkennen und alles tun, was man nur tun konnte, um sie abzuwenden; doch sich ständig verrückt zu machen aus Sorge um die Zukunft, war sinnlos und verleidete einem nur die Gegenwart. Als ich das begriffen hatte, war mir wieder wohler.

Ich begann Hazels Box auszumisten, da tauchte Helge im Stall auf. Er begrüßte mich mit einem hingeworfenen „Servus“; so, als wäre ich nie fortgewesen. Er hatte seinen Walkman umgehängt; aus den Kopfhörern kam undeutliches Quäken.

In Helges Gefolge erschien Maja. Wir hatten uns gestern abend schon begrüßt, aber sie kam zu Hazels Box und sagte: „Hoffentlich hab ich sie richtig versorgt. Ihre Fesselgelenke sind nicht mehr so geschwollen. Die Umschläge haben ihr gutgetan.“ „Ich hätte mich selbst nicht besser um sie kümmern können“, erwiderte ich dankbar.

Maja strahlte wirklich „aus sämtlichen Knopflöchern“, wie Jörn das ausdrückte. Ich hatte sie noch nie so hübsch gesehen. Ihre Pfefferkuchenaugen glänzten, ihr Gesicht war braungebrannt, das dunkle Haar kräuselte sich über den Schläfen. Als sie lächelte, entdeckte ich zum erstenmal, daß sie wunderschöne weiße Zähne hatte, und wie reizvoll die Grübchen in ihren Mundwinkeln waren.

Ich wartete, bis auch Jörn und Matty in den Stall kamen. Erst dann begann ich Hazel zu tränken und zu füttern. Es war wichtig, daß alle Pferde zur gleichen Zeit ihr Futter bekamen, um Streit und Eifersucht unter ihnen zu vermeiden. Wie seit Jahr und Tag schleppten wir die Wassereimer durch die Gegend, denn Dreililiens Stall war altmodisch; hier gab es noch keine automatischen Tränken. Dann maßen wir die Haferportionen in der Futterkammer ab.

Die vertrauten Handgriffe und Geräusche, die gemeinsame Arbeit, das Geklapper der Eimer – wie sehr hatte ich das vermißt; so, als hätte es nie Augenblicke gegeben, in denen ich all das verwünschte: die Frühaufsteherei, die anstrengende Arbeit schon morgens vor dem Frühstück und der Schule, die tägliche Dusche, ohne die ich nicht unter die Leute gehen konnte, weil ich sonst wie ein wandelnder Misthaufen gerochen hätte.

Jörn, Matty, Maja und ich brachten die Stuten auf die Koppel, während sich Mikesch und Helge um die Jährlinge kümmerten. Dieser Zug über den Hangweg hinunter zur Spätsommerweide war die schönste von den morgendlichen Arbeiten, auch wenn es auf dem schmalen Pfad oft Drängeleien und Gerangel gab. Diesmal ging ich an der Spitze und paßte auf, daß Vroni nicht plötzlich losgaloppierte in ihrem Eifer, hinauszukommen auf die schöne Koppel mit dem Schatten der Baumgruppen und dem noch hohen, üppigen Gras; denn auf die Spätsommerweide durften die Stuten erst seit ein paar Tagen. Da gab es noch wunderbares Grünfutter für sie, während die Südweide inzwischen ziemlich kahlgefressen war.

Eine Weile standen wir am Gatter und sahen zu, wie sie sich im Gras wälzten oder sofort friedlich zu grasen begannen. Matty und Maja hatten die Arme umeinandergelegt. Eine von Dreililiens Katzen saß auf einem Zaunpfosten inder Morgensonne und putzte sich. Kleine weiße Wölkchen schwammen am blauen Himmel wie Schiffe mit geblähten Segeln. Das Gebirgsmassiv der Schlafenden Jungfrau lag im Dunst. Sepp mähte das Gras am Waldsaum mit der Sense.

Wir hatten noch zehn Tage Ferien – zehn kostbare Tage. Nur Jörn mußte am Montag wieder in der Rosenheimer Klinik arbeiten. Er hatte inzwischen seinen Zivildienst beendet, doch schon im Frühsommer hatte man ihm im Krankenhaus angeboten, mindestens für ein weiteres halbes Jahr als Hilfspfleger zu arbeiten, da es zu wenig Personal gab; und Jörn hätte zugesagt, um die Zeit bis zum Studium zu überbrücken. Er hatte sich jetzt in München um einen Studienplatz in Veterinärmedizin beworben. Die Chancen, ihn zu bekommen, standen jedoch wegen seiner mittelmäßigen Abiturnoten nicht gut, und er rechnete damit, noch mindestens ein Jahr auf einen Studienplatz warten zu müssen.

Natürlich hätte Jörn auch auf Dreililien arbeiten können, doch er und sein Vater waren selten einer Meinung, wenn es um das Gestüt ging. Herr Moberg war außerdem nicht bereit, seinen Söhnen mehr als ein kleines Taschengeld für ihre Arbeit zuzugestehen. Im Krankenhaus bekam Jörn immerhin ein richtiges Gehalt, seit er seinen Zivildienst beendet hatte, und fühlte sich damit ausgesprochen reich.

„Wir wollten heute zum Waldweiher reiten“, sagte Matty. „Kommt ihr mit?“

„Klar“, rief ich. „Ich möchte bloß vorher noch frühstücken.“

Jörn hatte sich gebückt, um Diana zu streicheln, die gefleckte Jagdhündin. Nachdem er jetzt ein paar Tage fort gewesen war, wich sie nicht mehr von seiner Seite. Der Blick, mit dem sie zu ihm aufsah, war so voll hingebungsvoller Liebe, daß einem das Herz dabei schmelzen konnte.

„Am besten nimmt jeder einen Picknickkorb mit“, schlug Jörn vor. „Dann können wir über Mittag bleiben und den Tag richtig ausnützen. Wer weiß, wie oft wir in diesem Jahr noch baden können.“

Mein Vater war schon zur Arbeit gefahren, als ich zum Kavaliershäusl kam. Kathrinchen saß auf der Bank unter der Eiche, bekleckerte sich mit Marmelade und fütterte den Teddybären, den ich ihr vom Wiener Flohmarkt mitgebracht hatte. Auch ein Lätzchen hatte sie ihm umgebunden. Seine Schnauze war schrecklich verschmiert.

Herr Alois, Kirstys schlappohriger Hund, kam unter dem Tisch hervor und begrüßte mich schwanzwedelnd. Nur Kirsty war nirgends zu sehen.

„Hallo, Katharina Erdschwein!“ sagte ich und zerzauste meiner kleinen Schwester das ohnehin schon strubbelige Haar. „Wo ist Kirsty?“

„Hallo, Nello!“ Sie nannte mich immer Nello; keiner wußte, warum, Kathrinchen konnte jetzt schon recht gut sprechen, war aber ziemlich redefaul und beschränkte sich meist auf ein paar dürre Worte.

„’neingangen“, sagte sie auch diesmal so knapp wie möglich und deutete mit ihrem marmeladenbeschmierten Zeigefinger auf Kirstys Töpferwerkstatt hinter dem Haus.

Ich ging in die Küche, setzte Teewasser auf und holte Obst aus der Speisekammer. Als ich zum Tisch zurückkam, kletterte Kater Carlo durch das offene Küchenfenster herein und strich mir schnurrend um die Beine. Hinter den Scheiben nickten die goldenen und samtbraunen Köpfe der Sonnenblumen.

Ich streichelte Kater Carlo, bis mein Teewasser kochte, und er folgte mir in den Garten, als ich das Frühstückstablett zum Tisch unter der Eiche trug. Kathrinchen erzählte im Telegrammstil von einem Ausflug, den sie am Wochenende mit Vater und Kirsty zu einem Volksfest in Frasdorf gemacht hatte. Offenbar waren sie mit einem Ding gefahren, „wo die Stühle fliegen“. Sie hatte auch auf Ponys reiten dürfen, doch die waren nur „sooo wünzig“ gewesen – sie zeigte die Größe mit dem Marmeladenlöffel — und immer im Kreis herumgetrottet. Für Kathrinchen, die schon eine Menge Reitstunden auf Hazels Rücken hinter sich hatte, war das natürlich lächerlicher Firlefanz.

Ich packte Tomaten, Äpfel, Brote und eine Thermoskanne voll Tee in den Picknickkorb. Dann kam Kirsty aus ihrer Werkstatt. Sie war gestern abend müde gewesen und bald schlafen gegangen, nachdem ich heimgekommen war. Jetzt setzte sie sich neben Kathrinchen auf die Bank und ließ sich von meinem Job in Hobendoblers Gärtnerei erzählen, deren Besitzerin Birgit eine alte Freundin von ihr war.

„Birgit hat mir vor ein paar Tagen geschrieben“, sagte sie. „Ihr scheint euch gut verstanden zu haben. Und die Arbeit dort hat dir offenbar Freude gemacht?“

Ich nickte. „So, wie Birgit ihre Gärtnerei betreibt, gefällt’s mir. Sie hat eine echte Beziehung zu ihren Pflanzen. Ich hätte nie gedacht, daß das so ein schöner Beruf sein kann.“ Ich setzte mich ihr gegenüber, den Picknickkorb auf dem Schoß. „Weißt du, ich hab ja noch bis vor kurzem keinen blassen Schimmer gehabt, was ich mal werden soll. Meinst du, Gärtnerin wäre was für mich?“

„Warum nicht?“ sagte Kirsty nachdenklich. „Ich glaube, du bist jemand, der mit lebendigen Dingen arbeiten sollte. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, daß du irgendwo von früh bis abends in einem Büro oder einer Bank hinter dem Schreibtisch sitzt.“

„Herrje, ich mir auch nicht!“ sagte ich und schüttelte mich.

„Natürlich hat so eine Arbeit im Freien auch ihre Schattenseiten. Man muß bei Wind und Wetter draußen sein; und die ständige Bückerei ist auch kein Vergnügen. Aber Birgit ist glücklich mit ihrem Beruf. Sie hat ihren eigenen Laden und ihre exotischen Pflanzen und Orchideen, die sie das ganze Jahr über verkaufen kann. Das mit der Freilandgärtnerei ist nur ein zusätzliches Geschäft für sie.“

„Bloß sind diese beheizten Gewächshäuser schrecklich teuer, das hat sie mir erzählt“, erklärte ich. „Und ein großes Grundstück braucht man natürlich auch...“

„Grund und Boden sind hier in unserer Gegend bestimmt billig zu pachten“, meinte Kirsty. „Aber warten wir’s ab. Mach erst mal deine Schule fertig und erkundige dich, wie so eine Ausbildung aussieht. Ich glaube, es gibt da verschiedene Möglichkeiten. Du könntest einfach eine Gärtnerlehre machen oder Gartenbau studieren.“

Ich seufzte leicht. Noch ein paar Jahre büffeln und Prüfungen ablegen – eigentlich hatte ich vorerst einmal die Nase voll davon. Mit einem Lächeln sagte Kirsty: „Genieß erst mal deine Ferien. Wollt ihr zum Baden?“

Erst da fiel mir wieder ein, daß Jörn, Matty und Maja auf mich warteten. „He, ich muß los!“ rief ich und rannte ins Haus, um mein Badezeug zu holen.

Sie hatten die Pferde schon von der Koppel geholt – Hazel, Katama, Eileen und Nofret. Diana sprang zwischen den Stuten herum und bellte, voller Freude über den bevorstehenden Spaziergang. Wir ritten langsam und gemütlich am Waldrand entlang, über Feldwege und stopplige Spätsommerwiesen, durch einen seichten Bachlauf, in dem noch Brunnenkresse wuchs und Steine wie Gold glänzten. Schmetterlinge gaukelten über die schon spärlicher blühenden Wiesenblumen, als würde der Sommer ewig dauern; dieser Sommer, so sehnsüchtig erwartet und wie immer viel zu kurz.