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Resilienz ist eine Grundeigenschaft des Menschen. Unter Resilienz versteht man die innere Widerstandskraft gegen äußere Einflüsse zu stärken. So bleiben wir resilient mit dem Ziel, Krisen zu meistern und die eigene Entwicklung zu fördern. In diesem Buch lege ich die methodisch-theoretischen Grundlagen dar, die es ermöglichten, Resilienz und Literatur zu verbinden. Die dabei zu stellenden Fragen berühren den Kern eines philosophischen und literaturwissenschaftlichen Diskurses. Mein Thema ist es, ein anderes Textverständnis zu ermöglichen, mit der Öffnung des Textes hin zur Lebenswelt und zu einem anderen Diskurs wie der Resilienzforschung, ohne dass der Text von seiner Eigenart entfremdet wird.
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Seitenzahl: 304
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Vorwort
1 . Dasein und Resilienz
2 . Theorieteil: Text – Interpretation – Resilienz
Strategie des Textes
Literaturinterpretation und Lebenswelt
Resilienz im Kunstwerk
Resilienz und Schutzfaktoren
3 . Praxisteil
:
Resilienz als literarische Hieroglyphe
Faust
und das Offene
„Ist dir Trinken bitter, werde Wein“ Bewältigungsstrategie am Beispiel:
Die Sonette an Orpheus
von Rainer Maria Rilke
Corpus Delicti –
Überwachung als Volkswille
Woyzek –
Das Ende der Resilienz?
Der Mann mit den Bäumen
: Immer wieder lockt die Resilienz
4 . Anhang
:
Inhaltsübersicht der Texte
Literaturliste
From the moment I could talk
I was ordered to listen.
Cat Stevens, Father and Son
„Weil ich weiß, dass es euch nicht interessiert.“
„Genau das mein ich! Es muss dir wurscht sein,
was andere interessiert, verstehtst du nicht?“
Tonio Schachinger, Echtzeitalter
Je älter man wird, desto wichtiger ist es,
Freunde zu haben.
Wer braucht Feinde?
Jessica Pearson, Suits, 6/2
In Wahrheit singen, ist ein andrer Hauch. Ein Hauch um nichts. Ein Wehn im Gott. Ein Wind. Rilke, Sonette an Orpheus
Mit diesem Buch lege ich die methodisch-theoretischen Grundlagen dar, die es ermöglichen, Resilienz und Literatur zu verbinden. Die zu stellenden Fragen berühren den Kern eines philosophischen und literaturwissenschaftlichen Diskurses. Mein Thema ist es, ein anderes Textverständnis zu ermöglichen, mit der Öffnung des Textes hin zur Lebenswelt und zu einem anderen Diskurs wie der Resilienzforschung, ohne dass der Text von seiner Eigenart entfremdet wird.
Der Text wird als ein strukturiertes Diskurssystem verstanden. Zwei Methoden stehen dabei im Vordergrund: die Hermeneutik im Sinne von Hans-Georg Gadamer und die Dekonstruktion, die auf Jacques Derrida zurückgeht. Dazu kommen postmoderne Autoren wie Michel Foucault und dessen Methodologie, Roland Barthes mit seinen Beobachtungen am Text sowie der „späte“ Ludwig Wittgenstein, der durch Familienähnlichkeit und Sprachspiel samt seinem Rekurs auf das Zeigen, die allesamt die Bindung des einen (Literatur) an das andere (Resilienz) theoretisch begründen helfen. Die Grundlagen der Texterforschung und die Bestandsaufnahme einer postmodernen Diskurswirklichkeit im Literaturbegriff zeigen, dass jeder Text kein abgeschlossener, sondern ein lebendiger ist.
Nach einem theoretisch-methodischen Teil folgen Auseinandersetzungen mit Faust I von Johann Wolfgang von Goethe, mit dem XXIX. Sonett aus Die Sonette an Orpheus von Rainer Maria Rilke, mit Corpus Delicti von Juli Zeh, Woyzeck von Georg Büchner und Der Mann mit den Bäumen von Jean Giono. Woyzecknimmt in der Resilienz- und Literatur-Interpretation eine Sonderstellung ein, weil er als produktives Beispiel einer „negativen“ Resilienzstrategie gedeutet werden muss.
Diese Arbeit bietet ein detailliertes, methodologisch begründetes Fundament der Evidenz von Resilienz und Literatur an. Der theoretische Teil ist in seiner Verständlichkeit nicht immer einfach, was seinen Vorbildern geschuldet ist.
Mit diesem Band sollen die theoretischen Überlegungen zu Resilienz und Literatur abgeschlossen werden. Falls sich im Laufe der Forschung weitere signifikante Analysen, Kritiken und/oder Untersuchungen ergeben, werden diese zu einem späteren Zeitpunkt entsprechend berücksichtigt.1
Bedanken möchte ich mich bei den Gründungsmitgliedern von Resilienz und Literatur e.V.2 vom 4. August 2023. Dann bei Studienrätin K. F., meiner Frau, ohne deren Kunstfertigkeit es dort geblieben wäre, wo nichts war. Dank auch an Mitglieder des wissenschaftlichen Mittelbaus dafür, dass ihre Beihilfe mein ursprüngliches Anliegen in eine gangbare Richtung gezähmt hat. Die Erleichterung ist und bleibt groß. Anders gesagt: „Jeder Mensch ist ein Abgrund! Es schwindelt einem, wenn man hinabsieht!“ (Woyzeck, 1. Fassung). Dank auch den Seminar- und Vortragsteilnehmern zu Resilienz und Literatur. Danke allen für Hilfe, Kritik und Anregung.3
1 erwartungsgemäß gibt es bedenken und kritikpunkte zu meinem Ansatz, die ich, so sie angebracht und relevant sind, entsprechend berücksichtigen werde u. a. auch auf der Website: www.resilienz-literatur.de. ich möchte aber auch um Verständnis dafür bitten, dass kritik um der kritik willen aus nachvollziehbaren Gründen nicht berücksichtigt wird. Hier möchte ich meine Anregung wiederholen: schreiben sie ihre eigene Arbeit zu diesem thema. Alles Weitere wird sich finden.
2www.resilienz-literatur.de
3 nicht immer einfach ist es, sich an das zurecht betonte Gendering zu halten. Das im text verwendete „wir“ meint jeweils Lesende und Autor.
„Ja, das ist gewiß: 's ist gefährlich, den Schnupfen zu kriegen, zu schlafen, zu trinken; aber ich sage Euch, Mylord Narr, aus der Nessel Gefahr pflücken wir die Blume Sicherheit.“ „Das Unternehmen, das Ihr vorhabt, ist gefährlich; die Freunde, die Ihr genannt, ungewiß; die Zeit selbst unpaßlich; und Euer ganzer Anschlag zu leicht für das Gegengewicht eines so großen Widerstandes.“ Shakespeare, König Heinrich der Vierte
Ein Kunstwerk beantwortet keine Fragen, es provoziert sie; und sein wesentlicher Sinn ist die Spannung zwischen den widersprüchlichen Antworten. Leonard Bernstein
Wie soll ich leben? Sokrates soll der Erste gewesen sein, der die Frage stellte.4 Sie hat ihre Anziehungskraft bis heute nicht verloren. Bislang ist eine umfassende Antwort darauf noch nicht gefunden worden. Im Gegenteil: Auf die Frage nach dem „Wie“ des Lebens gibt es so viele Antworten wie Fragende. Warum aber sollte ich mir diese Frage überhaupt stellen? Ein Grund lautet: weil ich ein Mensch bin und es in meiner Natur liegt, Fragen zu stellen. Ein anderer, weil ich verstehen will, warum ich manche Schicksalsschläge erleben musste. Ein dritter Grund liegt darin, einen Weg zu finden, den Widerständen in meinem Leben zu begegnen. Ob ich entscheidende Antworten bei mir oder bei anderen finde, ist unerheblich, denn alle haben eines gemeinsam, sie betreffen mein Leben. Leben ist nichts Abgeschlossenes, sondern verändert sich. Die verschiedenen Antworten zu kennen, hilft mir, meine eigene Antwort zu finden, um mein Leben neu auszurichten.
So war die Frage nach dem richtigen Leben bei antiken Philosophen wie den Epikureern und Stoikern äußerst beliebt. Das Streben nach Glückseligkeit unter der Prämisse von Vernunft (Epikur), das Vertrauen auf das Schicksal (Seneca) oder die Eindämmung von Vernunft und Leidenschaft galt ihnen als Schlüssel zu einem wahren Leben.
Der Essayist und Philosoph des 16. Jahrhunderts, Michel de Montaigne, meint nun, dass in der eigenen Individualität die Möglichkeit liege, „seine“ Antworten auf diese Frage zu finden. Sie solle zu „Seelenruhe“ und Glück führen. Für den zeitgenössischen Philosophen Wilhelm Schmid liegt die Antwort im Innehalten und Nachdenken, das er als „Lebenskunst“ bezeichnet (Philosophie der Lebenskunst). Michel Foucault nimmt eine Ästhetik der Existenz an, die zum Leben gehört. Schmidt und Foucault berufen sich beide auf Immanuel Kant und Friedrich Nietzsche, deren Antworten ebenfalls im Subjekt zu finden sind, oder wie es bei Nietzsche ausdrücklich heißt, der zu werden, der man selbst ist.
Karl Marx fordert die Aufhebung der Entfremdung des Menschen von sich selbst und von der Umwelt als Antwort ein (Das Kapital ). Peter Sloterdijk sieht die Möglichkeit einer Lebensgestaltung und Lebensänderung darin, an sich zu arbeiten und ein Übender oder Olympionike des Geistes zu werden (Du musst dein Leben ändern). Weitere Antworten sind im Laufe der Jahrhunderte gegeben worden und reichen von: abstrakt-denkerisch („Wiener Kreis“) bis zu religiös-gläubig (Augustinus).
Eine allgemeine Antwort auf die Frage: Wie soll ich leben? kann es nicht geben. Das lehrt der kurze Überblick. Ich muss selbst entscheiden, was ich möchte. Es liegt an mir, den Herausforderungen meines Daseins zu begegnen und dabei Erfahrungen zu sammeln. Diese kann ich, wenn ich das möchte, an andere weitergeben. Auch kann ich davon erzählen, was ich wurde, welche Fehler ich machte und welche Entscheidungen ich traf. Eine Antwort auf die Frage wie ich leben soll besteht also darin, mein Leben zu leben und über das Wie zu erzählen bzw., sollte ich besonders mutig sein, sogar davon zu schreiben.
Die romanhaften Lebenserinnerungen Leben, um davon zu erzählen (Vivir para contarla) von Gabriel García Márquez tragen Leben und Erzählen im Titel. Márquez hat erkannt, dass beides zusammengeht. Auch Goethe weist in seinen Lebenserinnerungen Dichtung und Wahrheit in diese Richtung, denn er verbindet Erzählung mit Wahrheiten. Beide Werke handeln von Schicksalsschlägen und Leid ebenso wie von Glück und Zufriedenheit. Ihre Bücher geben uns zudem Einblick in ein anderes Schicksal.
Autoren schreiben, um an ihrem Leben teilhaben zu lassen und ihr „Wie“ zum Leben offenzulegen. Dass dies auf verschlüsselte Art und Weise geschehen kann wie in Gullivers Reisen (Gulliver's Travels) von Jonathan Swift oder distanziert wie in Gustav Flauberts Roman Madame Bovary oder brutal selbstoffenbarend und exhibitionistisch wie bei Karl Ove Knausgård, dessen sechsbändiges, mehrere tausend Seiten umfassendenes Opus magnum mit den Buchtiteln Sterben, Lieben, Spielen, Leben, Träumen und Kämpfen die Fülle an Möglichem zeigt. Schreiben und Leben sind so miteinander verzahnt, dass sie nicht voneinander getrennt werden können.
Literatur, Leser und Autor haben eine gemeinsame Beziehungsebene, die alles miteinander verbindet: die Lebenswelt. Wie fremd der Text auch sein mag, er gehört zum gleichen Universum, in dem wir uns alle befinden.
Literatur kann dann zu einem Wegweiser werden, um mich in meiner Welt und der Lebenswelt zurechtzufinden. Das bedeutet, dass ich in Handlungen nicht nur einen Sinn sehen kann, sondern auch eine Absicht oder ein Mittel, um etwas zu erreichen. Was aber mache ich, wenn mein Gegenüber, hier der Text, stumm ist? Wie bringe ich ihn zum Sprechen? Indem ich in einen Dialog mit ihm trete und dadurch meine Stimme leihe. Ich spreche also mit dem Text und mache ihn durch mich lebendig. Das geschieht im Allgemeinen durch Fragen, die ich an ihn richte.
Im übertragenen Sinne werde ich zu Parzival, der zum Gralshüter aufsteigt, sofern er die richtige Frage stellt. Doch gelingt ihm das nicht sofort. Erst bei der zweiten Begegnung mit seinem Oheim, dem Gralshüter Anfortas, bringt er das nötige Einfühlungsvermögen mit und stellt die entscheidende Frage: „Oheim, was fehlt dir?“ (Oheim, was wirret Dir?)5 Zunächst kümmerte er sich nicht um das Wohlergehen seines Gegenübers, was angesichts des schlechten Zustands von Anfortas, der an einer unheilbaren Wunde litt, angemessen gewesen wäre. Parzival versäumt es, Höflichkeit („höveschkeit“), Anteilnahme und Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen, genau das aber könnte Anfortas aus seiner misslichen Lage retten. Der Gral, der Anfortas jedes Jahr feierlich präsentiert wird, hilft und verdammt ihn gleichzeitig dazu, am Leben zu bleiben. Anfortas ist weder in der Lage angemessen zu leben noch zu sterben. Er wartet auf Erlösung. Parzival wird, nachdem der die erlösende Frage nicht stellt, von der Burg gewiesen und erhält erst nach langer Irrfahrt eine weitere Gelegenheit, Anfortas nach seinem Befinden zu befragen. Danach tritt Parzival das Erbe an und wird zum Gralshüter.
Wenn ich sinnbildlich in der Rolle eines Parzival agiere, muss ich die richtige Frage an den Text stellen, damit er sich mir öffnen und mitteilen kann. In diesem Sinne bedarf es auch eines zweiten Lesens (!), denn erst denn kann ich einen Text für mich und in Bezug auf mein Befinden deuten. Erst wenn der Lesende mit dem Text kommuniziert, erschließt sich dieser.
Literatur ist aber nicht Philosophie oder Psychologie.6 Sie gibt keine Antworten, selbst wenn sie den Eindruck vermittelt, es zu tun. Literatur besteht aus Geschichten, verwendet Metaphern und Allegorien bzw. gibt Hinweise in Form von Gedanken und Gesprächen oder sie teilt Erfahrungen mit, beispielsweise in Form von Aphorismen oder Spruchweisheiten.
Literatur ist aber keineswegs zweckgebunden, vielmehr entzieht sie sich als Kunstwerk der Zweckhaftigkeit. Selbst wenn es den Anschein erweckt – das ist das Paradoxe an ihr –, dass sie aus Antworten bestünde, trifft das nicht zu, weil sie die Fragen nicht kennen kann, die an sie gestellt werden.
Jede Lektüre ist also von meinem Interesse und meiner Frage gelenkt. Jeder Text aber lebt aus der Differenz zu seinem Interpreten, der ihm nachgerichtet ist, denn die Interpretation kommt immer einen Schritt zu spät, weil die Literatur bereits dort war, wo sich die Interpretation abspielt.
Antworten erzählen
Selbst wenn ein Text als Versuchsanordnung um ein bestimmtes Thema geschrieben wurde, bedeutet es nicht, dass ich der Intention des Autors folgen muss. Es handelt sich um ein literarisches Werk und nicht um einen wissenschaftlichen Text.
Literatur ist frei in ihrer Intentionalität. Und Literatur ist gebunden, wenn ich mit ihr in Interaktion trete. Aber auch das ist ein freier Akt des Lesens. Und die Lektüre wird sich, auch nachdem ich sie genügend befragt habe, sofort wieder von der Last meiner Fragen befreien. Schließlich gibt es einen gemeinsamen Nenner: Jede Antwort erzählt eine Geschichte. Ich selbst muss entscheiden, ob ein Text mir eine Antwort auf meine Frage gibt oder nicht. Wenn nicht, lese ich wahrscheinlich nicht weiter. All dessen muss ich mir nicht bewusst sein. Es genügt, ein unbestimmtes Gefühl dafür zu haben, ob ich diesen Text lesen werde oder nicht.
Das Unbestimmte des Lesenmüssens oder Lesenwollens ist meine Erwartungshaltung an den Text. Die Verbindung zwischen Frage und Antwort – eine Schwelle der Erwartung – ist wie der Zusammenhang zwischen Leser und Text. Durch sein Dasein antwortet er mir.
Im Roman Stoner von John Williams heißt es zum Beispiel: „Über drei Jahrhunderte hinweg redet Mr Shakespeare mit Ihnen, Mr Stoner. Können Sie ihn hören?“ – Können wir ihn hören? Shakespeare, Goethe, Rilke oder eben John Williams? Das meint: berührt uns ein Buch? Hilft es, unser Leben zu erfassen?7
Lesen wird damit auch zum Eingeständnis eines Mangels, weil ich mir durch die Lektüre etwas verspreche, das mir bislang fehlte, von dem ich aber annehme, dass es der Text mir geben wird. Ich lese, weil ich etwas erzählt bekommen möchte, um Neues zu erfahren. Doch dieses Neue ist im Grunde ein Uraltes, etwas, das mich betrifft und zu mir gehört.
Im Leben suchen wir nach Antworten, um wieder in ein Gleichgewicht mit uns selbst zu gelangen. Dass erfordert, die eigenen Widerstandskräfte zu aktivieren. Literatur zeigt diesen Prozess auf, ohne ihn theoretisch zu analysieren.8
Leben wird überwiegend als unharmonisch und problematisch wahrgenommen. Lesen spiegelt das, weil es dem Lebendigen entstammt und demnach lebendig ist. Deshalb erstrebe ich es, durch Lesen Defizite zu beheben und Disharmonien auszugleichen. Gleichzeitig habe ich immer die Möglichkeit, einen Text gegen den Strich zu lesen oder seine ursprüngliche Absicht zu ignorieren.
Jeder Satz ist einzigartig. Jeder Protagonist ist einmalig. Jede Handlung ist anders. Jeder Konflikt ist unterschiedlich. Sie alle tragen aber auch Beispielcharakter in sich. Die Besonderheit eines Textes zu bewahren und gleichzeitig seine Exemplarität als Prozess zu erkennen, ist von entscheidender Bedeutung. Beispielsweise ist jedes Opfer von Mobbing im Leben und in der Literatur individuell zu betrachten und dennoch gleichen sich Mobbingopfer aus der Literatur wie Hans Giebenrath (Unterm Rad ), Törleß (Die Verwirrungen des Zöglings Törleß ) oder Kurt Gerber (Der Schüler Gerber). Sie sind Topoi. In diesem Sinne ist die Literatur exemplarisch (Mobbingopfer) und eigenständig (jeder Protagonist hat sein eigenes Schicksal).
Lebensgeschichte
Erzähle ich nun meine Geschichte, erzähle ich von meinem Leben. Mein Leben wird dabei mit anderen geteilt. Geschichten ermöglichen es, Zusammenhänge zu erschaffen und das komplexe, komplizierte und teilweise undurchsichtige Leben zu begreifen. Die Aufspaltung, Isolierung oder Entzweiung des Lesens kann im Akt der Lektüre aufgehoben werden.
In einer fragmentierten Welt zu leben, bedeutet nicht, dass man ihr hilflos ausgeliefert ist. Geschichten, Mythen und Legenden tragen ihrerseits dazu bei, die Fragmente des Lebens zusammenzufügen und dem Leben Sinn zu verleihen. In einer Geschichte bilden Zusammenhänge Sinn. Geschichten können als Heilmittel gegen die erlebte Fragmentierung des Daseins dienen. Dabei werde ich notgedrungen vieles unterschlagen, auslassen oder verändern. Der Text ist eben lebendig.
Kairos
Meine Erzählung, mein Mythos und meine Antwort auf das Leben bilden meine Lebensgeschichte. Sie ist die Antwort auf die Frage, wie ich leben soll und was ich tun muss, um mein Leben zu gestalten. Deshalb ist es wichtig, eine jede Lebenserzählung genau zu verstehen, genauso wie den Zeitpunkt, an dem sie mich erreicht. Das Griechische kennt den Begriff kairos. Er bezeichnet den richtigen Zeitpunkt, an dem etwas getan werden soll. Kairos beschreibt das richtige Maß und die Gelegenheit, etwas zu tun. Der griechische Gelehrte Poseidippos von Pella (310–240 v. Chr.) hat ein Epigramm über den Kairos gedichtet:
Wer bist du?
Ich bin Kairos, der alles bezwingt!
Warum läufst du auf Zehenspitzen?
Ich, der Kairos, laufe unablässig. [...]
Es kommt auf den richtigen Zeitpunkt (kairos) an, um im eigenen Sinne zu wirken, da alles in Bewegung ist und uns somit unberechenbar erscheint. Kein Leben ist einfach, sondern an eine bestimmte Ordnung gebunden, die auf Regeln basiert. Auch Geschichten haben Regeln. Die formgebende Substanz, die Evidenz herstellt, besteht aus Zeichen und Symbolen … und sie gibt Regeln vor. Sie sind Markierungen in einer Matrix, die sich ständig ändert. Es sind die Marker (Zeichen, Symbole, Referenten), die dazu beitragen, Gemeinsamkeiten zu finden und Entsprechungen hervorzuheben. Es ist also notwendig, Regeln zu verstehen, die festlegen, wann und wie etwas mit anderem kombiniert werden kann. Handeln allein genügt nicht. Die Handlung muss mit anderen möglichen Handlungen in der Zeit verbunden sein. Erst Regeln und passende Strategien erzielen das gewünschte Ergebnis, aber sie schließen nicht aus, andere Handlungsmöglichkeiten zu berücksichtigen.
Aus der Rückbindung der Erzählung an das Leben (war sie je von ihr getrennt?), folgt die Selbstbestimmung und Selbstverantwortung. Die Absicht ist es, ein Leben mit einem anderen Lebensentwurf durch eine erzählte Geschichte zu vergleichen: Leben wird zu einem ästhetischen Kunstwerk.
Literatur ist da, wie Leben da ist. Zudem ist jeder Text mehrfach codiert, weil er als Teil der Lebenswelt auftritt. Leben ist immer vieldeutig. Literatur verweist auf die Welt und reflektiert sie. Wird Literatur als Teil des Lebens und des Lebendigen verstanden, ist ihr Nährboden die Lebenswelt. Wir haben damit die Möglichkeit, ihr Fragen unseres Lebens zu stellen, um Antworten zu finden und ästhetisches Erleben mit dem Dasein zu verknüpfen.
Wird Literatur für wahr gehalten im Sinne einer Lebenswahrheit, dann ist sie das auch. Jede Geschichte vermittelt Stimmungen. Stimmungen sind das, was dem Text die ihm eigene Bedeutung verleiht. Dem Gelesenen Bedeutung zu geben, und zwar durch den Akt des Lesens und die Einbettung in die eigene Lebenswelt, das ist es, was der Literatur ihre Begrenzung nimmt und sie öffnet. Damit steht sie in der Welt und durchdringt diese.
Lebendige Literatur
Die Meinung, dass Naturwissenschaften oder Sozialwissenschaften von einer anderen wissenschaftlichen Herangehensweise leben, als es die Auseinandersetzung mit Literatur tut, weil sie dichter an der Lebenswirklichkeit seien, läuft als Argumentation ins Leere. Alle sind das, was sie sind: Produkte einer narrativen Lebenswelt, die sich durch einen umfassenden Zeichenkatalog ausdrückt. Es ist möglich und wahrscheinlich, dass sich dieser Zeichenkatalog von anderen unterscheidet. Genauer: Jede Entdeckung ist ein ungelesener Text.
Eine zentrale Rolle, um das verständlicher zu machen, spielt dabei die Metapher als die Fähigkeit, durch Worte Bilder zu erzeugen. Metaphern helfen, die Welt zu veranschaulichen. Selbst wenn Shakespeares Macbeth sagt: „Das Leben ist eine Geschichte, die ein Idiot erzählt, voller Lärm und Wut, und sie bedeutet nichts“, ist die Bedeutung einer Geschichte oder Erzählung das, was sich in der Metapher einschließt. Das von Macbeth Gesagte ist ebenfalls eine Metapher, die Bedeutung übermittelt und so mutiert der angebotene Akt der Bedeutungslosigkeit zur Bedeutung.
Bilder sind entscheidend für unser Verständnis der Welt. Die Bildersprache ist auch für die Naturwissenschaften von Bedeutung. Beispielsweise wird von einem Urknall gesprochen, der 13,8 Milliarden Jahre vor dem Heute stattgefunden haben soll. Was genau ist ein Urknall? Nichts weiter als eine Metapher für den „Anfang“. Oder es ist von der „Ursuppe“ die Rede, einer Mischung aus Wasser, Schwefelwasserstoff, Methan und Ammoniak. Damit ist weder eine Suppe gemeint noch ein „Ur“ im Sinne eines Ur-Verständnisses. Ur ist lediglich ein Platzhalter für ein anderes Ur. Aber auch Teilchen und Welle, Evolution, Abstammung, Energie, Zahlen, Funktionen, Graphen usw. sind Metaphern, die für etwas einstehen, dass sich unserer gewohnten Anschauung entzieht und Raum für Auslegungen und Interpretationen schafft. Es sind „sprechende“ Namen, die abstrakt-mathematisch immer anders sind als das, was sie vermittelt aussagen. Selbst ein mathematisches Abstraktum ist in seiner Zeichenhaftigkeit entweder „schön“, stimmig, nachvollziehbar oder falsch. Es wird gelesen und bewertet, um Aussagen über „die“ Wirklichkeit zu machen, was bedeutet, dass das Anschauliche durch den Umweg über das Nichtanschauliche erreicht wird.
Metaphern übersetzen Aspekte einer Lebenswelt in eine andere. Wer erzählt, erzählt in Bildern, die von Worten gebildet werden. Bilder bedingen Regeln, die auf wissenschaftliche Disziplinen verweisen. Die Pointe besteht darin, dass ein verkürzter Ausdruck als Formel (Metapher) in einer Theorie geborgen wird, die ihrerseits auf die Lebenswelt bezogen ist. Die Metapher „Lebenswelt“ zeigt verschiedene Facetten von sich selbst.
Jede Wissenschaft ist eine Geschichtenerzählerin, bei der sich Logos und Mythos treffen. Der „Urknall“ ist Logos und Mythos, weil jeder Anfang selbst schon ein Mythos ist. Ein Anfang ist bereits ein Bild, das auf der Voraussetzung eines Kreislaufes oder einer geraden Linie beruht, weil jeder Anfang ein Ende in sich trägt.
Die Geschichte der Menschheit ist eine Große Erzählung, beginnend mit religiösen und mythologischen Texten wie der Bibel, der Bhagavadgita, den Upanischaden, dem Gilgamesch-Epos, dem I Ging, dem Koran usw. bis hin zu Odyssee und Illias, der Edda, dem Nibelungenlied, Parzival, Tristan und Isolde, der Göttlichen Komödie oder Faust. Dass die Große Erzählung heute von anderen Mythen abgelöst wird, ist mehr als eine Randerscheinung, aber eigentlich unerheblich, denn auch die DNA ist ein Mythos, genauso wie die Besiedelung des Mars, Voyager, ein Wundermittel gegen den Krebs oder eine allgemein verbindliche Aussage über Politik im Sinne einer perfekten Kommunikation. Der Germanist Peter von Matt formuliert dies so:
Die literarische Phantasie ist ein Teil der kollektiven Einbildungskraft. Sie nährt sich ebenso sehr von den öffentlichen Träumen wie von den privaten Vorstellungen des einzelnen Autors. Und rückwirkend füttert sie auch wieder das gemeinschaftliche Phantasieren ihrer Zeit, sogar der späteren Epochen. Don Quijotes Windmühlen, Hamlet mit dem Totenschädel, Odysseus in der Höhle des Zyklopen, Robinson vor der Fußspur im Sand – sie sind zu Zeichen geworden, mit denen sich die Menschheit über alle Sprachen hinweg verständigt (Peter von Matt, Übeltäter, trockne Schleicher, Lichtgestalten).
Im Gedächtnisspeicher ist das aufbewahrt, was es bei der Lektüre und der Re-Lektüre zu entdecken gilt: die Lebensgeschichte als intersubjektives Kompendium an Metaphern und Regeln, sprachlichen Bildern und realen Ereignissen. Selbst ein Bericht ist eine verkürzte Erzählung und die Objektivität eines Berichts wird nicht dadurch neutraler, dass ich ihn einen Tatsachen-Bericht nenne. (Tatsachen kommen von Tun und werden von jemandem getan.)
Ist dies eine Antwort auf die Ausgangsfrage: Wie soll ich leben? – Nein, da keine allgemeingültige Antwort gegeben werden kann. Ja, weil jede Antwort einen unterschiedlichen Lebensstil widerspiegelt. Anders gesagt: Auf die Frage „Wie soll ich leben?“ kann es in diesem Kontext nur eine Antwort geben: literarisch! In einem anderen Kontext gibt es andere Antworten.
Lebe ich literarisch, lebe ich im Bewusstsein der Möglichkeiten von Literatur. Lebe ich literarisch, lebe ich in einer Metaphern- und Zeichenwelt, die von Überwindung und Abenteuer, Erkenntnis und Ausweglosigkeit, Deutung und Missdeutung berichtet. Lebe ich literarisch, habe ich zudem Kenntnis über die Widerstandskräfte des Lebens. Ist von Widerständen im Alltag und deren Überwindung die Rede, so ist dafür seit den 1950er-Jahren der Begriff Resilienz gebräuchlich geworden.
Vorüberlegungen zur Resilienz
Resilienz meint „psychische Widerstandsfähigkeit“. Durch Resilienz passe ich mich an belastende Situationen in meinem Leben an oder lerne, sie zu bewältigen. Resilienz ist steuerbar und funktional bestimmbar. Erforscht wird Resilienz seit den 1950er-Jahren. Menschen können lernen, Krisensituationen zu bewältigen und dafür Resilienzstrategien ausbilden. Im Rahmen der Resilienzforschung werden Faktoren untersucht, die Handlungen begleiten und Lebenssituationen bedingen. Dabei identifiziert die Forschung Schutzfaktoren zur Ausbildung von Resilienz. Jeder Mensch verfügt über Schutzfaktoren, die in der Resilienz-Diskussion eine entscheidende Rolle im Hinblick auf Gesundung spielen.
Die Parallele zur Literatur legt folgende Gedanken nahe. Auch in der Literatur werden Krisen beschrieben und Strategien, um ihnen zu begegnen. Werden Lösungsmöglichkeiten, wie sie die Literatur anbietet, als Strategien betrachtet, ergibt sich das, was ich hier Resilienzstrategie nenne. Sie fußt auf der Anwendung von Resilienzfaktoren. Absicht ist es, Widerstände zu erkennen und ihnen entgegenzusteuern, so dass die Harmonisierung des Lebens wieder erreicht wird.
Resilienzstrategien finden sich als narrative Strukturen im Text. Die Vermutung liegt nahe, dass Resilienz und Literatur gleichberechtigt nebeneinander agieren. Die Grundlage der Verbindung zwischen Resilienz und Literatur liegt in der Vorannahme der beiden gemeinsamen Lebenswelt. Genaue Textkenntnisse und Kenntnisse der Resilienzforschung ermöglichen es, Resilienz erfahrbar zu machen, weil jeder Text Resilienzaspekte birgt, die als Lebenserfahrung transparent gemacht werden können. Die Intention dieses Buches ist es, im Text Resilienzstrategien zu identifizieren.
Literatur bietet einen Ideenpool zur Erforschung von Resilienz und Resilienzstrategien. Was bisher fehlt, ist die komplexe Erschließung des literarischen Ideenpotenzials für die Resilienzforschung. Die Verbindung von Resilienzforschung und Literaturwissenschaft in Hinblick auf Krisen und deren Bewältigungsstrategien kann durch die Vermittlung von Literatur zu einer Neuausrichtung im Umgang mit fiktionaler Literatur führen. Das wirft folgende Fragen auf:
All das basiert auf der Grundannahme, dass die Lebenswelt den Rahmen darstellt, in dem wir uns bewegen, und die Gegenwart, Autoren und Lesende mit einschließt.
Ausblick
Ausgehend von der Frage nach dem Wie des Lebens wird hier untersucht, inwieweit die Interpretation eines Textes Regeln und eine Strategie zur Freilegung von Resilienzfaktoren und deren Absicht offenlegt. Das führt zur grundsätzlichen Frage nach dem Verständnis von Texten und der Strategie von Texten. Es ist offensichtlich, dass eine Meta-Position ergebnislos sein wird und dass Perspektive und Netzwerk das bestimmen, was Interpretation meint, denn: Interpretation ist eingeschlossen in einen Diskurs, dessen Dynamik herausgearbeitet werden muss. Interpretation besteht weder isoliert noch bringt sie etwas grundlegend Neues. Das Neue ist das, was im Text bereits vorhanden ist, aber entweder überlesen oder noch nicht gelesen wurde. Alles „Neue“ gibt es bereits als „Uraltes“. Ein Außerhalb des Textes gibt es nicht. Ein Außen der Lektüre eines Textes mag möglich sein, unterläuft aber den Text in seiner intentionalen Absicht.
Wahrheitsansprüche treten zugunsten von Interpretationsvorgängen zurück, weil der Faktor Zeit (und Raum) eine Rolle spielt und sich Wahrheit in der Frage nach der eingenommenen Perspektive entweder erschöpft oder immer wieder neu stellt. Die „Wahrheit“ des Textes ist, im Widerspruch zu seiner Bedeutung, immer nur momentan möglich.
Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt ein Prozess, der die festen Strukturen von Welt und Text auflöste und zu einer Neubewertung klassischer Positionen führte. Friedrich Nietzsche gilt als Vorbild für Anti-Logozentrismus, indem er Faktoren wie Zeichen und Geschichte im Verständnis von Welt Raum gibt. Es ist offensichtlich, dass der Urtext als Symbol für eine überzeitliche Instanz, die als Richtungsgeber fungieren soll, verloren geht. Der Diskurs der Moderne mit seinem antimetaphysischen Denken wird von Grammatik, Sprache, Rhetorik und Metaphern bestimmt. Es wird deutlich, dass es methodische Übereinstimmungen und Unterschiede in der Interpretation von Texten und ihrer Lebenswelt gibt.
Weitere Begriffe, die verwendet werden, sind „Sprachspiel“ und „Familienähnlichkeit“. Sie liefern eine theoretische Begründung für die Frage, ob ein Text und eine literarische Interpretation mit anderen Wissenschaftsdisziplinen in Verbindung gebracht werden kann. Sprache als Zeichensystem ist jetzt ein Erklärungsmodell. Entsprechungen bestimmen den Diskurs beim Sprachspiel, Vergleichbares gilt für die Familienähnlichkeit. Inwieweit ist es möglich, zwischen zwei Diskursmodellen (Literatur und Resilienz) Evidenz herzustellen? Was sind die Bedingungen dafür?
Ludwig Wittgenstein richtet sein Augenmerk nicht auf die Frage, was gemeinsam ist, sondern darauf, was an dem, was gemeinsam ist, gezeigt werden kann. Diese Phasenverschiebung ist entscheidend für die Einführung von Evidenz als Vermittlungskriterium. Das wahrgenommene Netz an Referenzen zeigt, wie kompliziert aber auch wie kombinierbar und verbunden alles sein kann. Sprache wird nicht mehr nur als Medium von Botschaften betrachtet, sondern als Quelle der Welt.
Jacques Derrida definiert die Sprache als Zitat, was darauf hindeutet, dass jede Art von Ausdruck bereits in einem anderen Diskurs angesiedelt ist und neu entdeckt (zitiert) werden kann. Es ist wichtig, den Text in seiner Offenheit wahrzunehmen und überall dort anzudocken, wo sich das „zeigen“ lässt. Textanalyse umfasst zwei Bereiche: Zeigen und Verstehen. Sie treffen sich in der Frage, was ein Text sein kann.
Die Hermeneutik als Verstehenslehre stellt einen Erwartungshorizont für einen Text her, nicht als eine autoritäre Größe, deren „Über-Ich“ als „Wesen“ des Textes fungiert. Die Hermeneutik zielt darauf ab, herauszufinden, inwieweit es möglich ist, die Offenheit des Textes methodisch zu verankern, sodass Hermeneutik und Dekonstruktion nicht mehr als gegensätzliche Konzepte nebeneinanderstehen, sondern im und durch den Text in Vermittlung treten. Dies dient als theoretischer Rahmen. Auch wird erläutert, unter welchen Umständen eine Verbindung von Resilienz und Literatur möglich ist und welche Methoden berücksichtigt werden können. Dass die Verbindung beider Disziplinen sinnstiftend ist, zeigt sich nicht nur daran, dass sie in der Lebenswelt heimisch sind, sondern auch daran, dass sie in ihrem Sosein dynamisch sind.
Wenn ich Emotionen, Gefühle, Empfindungen, subjektive Eindrücke, Lebensart und Lebensweise, existenzielle Fragen und persönliche Fragestellungen berücksichtige, wird Resilienz als der „verborgene Ort“ der Literatur greifbar. Dadurch ist die Interpretation von Literatur nicht nur die Analyse von Texten. Literatur wurde von Menschen für Menschen geschaffen. Die nachfolgenden Ausführungen dienen als Annäherung an ein theoretisch komplexes Instrumentarium, das den methodologischen Grundstein für die Darstellung der Absicht bildet, Resilienz und Literatur zu kombinieren.
4 Gorgias, 492, D.
5 Die Frage wird auch übersetzt mit: „Oheim, wie geht es dir?“, „Oheim, woran leidest du?“, „Oheim, was tut dir weh?“ usw.
6 in der Regel kümmert sich die Medizin um Gesundheit. Psychologie soll das seelisch-geistige Wohlbefinden verbessern. Literatur kann hier unterstützend wirken, indem sie dem Lesenden ermöglicht, sich mit seinen Fragen, Problemen, Ängsten, Hoffnungen oder seiner scheinbar ausweglosen Lebenssituation selbst auseinanderzusetzen.
7 Ein solcher Prozess der Auseinandersetzung oder Interpretation findet auf zwei ebenen statt: der narrativen und der persönlichen ebene. Die interpretation der Literatur (Literaturwissenschaft) deckt die narrative Ebene ab, während der Leser die persönliche Ebene einnimmt.
8 Selbst ein solch reflektierter und analytischer Autor wie thomas Mann ist in erster Linie „Erzähler“!
Interviewer: „Herr Professor,
vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung …“
Adorno: „Mir nicht.“
SPIEGEL-Interview mit Theodor W. Adorno, Mai 1969
Jedes Wort ist ein Vorurtheil. Nietzsche, WS, 55 / IV. 3, 215
Friedrich Nietzsche bedient sich in seiner Schrift Genealogie der Moral (1887) eines Argumentationsmusters, das im Sinne einer Strategie bzw. Technik der Selbstoptimierung gelesen werden kann. Die Genealogie, die Nietzsche wählt, ist der Geschichte und der Archäologie verwandt aber zugleich ihnen überlegen, weil sie in einen Prozess der Selbstkonstituierung mündet. Das bringt Wilhelm Schmidt so auf den Punkt:
Die Archäologie gilt der Befragung des Wissens sowie des Subjekts, das sich im Wissen konstituiert; die Genealogie untersucht die Praktiken (auch die Wahrheitsprozeduren), mit deren Hilfe die Subjekte in der Geschichte unterworfen wurden; sie geht einher mit einer Analyse der Machtbeziehungen; und schließlich ist die Lebenskunst die Formel für die Selbstkonstituierung des Subjekts, die auch eine bestimmte Art der Beziehung zur Wahrheit umfaßt. (Schmidt, 193f)
Anknüpfend an die Ausführungen Schmidts geht es darum, Praktiken für den Menschen aufzuzeigen, die sich als Darstellung von Strategien oder Techniken der Selbstausbildung beschreiben lassen. Solche Strategien sind im Spannungsfeld zwischen Finalität, Teleologie und Einmaligkeit bzw. Singularität anzusiedeln. Letztere bilden das Gegengewicht zur Verallgemeinerung und Abstraktion des Historismus.9 Nietzsche öffnet die Möglichkeit, jedes und alles als in seiner Einmaligkeit zu interpretieren. Jede Interpretation ist zwar an eine Perspektive als seine conditio sine qua non geschulte Möglichkeit gebunden,10 aber Interpretieren ist ein kreativer und produktiver Prozess, der uns erst die Welt als Welt wahrnehmen lässt. Lothar Jordan schreibt: „Interpretation ist nicht Auslegung, sondern Herstellung, nicht Reproduktion eines wie und seit wann auch immer bestehenden Sinnes, sondern Produktion“ (Jordan, 229). Interpretation ist für Nietzsche etwas Lebendiges. Jedes Lebendige ist die Manifestation von Interpretation, denn: „Der organische Prozeß setzt fortwährendes Interpretiren [sic] voraus.“ (KSA 12, 2[148])
Polysemisches Textgewebe
Die Grundlage jeder Interpretation ist der Text. Der Text kennt weder außen noch innen. In ihm verschmelzen Autor, Leser und Interpret im Akt der Lektüre. Texte geben „unendliche Spielmöglichkeiten“ (Barthes, 1976, 7) und unzählbare Deutungsmöglichkeiten. Die „Offenheit des Textgewebes“ (Barthes, 1976, 9) gibt der Interpretation Spielraum. Roland Barthes meint dazu: „Einen Text interpretieren heißt nicht, ihm einen (mehr oder weniger begründeten, mehr oder weniger freien) Sinn geben, heißt vielmehr abschätzen, aus welchem Pluralem er gebildet ist“ (Barthes, 1976, 9). Das bedeutet, dass jede Interpretation weder ein- noch ausgegrenzt werden kann, denn der „Text ist eine Galaxie von Signifikanten und nicht Struktur von Signifikaten“ (Barthes, 1976, 10).
Für Barthes ist jeder Text „polysemisch“ (Barthes, 1976, 11), also mehrdeutig und in seiner Begrifflichkeit frei, anders gesagt: er ist wandelbar. Dies korrespondiert mit dem Ich des Lesenden und dem Ich des Interpretierens, das schwer dingfest zu machen ist. Das Ich ist nicht festlegbar und gleicht in seiner Wandelbarkeit einer Momentaufnahme. Hermann Bahr äußert sich in Anlehnung an Ernst Machs einflussreichem Buch Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen (1886) um 1904 folgendermaßen:
„Das Ich ist unrettbar.“ Es ist nur ein Name. Es ist nur eine Illusion. Es ist ein Behelf, den wir praktisch brauchen, um unsere Vorstellungen zu ordnen. Es gibt nichts als Verbindungen von Farben, Tönen, Wärmen, Drücken, Räumen, Zeiten, und an diese Verbindungen sind Stimmungen, Gefühle und Willen gebunden. Alles ist in ewiger Veränderung. [...] Die Welt wird unablässig und indem sie wird, vernichtet sie sich unablässig. (Bahr, Dialog vom Tragischen, 97f)
In ähnlicher Weise argumentiert Barthes über das Ich11 im Bezug zum Text. Er zeigt in seinem Buch S/Z aus dem Jahre 1976, dass der Text nicht in „großen Mengen zu strukturieren“ (Barthes, 1976, 16) ist und „daß die Literatur selbst niemals mehr ist als nur ein Text: der einzige Text ist kein (induktiver) Zugang zu einem Modell, sondern Eingang zu einem Netz mit tausend Eingängen“ (Barthes, 1976, 16). Dieses Netzwerk ist bestimmt durch nachvollziehbare Rückschlüsse, die auf einer Strategie aufbauen, die qualitativ verstanden werden kann. Dabei ist der Akt der Lektüre mehr als ein Leseakt, denn: „gerade weil ich vergesse, lese ich“ (Barthes, 1976, 16). Der Text ist das Wiedererinnern des Eigenen und dient der Konstituierung des Subjekts. Programmatisch heißt es dazu bei Barthes:
Der Text ist in seiner Masse dem Sternenhimmel vergleichbar, flach und tief zugleich, glatt, ohne Randkonturen, ohne Merkpunkte. (Barthes, 1976, 18)
Es geht also um die Galaxie Text, die zu Deutendes und Deutenden einschließt sowie das Mögliche und Noch-Mögliche. Der Raum, den ein Text einnehmen kann, ist begrenzt und bestimmbar, seine Virulenz aber unbestimmbar und uneingrenzbar. Der Raum mag beschränkt sein, die Zeit, als Ausdruck der Vielgestaltigkeit der Deutungen / Meinungen, (Interpretationen, Auslegungen) ist es nicht. Deshalb ist jeder Text nicht als Ganzes strukturierbar, sondern immer nur soweit ich ihn begreife.12
Roland Barthes vermittelt in seinem Werk Das Reich der Zeichen