RHETORIK MACHT ROM - Jon Lendon - E-Book

RHETORIK MACHT ROM E-Book

Jon Lendon

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Beschreibung

War die Ermordung Caesars eine Folge der Schulung in Redekunst? Das Römische Reich und der Einfluss der rhetorischen Bildung Lieferte eine Übungsrede zum Tyrannenmord die Vorlage für das Attentat auf den römischen Herrscher? Welchen Einfluss hatte die Kunst der Rhetorik auf antike Architektur und das römische Recht? Der Alt-Historiker Jon Lendon verblüfft mit einem innovativen Blick auf das Römische Reich und die Redner in der Antike. - Eine anregende Studie über das antike Rom und die Macht der Rhetorik - Ein kühner Blick auf Ereignisse und Überzeugungen, die die Geschichte Europas prägten - Der Tyrannenmord in Musterreden als Skript für die Ermordung Caesars - Die soziale und historische Bedeutung der rhetorischen Bildung im Imperium Romanum - Dieses Sachbuch über Bildung, Redekunst und Politik ist ein ideales Geschenk für Geschichtsinteressierte und alle, die sich inspirierende Einblicke ins alte Rom wünschenDie machtvolle Kraft der Rhetorik und das Ideal des Imperium Romanum In diesem faszinierenden Buch wirft der Autor einen Blick auf das Römische Reich und die Taten, die als Folge der Rhetorik vollbracht wurden. Die Bedeutung der Redekunst wird durch das römische Ideal umfassender Bildung noch verstärkt. Das alte Rom in Wort und Tat - das Buch »RHETORIK MACHT ROM« wird Sie überraschen und Ihren Blick auf die Antike erfrischen!

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Seitenzahl: 643

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Die englische Originalausgabe ist 2021 bei Princeton University Press unter dem Titel That Tyrant, Persuasion. How Rhetoric Shaped the Roman World erschienen. © 2022 by J. E. Lendon

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über www.dnb.deabrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

wbg Theiss ist ein Imprint der wbg.

© 2023 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt

Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht.

Satz: Kai Brodersen, Erfurt

Herstellung: Arnold & Domnick, Leipzig

Umschlagabbildung: Sprecher auf der Rostra auf dem Forum Romanum,

Rom © akg-images / De Agostini / Biblioteca Ambrosiana

Umschlaggestaltung: www.martinveicht.de

Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-8062-4625-4

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:

eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-4634-6

eBook (epub): ISBN 978-3-8062-4635-3

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Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Informationen zum Autor

Impressum

Inhalt

Einführung

I. Die seltsame Welt der Bildung im Römischen Reich

1 Bildung im Römischen Reich

2 Die gesellschaftliche und historische Bedeutung der rhetorischen Bildung

II. Die Ermordung Caesars als eines Tyrannen der Rhetorik

3 Das Attentat

4 Rätsel über die Verschwörung

5 Wer hat rhetorisch gedacht?

III. Die seltsamen Kinder der Rhetorik: Bauten in den Städten des Römischen Reichs

6 Monumentale Nymphäen

7 Stadtmauern, Säulenstraßen und das rhetorische Kalkül des bürgerlichen Verdienstes

IV. Eidechsen und andere Abenteuer der Rhetorik und des römischen Rechts

8 Rhetorik und römisches Recht

9 Die Anziehungskraft des Rechts der Deklamationen

10 Rechtsrätsel, bekannte Gesetze und vom römischen Recht abgelehnte Gesetze der Rhetorik

Rhetorik macht die Welt

Anhang

Danksagung

Anmerkungen

Bibliographie

Register

Einführung

„Das Leben imitiert die Kunst“, witzelte einst Oscar Wilde.1 Jeder kann sich Beispiele ausdenken. Eines meiner persönlichen Lieblingsexempel stammt von Mark Twain, der sich in seinen Erinnerungen an das Leben am Mississippi (1883, Kap. 46) im Blick auf die Werke Don Quichotte von Miguel de Cervantes (1605) und Ivanhoe von Walter Scott (1809) wie folgt beklagte:

Eine eigenartige Illustration des guten und schlechten Einflusses eines einzigen Buchs zeigt die Wirkung von Don Quichotte und von Ivanhoe. Jener fegte die Bewunderung der Welt für den mittelalterlichen Ritterunsinn hinweg, und dieser stellte sie wieder her. Was unseren [amerikanischen] Süden betrifft, so ist das gute Werk, das Cervantes leistete, fast toter Buchstabe, so wirksam hat Scotts schädliches Werk es untergraben.2

Unter der Herrschaft von Sir Walter Scott, die der amerikanische Norden schnell abschüttelte, wurde der Süden anders und seltsam: Scott veranlasste „die Welt, sich in Träume und Hirngespinste zu verlieben … in die Dummheit und Hohlheit, die unechte Größe, den unechten Prunk, die unechte Ritterlichkeit einer hirn- und wertlosen, längst vergangenen Gesellschaft“. Unter dem Einfluss von Scott wurde der Süden besessen von „hohlem Humbug“, von Rang und Titel, von Stolz und Ehre und bewahrte das Duellieren, nachdem es im Norden verschwunden war. Zusammenfassend schloss Twain mit einem Augenzwinkern: „Sir Walter [Scott] hatte einen so großen Anteil an der Charakterprägung des Südstaatlers, wie er vor dem [amerikanischen Bürger-]Krieg existierte, dass er in großem Maß für den Krieg verantwortlich ist.“3

Oder denken wir an das sonnige Kalifornien. So hieß das Reich der Amazonen – der Kriegerinnen, die ohne Männer lebten – in einem frühen gedruckten Ritterroman (1510) mit dem Titel Las Sergas de Esplandián („Die Abenteuer von Esplandián“), in dem das imaginäre California nach der Amazonenkönigin benannt wurde, der furchtbaren Calafia. Las Sergas war die vierte Fortsetzung des bahnbrechenden Werks Amadis de Gaulia (1508) und gehörte zu einer Reihe von Büchern, die ganz zu Beginn des weltlichen Buchdrucks entstanden – das Buch war ein neues Medium, das verzweifelt nach Inhalten suchte, wie wir heute sagen würden. Als solche wurden diese Werke von den gebildeten Laien viel gelesen, bei Bedarf in alle europäischen Sprachen übersetzt und bildeten eine Zeit lang eine gemeinsame literarische Kultur. Dass ein Eroberer Kalifornien nach einem Königreich in einem dieser Bücher benannte, war also nur folgerichtig. Von weitaus größerer Bedeutung als die Onomastik war jedoch die Suche nach echten Amazonen in der Neuen Welt, zu der diese Bücher anregten. Die klassisch Gebildeten konnten natürlich aus ihrer griechischen und lateinischen Lektüre von Amazonen wissen, aber durch das volkstümliche Werk Las Sergas de Esplandián wurden die Amazonen viel eindringlicher ins Bewusstsein der Zeitgenossen gerückt. Und so kam es, dass spanische Beamte die Entdecker und Gouverneure in der Neuen Welt fragten, ob sie Amazonen gefunden hätten, und sie auf forderten, sie zu suchen – und die Entdecker in der Neuen Welt berichteten (natürlich) manchmal, dass sie sie tatsächlich gefunden hätten, nicht zuletzt entlang des Flusses Amazonas, der seinen Namen dieser Expedition zu verdanken hat. Die Suche nach solchen exotischen Wesen wurde zu einem kleinen, aber realen Motor für die weitere spanische Erforschung und Eroberung Amerikas.4

Die Beispiele für den Einfluss von Kunst – Büchern – auf das Leben lassen sich fast unendlich fortsetzen.5 In den USA lesen nach wie vor viele Jugendliche die Bücher Der Herr der Ringe von J. R. R. Tolkien (1954/55) und Atlas Shrugged von Ayn Rand (1957; ins Deutsche übersetzt als Atlas wirft die Welt ab oder Wer ist John Galt?). Dazu hat man einmal gesagt: „Es gibt zwei Romane, die das Leben eines 14-jährigen Bücherfreundes verändern können: Der Herr der Ringe und Atlas Shrugged. Der eine ist eine kindliche Phantasie, die oft eine lebenslange Besessenheit von ihren unglaublichen Helden hervorruft und zu einem emotional verkümmerten, sozial verkrüppelten Erwachsenen führt, der mit der realen Welt nicht zurechtkommt. Im anderen Fall geht es natürlich um Orks.“6 Auch in der Antike mangelt es nicht an Beispielen: Alexander der Große eiferte bekanntlich dem Achilleus nach, von dem er durch die Lektüre von Homers Ilias erfahren hatte. Spätere Persönlichkeiten – Pompeius, Julian – imitierten ihrerseits Alexander den Großen. Und kürzlich wurde der interessante Vorschlag gemacht, dass Kaiser Tiberius eine ähnliche Beziehung zu dem homerischen Helden Odysseus pflegte.7

Der Anthropologe Victor Turner hat in den 1970er Jahren über die potenzielle handlungsauslösende Kraft gemeinsamer Lektüre nachgedacht. Sein Konzept des root paradigma – „das Vorhandensein und die Aktivität bestimmter bewusst anerkannter (wenn auch nicht bewusst erfasster) kultureller Modelle in den Köpfen der Hauptakteure“ – ist für das Verständnis solcher Phänomene sehr hilfreich. Wertvoll ist auch sein klares Argument, dass solche Modelle im menschlichen Geist so mächtig sein können, dass sie diejenigen, die sie annehmen, dazu bringen können, gegen ihre eigenen praktischen Interessen zu handeln, sogar bis zu dem Punkt, dass sie mit offenen Augen in den Tod gehen.8

Die mächtigste Form des gemeinsamen Lesens ist natürlich die gemeinsame Bildung, und das ist das Thema dieses Buchs, das über den Einfluss der Bildung der griechisch-römischen herrschenden Schicht – der Bildung in Rhetorik und ihren Vorstufen – auf die Taten, die öffentlichen Taten derer nachdenkt, welche diese Bildung erhielten. Damit steht das Buch recht allein. Die Untersuchung des Einflusses der rhetorischen Ausbildung auf die Schriften der Griechen und Römer ist dagegen schon weit über ein Jahrhundert alt, die Tatsache eines solchen Einflusses ist allgemein anerkannt, und die Forschungsliteratur zu diesem Thema ist mittlerweile enorm.9 Aber während der positive Beweis für den rhetorischen Einfluss auf die antike Literatur leicht zu erbringen ist, und zwar auf anekdotischer Basis, indem man einfach Passagen bei antiken Autoren sammelt, die einen solchen Einfluss zu zeigen scheinen, gibt es keine vereinbarten Prinzipien, um die relative Stärke oder Schwäche eines solchen Einflusses zu beziffern.10 Hat die gelehrte Rhetorik ihre Wurzeln in jeder antiken literarischen Gattung, jedem antiken Autor und jedem Werk gleich tief geschlagen? Oder beschränkte die Treue zu den Traditionen der verschiedenen Gattungen in einigen Fällen den Einfluss der formalen Rhetorik auf eine glitzernde Oberfläche aus Wintereis, während mächtigere Strömungen den dunklen Fluss darunter antrieben?11

Dies ist ein unlösbares Rätsel – und nicht Thema dieses Buchs! Stattdessen soll im Folgenden nach dem Einfluss der rhetorischen Ausbildung nicht auf Schriften, sondern auf Taten gefragt werden: Auf einen Überblick über die Art und Weise, wie junge Männer in Rhetorik unterrichtet wurden, und über die gesellschaftliche und historische Bedeutung, die Gelehrte diesem Unterricht zugeschrieben haben (Abschnitt I), folgt der Vorschlag, dass die Ermordung Caesars einem Skript folgte, das der rhetorischen Ausbildung entnommen war (Abschnitt II); es wird postuliert, dass die rhetorische Ausbildung einen Einfluss auf den Aufbau bürgerlicher Strukturen im Römischen Reich gehabt haben könnte, insbesondere in den Städten des römischen Ostens (Abschnitt III), und es werden Veränderungen im römischen Recht untersucht, die möglicherweise unter dem Einfluss der Rhetorik stattfanden (Abschnitt IV).

Diese verschiedenen Themen wurden ausgewählt, weil sie unterschiedliche Grade der rhetorischen Beeinflussung von Taten darstellen. Der Mord an Caesar scheint ein klarer Fall für einen solchen Einfluss zu sein; er wurde zudem wegen seiner Berühmtheit ausgewählt. Im Falle der Bauwerke sind die Ergebnisse gemischt: Es wird argumentiert, dass die rhetorische Ausbildung den Bau von zwei Arten von Bauwerken (monumentalen Nymphäen und Säulenstraßen) vorantrieb, während sie bei einem dritten (den während der pax Romana errichteten Stadtmauern) keine eindeutigen Ratschläge gab. Obwohl der Autor des vorliegenden Buchs mit allem Einfallsreichtum, den er auf bringen kann (und mit der Unterstützung vieler anderer Gelehrter), für den Einfluss der Rhetorik auf das materielle römische Recht argumentiert, kann er letztlich nur zu dem Schluss kommen, dass dieser Einfluss eher begrenzt war. Das Recht der Römer war kaum unempfindlich gegenüber Veränderungen, die durch rhetorische Schulung angeregt wurden – und es werden viele Beispiele angeführt –, aber die Rhetorik knabberte manchmal am Rande und bewirkte letztlich nur wenige grundlegende Veränderungen in der Logik und den Grundprinzipien dieses Rechts. Die Ermordung Caesars, das öffentliche Bauwesen und das römische Recht sind ebenfalls disparat und können daher (wenn auch unzureichend) die gesamte römische Welt des öffentlichen Handelns repräsentieren. Im abschließenden Kapitel dieses Buchs wird schließlich versucht, dieses vielfältige Bild vom Einfluss der rhetorischen Bildung auf das öffentliche Handeln in der römischen Welt, dem Imperium, in dem die rhetorisch gebildeten Anführer zu leben glaubten, und die Folgen dieses imaginären Reichs für das reale Reich der Römer zu verstehen.

Es sollte von vornherein klargestellt werden, dass die Argumentation dieses Buchs spekulativ ist. Bildung spielt eine große Rolle bei der Schaffung der Welt, die wir als normal und erwartet ansehen. Und es ist der Menschheit selten gegeben, hinter diese Bildung zu blicken, um zu erkennen, dass vieles von dem, was sie lehrt, sowohl willkürlich als auch nicht nachvollziehbar ist. Die rhetorische Ausbildung wirkte auf den römischen Verstand auf einer Ebene, die sich dem bewussten Zugriff der Alten entzog, und so wurde der Einfluss dieser Ausbildung auf das Verhalten der Menschen in der realen Welt wahrscheinlich ebenso wenig offen kommentiert wie der Einfluss unserer eigenen Erziehung auf unser Leben. Kein Grieche oder Römer sagt: „Ich habe das so und so gemacht, weil ich es in der Schule gelernt habe.“ Wir müssen Fälle finden, in denen Bildung das Handeln zu beeinflussen scheint, und ich hoffe, anhand von drei sehr unterschiedlichen Handlungsfeldern zeigen zu können, dass dies – mit interessanten Ausnahmen – oft der Fall war.

Schließlich schlägt diese Untersuchung einen neuen Ansatz für die Herausforderung des Einflusses der gelehrten Rhetorik auf literarische Texte vor, denn sie erprobt Möglichkeiten, wie der Einfluss der gelehrten Rhetorik in jedem Bereich blockiert und kanalisiert werden kann. In der realen Welt ist es noch deutlicher als in der Literatur, dass sich die Realität oft wehrt, wenn ein Mensch versucht, nach dem zu handeln, was ihm in der Schule beigebracht wurde. (Einige Dinge, welche die Rhetorik vorschlägt, erweisen sich in der Realität als nicht praktikabel, während andere durch die Logik der Taschenspielertricks schon im Vorfeld als unpraktisch erwiesen werden können.) In anderen Fällen wird der Einfluss der Rhetorik durch bewährte Traditionen konterkariert, welche die von der Rhetorik vorgeschlagenen Pläne bekämpfen und möglicherweise sogar vereiteln. Dieses Buch ist also eine Studie über den Einfluss der Rhetorik auf das reale Leben, aber auch eine Studie über die Einhegungen des Einflusses der Rhetorik – Einhegungen, die mutatis mutandis sowohl für die reale Welt als auch für die Welt der Feder gelten können.

I. Die seltsame Welt der Bildung im Römischen Reich

Wer sich über die Macht der Bildung in den Angelegenheiten der Menschen den Kopf zerbricht, wird es vielleicht als angenehm empfinden, über das Imperium Romanum nachzudenken. Die formale Bildung der jungen Männer der herrschenden Schichten war lang, gewissermaßen beschränkt und uns fremd, und so sollte ihr Einfluss auf das antike Denken leicht zu erkennen sein: Der Kontrast zu unserer eigenen Bildung bietet ja eine Perspektive.1 Spätestens ab dem 1. Jahrhundert v. Chr. war diese Bildung von Ort zu Ort – im lateinischsprachigen Westen und im griechischsprachigen Osten, aber auch dazwischen – und über viele Jahrhunderte so ähnlich, dass die Untersuchung ihrer Kraft kaum durch regionale Exzentrizität oder durch die Notwendigkeit behindert wird, Veränderungen im Laufe der Zeit im Mechanismus dieses Einflusses, der Ausbildung in Rhetorik und ihren Voraussetzungen nachzuvollziehen.2

1 Bildung im Römischen Reich

Die Bildung zur Zeit des Imperium Romanum bestand aus drei Hauptstufen: Zunächst lernten die kleinen Kinder in einer Elementarschule, lateinisch ludus, das Alphabet und die Grundrechenarten.1 Dann, nachdem man Kinderkram – wie Mathematik – beiseitegelegt hatte, stand ab dem Alter von etwa sieben Jahren die Sprache unter dem „Grammatiker“ im Zentrum, die vor allem durch die Analyse von Dichtung gelehrt wurde, insbesondere Homers Ilias im Osten und (wenn sie verfügbar war) Vergils Aeneis im Westen.2 Nach dem „Grammatiker“ folgte bei den Jugendlichen (vielleicht im Alter von 14 oder 15 Jahren) ein mehrjähriger Unterricht bei einem „Rhetor“, der die Redekunst und ihre Theorie lehrte.3 Dies geschah in erster Linie durch „Deklamation“, d. h. durch das Halten und Anhören von Reden zu imaginären Themen – Themen, die in Ost und West und über viele Jahrhunderte hinweg ähnlich oder identisch waren.4 Zumindest im Westen wurden in der Regel zuerst deliberative Themen gelehrt: suasoriae oder Ratgeber-Reden, die oft an eine oder in der Gestalt einer berühmten historischen oder mythischen Persönlichkeit gehalten wurden, und dann controversiae, imaginäre Gerichtsfälle.5 Im späten 2. Jahrhundert v. Chr., aber wahrscheinlich schon früher, hatte sich zwischen Grammatik und Rhetorik ein Zwischenlehrplan entwickelt, nämlich eine Abfolge von Progymnasmata oder praeexercitamina, „Vorübungen“ vor der Deklamation.6

Obwohl der Lehrplan statisch war, unterschieden sich die Orte, an denen er gelehrt wurde, und die Personen, die ihn unterrichteten, beträchtlich.7 Die Kinder der Reichen konnten die erste und einige auch die zweite Stufe zu Hause bei Privatlehrern absolvieren; wenn nur die erste Stufe zu Hause angeboten wurde, konnten sie in jüngerem Alter mit der Schule des Grammatikers beginnen.8 In einflussreichen Familien im lateinischen Westen konnte ein Großteil der frühen Bildung auf Griechisch und anhand griechischer Texte vermittelt werden, um die erhoffte Zweisprachigkeit junger Männer von Rang zu fördern; der griechische Osten erwiderte dieses Kompliment jedoch nicht mit dem Erlernen des Lateinischen, außer in der späten Kaiserzeit und auf einer späteren Stufe der Bildung.9 Ob der Rhetor oder der Grammatiker die Progymnasmata unterrichtete oder wie sie zwischen diesen Würdenträgern aufgeteilt wurden, variierte ebenso wie die Anzahl und Reihenfolge dieser Übungen.10 Sklaven und die Kinder der Armen blieben beim (billigen) ludus, bis sie die Wörter und Zahlen beherrschten, die sie für die Zukunft brauchten, die ihre Eltern oder Herren sich für sie vorstellten, oder bis das Geld ausging (kostenlose Bildung war unbekannt). Sie gelangten nie zum weitaus teureren Grammatiker und Rhetor – dem Privileg der Reichen und sozial Ambitionierten –, der nichts Nützliches für das Geschäft lehrte, es sei denn, es ging um das Geschäft mit der Sprache selbst.11 Wenn ihr Beruf Rechenfertigkeiten erforderte, die über die des ludus hinausgingen, konnten arme Kinder und Sklaven die nicht minder bescheidene Schule des calculator, des Lehrers der Arithmetik, besuchen; danach kam, wenn Geld übrig war, die praktische Lehrzeit.12

Reiche junge Männer, die den Bildungsweg des Grammatikers und Rhetors bis zum Ende verfolgten, lernten viel Dichtung, lasen viel Redekunst (vor allem Demosthenes, wenn sie griechischsprachig waren, oder Cicero, wenn sie lateinisch sprachen) und konsumierten nebenbei etwas unsystematische Geschichte und Philosophie, wenn die Autoren als gute Stilvorbilder galten (wie es bei Platon und Xenophon der Fall war).13

Eine Ausbildung auf dem Niveau des Grammatikers und Rhetors konnte man in jeder größeren Stadt erwarten.14 Eine systematische Ausbildung aber, z. B. in Philosophie, war eine weitere Stufe der Bildung jenseits des Rhetorikunterrichts und wurde in den meisten Epochen nur von einer winzigen Anzahl von Enthusiasten absolviert; sie erforderte oft einen langen und teuren Aufenthalt in einer weit entfernten Stadt, idealerweise im gefeierten Athen.

Wie sich die Ausbildung in dem einfügt, was wir anachronistisch als „Berufsfelder“ bezeichnen, etwa Architektur und vor allem Medizin, können wir, wie wir ehrlich zugeben müssen, nicht klar ersehen (zum Rechtswesen siehe Abschnitt IV).15 Im Fall der Medizin wissen wir sowohl von Schulen, die Theorie lehrten – die in Alexandria war die berühmteste –, als auch von der Ausbildung durch praktische Lehre. Es ist anzunehmen, dass Anwärter mit niedrigerem sozialen Status Lehrlinge wurden, während die Söhne der Wohlhabenden (Mediziner konnten beide werden) zumindest etwas Rhetorik gelernt hatten, bevor sie zur medizinischen Schule gingen und sich anschließend (so ist zu hoffen!) eine Zeit lang einem praktizierenden Arzt anschlossen.16 In der Ausbildung desjenigen Arztes, den wir am besten kennen, Galen, sehen wir schemenhaft Spuren einer parallelen Ausbildung, bei der nach der Grammatik die Philosophie die Rhetorik ersetzte.17 Wie verbreitet dies war – abgesehen davon, dass es weit weniger verbreitet gewesen zu sein scheint als die Ausbildung in Rhetorik –, können wir freilich nicht sagen.

Die Ausbildung auf der Ebene der Deklamation unter dem Rhetor war unter den Söhnen der herrschenden Klasse des Reichs weit verbreitet: den Söhnen der römischen Senatoren, des Ritterstandes und den weitaus zahlreicheren Söhnen der wohlhabenden Schicht, welche die Stadträte, die curiae oder boulai, bildeten, von denen die Städte des Reichs regiert wurden – und damit in der Praxis das Reich regierten, dessen Verwaltung größtenteils unter seinen Städten aufgeteilt war.18 Dies waren die Jungen, die heranwuchsen, um einmal die großen Entscheidungen der Stadt und des Reichs zu treffen und, wenn sie dazu geneigt waren, auch literarische Werke zu lesen und zu schreiben, wobei die herrschende und die schreibende Schicht des Reichs größtenteils ununterscheidbar waren.

Die Entwicklung der Rhetorikausbildung

Die Geschichte vom Aufstieg der Rhetorik beginnt in der griechischen Epik mit der Vorliebe der Helden selbst, große Entscheidungen erst nach öffentlichen Debatten und Beratungen zu treffen.19 Bei Homer, unter dessen blutrünstigen Anführern kaum eine Spur von Demokratie zu finden ist, werden danach öffentliche Versammlungen abgehalten, und die Helden wetteifern in der Beredsamkeit im Rat und bewundern sie.20 Eine der eindrucksvollsten Passagen Homers beschreibt den Redner Odysseus: „... setzte er ... zu reden an, brachen die Worte aus seiner Brust, so dicht wie der Schnee im tiefsten Winter – und wir saßen nur da mit offnem Mund“.21

Über die endgültigen Ursprünge des formalen Rhetorikunterrichts in Griechenland gibt es eine undurchschaubare Kontroverse; zum Glück spielt das für unsere Fragestellung kaum eine Rolle.22 Aber ob sie nun Schulklassen vorstanden oder nicht, im späten 5. Jahrhundert v. Chr. gab es in Griechenland Männer – „Sophisten“ –, die einem, wenn man es sich leisten konnte, das Reden in der Öffentlichkeit beibringen wollten. Der bekannteste von ihnen ist Gorgias von Leontinoi, der 427 v. Chr. nach Athen – dem späteren Zentrum dieses Unterrichts – kam, als gerade der Peloponnesische Krieg tobte.23 Es liegt nahe, die Forderung nach einer Ausbildung in der Redekunst mit den Massenversammlungen und den anwaltlosen Gerichten der athenischen Demokratie in Verbindung zu bringen, und dieser Versuchung sollte man nicht allzu sehr widerstehen. Aber jeder griechische Staat, von dem wir wissen, kannte sowohl öffentliche Beratungen durch Debatten als auch Rechtsfälle, die durch Abwägen der konkurrierenden Reden der Prozessparteien entschieden wurden, selbst dort, wo das Wahlrecht auf lokaler Ebene eingeschränkt war: Gorgias war sogar im ungehobelten Thessalien ein Erfolg, und auch in Sparta gab es solche Gepflogenheiten, selbst wenn die spartanischen Männer ihre berühmte „lakonische“ Rhetorik praktizierten, in der sie in Kürze und Prägnanz wetteiferten.24 Vielleicht lässt sich diese spartanische Eigenart auf dieselbe Stelle in der Ilias zurückführen, in der die Beredsamkeit des Odysseus gepriesen wird: Menelaos, Homers König von Sparta, „sprach fließend, mit wenigen Worten, aber klar, denn er war nicht wortreich, noch sprach er willkürlich“ – und so sprachen auch seine Landsleute, die Spartaner, Jahrhunderte nach ihm.25

Es genügt zu sagen, dass die Redekunst in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr. – in der Zeit der anonymen Rhetorik an Alexander und der Rhetorik des Aristoteles – eine ausgereifte intellektuelle Disziplin war, die in drei Arten unterteilt wurde: die forensische Rhetorik für die Gerichte, die deliberative Rhetorik für die Versammlungen und Ratssitzungen und für die Beratung der Potentaten und schließlich die demonstrative Rhetorik, meist in der Form der panegyrischen Rhetorik. Es gab einen Lehrplan, und einer der beiden wichtigsten späteren theoretischen Zweige der Redekunst war bereits recht weit entwickelt: die idea-Theorie, die Stil und Vortragsweise taxonomierte und schließlich an die zwanzig Kategorien umfasste, darunter „Größe“ (megethos), „Vehemenz“ (sphodrotes) und „Süße“ (glykytes); sie darf nicht mit Platons Ideenlehre verwechselt werden.26 Die Zeit nach dem Tod Alexanders d. Gr. 323 v. Chr. ist ein „dunkles Zeitalter“ in den uns erhaltenen Quellen. Es ist nur sehr wenig pädagogisches Material erhalten. Aber man ist sich darin einig – zumindest für Städte mit einer bedeutenden griechischen Bevölkerung –, dass in dieser Zeit der Unterricht in Rhetorik allgemein verfügbar wurde, zumeist standardisiert war und dass spätestens im 2. Jahrhundert v. Chr. – der Name, den wir damit verbinden, ist Hermagoras – auch der zweite große Zweig der rhetorischen Theorie ausgereift war: die stasis-Theorie (griechisch stasis, lateinisch status). Sie untersucht Grundprobleme, um die es in einer Rede geht, etwa „Ist etwas geschehen?“, „Was ist geschehen?“, „Was waren die Begleitumstände?“27 Die Deklamation, die Methode, mit der die fortgeschrittene Rhetorik gelehrt wurde, entwickelte sich ebenfalls in dieser Zeit, hat aber sicherlich ältere Wurzeln.28 Und wahrscheinlich ist auch in diesem für uns „dunklen Zeitalter“ der Bildung ein titanischer Kampf ausgefochten worden, der am Ende den Grammatiker, der sich fernab von der Alltagssprache in der minutiösen Analyse der Dichtersprache verlor, triumphierend an die Spitze des Kanons der mittleren Bildungsebene setzte.29

Was wir wirklich wissen wollen, ist natürlich, wie viel Zeit der durchschnittliche griechische oder römische Junge aus einer wohlhabenden Familie in jeder Epoche mit dem Erlernen der Rhetorik verbrachte. Die traditionelle Bildung der Athener Oberschicht war zwischen Literatur, Musik und Athletik aufgeteilt.30 Die Ausbildung in „Musik“ (die Dichtung und ihre Komposition, nicht nur die Rezitation, einschloss) war in der griechischsprachigen hellenistischen Welt weiterhin stark vertreten.31 Auch die Athletik florierte: Das Gymnasium war eine der charakteristischen Einrichtungen der hellenistischen Stadt, ebenso wie die Ephebie (ephebeia), eine ein- bis dreijährige militärische Ausbildung, die in vielen Städten zu finden war.32 Es mag jedoch bezeichnend sein, dass die Grabreliefs aus dem klassischen Athen die verstorbenen Jugendlichen nackt als Athleten zeigten, während die Grabreliefs junger Männer aus Smyrna im späten 2. Jahrhundert v. Chr. die Verstorbenen bekleidet und mit Buchrollen in der Hand darstellten – mit anderen Worten, ihre literarische Ausbildung betonten.33 Was ist mit anderen intellektuellen Fächern als Grammatik und Rhetorik? Platon sprach sich dafür aus, dass Jungen in Mathematik unterrichtet werden sollten, die über die für den Gemüsemarkt notwendigen Berechnungen hinausging und auch Zahlentheorie, Geometrie, Astronomie und Musiktheorie umfasste.34 Nach dem Tod Alexanders hören wir von der enkyklios paideia, der „enzyklopädischen“, „vollständigen“ oder „allgemeinen“ Bildung. Dazu gehörten Grammatik und Rhetorik, aber auch Dialektik, Arithmetik, Musiktheorie, Geometrie und Astronomie.35 Ilsetraut Hadot hat jedoch bereits 1984 gezeigt, dass diese umfassendere Bildung, wenn es sie überhaupt gab, auf Athen und auf diejenigen beschränkt war, die sich auf ein weiterführendes Studium der Philosophie vorbereiteten, welches aber die meisten jungen Männer nicht anstrebten, während der Begriff enkyklios paideia (lateinisch artes liberales) selbst so vage war, dass er sich auf fast jede formale Bildung beziehen konnte, die von Personen mit höherem sozialen Status absolviert wurde.36 Die Realität sah offenbar eher so aus wie in der Komödie Die Wolken, in der Aristophanes eine bezahlte Ausbildung in Sokrates’ phrontisterion, der „Denkwerkstatt“, über die Natur des Universums, Astronomie, Geometrie, theoretische Geographie, Grammatik, Meteorologie, Biologie und Musiktheorie anbietet, sein angehender Schüler aber nichts anderes als Rhetorik lernen will, um ihm vor Gericht zu helfen und seinen Gläubigern zu entgehen!

Als sich die griechische Bildung in Rom verbreitete, gab es nur noch Grammatik und Rhetorik. Es gab zwei Möglichkeiten, dieses Ziel zu erreichen. Die Abneigung der Römer, sich nackt zu bewegen, und das gesellschaftliche Stigma, das mit theatralischen oder musikalischen Darbietungen in Rom verbunden war, könnten für den Verlust der griechischen Athletik und Musik verantwortlich sein. Auch könnte die Tatsache, dass es bis zur Herrschaft des Augustus keine regelmäßige Ausbildung für römische Soldaten gab, und dann auch nur für die unteren Ränge – die Römer zogen es vor, dass ihre Krieger durch Erfahrung lernten –, eine organisierte militärische Ausbildung wie die griechische Ephebie überflüssig gemacht haben.37 Alternativ dazu könnte es auch wenig zu ändern gegeben haben. Aus unklaren Gründen werden Inschriften, die griechische Bildungseinrichtungen bezeugen – Honorare für Lehrer, Ehrungen für Gastredner, Wettbewerbe in Athletik und Poesie – im Laufe des 1. Jahrhunderts v. Chr. seltener.38 Vielleicht ist dies nur eine Frage der epigraphischen Mode, und das hellenistische Bildungssystem könnte immer noch lebendig gewesen sein, wenn auch für uns weniger sichtbar. Es könnte aber auch sein, dass sich die griechische Bildung selbst verengte und dass der römische Lehrplan, der sich hauptsächlich auf Grammatik und Rhetorik beschränkte, nicht das Ergebnis römischen Spießbürgertums und römischer Prüderie war, sondern der Lehrplan, dem die zeitgenössischen griechischen Jungen bereits größtenteils folgten.39

Wenn wir Rom betrachten, stellt sich nicht die Frage, seit wann es eine rhetorische Ausbildung gibt – wir sehen sie erstmals 161 v. Chr., als die griechischen Rhetoriklehrer ausgewiesen wurden, und sie war wahrscheinlich viel älter –, sondern wiederum, wie intensiv sie in früheren Zeiten betrieben wurde.40 In der gehobenen Schicht, von der wir etwas erkennen können, war der Militärdienst, der möglicherweise mit 17 Jahren begann, bis zum späten 2. Jahrhundert v. Chr. obligatorisch (und wurde von denjenigen, die eine politische Karriere anstrebten, am besten so früh wie möglich abgeleistet, da zehn Feldzüge erforderlich waren, bevor man zum Quaestor gewählt werden konnte), während viele junge Männer weiterhin in den Krieg zogen, lange nachdem dieser Dienst nicht mehr obligatorisch war.41 Der Rhetorikunterricht im Klassenzimmer hatte auch mit dem zu kämpfen, was die Gelehrten traditionell als tirocinium fori bezeichnen, einer Lehrzeit im öffentlichen Leben von einem Jahr oder mehr, die darin bestand, einem großen Mann zu folgen – eine Praxis, die in den späten 60er Jahren des 1. Jahrhunderts v. Chr., wahrscheinlich bis in die 40er Jahre und vielleicht auch später noch sehr lebendig war.42 Die Tatsache, dass Lehrer für lateinische Rhetorik 92 v. Chr. die formale Missbilligung der Zensoren ertrugen und dass in den 80er Jahren die ersten rhetorischen Abhandlungen in Latein entstanden, die uns erhalten geblieben sind (mit denselben deklamatorischen Themen, die noch Jahrhunderte später verwendet werden sollten), zeigt wiederum, dass eine solche Ausbildung verfügbar war, aber nicht, wie verbreitet sie war; auch gibt es keine anderen direkten Belege.43 Aber vielleicht gibt es einen Hinweis: Angehörige der Generation römischer Politiker, die um 85 v. Chr. geboren wurden (die Generation von Brutus und Cassius, über die wir viel wissen), und solche, die älter waren als sie, gingen als Erwachsene sehr häufig nach Griechenland, um ihre rhetorische Ausbildung aufzupolieren.44 Aber von den in den 60er Jahren Geborenen waren es meist Jugendliche, die geschickt wurden. Ciceros eigene Erfahrung, als Erwachsener nach Griechenland zu gehen, und die seines Sohnes und Neffen, die als Jugendliche gingen, dienen als Exempel.45 Die Implikation der verspäteten zweiten Ausbildung der älteren Generation ist, dass die rhetorische Ausbildung, die sie in Rom vor oder in den 60er Jahren erhalten hatten, irgendwie unbefriedigend war, dass sie das Gefühl hatten, hinter die Jüngeren zurückzufallen.46 Die vielleicht sparsamste Interpretation ist, dass in den 50er Jahren v. Chr. für die Römer der höchsten Schichten eine Ausbildung, die viel Rhetorik, aber auch viele andere Anforderungen an die Zeit eines jungen Mannes beinhaltete, in eine Ausbildung überging, die hauptsächlich aus Sprache und Rhetorik bestand, einschließlich eines frühen Aufenthalts in Athen.

Man könnte meinen, dass die Rhetorik in den 40er und 30er Jahren des 1. Jahrhunderts v. Chr., als die römische Republik von in Kritik geratenen Magnaten regiert und von Bürgerkriegen zerrissen wurde, und als der schließlich erreichte Frieden die Form des – wenn auch gut versteckten – autokratischen Regimes des Augustus annahm, inmitten des Klirrens von Schwertern auf Schilden und der Entscheidungen, die am Hof des Oberherrn im Geheimen getroffen wurden, weit weniger nützlich gewesen wäre als in der freien Republik, und dass sich ihr Niedergang in einem Wandel und einem Rückgang der rhetorischen Bildung niederschlagen würde. Dem war jedoch nicht so. Die Zeitgenossen beklagten sich zwar gerne über den Niedergang der Redekunst (und taten dies auch noch lange), schickten aber ihre Söhne trotzdem weiterhin zum Rhetorikunterricht. Und wenn überhaupt, dann waren die 40er und 30er Jahre, so vermuten wir, eine Zeit, in der die rhetorische Ausbildung gestärkt und weiter formalisiert wurde.47 Sobald wir nämlich in der römischen Kaiserzeit ankommen, nimmt eine standardisierte Abfolge von Elementar-, Grammatik- und Rhetorikunterricht eindeutig die gesamte oder fast die gesamte Ausbildungszeit der meisten Jungen der Oberschicht in Anspruch, und der Wandel in der Erziehungspraxis – der nie schnell vonstattenging – wird danach noch langsamer. Auch wurde in der Zeit zwischen den 40er Jahren des 1. Jahrhunderts v. Chr. und der Herrschaft des Augustus ein Kampf um den Stil in der lateinischen Redekunst ausgefochten – eine Gruppe von Puristen, die sich selbst als „Attizisten“ bezeichneten, warf den ausgeschmückteren Reden einiger ihrer Zeitgenossen „Asianismus“ vor –, der bis zur Erschöpfung geführt wurde.48 Die Schüler in den Rhetorikschulen jener Zeit mussten sich vermutlich ebenso vorsichtig durch dieses Schlachtfeld bewegen wie durch die zeitgenössischen Schlachtfelder von Krieg und Politik. Und unabhängig davon, wie unbedeutend uns die Kontroverse erscheint, zeugt sie von der intellektuellen Lebendigkeit der Rhetorik in jener Epoche.

Auf griechischer Seite entstand dann im späten 2. oder frühen 3. Jahrhundert n. Chr. das Hermogenes-Corpus von drei – letztendlich fünf – Leitfäden für Lehrer, wobei manche Gelehrte glauben, dass nur zwei von ihnen wirklich von Hermogenes stammen. Die Verwendung dieser Leitfäden wurde in der Spätantike jedenfalls zum Standard, nachdem ein konkurrierendes Modell des Minucianus sich nicht hatte durchsetzen können.49 Die Rolle der epideiktischen (demonstrativen) Rhetorik – der Schau-Rhetorik des Lobes (häufig) und des Tadels (selten) – im Lehrplan bleibt ein Rätsel.50 Das Enkomion wurde sicherlich unter den Progymnasmata gelehrt, noch vor der Deklamation, doch während ein Autor eines Werkes über die Progymnasmata stark andeutet, dass das Thema später wieder aufgegriffen wird, vermutlich auf einer höheren Stufe, besteht ein anderer darauf, dass es nur dort gelehrt wurde.51 Belege für epideiktische Schuldeklamationen (auf der höchsten Stufe des Unterrichts, im Gegensatz zu den grundlegenderen Progymnasmata) fehlen darüber hinaus sowohl im Griechischen als auch im Lateinischen, obwohl Deklamationen in den beiden anderen Gattungen natürlich enkomiastische Passagen enthalten könnten.52 Die beste Erklärung mag wohl sein, dass die progymnasmatische Übung des Enkomion im Laufe der Zeit einfach einen immer größeren Teil der Zeit auf dieser Stufe des Unterrichts einnahm.53 Der Höhepunkt dieses Trends ist vielleicht der Sophist Athanasios von Alexandria aus dem 4. Jahrhundert n. Chr., welcher der Meinung war, dass das Enkomion als erstes gelehrt werden sollte und dass die meisten anderen progymnasmatischen Übungen als Teile davon gelehrt werden sollten.54

Auf den höchsten Stufen und sowohl im Griechischen als auch im Lateinischen wurde der Lehrplan jedoch weiterhin von der deliberativen Deklamation (suasoriae) und vor allem von der forensischen Deklamation (controversiae) dominiert.55 In der ersteren schlug der Lehrer ein Thema vor wie: „Agamemnon überlegt, ob er Iphigenie opfern soll oder nicht“, oder: „Rate Sulla in einer öffentlichen Versammlung, ob er seine Diktatur niederlegen soll.“56 Hier musste der Redner sowohl seinen Tonfall an die Figur anpassen, die er ansprach, als auch an die Figur, die er als Redner verkörperte (es ist schwierig für einen Jungen, einen Älteren mit großen Taten und hoher Würde darzustellen). Und er muss auch die stasis (s. o. S. 18) beherrschen, vor allem wenn es um Ehre, Zweckmäßigkeit oder Notwendigkeit geht, und er muss die Unterkategorien von jedem kennen. Schließlich muss er auch darauf vorbereitet sein, bei seinen Zuhörern die gesamte Bandbreite an Emotionen zu wecken.57

In einer forensischen Deklamation wählte der Lehrer ein oder mehrere Sentenzen aus einer Reihe von traditionellen Gesetzesgrundlagen aus,58 vielleicht: „Wer ein Grabmal verletzt, kann vor Gericht verklagt werden.“ Der Lehrer entwarf dann ein Szenario, das dieses Gesetz gegen ein anderes oder gegen die scheinbare Gerechtigkeit stellte: „Ein Held hat seine Waffen im Kampf verloren und leiht sich deshalb Waffen aus dem Grab eines toten Helden. Nachdem er tapfer für seine Stadt gekämpft hat, gibt er die Waffen zurück. Er wird beschuldigt, das Grab geschändet zu haben.“59 Der Deklamator muss den Helden dann entweder anklagen oder verteidigen. In Variationen können die Regeln implizit sein (der Hinweis auf die Unrechtmäßigkeit von Verbrechen wie Mord ist überflüssig) und die Szenarien wunderbar verzwickt:

Ein Mann hatte einen blinden Sohn, den er zu seinem Erben gemacht hatte. Dann heiratete er eine Stiefmutter [die römische Leserschaft wird wissen, dass Stiefmütter fast immer böse sind] und brachte den Jungen in einen abgelegenen Teil des Hauses. In der Nacht, als er mit der Stiefmutter in seinem Zimmer lag, wurde er ermordet, und am nächsten Tag fand man das Schwert seines Sohnes in der Wunde, und die Wand zwischen seinem Zimmer und dem seines Sohnes war mit Handabdrücken blutig. Der blinde Sohn und die Stiefmutter beschuldigen sich gegenseitig.60

Es gab Regeln. Die Fälle sollten so ausgewogen sein, dass beide Seiten überzeugende Reden halten konnten. Die Fakten, die als Grundlage für die Deklamation festgelegt wurden, durften nicht verändert werden: Der Deklamator durfte kein Mordopfer als noch lebendig vorführen. Gesetze aus der realen Welt durften nicht eingeführt werden (obwohl andere rhetorische Gesetze eingeführt werden konnten und viele reale Gesetze rhetorische Entsprechungen hatten); juristische Formalitäten wurden in der Regel vermieden. „Unkünstliche“ Beweise – das Aufrufen von (imaginären) Zeugen oder die Behauptung, dass es ein Dokument gibt, das den Fall erledigt – waren nicht zugelassen. Der Wettbewerb bestand darin, eine überzeugende Hintergrundgeschichte zu entwickeln, welche die dargelegten Tatsachen in einen günstigen Kontext stellte (lateinisch color), einen Sprachstil beizubehalten, der mit der Natur des Prozessführers, den der Erklärende vorgab zu sein, übereinstimmte (idea-Theorie), das Problem oder die Probleme, die auf dem Spiel standen, zu erfassen (stasis-Theorie), überzeugend mit Plausibilitäten zu argumentieren, Emotionen beim Zuhörer hervorzurufen und sententiae oder eingängige, prägnante, einprägsame Sätze zu erfinden. Abscheuliche Folterungen konnten beschrieben werden, niemals aber Sex. Regionale Akzente waren verpönt, auf Stimme und Diktion wurde streng geachtet, und nur ein begrenztes Lexikon von Wörtern war erlaubt: nichts, was vulgär nach Neuem klang. In der griechischen Welt nahm diese Kontrolle des Wortschatzes schließlich die Form des Attizismus an – nicht zu verwechseln mit dem oben erwähnten „Attizismus“ im Lateinischen –, bei dem versucht wurde, kein Wort zu verwenden, das nicht bei athenischen Schriftstellern vor dem Tod Alexanders oder bei den frühen Dichtern, die aus Höflichkeit als attisch galten, zu finden war. Auch die Gesten mussten dem entsprechen.61

Es gibt ein beliebtes Corpus antiker Beschwerden über die Deklamation als Unterrichtsform – ein Corpus, zu dem Quintilian selbst, unser bei Weitem bekanntester Lehrer der lateinischen Rhetorik, gerne seinen Beitrag leistete, in dem er sich über die Phantasie der Themen, ihre Unbrauchbarkeit als Training für das tatsächliche Plädieren vor Gericht und den überzogenen Stil, der manchmal in den Schulen gefördert wurde, beschwerte.62 Aber das sind alles interne Kritiken: Vorschläge, wie der Rhetorikunterricht die vereinbarten Ziele besser erreichen könnte, und keine Vorschläge für wesentlich andere Bildungsziele – vielleicht Mathematik? Hauswirtschaft? – oder andere institutionelle Regelungen. Die Geringfügigkeit nachvollziehbarer Veränderungen im Laufe der Zeit in diesem Unterricht – erstaunlich für uns angesichts des völligen Fehlens zentraler oder offizieller Regelungen, gesetzlicher Vorschriften für die Beschulung von Kindern oder eines Systems öffentlicher Prüfungen, das die Lehrer an denselben Stoff und dieselben Methoden binden würde – deutet auch darauf hin, dass die Eltern recht zufrieden damit waren, da es in ihrer Macht stand, ihre Söhne jederzeit an eine andere Schule zu schicken.63 Das 3. und 4. Jahrhundert n. Chr. brachten neue Institutionen und Studiengänge mit sich: Nun war es möglich, eine formale Ausbildung in römischem Recht zu absolvieren (in Beirut, Rom und schließlich auch anderswo), Latein zu lernen (wenn man Griechisch sprach) oder Unterricht in Kurzschrift zu nehmen, was für eine kurze Zeit eine hohe Bevorzugung im kaiserlichen Dienst zu versprechen schien. Libanios von Antiochia, der im 4. Jahrhundert n. Chr. griechische Rhetorik lehrte, wetterte natürlich gegen solche neumodischen Lehren, weshalb auch wir davon wissen. Eine sorgfältige Untersuchung seiner Schriften zeigt jedoch, dass er nicht in erster Linie befürchtete, die Schüler könnten den Rhetor für eine solche Ausbildung verlassen sondern lediglich, dass sie ihre Zeit in seiner Schule verkürzen oder, was wahrscheinlicher ist, diese Studien – wie auch die Philosophie – erst nach Abschluss ihrer rhetorischen Ausbildung aufnehmen würden. Seine Schriften lassen vermuten, dass nur eine kleine Minderheit dies auch tat.64 Mit anderen Worten: Trotz des zeitgenössischen Gezeters und trotz unserer eigenen Verwunderung scheint die Ausbildung in Grammatik und Rhetorik, nach ihrer Langlebigkeit zu urteilen, die erfolgreichste Form der Bildung in der Geschichte des Abendlandes gewesen zu sein.

2 Die gesellschaftliche und historische Bedeutung der rhetorischen Bildung

Im Jahr 1847, am Rande der europäischen Revolution, brachte Dr. Wilhelm Adolf Schmidt, Professor für Geschichte an der Universität Berlin, in aller Eile seine Geschichte der Denk- und Glaubensfreiheit im ersten Jahrhundert der Kaiserherrschaft und des Christenthums zum Druck. Im folgenden Jahr war er Mitglied des kurzlebigen Frankfurter Parlaments, das sich erfolglos um eine liberale repräsentative Regierung in Deutschland bemühte. In weiser Voraussicht nahm er 1851 eine Stelle im sicheren eidgenössischen Zürich an. In seiner Geschichte der Gedanken- und Glaubensfreiheit durchforstete er alle Schriften des 1. Jahrhunderts n. Chr. (und vieles davor und danach) nach jeder antimonarchischen Gesinnung, die er finden konnte, und sein Blick fiel natürlich auf die überlieferten Deklamationen über die Beseitigung von Tyrannen (siehe Abschnitt II unten).1

Schmidt ging davon aus, dass solche Deklamationen Ausdruck des Protestes und der Rebellion gegen das römische Kaisertum waren: Er bemerkte, dass Caligula einmal einen Rhetor verbannt hatte, der eine Deklamation gegen die Tyrannis gehalten hatte, und dass Domitian einen Redner hinrichten ließ.2 Eine solche politische Deutung der Deklamation als Angriff auf das kaiserliche System hat gelegentlich Zustimmung gefunden,3 konnte aber letztlich wenig ausrichten gegen die zahlreichen Hinweise darauf, dass das kaiserliche Regime keine systematischen Anstrengungen unternahm – abgesehen von den vereinzelten Grausamkeiten Caligulas und Domitians –, um Deklamationen gegen die Tyrannis in den Schulen zu unterdrücken, die so populär blieben, dass Juvenal sie als Grundnahrungsmittel eines Lehrers bezeichnen konnte: „Was für eiserne Eingeweide musst du haben, Vettius, … wenn deine drängende Schulklasse wilde Tyrannen erschlägt! … Derselbe Kohl tötet Tag für Tag elende Lehrer!“4 Tyrannentopik wurde nicht nur nicht unterdrückt, sondern ihre Bekanntheit machte sie zu einem bequemen Werkzeug, mit dem das kaiserliche Regime und seine Anhänger Usurpatoren bekämpften. Früher als „Banditen“ und „Piratenhäuptlinge“ beschimpft, wurden Usurpatoren ab Konstantin in „Tyrannen“ umgewandelt.5 Und der Vergleich mit derselben vertrauten Figur wurde von den Rednern auch benutzt, um auf böse Beamte einzuprügeln (gewöhnlich erst, wenn diese aus ihren Provinzen abgereist waren – eine Entwicklung also, die ebenfalls als unterstützend für die kaiserliche Herrschaft angesehen wurde, denn die Kaiser der Spätantike waren froh, als Verbündete ihres Volkes gegen die Missbräuche ihrer eigenen Untergebenen angesehen zu werden.6

Die Deklamation war kaum eine Form des Aufruhrs gegen das kaiserliche Regime, aber Schmidts Hypothese ist in letzter Zeit wieder aufgetaucht als ähnliche Argumente erneut vorgebracht wurden, nämlich dass die Deklamation die römische Gesellschaftsordnung oder die väterliche Autorität untergrabe. Diese Argumente richten sich gegen eine etwas ältere soziologische Interpretation, wonach die Deklamation die gesellschaftliche Hierarchie verstärkte.

Neben den soziologischen Deutungen gibt es aber auch historische Interpretationen. Über die tiefere Bedeutung der rhetorischen Ausbildung ist man sich nicht einig geworden. Jahrhundertelang akzeptierten die Gelehrten die Deklamation für bare Münze, als eine bloße Form der Bildung (auch wenn sie diese in ihrer Zielsetzung und ihrer Methode oft für pervers hielten) ohne grundlegende gesellschaftliche Bedeutung, und sie waren glücklich, ihr die Ziele zuzugestehen, welche die antiken Lehrer für sie beanspruchten, nämlich die Erzeugung von Beredsamkeit und (in zweiter Linie) moralische Verbesserung.7 Und sie hatten die mächtige Unterstützung der Renaissance, die ihr Bestes tat, die römische rhetorische Bildung wiederzubeleben, um durch Wiederbelegung der römischen Beredsamkeit die moralische Erhebung der Studenten zu erreichen.8

In der Mitte des 20. Jahrhunderts kamen jedoch Zweifel am Wert der Redegewandtheit auf (nachdem man viel Erfahrung damit gemacht hatte, dass sie zum Schlechten eingesetzt wurde) und schließlich auch an der Zweckmäßigkeit (oder Weisheit) des Moralunterrichts in der Schule. Und diese Zweifel wurden auf die römische Erziehung projiziert, um die antiken Aussagen über ihren Wert zu untergraben. So waren die Gelehrten bereit, die Aussagen der Antike über die Funktionen der rhetorischen Ausbildung zu verwerfen, lange bevor moderne Gelehrte etwas fanden, das sie ersetzen konnte. Dies wurde schließlich in den späten 1990er Jahren nachgeliefert, als die Denkschulen der 1960er, 1970er und 1980er Jahre, die meist der Literatur entlehnt waren und schließlich in die Altertumswissenschaft einsickerten, soziologische Analysen und Vorschläge zu den verborgenen Folgen der rhetorischen Ausbildung mitbrachten.9 „Was“ – so fasste eine Wissenschaftlerin 2007 die Frage zusammen – „lehrte die Rhetorik all jene, die sie studierten, ohne politische Führer, berühmte Redenschreiber oder lehrende Sophisten zu werden? War sie wirklich nützlich für Kaiser, Verwalter, Soldaten oder Frauen oder nur eine konventionelle, dekorative Errungenschaft? Auf welche Weise schult die Rhetorik das Denken, das Analysieren und das Kritisieren? Wie wirkte sie sich auf die kognitive Entwicklung derjenigen aus, die sie erlernten, oder auf ihr Selbstverständnis?“10

Zumindest lehrte die rhetorische Ausbildung ihre Schüler, wie gebildete Menschen zu sprechen, und zumindest zahlten die Väter dafür, ihre Söhne mit einer markanten und als gesellschaftlich überlegen gekennzeichneten Art zu sprechen vertraut zu machen. Darüber hinaus lehrte die rhetorische Erziehung nicht nur künstliche Sprechgewohnheiten, sondern auch das Verhalten: Haltung, Gang und körperliche Manierismen, dazu auch, welche Gesten man verwenden und welche man als vulgär vermeiden sollte. Auch dies diente dazu, die Schüler gesellschaftlich abzugrenzen und zu erheben.11

Es stellt sich die Frage, welche Bedeutung ein solch überlegenes Auftreten in einer Welt (im Gegensatz zu unserer) hatte, in welcher der Status bereits so deutlich und sichtbar markiert war. Die gesellschaftliche Stellung in der römischen Welt war in der Regel unmittelbar an der Kleidung ablesbar: Typ, Applikationen, Zustand und Sauberkeit. Als Lehrer der Rhetorik betont Libanios natürlich die zusätzliche Bedeutung der rhetorischen Ausbildung: „Wenn jemand mit deinen Sklaven nackt und plaudernd zu dir käme und sonst nichts von dir wüsste, würde er es nicht für gerecht halten, dass du Macht über sie hast.“12 Und so, fährt Libanios fort, sollten sich seine Adressaten der Rhetorik widmen, um den entscheidenden gesellschaftlichen Unterschied zwischen freien Menschen und Sklaven zu unterstreichen. Doch das Szenario des Libanios ist hoffnungslos konstruiert. Wie viele der angesehenen Persönlichkeiten einer antiken Stadt – die Personengruppe, an die sich Libanios wendet – würden ihren Mitbürgern unbekannt sein? Wie oft würden der Herr und seine Sklaven allesamt unbekleidet sein? Und selbst wenn sie unbekannt und alle splitterfasernackt wären, wie oft würden sich Herr und Sklaven auf gleicher Augenhöhe vergnügen, anstatt dass die Sklaven dem Herrn dienen und ihm helfen, ein weiteres alltägliches Zeichen des Status?13 Man mag Libanios zumindest die Erkenntnis abnehmen, dass die Unterscheidung zwischen hoch- und niederrangig wahrscheinlich ein sekundärer Beitrag zur rhetorischen Ausbildung war.14

Dennoch waren die römischen Eltern der herrschenden Schicht sehr darauf bedacht, dass ihre Kinder richtig redeten. Sie achteten darauf, dass die Sklaven, die sich selbst um die kleinsten Babys kümmerten, gut sprachen; um gute Sprachbeispiele zu bieten, pflegten einige Eltern – sogar reiche Eltern, die sich leicht Sklaven leisten konnten, welche die schmutzige Arbeit erledigten – ihre kleinen Kinder selbst.15 Darüber hinaus lieferten zahlreiche Exempla, die bei den Römern so mächtig waren – ob sie nun der Wahrheit entsprachen oder nicht –, Modelle dafür, wie Mitglieder der Oberschicht ihre eigenen Kinder unterrichteten: Wir denken an Caesars Mutter und an Cornelia, die Mutter der Gracchen.16 Eine zusätzliche Schulung der kindlichen Stimme fand im ludus, der Elementarschule, mit dem Grammatiker und in der Tat in der gesamten Erziehung wohlhabender Jungen statt.17 Könnte dies daran liegen, dass hervorragende Leistungen in der Rhetorik – sowohl in der Rede als auch im Auftreten – zusätzlich zu ihrem praktischen Wert in einer Welt der Räte und Gerichte auch als eine Form des Wettbewerbs zwischen relativ Gleichgestellten in der Gesellschaft dienten? Handelte es sich dabei um einen Wettbewerb, der parallel zu dem um öffentliche Ämter oder öffentliche Wohltaten verlief, ein Wettbewerb in einer Gesellschaft, die anscheinend einen unendlichen Appetit auf solche Wettbewerbe hatte?18 Die Bildung in der römischen Epoche war ja selbst sehr wettbewerbsorientiert.19Eine zufällige Erwähnung zeigt, dass ein Elementarlehrer umgangssprachlich als harenarius, als „Arenawärter“, bezeichnet wurde, und wir stehen plötzlich vor der beunruhigenden Möglichkeit, dass der eigentliche Sinn von ludus, der lateinischen Elementarschule, weniger „Spielplatz“ als „Gladiatorenschule“ war.20 Auf einer höheren Ebene war der Wettbewerb in die Struktur der Deklamation eingebettet, etwa wenn ein Junge in suasoriae, Beratungsreden, „ja“ und sein Gegner „nein“ sagte, und wenn ein Junge in controversiae, imaginären Gerichtsprozessen, für Schuld und sein Gegner für Unschuld (oder die Schuld eines anderen) argumentierte. Es ist leicht zu vermuten, dass die römischen Väter, die selbst die gleiche Ausbildung durchlaufen hatten, die leidenschaftlichsten Fans und Kritiker ihrer Söhne waren und dass diese Väter ein sehr gutes Gespür dafür hatten, welche Jungen in den Schulen gute und welche schlechte Redner waren, so wie Eltern heute, die sich (zu) sehr in den Sport ihrer Kinder einmischen. So soll es sich, als Cicero noch ein Junge war, zugetragen haben (der Wahrheitsgehalt der Geschichte ist nebensächlich), dass die Väter anderer Jungen, die seine Schule besuchten, um ihn zu hören, ihren eigenen Söhnen mürrische Vorwürfe machten, weil sie ihn bewunderten, anstatt ihn zu übertreffen.21

Bei den Erwachsenen können wir aus den Inschriften ersehen, dass rhetorische Spitzenleistungen unter den ganz durchschnittlichen Mitgliedern der bürgerlichen Führungsschichten des Reichs bewundert wurden – und dass man darin wetteiferte, als würde der schulische Wettbewerb nie enden. In der überlieferten Literatur und in den Inschriften beziehen sich fast alle lobenden Verweise auf die Überlegenheit in Bildung oder literarischer Kultur gegenüber relativ Gleichgestellten (und ihre Zahl ist enorm), nicht gegenüber der unwissenden Masse (gegenüber der eine solche Überlegenheit angenommen wurde).22 Im 4. Jahrhundert n. Chr. wurde von einem Studenten, der von einem Rhetorikstudium in einer entfernten Stadt nach Hause zurückkehrte, erwartet, dass er eine öffentliche Rede hielt, um sein Können vor einer ganzen Kammer rivalisierender Kritiker zu zeigen – eine gefürchtete Erfahrung.23 Vielleicht diente die rhetorische Ausbildung also eher dazu, sich innerhalb der Wettbewerbskultur der griechischen und römischen Oberschicht voneinander abzugrenzen, als die Oberschicht von der Unterschicht zu unterscheiden.

Im griechischen Osten manifestierte sich dieser Wettbewerb im öffentlichen Reden als Selbstzweck letztendlich in einer kleinen Gruppe von umherreisenden Star-Rhetorikern – den sogenannten „Sophisten“ –, so wie die römische Welt Star-Athleten und -Gladiatoren, Star-Mimen und -Pantomimen (Schauspieler), Star-Wagenlenker und Star-Löwen in der Arena kannte. Diese Sophisten konkurrierten untereinander um die Vorherrschaft und konnten bei ihren öffentlichen Auftritten Massen von begeisterten Zuhörern versammeln.24 Für ihre Darbietungen spezialisierten sie sich auf Reden zu mythischen Vorlagen (die Trojaner nehmen ein Bündnisangebot von Achilleus an) und historischen Themen (Miltiades verteidigt sich, weil es ihm nach Marathon nicht gelungen ist, Paros einzunehmen) – alles Themen aus der Zeit vor dem Tod von Alexander dem Großen. In größerem oder geringerem Ausmaß (aber meist in größerem Ausmaß im Laufe der Zeit) konkurrierten sie auch im strengen Attizismus, wobei sie sich auf das Griechisch der athenischen Schriftsteller aus der Zeit vor Alexander dem Großen beschränkten.25 Außerordentlich verehrt (nicht zuletzt von ihnen selbst) als Helden der Hochkultur – der abgedroschene, aber unvermeidliche Vergleich ist der mit Star-Tenören – konnten die Sophisten die Ehrerbietung römischer Beamter und sogar der Kaiser auf sich ziehen und so eine gewisse Macht in der Welt außerhalb der Rhetorik ausüben, wobei sie oft ihre Städte bei Gesandtschaften nach Rom vertraten.26

Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass die Macht in der großen Welt jemals das Hauptziel der rhetorischen Ausbildung oder gar der Karriere als Sophist war; wäre es so gewesen, hätte es auch Sophisten im Westen und mehr als eine Handvoll im Osten gegeben. Vielmehr war es ein beiläufiger Nebeneffekt der Tatsache, dass die rhetorische Ausbildung ab einem bestimmten gesellschaftlichen Niveau nahezu universell war und die rhetorische Ausdrucksweise daher die lingua franca der herrschenden Schicht darstellte, dass Statthalter und Kaiser erwarteten, eloquent angesprochen zu werden, dass die Beredsamkeit bewundert wurde und dass daher ihre fähigsten Vertreter von allen Personen, welche diese Bildung teilten, entsprechend geschätzt und respektiert wurden.

Sieht man sich die überlieferten Reden der Deklamatoren an, so stellt man fest, dass sie nicht nur häufig als Fürsprecher von Menschen auftraten, die ihnen nicht ähnlich waren – Arme, Frauen, Sklaven, Prostituierte –, sondern manchmal sogar mit den Stimmen dieser Personen sprachen (wobei sich der Fürsprecher ihre Äußerungen vorstellte oder das in der Antike übliche Verbot für Frauen und Sklaven, vor Gericht zu plädieren, aufgehoben war, damit sie sich als solche Personen ausgeben konnten). Es wird vermutet, dass dieser Aspekt des Rollenspiels bei der Deklamation (zumindest im lateinischen Fall) dazu diente, reiche junge Männer für ihre spätere Rolle als Oberhaupt einer römischen Familie zu erziehen. Das setzte ein (durch die Darstellung oder sogar Verkörperung in der Deklamation vermitteltes) Verständnis für die Sichtweisen von Frauen, Sklaven und Freigelassenen voraus, also derer, die rechtlich und anderweitig unter ihrem Schutz standen, und auch für die potenziellen Konflikte, die ihrer Rolle innewohnen, zwischen der schrecklichen, vielleicht tödlichen Macht der patria potestas und der erwarteten pietas und Zuneigung gegenüber Familie und Dienern, welche diese Macht einschränkten.27

„Eine humanistische Interpretation dieser gesellschaftlichen Praxis würde davon ausgehen, dass ein solches Rollenspiel durch die Teilnahme als Darsteller und Zuschauer die Perspektiven des Kindes erweitern könnte“, so ein Wissenschaftler.28 Und warum auch nicht? Aber eine solche humanistische Interpretation wurde (selbst vom Verfasser dieser Worte) unter dem Einfluss der theoretischen Methoden der Zeit, in der sie geschrieben wurden, abgelehnt. Um die Funktion des deklamatorischen Rollenspiels mit der Theorie in Einklang zu bringen, dass Rhetorik ein Zeichen gesellschaftlicher Überlegenheit sei, wurde gefordert, dass das Ergebnis eines solchen Rollenspiels (und der Deklamation im Allgemeinen) die endgültige Bestätigung der gesellschaftlichen Rollen sei.29 Es wurde argumentiert, dass die Themen der Deklamation und ihre Konventionen (wer durfte für sich selbst sprechen, wer musste für sich sprechen lassen?) im Bewusstsein des jungen Deklamators die gesellschaftlichen Hierarchien zwischen Männern und Frauen (und effeminierten Männern), Reichen und Armen, Freien und Sklaven, Römern und Persern sowie Griechen und Nicht-Griechen verstärkten, nicht zuletzt dadurch, dass der zweite Typus in jeder Paarung als böse und gesellschaftlich störend dargestellt wurde.30

Woher stammen diese Ideen, die in den 1990er Jahren aufkamen? Für die Argumentation des vorliegenden Buchs, das sich häufig mit den Folgen akademischer Zufälle beschäftigt, ist es von Bedeutung, dass diese Argumente – rhetorische Bildung als Statusmarker und als Erziehung zur Hierarchie – selbst das Ergebnis eines solchen akademischen Zufalls sind. Es handelte sich um die zufällige Übernahme oder Assimilierung (durch Osmose an den Universitäten) der Ansichten von Michel Foucault, Judith Butler und Pierre Bourdieu durch die kleine Zahl von Alterumswissenschaftlern, die sich ursprünglich für Gesellschaftstheorie interessierten, und um die anschließende Verbreitung dieser Ansichten von Person zu Person, von Artikel zu Artikel und von Buch zu Buch unter einer größeren Zahl von Gelehrten, die sich mit der antiken Welt befassen. Clifford Geertz jedoch schrieb zur gleichen Zeit wie Foucault und Bourdieu. Hätten diese Gelehrten statt jener Geertz gelesen, wäre die Interpretation der Deklamation aus einer „humanistischen Perspektive“, die es erlaubte, den Geist des Rhetorikstudenten zu erweitern, anstatt ihn einzuengen, möglicherweise nicht verschmäht worden. In einem solchen Fall könnten wir die Deklamation eher als einen Kommentar zur gesellschaftlichen Ordnung lesen, als eine Möglichkeit, die tiefen Strukturen und Widersprüche der Gesellschaft zu verstehen, und als einen Weg, um zu begreifen, wie die verschiedenen Gruppen der Gesellschaft und die Ideale dieser Gruppen in Konflikt geraten oder zusammenarbeiten, wobei dieses Wissen als Selbstzweck und nicht als Mittel zur Machtausübung verstanden wird.31 Heute wären vielleicht beide Interpretationen gleichermaßen veraltet. Aber ich betone: Die von Foucault, Butler und Bourdieu inspirierte Schule der Lehre von der Hierarchie in der Interpretation der rhetorischen Ausbildung, die lange Zeit vorherrschte, war keineswegs unvermeidlich. Sie war ein Zufall des Lebens in der modernen Universität.

Und nicht weniger zufällig war die Erwiderung. Denn zufällig gab es an den Universitäten zur gleichen Zeit eine rivalisierende Theorie, die Antonio Gramsci und Foucault (und seine Anhänger) mit James C. Scotts Weapons of the Weak (1985) vermischte und eine Denkweise hervorbrachte, welche die untersuchten Phänomene nicht als ausnahmslos unterstützend für die bestehenden Machtstrukturen, sondern vielmehr als diese ausnahmslos unterminierend identifizierte.32 Im Extremfall, wenn „Widerstand“ in praktischen Tätigkeiten (wie Teppichknüpfen und Friseurhandwerk) identifiziert wurde, die weder von den vermeintlichen Widerständlern noch von den vermeintlichen Unterdrückern als solche erkannt wurden, stand dieser Ansatz zu Recht unter Verdacht. Aber die Deklamation im Römischen Reich ist kein so extremer und unwahrscheinlicher Fall.33 Selbst die oberflächlichste Lektüre der überlieferten Deklamationen zeigt, dass der schwächere Partner des Paares von Standardfiguren, die sich im Konflikt befinden – der Arme gegen den Reichen, der Sohn gegen den Vater, die Frau (sofern sie keine Stiefmutter ist) gegen den Mann – sowohl häufiger vertreten ist als auch sympathischer dargestellt wird. Darüber hinaus erheben die Deklamatoren erstaunlich freimütige Vorwürfe gegen missbräuchlich genutzten Reichtum und väterliche und eheliche Grausamkeit – erstaunlich freimütig, wie uns scheint, für eine Welt, die sich mit Hierarchie und patria potestas begnügte, in der reiche Väter die Lehrer bezahlten, und eine seltsame Form der Ausbildung für Gerichte, in denen die Richter und ihre Berater genau solche reichen Väter und Ehemänner waren.34 Hat also die Deklamation die gesellschaftliche Ordnung, in der Schüler und Lehrer lebten, aufgerüttelt, oder konnte sie aufrütteln, oder hat sie zumindest ihre Schüler mit scharfen Stöcken zum Aufrütteln ausgestattet?35 Dass die Deklamation in der Tat subversiv sein konnte, gestehen die antiken Lehrbücher selbst ein. Wenn ein wirklich gefährliches Thema in Betracht gezogen wurde – vielleicht eine Reflexion über den Kaiser oder seine Familie –, beschreiben die Lehrbücher ausführlich etwas, das als „figurative Sprache“ bezeichnet wird, eine Rede, die unschuldig klang, aber von den Eingeweihten in einem anderen oder entgegengesetzten Sinne als die gesprochenen Worte verstanden werden sollte.36Und man könnte anmerken, dass es in den rhetorischen Lehrbüchern keine parallele antike Diskussion – ähnlich der subversiven „figurativen Sprache“ – über die Rolle der Deklamation bei der Festigung gesellschaftlicher Hierarchien gibt.

Dennoch fragt man sich nach der Wirkung auf die Gesellschaft. Die antiken Kritiken an der Deklamation, die uns überliefert sind, beklagen die phantastische Qualität der deklamatorischen Themen und die Entfernung der schulischen Deklamation von den tatsächlichen Plädoyers vor Gericht, aber sie beklagen nie, dass die Deklamation die Macht der Väter gefährdet oder die allgemeine gesellschaftliche Ordnung untergräbt. Soweit wir wissen, haben reiche Väter ihre Söhne auch nicht wütend von der Schule genommen, weil ihre Lehrer ihnen Deklamationen auftrugen, in denen sie die Grausamkeit reicher Väter anprangerten. Unabhängig von den Zwecken, die mit der Äußerung subversiver Gefühle in der Deklamation verfolgt wurden, wurde die Praxis der Deklamation als Ganzes weder von den Behörden noch von den Vätern noch von der Gesellschaft insgesamt als subversiv empfunden. Das liegt vielleicht gerade an der Unwirklichkeit, in der sich die Deklamation bewegte, also an der Unwirklichkeit, die eine solche Klage nach sich zog. Da die Deklamation kategorisch als „Fiktion“ definiert wurde (wenn wir dieses gefährliche Wort auf eine antike Literatur anwenden dürfen), schützte diese Kategorisierung die Deklamation, ihre Lehrer und ihre Schüler.

Wir verabschieden uns also von den soziologischen Interpretationen der Schuldeklamation und lassen sie in einem hartnäckigen Konfliktzustand zurück, der von scharf gegensätzlichen Standpunkten beherrscht wird: Deklamation, welche die Hierarchie untermauert, gegen Deklamation, welche die Hierarchie untergräbt – ein Patt. Und wir müssen leider feststellen, dass die Existenz eines solchen Streits unter den Gelehrten nicht gerade dazu beiträgt, die Ansichten der einen oder anderen Seite pauschal zu akzeptieren. Dennoch gibt es viel Nützliches mitzunehmen: Die Wettbewerbsqualität und das Rollenspiel der Deklamation zeigen die einfache Kraft und Intensität dieser Form der Bildung. Es wurde viel gelesen, auch auf höherem Niveau (und je mehr, desto besser – da wären sich Quintilian und Libanios einig gewesen), aber diese Lektüre wurde nicht durch einen schriftlichen Aufsatz oder eine Prüfung oder ein monotones Referat nachgewiesen. Das Endprodukt war ein häufiger (vielleicht täglicher) öffentlicher Auftritt des Schülers. Wenn man moderne Analogien sucht, war die Ausbildung in der Deklamation weniger mit dem Besuch einer modernen Schule oder Universität vergleichbar, sondern eher mit dem Unterricht in einem Musikkonservatorium oder einer Schauspielschule, vielleicht auch mit einem Sporttraining.37 Quintilian enthüllt unbeabsichtigt den Druck, den eine solche Ausbildung auf die Schüler ausübte, wenn er sich darüber beklagt, dass die Schüler zu eifrig waren, die Deklamationen anderer Schüler zu loben, bis hin zu dem Punkt, dass sie rituell aufsprangen und wiederholt mitten in ihren Reden jubelten.38 Natürlich taten sie das: Jeder Junge wusste, dass er als nächster oder sehr bald sprechen würde. Und ich denke, man kann mit Fug und Recht annehmen, dass ein solcher Unterricht eine tiefere Wirkung auf den Schüler haben würde, als wir es heute von der direkten Betreuung erwarten, und nicht die schwächere Wirkung des heutigen, eher distanzierten Lehrens und Prüfens. Vielleicht war das, was die Studenten lernten, für uns seltsam, aber es sollte betont werden, dass sie das, was sie lernten, tatsächlich sehr intensiv lernten. Dies mag dazu beitragen, die fortgesetzte Praxis der Deklamation im Erwachsenenalter zu erklären, die im Westen bei Seneca dem Älteren und in der griechischen Welt bei den großen konkurrierenden Sophisten zu beobachten ist. Die Deklamation wurde auf einem so tiefgreifenden Niveau gelehrt, dass es oft unmöglich war, die Deklamation hinter sich zu lassen. Sie verfolgte den Geist ihrer Schüler ihr ganzes Leben lang, wie das unablässige Auftauchen rhetorischer Gewohnheiten in der lateinischen Literatur der Kaiserzeit reichlich beweist.39

Wie die rhetorische Ausbildung ihre Studenten geformt hat, ist in erster Linie Gegenstand derer, die sich mit der Literatur der Antike beschäftigen. Was die rhetorischen Studien nicht lehrten – was wir als die Lücken betrachten können, die sie im römischen Intellekt hinterließen –, haben vor allem diejenigen erforscht, die sich mit der Geschichte der Antike befassen. Der große Altertumswissenschaftler Henri-Irénée Marrou wies darauf hin, wie eng diese Ausbildung war, da sie alle bedeutenden mathematischen und naturwissenschaftlichen Kenntnisse ausschloss, und dass das vermittelte humanistische Wissen – Philosophie, Geschichte, Geographie – für den Gebrauch der Rhetorik in Fragmente zerhackt und ohne jegliche Organisation und Systematik gelehrt wurde. Marrou war der Meinung, dass diese pädagogische sclérose sénile zum Niedergang des spätrömischen Reichs und damit implizit zum Beginn des Mittelalters beitrug.40

Andreas Alföldi, der 1945 Stalins Panzer auf seine Heimatstadt Budapest zurollen sah und kurz davor stand, von deutschen Stabsoffizieren aus seinem Haus vertrieben zu werden, kam auf die Idee, dass die rhetorische Bildung des 3. und 4. Jahrhunderts n. Chr. einen Konflikt zwischen der gebildeten römischen Senatsaristokratie und den kriegerischen Kaisern jener Zeit schuf, insbesondere dem kriegerischen und pragmatischen Valentinian (364–375 n. Chr.). Dieser theoretische Konflikt erklärt nicht nur den Missbrauch, dem diese Kaiser durch die literarische Tradition ausgesetzt waren, sondern auch die Katastrophe, die eintrat, als die Senatoren den Wettstreit um die Nachfolge zugunsten von Valentinians Sohn Gratian entschieden, einem verweichlichten Geschöpf der Senatoren, das aufgrund seiner Bildung nicht in der Lage war, die durch den Westfeldzug der Hunnen ausgelöste Krise an den Grenzen zu bewältigen, die in der verheerenden Schlacht von Adrianopel (378 n. Chr.) gipfelte. Somit ist die rhetorische Ausbildung zumindest teilweise für den Untergang des Imperiums im Westen verantwortlich.41

Für Ramsay