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Tommy Jaud

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Beschreibung

Über Resturlaub freut sich jeder! Seine Eltern wollen endlich mal Enkel. Seine Kumpels wollen, dass er sich endlich ein Eigenheim zulegt und sein Chef besteht darauf, dass das Apostroph im Firmenslogan da bleibt, wo es seit 37 Jahren steht. Als dann auch noch auf einer Hochzeitsfeier seine Freundin Kinderwünsche äußert, weiß der Brauerei-PR-Manager Peter ›Pitschi‹ Greulich (36), was er will: Raus aus der Provinz, raus aus seinem kleinbürgerlichen Leben. So schnell und so weit weg wie möglich. Keine zwei Tage später sitzt Peter an Bord des Iberia-Fluges 8743 nach Buenos Aires, wo er von einem Neuanfang am anderen Ende der Welt träumt. Doch statt la dolce vita wartet eine bizarre Kette von Missgeschicken und tragisch-komischen Unglücksfällen auf den Provinzflüchtling. Das hat er nun auf und davon…

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Seitenzahl: 313

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Tommy Jaud

Resturlaub

Das Zweitbuch

Roman

FISCHER E-Books

Roman

Inhalt

Für NinaDes kannst net machen, [...]Leberkäs mit HutDer Plan der EnteSchnitzelteppichPicknickerAber bitte mit SahneKorruptionPater Fadiga BoubaDie Frau ist rundFlitterflatterEinfach23 Anrufe in AbwesenheitTheory!Keks¿En efectivo?Santa Fe 1776Himmel über BayernDepplagDie Kerstin am Handy vom BederBuenas Aires?Mondgesicht+ 54TaxiNachtischSpitz!Piantaobienchensumm@yahoo.deAbuelaGabelmannScheißereiMilongaGäschdezahnbürschdleWer hat an der Uhr gedreht?BauchgeweihDance with me, baby!ChoreographieSpiderwomanKick it like BeckhamDas beste Bier der Welt+ 1 TagJetzt und schnellZu spätIch danke …Gegendarstellung

Für Nina

Des kannst net machen, weil des geht echt net.

Fränkische Weisheit

Leberkäs mit Hut

SPÄTESTENS WENN einer deiner besten Freunde dir einen Strafzettel hinter den Scheibenwischer klemmt, ist es Zeit, über ein paar grundsätzliche Dinge nachzudenken. Doch so weit war ich damals noch nicht. »Damals«, das ist jetzt genau vier Tage her. Wutschnaubend kämpfte ich mich an diesem Nachmittag durch die flirrende Sommerhitze der touristenverseuchten Bamberger Altstadt, vorbei an Großgruppen von schnatternden Japanern und Busladungen steifer Senioren. Ich wollte den Mann stellen, der mir den Strafzettel verpasst hatte: Checko. Und natürlich erwischte ich ihn dort, wo man ihn immer erwischt zur Mittagszeit: an einem der blankgescheuerten Holztische im Schlenkerla, einer über 300 Jahre alten Gaststätte. Das Schlenkerla ist eine Institution in Bamberg und es schenkt ausschließlich Bier aus, das so schmeckt, als seien gerade ein Schinken und eine Tüte Barbecue-Chips hineingefallen: das Aecht Schlenkerla Rauchbier.

Ich sah Checkos Uniform schon durchs Fenster, doch erst der Bierkrug in der linken Hand und die Leberkässemmel in der rechten ließen eine eindeutige Identifizierung zu: Uniform plus Leberkäs plus Bierkrug gleich Checko. Und da Checko sich schon vor langer Zeit aus seiner dunkelblauen Dienstkleidung herausgefuttert hatte, sah er inzwischen selbst ein wenig aus wie ein Leberkäs oder genauer, wegen der offiziellen Mütze, wie ein Leberkäs mit Hut. Durch die offene Tür betrat ich den dunklen Gastraum mit seiner niedrigen braunen Holzdecke und wurde von Babsi, der Bedienung, sofort mit einem herzlichen »Der Greulich!« begrüßt. Energisch zog ich mir einen der hellen Holzstühle mit dem Herz in der Lehne heran und hielt dem erschrockenen Checko mein frisch gezapftes Knöllchen vors Gesicht.

»Mensch Bidschi! Da gricht mer ja an Herzkaschber!«, stöhnte er in breitestem Mittagspausenfränkisch.

Ich setzte mich. Checko blickte zunächst auf meinen Strafzettel, dann auf mich und stellte erst dann seinen Bierkrug ab.

»Wenn du Touristen aufschreiben würdest statt Freunde, würde dich auch keiner erschrecken!«

Ich muss wohl ziemlich energisch geklungen haben, denn nicht nur Checko, sondern auch die dralle Babsi am Ausschank warf mir einen missbilligenden Blick zu. Checko wischte sich einen Senfrest aus dem Bart, kaute zu Ende und deutete auf mein Knöllchen.

»Der blaue Golf vor der Reinichung?«

»Der blaue Golf vor der Reinichung, genau!«

»Der wo im eingeschränkten Haldeverbot g’standen war für mehr als wie fünf Minuden?«

Ich konnte es nicht fassen. Da geht man zusammen zur Schule, fährt neun Mal zusammen nach Mallorca und trinkt eine Million Bier miteinander, und dann so was! Ich atmete tief durch, dann legte ich die Hand auf Checkos Schulter. Irgendwas Grundsätzliches schien da zwischen uns gerade schiefzulaufen.

»Checko, du weißt, dass das MEIN Golf ist! Der Golf, den ich seit drei Jahren habe. Der Golf, mit dem wir beide ab und zu nach Nürnberg fahren oder ins Freibad?«

Checko nickte.

»Klar, dein Golf. Ich kenn doch deinen ›Bitte kein Bit‹-Aufkleber hinten drauf!«

»Und warum zum Teufel schreibst du mich dann auf?«, schnaubte ich und hielt das Knöllchen mit Zeigefinger und Daumen über Checkos Rauchbier. Ungerührt schob er den gesamten Rest seines Brötchens in sich hinein. Offenbar hatte Checko Angst, wegen einer überraschenden Sturmflut oder eines fränkisch-bayerischen Bürgerkrieges wochenlang nichts mehr zu essen zu bekommen. Die dralle Bedienung mit der gezimmerten CSU-Frisur nickte fränkisch vom Ausschank zu mir herüber. Richtig – unser fränkischer Akzent manifestiert sich nicht nur in der Sprache selbst, sondern auch in Gestik und Mimik. So beinhaltet der soeben von Babsi dargebotene, typisch fränkische Nicker meist zugleich Angriffslust, Übellaunigkeit, aber auch eine gewisse Durchsetzungsfähigkeit.

»Was grichste denn?«

»Nix!«

»Des geht net!«

»Dann halt … a kleines Bier!«

»Hammer net!«

»Mein Gott, dann halt auch a Rauchbier!«

»Na also!«

Checko hatte seine Leberkässemmel in der Zwischenzeit vollständig vernichtet. »Warum ich dich aufschreib?«, wiederholte er und schnappte sich den Strafzettel, noch bevor ich ihn in seinen Krug fallen lassen konnte. »Da steht’s doch: Du warst in der Kasernstraße länger als wie fünf Minuden im eingeschränkten Haldeverbot g’standen!«

»Checko! Biene und ich wohnen da! Ich muss irgendwo parken!«

»Des habt ihr doch gewusst, bevor ihr da hingezoochen seid!«

Ich warf den Strafzettel in Checkos Krug.

»Männo! Lass des!«

Ich schaute mich in der rustikalen Stube nach Hilfe um. Es bot sich keine an. Kein Jack Baur von der CTU und auch kein Bruce Willis. Nicht mal Johannes B. Kerner, der Checko mit einem betroffenen Blick und einem »Und das ist mir jetzt persönlich wichtig« hätte einschläfern können. Stattdessen blickte ich in die verständnislosen Augen der drallen Babsi, die einem älteren Touristen mit einer Radkarte gerade eine Spezi gebracht hatte.

Mein Seidla Rauchbier kam und ich nahm einen großen, ersten Schluck. Wie immer schmeckte es scheußlich am Anfang, Rauchbier wird nämlich erst ab dem dritten Krug genießbar.

»Ja, wenn Sie falsch g’standen sind, dann sind Sie falsch g’standen!«, kommentierte Babsi achselzuckend und stapfte in Richtung Ausschank. Checko hatte inzwischen die in Rauchbier getränkte Bedrohung unserer Freundschaft zum Trocknen über zwei Bierdeckelhäuschen gelegt.

»Des tut mir jetzt echt Leid, Bidschi, aber ich kann da kei Ausnahme machen.«

»Aber wir sind doch Freunde!«, protestierte ich.

»Ja glar sinn mir Freunde, aber trotzdem kann ich net des eine Audo aufschreim und des andere net, bloß weil ich jetzt jemanden kenn –«

»Jemanden!?!«

»Na, dich halt!«

Ich zog den Strafzettel von den Bierdeckelhäuschen ab und warf ihn wieder in Checkos Krug.

»Männo!«, sagte Checko und klang dabei wie ein siebenjähriger Rotzlöffel, dem man im Freibad sein Wassereis wegnimmt.

»Schreib doch die Schwaben auf, die sich mit ihrer Klorollen-C-Klasse quer vors Rathaus stellen, oder die ganzen Fischköpfe, fremde Kennzeichen halt!«

»Nanana!«, schimpfte Babsi. »Mir müssen scho a weng dollerand sei!«

»Des find ich a!«, ergänzte der Radtourist vom Nachbartisch ungefragt.

»Du nimmst ihn also nicht zurück?«, fragte ich Checko, wobei ich den Strafzettel genüsslich in den übrig gebliebenen Leberkäs-Senf drückte.

»Des kann ich net machen, weil –«

»Weil –?«

»Des geht echt net! Die Daden sind längst in die Zendrale g’funkt.«

Am liebsten hätte ich auch Checko mitsamt seiner »Daden« in die bescheuerte Zentrale gefunkt. Checko, der sich seinen Spitznamen bereits in der Grundschule verdient hatte, weil er immer der Letzte war, der irgendwas begriff. Checko, der sich inzwischen munter über die 100-Kilogrenze gefuttert hat und als einziger meiner Freunde einen Vollbart trägt. Checko, der mit seinen zarten 36 Jahren immer noch bei seinen Eltern wohnt und lieber Playstation spielt als mit Frauen auszugehen.

»Ordnung muss halt amal sein, Greulich«, tröstete mich die dralle Babsi.

»Genau!«, bestätigte der Radtourist.

Ich trank frustriert mein Bier leer und verabschiedete mich von Checko.

»Okay. Dann bis heute Abend?«

»Bis heut Abend!«

Ich war schon an der Tür, da drehte ich mich noch einmal zu Checko um. Er tat mir plötzlich Leid, wie er so gefangen war in seiner kleinen Welt des geordneten, ruhenden Verkehrs. Auch er schaute noch einmal zu mir rüber, wie ein Kind, das gemerkt hat, dass es etwas falsch gemacht hat, aber noch nicht so ganz weiß, was.

»Ich geb dir nächste Woch ä Bier aus auf Malle, okay?«, lautete sein Angebot der Wiedergutmachung.

»Ach Gott, ja. Malle –«, seufzte ich. Unseren gemeinsamen Urlaub hatte ich schon wieder verdrängt. Wahrscheinlich, weil ich mich nicht gerade übermäßig freute auf den mittlerweile zehnten Trip nach El Arenal. Und dann stand da auch noch eine klitzekleine Kleinigkeit zwischen mir und diesem Urlaub: die Hochzeit meines besten Freundes.

Der Plan der Ente

DIE HOCHZEIT MEINES besten Freundes war eigentlich die Hochzeit meines letzten Freundes. Arne war aus einem einfachen Grund mein »letzter« Freund: weil er von all meinen Freunden der Einzige war, mit dem ich über alles reden konnte und in dessen Augen noch ein wenig Restleben und Rebellion funkelten. Arne hielt Café del Mar nicht für eine neue Eisdiele und Drum & Bass nicht für einen neuen Drehtabak. Und nun wollte er ausgerechnet Biggy heiraten! Oder sie ihn. Jedenfalls stand nach Jahren des Hin und Her der Termin fest, an dem unsere Freundschaft auf Eis gelegt werden würde: diesen Samstag.

Ich konnte ihn einfach nicht verstehen. Arne, der drahtige Modellathlet und siebenfache oberfränkische Meister im Rudern, wollte sich tatsächlich ein Leben lang an eine Frau ketten, die ebenso pummelig wie schlecht gelaunt war. Aber vielleicht war sie es ja nur, wenn ich in der Nähe war, denn die Antipathie bestand seit Jahren auf Gegenseitigkeit. Fast hätte man meinen können, dass sie eifersüchtig war auf den Spaß, den Arne und ich immer hatten. Am liebsten hätte sie Arne wohl den Umgang mit mir verboten, aber weil das nicht ging, regte sie sich nur auf. Wenn Biggy sich aufregte, und das tat sie eigentlich dauernd, dann ähnelte ihre Stimme dem Quaken einer Ente. Ich fand es eine gute Idee, sie auch so zu nennen.

»Heirate sie nicht!«, hatte ich Abend für Abend beim Bier zu Arne gesagt. So oft hatte ich es wiederholt, dass Arne gar kein Bier mehr mit mir trinken wollte. Also änderte ich meine Meinung in »Mach was du willst!« Wenigstens ersparte es mir meine Ehrlichkeit, Trauzeuge zu sein, ich konnte dem Trauerspiel also mehr oder weniger unbeteiligt beiwohnen. Sich trauen und Trauer – für mich lag das eben eng beisammen. Doch Arne traute sich so einiges: Arne wollte gleich den kompletten Dreierpack:

Heirat, Baby, Haus.

Quak! Quak! Quak!

Ich wusste, dass es nicht sein Plan war, sondern der Plan der Ente oder, wie ich ihn nannte, die Operation »Enduring Boredom«: Arne vor den Altar zerren, schnell Kinder machen und wegschließen in einem Einfamilienhaus mit Kiesauffahrt, das mindestens eine Viertelstunde von mir und der nächsten Kneipe entfernt ist. Ich würde meinen besten Freund an eine Frau verlieren, es war nur eine Frage der Zeit. So, wie ich Harry, Heiko und Markus verloren hatte. Irgendein schrecklicher Virus ging um, der alle um die dreißig dazu brachte, sich gegenseitig Ringe über die Finger zu stülpen und aufs Land zu ziehen mit dem einzigen Zweck, ein Kind nach dem anderen aus dicken, aber glücklichen Müttern purzeln zu lassen. Ich fragte mich, warum die Weltgesundheitsorganisation nichts gegen so einen Virus unternahm. Wenigstens war ich dagegen immun. Denn ich wollte weder einen Ring noch Kinder und auch kein Haus mit Kiesauffahrt, von dem man »höchstens eine Viertelstunde in die Stadt« braucht. Ich habe ohnehin nie verstanden, warum man nicht gleich in der Stadt bleibt, wenn es einem so wichtig ist, dass man »höchstens eine Viertelstunde« dorthin braucht.

»Mit Mitte dreißig muss es knirschen«, sagte Arne schon kurz nachdem er mit der Ente zusammen war, und er meinte damit, dass man spätestens dann stolzer Besitzer einer Kiesauffahrt sein sollte, mit dem entsprechenden Haus dahinter.

You say »Auffahrt«, I say »Quak!«

Ich fand nicht, dass mit Mitte dreißig irgendwas knirschen sollte, es sollte eher was rieseln, und zwar der feine Sand eines schönen Atlantikstrandes, von dem man sich gegen Nachmittag auf die Terrasse seines schönen Ferienhauses begibt. Mit einer schönen Frau, aus der nicht ständig Kinder purzeln.

Und jetzt kommt der einzige Schwachpunkt in meiner schönen Argumentationskette: Ich war von diesem Ziel genauso weit entfernt wie Arne. Der Unterschied bestand lediglich darin, dass ich davon träumte und er nicht.

Ja, ich hatte Angst. Angst davor, mich früher oder später fügsam einzureihen in den bereihenhausten Stillstand provinzieller Zufriedenheit, Vater eines leicht übergewichtigen Sohnes zu werden und schließlich leicht übergewichtig exakt dort zu sterben, wo ich geboren wurde: in einer oberfränkischen Kleinstadt, in der ein Bierfest mit dem Namen Sandkerwa der absolute Höhepunkt des Jahres ist und den meisten das nur sechzig Kilometer entfernte Nürnberg schon »zu groß« oder »zu weit weg« ist.

Und so war es kein Wunder, dass eine Frage immer öfter auftauchte. Sie lauerte mir bei der Arbeit auf, sie überraschte mich bei meinen Radtouren, ja manchmal riss sie mich sogar aus dem Schlaf. Die Frage lautete:

 

Kann es das schon gewesen sein?

Peter Greulich, bis zu seiner Pensionierung Leiter der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit und Marketing von Seppelpeter’s Spezialbräu, verstarb am 27. 11. 2056 in Bamberg-Strullendorf. Seiner Ehefrau Sabine Greulich und seinen drei leicht übergewichtigen Söhnen hinterlässt er ein Reihenhaus mit Kiesauffahrt und einen sauber polierten 5er BMW.

Würde ich wirklich in dieser putzigen, oberfränkischen Stadt wohnen bleiben, in der nicht mal Deutschlehrer meinen Namen richtig aussprechen konnten? Dema verfehlt, Beder!

In einer Stadt, in der man zu einem französischen Croissant Budderhörnla sagt und Adela statt Tschüß? Jeden Tag spürte ich ein wenig deutlicher, dass es nicht mehr meine Welt war, so gern ich sie auch mochte. Ich stellte mir ein anderes Leben vor, träumte von einer richtigen Stadt mit Strand, in der man mit seinen Freunden abends in einem Café sitzen konnte, um dann später noch den einen oder anderen Cocktail in einer Bar zu vernichten. Einer Stadt, in der Electro liefen statt Rod Stewart und House statt Udo Jürgens. Unsere jährlichen Männerurlaube taugten nicht wirklich als Fluchtversuch, denn dort endeten eben diese Träume in eher teutonisch geprägten Strandbars, in denen wir alle zusammen »Geh zu Hause, alte Scheiße« grölten, um dann gegen vier Uhr rotzbesoffen in unser Mittelklassehotel zu fallen. Am nächsten Tag verbrannten wir uns dann wieder unsere Rücken, weil wir uns nicht gegenseitig eincremen wollten aus Angst, das sähe schwul aus. Letztendlich waren wir auch nicht besser als Schlenkerla-Babsi und die quer parkenden Klorollen-Schwaben vor dem Hotel Luitpold.

Vor vier Jahren war es dann vorbei mit den puren Männer-Urlauben, unsere Freundinnen und Frauen wollten mit und seit diesem Punkt wurde alles braver, die Kater erträglicher, die Rücken weniger rot. Vor zwei Jahren dachte ich zum ersten Mal, dass es eigentlich keinen Grund mehr gab, überhaupt noch wegzufahren. Die Zeit war vorbei. Unsere und die der Ballermann-Partymeile sowieso. Nur schien sich das noch nicht herumgesprochen zu haben bis zu meinem Freundeskreis, denn noch bevor ich auch nur einen Versuch unternehmen konnte, wenigstens einmal das Hotel zu wechseln, präsentierte mir Biene vor zwei Monaten den Buchungsbeleg für drei Wochen »El Corazón, Arenal«.

»Drei Wochen?«

Ich hatte zwar noch ziemlich viele Tage Resturlaub vom vergangenen Jahr bis spät in den Sommer retten können, aber natürlich hatte ich nicht vor, fast einen ganzen Monat in El Arenal zu verbringen.

»Ab der zweiten Woche erholt man sich erst richtig«, erklärte mir meine Freundin Biene.

»Sagen die im Reisebüro?«

»Stand in der Freundin!«

Natürlich. Einen Artikel mit dem Thema Kann es das schon gewesen sein? hatte ich noch nie da drin entdeckt.

»Freust du dich gar nicht?«

»Doch«, log ich, »ich freu mich sogar ziemlich!«

Dann schnappte ich mir mein Fahrrad und fuhr eine Stunde über die Felder, so wie ich es immer tat, wenn ich nicht weiterwusste. 17,3 Kilometer stand danach auf dem Tacho.

Weiter weg kam ich nicht.

Noch nicht.

Schnitzelteppich

»WIE? NACH NÜRNBERCH?«, lautete Checkos entsetzte Frage, als er in einem grünen Sweatshirt verschwitzt am Bahnhof auftauchte. Ich hatte schon eine Weile am Fahrkartenautomaten gestanden mit einer bauchigen Sporttasche, in der ich die Requisiten für Arnes Junggesellenabend aufbewahrte. Vor einer Woche waren wir noch fast zwanzig Mann gewesen und alle fanden die Idee »dodal subber«, mit Arne mal so richtig einen draufzumachen, bevor die Ente ihm den Auslauf verbietet. Leider legte sich die Begeisterung der Freunde und Kollegen in dem Maße, in dem der Junggesellenabend näher kam, und nun standen wir nur noch zu sechst hier und warteten auf den Regionalzug, der uns nach Nürnberg bringen sollte: Checko, Jason, Arne sowie Arnes Redaktionskollegen bei Deutschlands viertkleinster Jagdzeitschrift. Sie hießen beide Klaus und waren nicht wirklich leicht auseinander zu halten, aber das war nicht schlimm, weil der einzige Unterschied zwischen Klaus und Klaus darin besteht, dass der eine Klaus zwei Kinder hat und der andere eins. Beide wohnen in einer Doppelhaushälfte in Strullendorf, beide fahren einen grünen Range Rover, beide sind knapp unter 40 und tragen einen Schnurrbart.

Alles hatte ich präzise vorbereitet: die Kneipentour, peinliche Junggesellenspiele und einen finalen Besuch in einer Tabledance-Bar, deren Inhaber ich schon vorgewarnt hatte.

Erst jetzt, fünf Minuten vor Abfahrt des Zuges, kam mir der Gedanke, dass ich vielleicht auch meine Freunde in die Planung dieses denkwürdigen Abends hätte einbeziehen sollen. Um ganz genau zu sein, kam mir der Gedanke in der Sekunde, als Checko »Wie? Nach Nürnberch?« fragte.

Jason, unser franko-amerikanischer Ex-GI, blickte ebenfalls recht ängstlich auf die Anzeigetafel für die Abfahrt der Züge und der kleinere von Arnes Kollegen aus der Wald & Wild-Redaktion zündete sich nervös einen Tankstellen-Zigarillo an. Auch der Rest meiner Gruppe verstand unter einem Abend in Nürnberg offenbar eher eine Bedrohung als eine Party.

»Jetzt kommt schon, das gibt einen Riesenspaß!«, versuchte ich die anderen zu begeistern und wenigstens Arne nickte in einer Mischung aus unsicherer Vorfreude und versteckter Anerkennung.

»Wird schon lustig!«

»Wir sollen jetzt echt alle nach Nürnberg fahren?«, bombardierte nun auch Jason meine Abendplanung.

»Ja, Jason. Nur Nürnberg. Nicht Bagdad. Du bist also heute Nacht noch zurück!«

»Okay, aber es ist ja jetzt schon NACH acht!«, ergänzte er.

Ich fand das reichlich kleinkariert für jemanden, der erst vor drei Jahren von Chicago nach Bamberg gezogen war, und gab zu bedenken, dass es keinem von uns schaden würde, mal woanders zu feiern. Auf Gleis zwei fuhr inzwischen quietschend unser Regionalexpress nach Nürnberg ein.

»Das ist ja auch ’ne klasse Idee von dir und so«, versuchte Jason mich zu beruhigen, »aber ich glaub, wir müssen morgen alle ziemlich früh raus!«

Das war der Punkt, an dem ich ein ganz kleines bisschen sauer wurde.

»Hallo? Wir feiern Arnes Junggesellenabschied. Da werden wir doch ausnahmsweise mal bis nach der Tagesschau aufbleiben können, oder?«

»Also ganz ehrlich, Nürnberg ist mir jetzt a weng zu weit!«, gab nun auch Arnes zweiter Redaktionskollege zu.

»Zu weit von was?«, hakte ich nach.

»Na, von hier!«

Es hatte keinen Zweck. Ich wusste es. Der Einzige, der mitgefahren wäre, da war ich mir sicher, war Arne. Doch alleine feiern wollten wir natürlich auch nicht. Behutsam zog er mich einen Schritt beiseite.

»Du, Pitschi, können wir den Abend nicht auch hier machen? Die Kneipentour und so? Ich meine, wir können doch zu zweit irgendwann anders nach Nürnberg, oder?«

»Irgendwann anders? Du meinst, wenn uns zwei ungeduschte Zivis zum Tabledance rollen müssen!«

Ein wenig hilflos zuckte Arne mit den Schultern.

»Ja, wenn keiner mitwill, bringt’s ja auch nix!«

Ich gab auf.

»Schon gut«, sagte ich, »wir bleiben hier!«

Es brach Jubel aus und ich sah regungslos zu, wie sich die Türen des Zuges nach Nürnberg wieder schlossen. Und natürlich wusste ich, welche Frage man mir jetzt stellen würde – die gleiche Frage, die wir uns seit den Achtzigern fast täglich stellten:

»Und Pitschi, wohin? Mahr’s Bräu oder Seppelpeter’s?«

Weil ich für Seppelpeter’s arbeitete, wussten sie, was ich sagen würde. Wir gingen also ins Mahr’s Bräu, eine rustikale Brauereigaststätte mit einem äußerst süffigen Bier, das von großen Eichenholzfässern direkt in Steinkrüge gezapft wurde. Donnerstag war Schnitzeltag im Mahr’s Bräu und das seit Jahrhunderten. Nur 1945, als die US Airforce die gastronomische Landschaft Bambergs geringfügig umstrukturierte, fiel der Schnitzeltag zweimal aus. Für viele Bamberger ist bis zum heutigen Tage unverständlich, wie die Bomberpiloten zurückfliegen konnten, ohne auch nur einen Bissen der fränkischen Bratwürste, a Schäuferla oder ein Riesenschnitzel probiert zu haben. Schnitzel, die noch immer weit über den Tellerrand schauen, ganz im Gegensatz zu den Leuten, die sie Woche für Woche dort bestellen. Unsere Gruppe vergrößerte sich, denn im Hof des Mahr’s Bräu saß Arnes Kumpel Erich an einem großen Holztisch und las bei einem Seidla Lagerbier im Fränkischen Tag. Erich war Deutschlands größter Sportjournalist. Mit seinen 1,97 durfte er beim Fränkischen Tag an einem maßgefertigten Tisch Hetzartikel über den FC Bayern verfassen. Für den größten Bayern-Hasser Oberfrankens ein Traumjob.

»Und? Was steht drin?«, fragte ich zur Begrüßung.

»Die Feuerwehr in Forchheim hat jetzt endlich ihr neues Löschgerät!«, grinste Erich. »Ach … und Bayern hat verloren!«

»Freut mich für dich!«, sagte ich und setzte mich zu ihm. Arnes zweitwichtigster Tag im Leben fand also ausgerechnet in der Kneipe statt, in der wir ohnehin die meisten Abende verbrachten. Was sollte ich machen? Es war nicht mein Abend, sondern Arnes. Also bestellte auch ich mir einen halben Liter Bier und ein LKW-Felgen-großes Schnitzel.

»Subber Schnitzel!«, schmatzte Checko anerkennend und ich nickte. Arne hingegen interessierte sich eher für meine Sporttasche als für die panierten Schweinelappen.

»Aber jetzt sag doch mal, Pitschi, was hast du dir denn ausgedacht für heute?«

»Genau«, fragte auch Erich, »was ist da drin?«

Da war viel drin, denn ich hatte mir so einiges ausgedacht und ich wollte es eigentlich auch gerade erklären, als das Unfassbare geschah: Jasons Frau Miriam kam strahlend in den Gastraum, sagte allen brav hallo und setzte sich zu uns, als sei das die normalste Sache der Welt.

»Na ihr?«, war das Erste und Letzte, was sie sagte.

Eine Frau! Am Junggesellenabend! Ich musste etwas tun.

Ich tat etwas.

Fünf Minuten später stand »Miri« beleidigt auf und ich war der Depp.

»Des kannste net machen, Pitschi!«, ermahnte mich der kleinere der beiden Wald & Wild-Kläuse kopfschüttelnd, »die Miri is’ extra wegen dem Arne gekommen!«

»Doch, kann ich«, sagte ich, »weil wir nämlich einen Junggesellenabend feiern und keine Hausfrauen-Tupperparty und weil ich noch nie was davon gehört habe, dass man da seine Partner mitbringt! Und weil ich finde, dass man der Miri das auch sagen kann!«

Konnte man offenbar nicht, denn vor lauter Kopfschütteln wurden inzwischen die ersten Riesenschnitzel kalt, mal abgesehen davon, dass wir jetzt nur noch zu sechst waren, weil Jason vor der Gastwirtschaft mit seiner Frau diskutieren musste.

Dann zog der größere der Kläuse sein Handy aus der Tasche und schrieb eine SMS. Als er merkte, dass ihn alle anguckten, sagte er kleinlaut: »Ich schreib meiner Maus. Dass sie net mehr kommen braucht.«

Arne lachte laut auf, und wenn Arne einmal richtig lachte, dann war das so laut, dass selbst der Feuerwehr in Forchheim ihr neues Löschgerät vor Schreck umfallen konnte.

Jason kam nicht mehr zurück ins Mahr’s Bräu. Wie ich am nächsten Tag erfahren sollte, hatte er einen heftigen Streit mit seiner Miriam. Auch meine lustigen Junggesellenspielchen entpuppten sich als Fiasko. Ich hatte Umschläge mit Aufgaben für alle vorbereitet, für deren Erledigung es Punkte gab. Zwei Würfel entschieden, wer einen Umschlag ziehen und die Aufgabe lösen musste. Wer sich weigerte, musste eine Runde Bier zahlen. Was ich in der Tat nicht bedacht hatte, war, die schwierigen Aufgaben an das Ende des Abends zu packen. Und natürlich erwischte es als allerersten Checko. Mit knallrotem Kopf saß er da und verlas die Aufgabe, wie ein pubertierender Viertklässer seine heimlich verfasste Liebeserklärung an die Klassenschönste. »Blase Sandy auf und bestell ihr eine Brezel ohne zu lachen.«

Checko blickte mich an.

»Wer is’n Sandy?«

Schweigend reichte ich Checko eine verschweißte Packung, aus der uns eine billige Plastik-Sexpuppe mit deformierten Augen und geöffnetem Mund anstarrte.

»Heilicher«, stöhnte Checko. »Was is’n mit der bassiert?«

»Ganz einfach«, lachte Arne, »die hat gerade erfahren, wer sie auspackt!«

Und während Erich fast sein Bier ausspuckte vor Lachen, hielt der arme Checko das halb durchsichtige Päckchen noch immer in seinen Händen wie eine Zeitbombe.

»Und? Was soll ich’n jetzt machen?«

»Aufblasen und Brezel bestellen ohne zu lachen«, schmunzelte ich.

»Des kannst net machen!«, protestierte der kleinere Klaus und sein größerer Kollege gab ihm Recht: »Stimmt, des kannste net bringen!«

Checko ließ das Plastikpaket verschämt unter dem Tisch verschwinden. Erschöpft lehnte ich mich zurück. Womöglich war es tatsächlich die falsche Aufgabe am falschen Ort für die falsche Person in der falschen Stadt. Also ließ ich Checko seine »Strafrunde« zahlen und informierte die Trinkgenossen über meinen verrückten Plan, nach jeder Runde für eine frische Aufgabe »auf einen neuen Keller« zu ziehen, wie man die Biergärten in Bamberg nennt.

»Aber mir sitzen doch grad so schön«, protestierte Checko. Arne zuckte mit den Schultern und ich musste einsehen, dass mein Plan für einen Donnerstagabend wohl nun wirklich einen Tacken zu verrückt war. Und dass keiner der Anwesenden meine Junggesellenspaß-Aufgaben löste, muss ich wohl nicht mehr erwähnen. Sportjournalist Erich, der den Nachbartisch dazu bringen sollte, seine angeblich verlorenen Kontaktlinsen zu suchen, weigerte sich mit der Begründung, es sei jemand vom DFB in der Wirtschaft. Einer der Wald & Wild-Kläuse fand es unhygienisch, aus den Schuhen der Bedienung Sekt zu trinken, womit er ja auch Recht hatte, denn ich hatte bei dieser Aufgabe die roten Lackstiefel einer Nürnberger Table-Tänzerin im Kopf gehabt und nicht die Deichmann-Wanderschuhe der moppeligen Bedienung. Gegen elf verabschiedeten sich Arnes Kollegen, kurz darauf machte Checko die Biege mit der Begründung, er hätte irgendwie einen komischen Kopf. Das fand ich ja seit Jahren. Auch Erich verschwand, ihm war mal wieder flau im Magen. Und so endete der wohl jämmerlichste Junggesellenabend in der Geschichte Bambergs noch vor elf Uhr in einem lauschigen Biergarten an einem hölzernen Zehnertisch, an dem nur noch Arne und ich saßen.

Ratlos schüttelte ich mit dem Kopf.

»Ich versteh das nicht. Wie kann man in dem Alter schon so spießig sein?«

Arne zuckte mit den Schultern.

»Wie meinst’n du das, ›in dem Alter‹? Wir gehen doch alle auf die vierzig zu!«

»Danke, ich hab’s seit Jahren erfolgreich verdrängt!«

»Mensch Pitschi, jetzt überleg doch mal, wer eben hier saß! Der Erich mit seinem nervösen Magen, die beiden Valium-Kläuse, ein frisch eingebürgerter Tennishallen-Pächter aus Chicago und Checko.«

»Stimmt«, sagte ich, »wer so ’ne Gästeliste kriegt, der plant keine Koksparty mit südamerikanischen Models!«

»Eben! Du kennst südamerikanische Models?«

Ratlos schaute ich Arne an, dann lachten wir beide für einen Moment.

»Hast du vielleicht ’ne Idee, wo man in Bamberg kurz vor Mitternacht noch neue Freunde herkriegt?«

Lachend legte Arne seinen Arm um meine Schulter und hob seinen Krug zum Anstoßen: »Hier im Mahr’s Bräu. Mich!«

»Dich kenn ich doch schon«, seufzte ich und hob auch meinen Krug, »abgesehen davon biste in zwei Tagen unter der Haube!«

»Und in fünf Monaten Vater«, ergänzte Arne stolz.

»Aber du bist mein bester Freund! Du kannst doch nicht so einfach heiraten und eine Frau schwängern! Ich meine, das spricht man doch ab!«

»Oh doch! Und du solltest das auch!«

»Was? Es absprechen?«

»Heiraten! Im Ernst, Pitschi. Deine Biene ist doch ’ne Süße. Worauf wartest du denn noch?«

»Auf südamerikanische Models!«

»Spinner! Jetzt im Ernst! Auf was wartest du?«

Ich war ganz froh, dass die Bedienung ausgerechnet in diesem Augenblick an unseren Tisch kam, um abzukassieren. Ich hätte die Antwort nämlich nicht gewusst.

»Kriegen wir noch was?«, fragte ich.

»Drinnen!«

Gemeinsam zogen Arne und ich also in die holzverkleidete Gaststube, wo wir einen Platz direkt neben dem großen, grünen Kachelofen bekamen.

»Aber einmal die Woche heben wir noch einen, oder?«, fragte ich mit fast bettelndem Tonfall.

»Bestimmt!«, beschwor Arne, »ich zieh vielleicht ein bisschen weiter raus und werd Papa, aber ich bin doch deswegen noch lange nicht aus der Welt, oder?«

»Eben. Es gibt ja Telefon«, erwiderte ich trotzig.

»Ach, Pitschi.«

»Du bist halt der Einzige, mit dem ich mich noch normal unterhalten kann!«

»Das hört ja aber doch nicht auf, nur weil ich Vater werde –«

»… heirate und rausziehe!«

»Vielleicht wird’s ein bisschen weniger –«

»Was ist mit Heiko, Harry und Markus?«

»Was soll mit denen sein, keine Ahnung?! Lange nicht gesehen!«

»Siehste! Sind alle rausgezogen mit Kind und Kegel. Wie vom Erdbeben verschwunden.«

»Erdboden.«

»Oder so.«

Wir waren beide ziemlich betrunken zu dem Zeitpunkt.

»Ich muss das ja nicht so machen wie die!«, tröstete mich Arne.

Nein, musste er nicht. Würde er aber.

»Weißt du noch«, setzte ich an, »was wir für einen Spaß hatten, die letzten Jahre? Wie wir unterm Rathausbogen besoffen ›Kein Schwein ruft mich an‹ für die Touristen gesungen haben? Wie wir mit dem Video-Beamer von der Uni Pornos aufs Karl-May-Museum projiziert haben oder wie du die Ente im Park geschossen und gegrillt hast, weil der McDonalds schon zuhatte?«

Klar wusste er es noch. Er war ja dabei gewesen. Trotzdem hatte er eine andere Sichtweise auf die Dinge.

»Mensch, Pitschi«, sagte er dann immer und so auch jetzt, »Pitschi, das Leben geht weiter. Das war lustig, aber alles geht weiter. Wir können doch nicht bis achtzig um die Häuser ziehen und Frauen anquatschen. Wir müssen doch auch mal zur Ruhe kommen!«

Ich schüttelte mit dem Kopf.

»Es gibt einen Unterschied zwischen zur Ruhe kommen und tot sein.«

»WIR verändern uns ja, Pitschi, DU bist derjenige, der stehen bleibt.«

Nachdenklich schaute ich Arne an. Dann fing ich die Bedienung ab, um uns noch zwei Schnitt zu bestellen, wie die halben Abschlussbiere in Bamberg heißen.

»Des geht leider nimmer«, lautete die ebenso freundliche wie bestimmte Antwort.

»Warum?«, wollte ich wissen und wurde auf die große Hirschuhr verwiesen, die direkt über uns hing und auf Mitternacht zeigte. Wir waren eben in Bamberg und nicht in Bangkok.

»Komm, lass«, beruhigte mich Arne. »Ist gut für heute.«

»Unser letztes Bier war das!«, stöhnte ich.

Arne blickte mich kopfschüttelnd an: »Manchmal versteh ich nicht, warum du so unzufrieden bist. Du hast eine liebe Freundin, du hast einen Job und du wohnst in einer Stadt, die so schön ist, dass jeden Tag Hunderte von Touristen kommen!«

»Ja, aber die fahren am Abend wieder weg!«

»Biene bleibt!«

»Hab ich dir doch erzählt: Sie könnte meine Schwester sein inzwischen!«

»Weil du sie so behandelst! Und, das darfst du nicht vergessen in den Zeiten von Hartz 4 und so: Du hast einen klasse Job bei Seppelpeter’s!«

»Ich hab einen Chef, der mich hasst!«

»Dann freu dich wenigstens auf den Urlaub!«

»Da will ich auch nicht hin!«

»Dann wirste wohl auswandern müssen und ein komplett neues Leben anfangen!«

»So sieht’s aus!«

 

Schweigend leerten wir unsere Steinkrüge. Dann bliesen wir Sandy auf und bestellten ihr eine Brezel ohne zu lachen.

Picknicker

KARL-HEINZ SEPPELPETER starb einfach nicht. Er tat es schon mal deswegen nicht, weil er wusste, dass ich noch während der Beerdigung sein heiß geliebtes Apostroph hinter Seppelpeter’s Spezial’s gestrichen und alkoholfreies Bier ins Sortiment aufgenommen hätte. Da Karl-Heinz Seppelpeter der Chef der gleichnamigen Familienbrauerei war, wusste er all diese Neuerungen auf eine ebenso einfache wie effiziente Art und Weise zu verhindern: indem er am Leben blieb.

Wir nannten Karl-Heinz Seppelpeter alle den »jungen Seppelpeter«. Nicht, weil er so jung war, sondern weil er der Sohn vom alten Seppelpeter war. Der junge Seppelpeter war ein Mann, der einen Kasten Bier zwar nicht mehr tragen, aber immer noch trinken konnte. Der junge Seppelpeter war einundneunzig.

Es war mal wieder ›Vierteljährige‹, eine Versammlung, bei der die gesamte Familie Seppelpeter und alle Abteilungsleiter zusammenkamen, um über Bier und Zukunft zu sprechen. So hieß es zumindest. In Wahrheit tranken sie Bier und sprachen über die Vergangenheit. Wie immer saßen wir unten im Seppelkeller, dem größten Raum der Brauerei, in dem wir sonst die Touristen abfertigten.

Der junge Seppelpeter saß mit einem grauen Filzhut am Kopfende des Tisches. Außer dem Filzhut trug er stets eine Fliege, ein kariertes Hemd und ein Loden-Jackett. Es war der Morgen nach dem gescheiterten Junggesellenabend und mir dröhnte der Schädel vom etwas zu süffigen Lagerbier. Vermutlich trug ich deshalb meine Vorschläge zur Einführung von alkoholfreiem Bier besonders vehement vor an diesem Morgen. Doch wie jedes Mal runzelte auch dieses Mal der junge Seppelpeter seine ohnehin schon faltige Stirn, als ich das Wort »alkoholfrei« auch nur in den Mund nahm. Das Stirnrunzeln ergänzte er zudem noch um ein verächtliches »Pförds!«, was wörtlich übersetzt »Fürze« heißt, aber eigentlich so viel bedeutet wie »Totaler Unsinn!«.

Ich gab nicht auf und redete mir den Wolf von Produktpositionierung, Geschmackstrends und Zielgruppenorientierung, während der Chef an der Stirnseite seelenruhig sein Bier in sich hinein- und meine Ausführungen an sich vorbeilaufen ließ.

»Was spricht denn dagegen, wenn wir neben dem besten Lagerbier Frankens auch noch das beste alkoholfreie Bier Frankens brauen?«, versuchte ich den jungen Seppelpeter aus der Reserve zu locken. Seine Antwort lautete:

»Ich!«

»Das sind alles Marktanteile, die uns flöten gehen! Bares Geld!«

»Pförds!«

Gut die Hälfte der Mitarbeiter lachte, auch sein dicker Sohn Max, der aussah wie Diether Krebs in einem seiner Dicke-Brillen-Sketche. Ich hatte mich an das Lachen gewöhnt: Es war meine achtundzwanzigste Präsentation.

»Du wirst doch net kurz vor deinem Urlaub noch a Revolution anzetteln wollen, oder?«, fragte mich der junge Seppelpeter, »und des, wo du dein Resturlaub bis in den Juli mit hast schlebb dürf!«

»Das weiß ich ja auch zu schätzen«, antwortete ich und legte nach: »Wir müssen trotzdem was machen: Die Bayern positionieren ihr alkoholfreies Erdinger inzwischen sogar als Sportgetränk!«

»Mir wurscht«, polterte mein Chef zurück, »wir machen Bier, kei Limo!«

Wieder lachten alle und leider schien es so, als hätte Seppelpeter zunehmend Spaß an meiner Demontage.

»Am End willste noch den Reechenwald retten!«

Erschöpft ließ ich mich auf meinem Stuhl nieder und wollte schon aufgeben für dieses Mal, da meldete sich der Seppelpeter noch einmal zu Wort, diesmal in einer wohlwollenderen Tonlage.

»Also gut, Greulich. Wenn du unbedingt alkoholfreie Getränke machen willst –«

Seppelpeter zückte einen Kugelschreiber, schrieb etwas auf einen Bierdeckel und ließ ihn mir durchreichen, »dann könnte dir die Nummer weiterhelfen. Und uns auch.«

Auf dem Deckel stand: 0921–60 004. Ich witterte meine Chance.

»Und wer geht da ran?«, fragte ich unsicher.

»Coca-Cola!«, prustete der Alte heraus und erntete großes Gelächter dafür. Sogar sein dick bebrillter Sohn bebte und lief rot an vor Lachen. Ich ließ den Bierdeckel auf den Tisch fallen und rieb mir angespannt die Schläfen. Es war ein Kampf, den man nicht gewinnen konnte.

»Greulich«, schoss er amüsiert nach, als sich das Gelächter wieder ein wenig gelegt hatte, »willst heut gar net über deine Gänsefüßlich sprechen?«

Ich schüttelte mit dem Kopf. Heute war ganz bestimmt kein guter Tag, um über Grundsätzliches zu sprechen. Womöglich war es nicht mal ein gutes Jahr, um darüber zu sprechen. In diesem Augenblick war es mir ehrlich gesagt auch scheißegal, dass stündlich 440 Kästen mit dem Etikett Seppelpeter’s – ganz was Spezielle’s oder Bamberg’s bestes Braune’s die Brauerei verließen. Ich war in Gedanken schon in der Mittagspause, in der ich mit Biene den neuen japanischen Imbiss testen wollte, der am Grünen Markt eröffnet hatte. Ich hatte die Nase voll von Seppelpeter’s, Schnitzel’s und Tradition’s. Sollten die anderen Brauereien’s doch an uns vorbeiziehen’s! Wenn der alte Sack nicht wollte, dann wollte er nicht. Frustriert stampfte ich nach oben in mein kleines Dachgiebelbüro, surfte eine Stunde auf den Seiten ferienwohnungen.de, expedia und Robinson. Dann ging ich wieder nach unten, schloss mein Rad auf und fuhr die fünf Minuten zum Bamberger Bastelbär, dem kleinen Laden meiner Freundin.

 

Der Bastelbär ist ein Laden für Kindergärtnerinnen und Mütter, also für Leute, die gerne kleine Holzkugeln auf Schnüre aufreihen und Holzenten dranbinden. Der Bastelbär ist demnach das exakte Gegenteil von dem, wofür sich Männer interessieren könnten. Ich glaube, dass auch noch nie ein Mann drin war, und wäre ich ein eifersüchtiger Zeitgenosse, dann hätte meine Freundin Biene den idealen Beruf. Aber eifersüchtig war ich schon lange nicht mehr.

Biene war gut gelaunt, als ich den Laden betrat und Hunderte kleiner Glöckchen so laut dingdingding machten, dass einem schwindelig werden konnte. Sie trug ein weißes, leichtes Sommertop mit Spaghettiträgern und ihre Lieblingsjeans, die Jason und Miriam ihr aus den USA mitgebracht hatten.

Ich hatte Biene vor fast zehn Jahren auf der Sandkerwa kennen gelernt, Bambergs berühmtem Bierfest. Es war schon ziemlich spät, Biene schenkte damals noch Bier aus für die Erlebniskneipe Zwetschgäbam. Nur mir wollte sie kein Bier mehr ausschenken, weil ich zwei Minuten nach der Sperrstunde zum Stand kam.

»Ist das euer Kneipenerlebnis, dass man kein Bier mehr bekommt?«, probierte ich sie noch zu überreden.

»Ja! Gefällt’s dir?«, war ihre Antwort, während sie und ihre Kollegin den Stand für die Nacht sicherten. Was mich damals faszinierte, war schon bald ein Teil unseres Problems: Biene ist unglaublich stur. Ich bekam tatsächlich kein Bier mehr, dafür aber später einen Kuss in einem Hauseingang. Und wie 99,9% aller Männer hatte ich während dieses ersten Kusses eines nicht im Kopf: dass ich mit dieser Frau rausziehen, Kinder machen und alt werden wollte.

Dennoch: Vom ersten Kuss an waren wir ein Paar, wir fragten nicht, es war einfach so. Unsere ersten Jahre waren schön und allzu gerne würde ich heute noch einmal das Gefühl von damals nacherleben: die ganze Aufgeregtheit, die Verliebtheit und auch die Bewunderung für all die kleinen Dinge, die ich schön fand an Biene, und das waren, besser sind eine ganze Menge: ihr hübsches, rundes Gesicht, die glatten blonden Haare und die Sommersprossen, die sie von Juni bis Oktober überall bekommt. Ich mochte ihre kecke Art und ihr freches Lachen und natürlich mochte ich, dass man mit ihr auch mal ein Bier trinken konnte. Dass sie um die Hüfte ein klein wenig robuster gebaut ist als ein Topmodel, hat mich nie gestört. Wir hatten eine ebenso schöne wie unbeschwerte Zeit und für eine Weile dachte ich sogar, dass ich mir nie wieder eine Frau suchen musste, dass Biene mehr sein konnte als nur meine Freundin. Mit der Gewissheit kam die Ruhe, diese Ruhe gab uns den Mut zusammenzuziehen, um unsere Beziehung weiter zu festigen. Und dann? Kam nichts mehr.