Riot, don't diet! - Elisabeth Lechner - E-Book

Riot, don't diet! E-Book

Elisabeth Lechner

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Beschreibung

Dick, haarig, queer, alt, Schwarz, behindert: Wer in unserer Gesellschaft nicht der Norm entspricht, wer sich und seinen Körper nicht dem kommerzialisierten Zwang zur Selbstoptimierung unterwirft, wird marginalisiert, gemobbt und ausgegrenzt. Doch wer definiert Schönheit und wem nützt das? Klar ist jedenfalls: Schönheit ist nicht nur ein Geschäft, sie ist vor allem eines: politisch. Wenn eine Frau wegen unrasierten Beinen Morddrohungen bekommt, wenn Jobbewerbungen nach dem Körpergewicht beurteilt werden, wenn ein dunklerer Teint "in" ist, aber Schwarze Menschen weiterhin strukturell diskriminiert werden – dann ist ein Umdenken der Mehrheit und ein Aufstand gerade für jene Menschen notwendig, die besonders unter dem Schönheitsdruck in den Medien und an unserem Umgang miteinander leiden. Elisabeth Lechner trifft AktivistInnen, zerlegt gekonnt gängige Vorurteile und legt einen ermutigenden 5-Punkte-Plan vor, wie echte Solidarität aussehen kann und wie wir alle unseren Begriff von Schönheit hinterfragen können. Dem Riot schließen sich an: Christl Clear ● kerosin95 ● Laura Gehlhaar ● Linus Giese ● minusgold ● Ulrike Schöflinger uvm.

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Elisabeth Lechner

RIOT,DON’TDIET!

Aufstand der widerspenstigen Körper

Dieses Buch ist für alle, die schon einmal aufgrund ihres Aussehens beschämt, herabgesetzt, beleidigt, diskriminiert und verletzt wurden, deren Körper sie zu Zielscheiben für Spott und Häme machen. An euch ist nichts falsch! An den Machtstrukturen, die unsere Gesellschaft ausmachen, aber so einiges. Eine andere, inklusivere Welt ist möglich! Bleibt hoffnungsvoll, widerspenstig und widerständig! Wir sind viele! #RiotDontDiet

INHALT

Aufstand der widerspenstigen Körper

Neue Utopien!

DICK. Wie wir Dickenhass verbannen und Raum für alle schaffen

SCHWARZ. Wie wir Exotisierung, Othering und Rassismus ein für alle Mal loswerden

HAARIG. Warum Körperbehaarung und Frisuren politisch sind

QUEER. Körper, ihre Geschlechter, ihr Begehren. Wie queere Körper von Schönheitsdruck betroffen sind

BEHINDERT. Warum wir einen wirklich inklusiven Schönheitsbegriff brauchen

ALT. Warum wir die sichtbaren Spuren eines gelebten Lebens feiern statt abwerten sollten

In 5 Schritten zur Schönheitsrevolution

Weiter: lesen, denken, machen

Dank

AUFSTAND DER WIDERSPENSTIGEN KÖRPER

„Die Themen Geschlecht und Körper gehen uns alle an.Es braucht Aufstand, um in Bewegung zu kommen.Aufstehen – bewegen – ständig.Es braucht die geballte Faust.“

Sissi Kaiser, @sissikaiser_, Medienpädagogin, Filmemacherin und Multimediale Kunsttherapeutin

ZEIT FÜR ZORN (EINLEITUNG)

Es ist Zeit für eine Schönheitsrevolution, einen Aufstand der widerspenstigen Körper! Warum? Weil wir – und mit „wir“ meine ich vor allem Frauen, queere Menschen, Schwarze Menschen und People of Color, Menschen mit Behinderungen, ältere Menschen und alle Marginalisierten – noch immer vorwiegend über unser Äußeres definiert werden.1 Weil wir auf die Struktur unserer Haare, den Farbton unserer Haut, die Maße unseres Körpers und seine physische Fitness reduziert werden, statt dass Zwischenmenschliches und Inhalte im Fokus unserer Begegnungen stehen. Weil wir lernen müssen, Schönheit wieder politisch zu denken; sie als Kapital zu verstehen, das „Schönen“ unzählige Privilegien verleiht, während die als hässlich oder gar eklig Positionierten ökonomisch benachteiligt, gesellschaftlich abgewertet und ausgegrenzt werden. Weil es Zeit wird, dass wir eine Kultur der oberflächlichen Bewertung, die verletzt, in eine Kultur des solidarischen Miteinanders verwandeln, die hilft und unterstützt.

Aber was ist eigentlich meine Sicht, aus der ich argumentiere? Ich bin ein Kind der sehr späten 80er Jahre, geboren am 22. Dezember 1989, und weiße, autochthone Österreicherin aus einem Nicht-Akademiker*innen-Haushalt. Ich fühle mich wohl in dem Geschlecht, das mir bei der Geburt zugewiesen wurde und bezeichne mich daher als cis Frau mit den Pronomen „sie/ihr“. Ich bin durchschnittlich groß, durchschnittlich schwer (mit einer Geschichte als dickes Kind) und habe keine Behinderungen. Außerdem bin ich promovierte Kulturwissenschaftlerin. Ich habe meine Dissertation zu Schönheitsidealen und der Body-Positivity-Bewegung geschrieben, also jahrelang geforscht dazu, wer warum als schön gilt und welche Vor- und Nachteile diese Zuschreibungen im Leben der Menschen bedeuten. Ich habe mir angesehen, wie die Popkultur „eklige“ weibliche Körper darstellt, was deren Sichtbarkeit im Mainstream für „den Feminismus“ bedeutet, und welche Makel die Schönheitsindustrie Jahr für Jahr erfindet, um immer neue Produkte zu verkaufen. Meine Perspektive ist eine interdisziplinärwissenschaftliche. Die Ergebnisse meiner Forschung stellen die Basis für meine Forderungen nach politischem Wandel dar. Bewusst lasse ich in diesem Buch aber auch aktivistische Stimmen zentral zu Wort kommen, deren Lebensrealitäten und Geschichten hier mehr Raum bekommen sollen als in Form von nackten Zahlen oder Studien in Fußnoten.

Abseits von meiner Forschung, mit der wir uns in diesem Buch noch beschäftigen werden, haben mir zwei noch gar nicht lange zurückliegende persönliche Erfahrungen noch einmal klargemacht, warum wir gesellschaftlich dringend über Schönheit reden müssen; warum Schönheit wieder als feministisches Thema mit politischer Sprengkraft begriffen werden muss, das verschiedenste Strukturen in sich vereint, die Ungleichheit schaffen. Mir wurde klar, warum die Rufe der Body Positivity nach Selbstliebe allein noch lange nicht reichen und wir Schönheit strukturell zwischen Kapitalismus, Patriarchat und kolonialen Zusammenhängen verorten müssen.

Die erste Geschichte bezieht sich auf ein Interview mit mir, das zu Weihnachten 2019 unter dem – zugegebenermaßen verkürzten, reißerischen – Titel „Schönheit ist ein kapitalistisches Konstrukt“ in der österreichischen Tageszeitung Der Standard erschien.2 Wie es für Medienanfragen üblich ist, wurde ich auch vor der Veröffentlichung dieses Gesprächs um ein Porträtfoto gebeten. So weit, so unaufregend. Auf dem Foto bin ich geschminkt, trage eine rote Bluse samt passendem Lippenstift und Nagellack. Nach Erscheinen des Interviews war ich unterm Christbaum dann doch etwas überrascht zu lesen, dass hunderte Kommentator(*inn?)en nichts Besseres zu tun hatten, als mein Aussehen zu bewerten, wo ich doch gerade in besagtem Interview das Gegenteil forderte, nämlich an Inhalten gemessen zu werden. Einigen schien „das stylishe Auftreten, das starke Make-up mit lackierten Nägeln eher kontraproduktiv“. Andere hatten die gegenteilige Erklärung parat: „Wieder einmal eine eher unattraktive Frau, die es stört, als unattraktiv wahrgenommen zu werden, und jetzt eben den Dreh raus hat! Lookismus ist das Zauberwort! Ab jetzt kann man jedem Mann, dem eine Frau nicht gefällt, unterstellen, bösartigen, ja sogar toxischen Lookismus zu betreiben …“ Ein*e User*in ritt im nächsten Kommentar zu meiner Ehrenrettung aus, indem er*sie mich wiederum als „burschikos und gepflegt“ bezeichnete. Eine*r ging sogar so weit, ein Video auf der Website der Uni Wien über meine Forschung3 zu recherchieren, das meine vermeintliche Attraktivität belegen sollte. Scheinbar die zu erfüllende Voraussetzung, um als Frau in der Öffentlichkeit sprechen zu dürfen.

Als Wissenschaftlerin, die über Aussehen und Diskriminierung forscht und die notwendigerweise auch selbst ein Aussehen hat, ist es doppelt schwer, Leute dazu zu bringen, sich auf das Gesagte zu konzentrieren. Diese Kommentare beweisen, dass wir in einer zutiefst lookistischen Gesellschaft leben, in der Menschen aufgrund ihres Aussehens bewertet, stereotypisiert und oft auch diskriminiert werden. Also danke für die Kommentare!4

Die zweite Geschichte ist eine noch persönlichere. Seit Jahren lese ich privat und beruflich Bücher zu Body Positivity, ich schaue popfeministische Serien und Filme, analysiere sie kulturwissenschaftlich. Meine Social-Media-Kanäle bieten mir Empowerment und Vielfalt statt den immer gleichen Norm-Körpern; jeden Tag lerne ich neue Perspektiven kennen. Ich beschäftige mich mit empirisch fundierten Strategien gegen Dickenhass und weiß um die zentrale Bedeutung von Bewegungen wie Health at Every Size, die sich dafür einsetzen, Diskurse rund um Gesundheit und Körpergewicht komplexer zu betrachten, als dies normalerweise mit einem reinen Fokus auf Kilos der Fall ist. Ich feiere, dass es Frauen wie Lizzo mit zutiefst politischen Botschaften aufs Cover der historisch für ihre Weißheit und ihren Dickenhass bekannten Vogue schaffen5 und bin begeistert, wenn Menschen wie Sam Smith binäre Geschlechterzuschreibungen von sich weisen und offen über ihren Kampf mit ihrem Körperbild sprechen6, und trotzdem.

Und trotzdem passierte es mir vor Kurzem nach ein paar Tagen fürchterlicher Magenverstimmung und quasi ohne Nahrungsaufnahme, dass ich in Unterwäsche an meinem Spiegel vorbeiging und mir – halb überrascht, halb anerkennend – dachte: „Wow, so flach ist mein Bauch sonst nie!“ Wie leicht es hier wäre, toxische Essensverbote und Verhaltensweisen zu reaktivieren, einfach ein bisschen öfter zu verzichten, um ein bisschen näher an das ewig unerreichbare Ideal zu kommen. IST DAS NICHT VERRÜCKT!? Wie viel Forschung zu Body Positivity und Arbeit an der eigenen Selbstwahrnehmung braucht es noch, dass so schädliche Gedanken nicht die erste Reaktion auf körperliche Veränderungen sind? Warum ist es so schwer, den Körper als Wahrnehmungsmaschine wertzuschätzen statt als optische Hülle, die immer weiter optimiert werden muss? Meine Utopie ist es, den Körper als Medium zu verstehen, das mir Zugang zur Welt ermöglicht, uns unsere Umgebung mit allen Sinnen erfahren lässt. Dabei versuche ich zu verlernen, ihn für jede neue Falte, jedes Haar und jede Hautunreinheit geringzuschätzen. In einer von Lookismus geprägten Welt, in der Konzerne mit immer neu entdeckten „Makeln“ immer größere Profite machen und besonders Frauen mit Schönheitsdruck unter Kontrolle gehalten werden, sind wir von dieser Welt der Body Neutrality aber weit entfernt.

Wäre es nicht längst an der Zeit, denke ich mir in solchen Momenten, diesen antrainierten und nur so schwer zu überwindenden Selbsthass gegen das System zu wenden? Klar, wütend dürfen unserer Sozialisierung entsprechend gerade Frauen nie sein, aber Grund genug dazu haben wir! Es wird nicht mehr reichen, auf einer individuellen Ebene jeden negativen Gedanken mit positiven Affirmationen à la „Liebe dich selbst!“, „Du bist schön, so, wie du bist“ und Dankbarkeits-Mantras umzuprogrammieren. Das kann Einzelnen helfen, denn für die individuelle Psyche ist es super, wenn man es schafft, sich zu denken: „Ich lasse mich nicht unter Druck setzen.“ Doch nur weil Einzelne – meist privilegierte, weiße Frauen mit minimalen „Makeln“ – es schaffen, sich das einzureden und den Gegenwind auszuhalten, ist allen anderen noch nicht geholfen.

Für langfristige, wirklich inklusive Veränderung und eine echte Schönheitsrevolution ist Widerstand auf der individuellen Ebene nicht genug. Eine Neuausrichtung der eigenen psychosozialen Verfasstheit in Richtung Dankbarkeit, Akzeptanz und Selbstvertrauen, wie sie so oft auf Instagram propagiert wird, ist „capitalism, neoliberalism and patriarchy-friendly“7, wie Rosalind Gill das so schön ausdrückt, und im Endeffekt nicht genug. Nicht nur, weil davon meistens nur ohnehin schon privilegierte weiße Frauen die größten Vorteile davontragen – wenn überhaupt –, sondern weil wir mit der Umprogrammierung unserer Gefühlswelt im Endeffekt ein System aufrechterhalten, das uns nur verletzt.

Dauernd mit unerreichbaren Idealen und Unzulänglichkeitsnachrichten bombardiert zu werden, immer zu dick/zu dunkel/zu wenig fit/zu alt/zu queer etc. zu sein, sich nie repräsentiert zu sehen oder gar aufgrund körperlicher Merkmale die eigene Menschlichkeit abgesprochen zu bekommen, das tut weh, das macht zornig und regt auf! Warum sollten wir ruhig bleiben und uns trotz allgegenwärtiger Aggression gegen unsere immer falschen Körper in Selbstliebe üben, während wir in derselben Zeit zusammenkommen und die Revolution planen können? Statt (oder sagen wir zusätzlich zu) den täglichen pastellfarbenen Erinnerungen an mehr Selbstliebe auf Instagram wünsche ich mir also, dass wir unseren Selbsthass nehmen und in Systemgrant verwandeln! Mit diesem wiedergewonnenen Zugang zu unserem Zorn können wir nämlich die Welt verändern! Er hilft uns nicht nur, die wahren Gründe für Diskriminierung ausfindig zu machen, sondern auch, kollektiv gegen sie vorzugehen. Oder wie Musiker*in kerosin95 sagt: „Ja! Ich bin der festen Überzeugung, dass wir immer eine Revolution brauchen werden. Am besten eine feministische, eine queere, eine intersektionale.“ Also eine Revolution, die die komplexen, sich gegenseitig beeinflussenden Diskriminierungserfahrungen unterschiedlichster Menschen ernst nimmt und von diesen ihren Ausgangspunkt nimmt, sie aber in ihrem Kampf um Anerkennung und Rechte unterstützt, wo immer es möglich ist.

Doch wogegen genau richten wir uns eigentlich? Wie steht es um Schönheitspolitiken im 21. Jahrhundert?

VOM WERT VON SCHÖNHEIT UND DEM PREIS DAFÜR, AUS DER NORM ZU FALLEN

Beginnen wir ganz von vorne: Was ist das gängige Schönheitsideal am Anfang der 2020er Jahre? Welche Bilder fallen uns ein, wenn wir an „schöne Menschen“ denken? Wen sehen wir in den Medien, in unseren liebsten Serien und Spielfilmen, in der Werbung, den Nachrichten und auf Social Media? Weitestgehend weiße, fitte, junge Menschen ohne Behinderungen. Zusätzlich wird eine binärgeschlechtliche, heterosexuelle Norm angenommen: Es gibt Männer und Frauen, diese verlieben sich jeweils ineinander. Dieses „heteronormative“, weiße ldeal immerwährender Jugend und Fitness wird durch die globale Schönheitsindustrie in die gesamte Welt exportiert und konkurriert vor Ort mit lokalen Vorstellungen. Spätestens seit dem neuzeitlichen Kolonialismus richtet sich das Schönheitsideal also nach einer europäischen, weißen Norm. Dass Schönheit immer in Abhängigkeit von diesem eurozentrischen Ideal gedacht wird, an dem Schwarze, Indigene und People of Color (kurz BIPoC) nur scheitern können, muss man als Fortsetzung kolonialer Gewalt bezeichnen.

Im Gegensatz zu den 1990ern ist die „schöne Frau“ heute aber nicht mehr gertenschlank, sondern durchtrainiert, fit und an den „richtigen“ Stellen kurvig. Sie ist weiß oder zunehmend auch „exotisch divers“, hat lange Haare, eine glatte und aknefreie Haut, ist am ganzen Körper rasiert und geschminkt. Männer wiederum müssen groß sein, stark und muskulös. Das passt haargenau zur sogenannten Leistungsgesellschaft, in der wir leben. Sichtbare Schönheitsarbeit – ausdefinierte Muskeln, entfernte Körperbehaarung, das perfekt aufgetragene Make-up – ist positiv besetzt.

Auch empirisch ist belegbar: Als attraktiv angesehene Menschen haben bessere Job- und Beförderungsaussichten, mehr Erfolg in zwischenmenschlichen Beziehungen und bei der Partner*innenwahl, bekommen eher einen Job, erhalten ein höheres Gehalt und die bessere Gesundheitsversorgung. Schon in jungen Jahren bekommen „schöne“ Schüler*innen die besseren Noten.8 Genau wegen des gesellschaftlichen Werts von Schönheit streben verschiedenste, gerade auch marginalisierte Gruppen – wie Schwarze, trans oder dicke Frauen – danach, auch Schönheitskapital zu erlangen und die Grenzen dessen, was als schön, als akzeptable Femininität gilt, zu erweitern.9 Als schön wahrgenommen zu werden, bringt nicht nur Vorteile in Beruf oder Liebesleben, es kann vor Gewalt schützen und Leben retten.

Viele empfinden derzeit eine Zunahme des Drucks, schön sein zu müssen. Ana Elias und ihre Kolleginnen bekräftigen diesen Eindruck in ihrem Buch Aesthetic Labour. Rethinking Beauty Politics in Neoliberalism. Sie sprechen von einer „Intensivierung“ und „Extensivierung“ von Schönheitsdruck. „Intensivierung“, weil es eine Omnipräsenz von Kameras und Überwachung (gerade auch in Freundesgruppen) gibt und man ständig Fotos von sich macht. In den 1970er Jahren beispielsweise hat es ewig gedauert, bis ein Foto bearbeitet war und man es sich anschauen konnte. Heute kann ich in einer Minute 100 Selfies von mir machen und sie ganz einfach mit zahlreichen Filtern und Apps nachbearbeiten, bevor ich sie mit meinen Follower*innen teile. Zusätzlich zu dieser Intensivierung des Schönheitsdrucks finde zeitgleich auch eine Extensivierung statt. Gut auszusehen werde nun einerseits ausgeweitet auf neue Phasen oder Lebensabschnitte einer Frau, sodass nun auch immer jüngere Kinder und immer ältere Frauen bzw. Schwangere und Mütter gut aussehen müssen, andererseits aber auch auf neue und immer absurdere Regionen des Körpers, sodass nun beispielsweise auch die Fußsohlen, Oberschenkel (Stichwort „Thigh Gap“), Achselhöhlen oder Vulvalippen nach käuflichen Lösungen der Schönheitsindustrie verlangen.10

Das in Werbung und Popkultur weit verbreitete Schönheitsideal einer jungen, schlanken, weißen Frau mit Kurven an den „richtigen“ Stellen ist aus vielen Gründen problematisch. Es dient in seiner Unerreichbarkeit dem Vermarkten von Produkten, die gegen immer neue Unzulänglichkeiten helfen sollen. Die Vorteile, die mit zugeschriebener Schönheit einhergehen, sind für People of Color, genderqueere Menschen oder solche mit sichtbaren Behinderungen oft unerreichbar. Ich verstehe Schönheit daher als patriarchalkapitalistisches Konstrukt weißer Vorherrschaft, das in besonderem Maße Frauen unterdrückt und den „beauty-industrial complex“, also die Schönheitsindustrie, aufrechterhält.

Schönheit als zentrales feministisches Anliegen

Ist Schönheit wirklich, wie so oft behauptet, ein oberflächliches, „klassisches Frauenthema“ oder doch/gerade deswegen ein „zentrales feministisches Anliegen“11, dessen Wichtigkeit gesellschaftlich immer wieder neu begründet werden muss? Aufgrund der jahrhundertelangen Reduktion von Frauen auf ihre Körper, ihre reproduktiven Fähigkeiten und die „private Sphäre“, sowie aufgrund des sozioökonomischen Stellenwerts von Schönheit in unserer Gesellschaft ist die Feststellung, dass Schönheitsdruck auf Frauen stärker lastet als auf Männern, nur wenig überraschend. Frauen werden vom herrschenden Schlankheitsideal noch stärker „tyrannisiert“ als Männer und leiden auch heute noch nachweislich öfter an Essstörungen und anderen psychischen Erkrankungen.12

Warum kritisiere ich unseren gesellschaftlichen Umgang mit Schönheit als sexistisch? Abgesehen von unserer heutigen, vor allem auf Frauen abzielenden Diät- und „Wellness“-Kultur, die in einem System heterosexuellen Begehrens physische Attraktivität als Zielvorgabe definiert („So dick findest du keinen Mann!“), liegen die Wurzeln des Problems tiefer.13 In vielen Jahrhunderten der Westlichen Kulturgeschichte passiert hauptsächlich Folgendes: Männliche Betrachter richten aktive Blicke auf passive (oft nackte) Frauen, deren Schönheit sie bewerten. John Bergers berühmte Dokumentation Ways of Seeing über Geschlechterrollen in der klassischen Kunst belegt diesen „männlichen Blick“ (Laura Mulvey) ganz eindeutig.14 Diese patriarchalen Zuschreibungen degradieren Frauen zu konsumierbaren Objekten, berauben sie ihrer Subjektivität, ja oft ihrer Menschlichkeit und machen sie damit zu Angriffsflächen für Gewalt. Außerdem finden diese geifernden Blicke und Zurufe, diese Reduktion aufs Äußere und die damit einhergehenden Übergriffe heute in einem kapitalistischen System statt, das Schönheit einen Marktwert zuschreibt. Demensprechend ist Schönheit, wie die Soziologin Tressie MacMillan Cottom argumentiert, gerade für Frauen und mehrfach diskriminierte Gruppen vielmehr Zwang, Notwendigkeit oder gar Überlebensstrategie, und weniger Gegenstand subjektiver Präferenzen.15 Wenn Schönheit Schutz bedeutet, nimmt man auch hin, dass der Weg zu einem „akzeptablen Äußeren“ schmerzhaft ist, dass er Zeit und Geld kostet. Und man akzeptiert, dass durch diese so viel Raum einnehmenden Praktiken immer neue, unerreichbare Normen und unter ihnen leidende Kund*innen kreiert bzw. letztendlich Unterdrückungsmechanismen fortgeschrieben werden.

Als Folge unserer gesellschaftlich produzierten, jedoch oft auf „die Biologie“ zurückgeführten binären, heterosexuellen Geschlechterordnung werden Frauen, historisch betrachtet, oft auf ihre Körper, ihre „Anmut, Schönheit“ und scheinbar „naturgegebene“ fürsorgliche Häuslichkeit reduziert16, während Männer im Gegensatz dazu mit Geist und Kultur in Verbindung gebracht wurden. Das Aussehen von (weißen) Männern wird nicht thematisiert, ihre Körper sind die unausgesprochene, angenommene Norm, jene von Frauen und queeren Menschen eine Abweichung davon. Diese systemische Unsichtbarkeit kann für die Betroffenen sogar tödliche Folgen haben, wenn Sicherheitsnormen in Autos oder Grenzwerte im Umgang mit Chemikalien nicht auf sie abgestimmt sind, wie Caroline Criado-Perez in ihrem Buch Unsichtbare Frauen mit einer eindrucksvollen Menge an Studien belegt.17

Diese patriarchalen, also an einer männlichen Norm orientierten Strukturen sind auch heute noch vorhanden. Neben der Unsichtbarkeit von Frauen und queeren Menschen in Medizin, Stadtplanung und Technikentwicklung sind sie gut erkennbar in der unterschiedlichen Darstellung von Frauen- und Männerkörpern in den Medien. Öffentlich sichtbare Frauenkörper sollen jung, weiß, fit, schlank, aber an den richtigen Stellen kurvig, falten-, haar- und nahezu körperfettfrei sein, während Männern in Sachen Aussehen (noch) mehr Spielraum zugestanden wird, besonders, was ihr Alter betrifft („Männer altern wie guter Wein“, mit einer „alten Schachtel“ dagegen will sich niemand einlassen). Gerade in der Werbung werden Männer immer noch als aktiv, beruflich erfolgreich und dominant abgebildet, während Frauen mit sexueller Verfügbarkeit, Sorgearbeit, Haushaltstätigkeiten bzw. in einem enormen Ausmaß mit Schönheitspflege in Verbindung gebracht werden.

Denn auch heute gilt: Frauen und ihren (normschönen) Körpern wird so lange ohne großen Widerstand Sichtbarkeit im öffentlichen Raum zugestanden, solange man mit ihnen und ihrer Schönheit Prestige kreieren und/oder Produkte verkaufen kann – am besten mit fragmentierten Körperteilen wie einem derart konnotierten sexy Dekolleté oder einem aufreizenden Bein. Laurie Penny unterscheidet hier in ihrem Buch Fleischmarkt (im englischen Original: Meat Market) nach Jean Baudrillard zwischen erotischem Kapital (also kapitalismusfreundlicher, weiß gewaschener, normierter Sexualität) und echter, zwischenmenschlicher Intimität, die in ihrer Unkontrollierbarkeit, mit all ihren für „eklig“ befundenen Körperflüssigkeiten, ihren Pannen und Unzulänglichkeiten revolutionäres Potenzial in sich birgt und nicht vereinnahmt werden kann.18 Sobald sich also diese Körper aus der Werbung als Menschen mit Ansichten, Meinungen und einer eigenen Subjektivität erweisen, sobald diese Frauen in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft vordringen oder selbst über ihre Sexualität und ihre Körper bestimmen wollen bzw. nicht nur über ihre Körper, „Schönheit“ und Sexualität definiert werden wollen, wird es sehr viel schwerer, diesen Platz im öffentlichen Raum zu erobern und zu verteidigen. Die regelmäßigen (Online-)Hass-Attacken auf prominente Frauen in der Öffentlichkeit belegen das.

Und den perfidesten Zusammenhang rund um das Thema Schönheit haben wir noch nicht einmal angesprochen. Frauen verdienen noch immer weniger als Männer – „Gender-Pay-Gap“ und „Equal Pay Day“ machen darauf aufmerksam –, leisten aber den Großteil der unbezahlten gesellschaftlichen Reproduktionsarbeit samt „Mental Load“, also der Planung all dieser Arbeit (Kinder erziehen, Haushalt, emotionale Sorgearbeit, Kochen samt Wissen um Vorlieben und Allergien aller Beteiligten, Pflege von Angehörigen, etc.). Trotzdem werden höhere Anforderungen an ihr Aussehen gestellt. Wegen der paar Kinder, dem Job und dem bisschen Staubsaugen wird frau sich ja wohl nicht gleich „gehen lassen“.

In der Arbeitswelt, und ganz besonders im Dienstleistungssektor, ist ein „gepflegtes Äußeres“ gerade für Frauen oft eine Grundvoraussetzung. Eine Flugbegleiterin mit unrasierten Achseln oder Beinen, ohne Make-up und Maniküre? Laut Google-Bildersuche absolut unvorstellbar. Die Ergebnisse der Suchmaschine, diese algorithmisch determinierte Abbildung unserer kollektiven Vorstellungswelten, belegen vielmehr, dass Flugbegleiterinnen jung und faltenfrei sein sollen, schlank, mit langen, enthaarten Beinen, professionellem Make-up und einem unverzichtbaren Lächeln, das Arlie Hochschild in The Managed Heart schon 1983 als „emotionale Arbeit“ fasste.

Frauen, die dem unausgesprochenen Ideal entsprechen, bekommen die Jobs und verdienen erwiesenermaßen mehr. Dann geben sie das mehr verdiente Geld aber wieder für die von ihnen erwartete Schönheitsarbeit aus. In der Forschung benennen wir diese Mehrfach-Schieflage – analog zum „Gender-Pay-Gap“ – mit „Grooming-Gap“ (das englische „grooming“ steht dabei für Körperpflege).19 Diese Ungleichbehandlung endet aber nicht im Dienstleistungssektor. Auch in eindeutig im Wissenssektor verorteten Berufen – wie in Anwaltskanzleien – werden Frauen streng beäugt. Wer dem Bild einer Anwältin nicht entspricht – das richtige Ausmaß an Schönheitsarbeit zu treffen, ist oft gar nicht leicht –, muss doppelt und dreifach darum kämpfen, als kompetent wahrgenommen zu werden. So eine indirekte Form der Diskriminierung steht nicht in Stellenausschreibungen („Wir suchen nur schöne Bewerberinnen!“), findet aber genau so statt.

Der „Grooming-Gap“ hat noch eine zweite Ebene, die sogenannte „Pink Tax“ (dt. pinke Steuer), die in ihrer hämischen Namensgebung stereotype Geschlechterzuschreibungen aufgreift und dadurch ökonomische Ungleichheiten sichtbar und angreifbar macht. Denn die Dienstleistungen und Produkte, die Frauen schöner machen sollen, kosten für sie oft mehr als für Männer (und das, obwohl sie durchschnittlich weniger verdienen!). Man denke an Haarschnitte oder Rasierer. Als ich von diesem hinterhältigen Machtgefälle erfahren habe – Frauen profitieren von der Schönheitsarbeit, müssen den Profit jedoch genau dafür ausgeben –, war das für mich ein Wendepunkt. Denn das gibt dem Konzept von Schönheit eine explizit ökonomische Dimension, womit auch die oft zitierte „freie Entscheidung“, Schönheitsarbeit zu praktizieren oder eben nicht, sehr zweifelhaft wird. Wer kann es sich in immer prekärer werdenden Gesellschaften schon leisten, die Privilegien aufzugeben, die mit Normschönheit einhergehen?

Schönheit ist dementsprechend viel mehr als ein oft zitiertes, flüchtiges, wandelbares Ideal. Schönheit ist Arbeit, ästhetische Arbeit. In ihrem Buch Aesthetic Labour beziehen sich die Forscherinnen Elias, Gill und Scharff mit dem Konzept der „ästhetischen Arbeit“, also dem kosten- und zeitintensiven Produzieren und Aufrechterhalten von Schönheit, auf Körpermodifikationen und Beschäftigung mit mediatisierter Körperlichkeit aller Art – vom Kuratieren und visuellen Auf- und Nachbereiten des eigenen Online-Auftritts, über Gymnastik, tägliche Hautpflege, Rasieren, Haarkuren, Maniküre und Pediküre bis hin zu extrem kostenintensiven und körperlich tiefgreifend verändernden Praktiken wie Permanent Make-up, Laser-Haarentfernung und chirurgischen Eingriffen wie Brustvergrößerungen, Fettabsaugungen und Hinternvergrößerungen. Schon in der Einleitung heißt es: „Neoliberalismus macht uns alle zu ‚ästhetischen Unternehmer*innen‘ – nicht etwa nur die, die als Models oder im Mode- oder Designsektor arbeiten.“20

Neoliberalismus bezeichnet eine Wirtschaftsordnung, die auf der Überzeugung basiert, dass sich der Markt selbst reguliert („die unsichtbare Hand des Marktes“) und staatliche Eingriffe in die Wirtschaft auf ein Mindestmaß reduziert werden sollten. Der Sozialstaat wird zurückgedrängt, eine unternehmerische Logik dominiert in immer mehr (allen?) Lebensbereichen. Ein solches Bild der Gesellschaft bringt Subjekt-Konzeptionen mit sich, die auf Eigenverantwortung, Kontrolle und dem „Leistungsprinzip“ beruhen. Wer „es zu nichts bringt“, ist selber schuld und hat sich nicht genügend angestrengt. Ungleiche Startbedingungen und Lebensumstände werden nicht berücksichtigt, dazu gehören etwa eine immer weiter auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich, unterschiedliche Grade an physischer und psychischer Fitness, Geschlechterdiskriminierung in einer patriarchalen Gesellschaft, weit verbreiteter Rassismus etc. Körper werden in diesem Umfeld zum Rohstoff für Selbstoptimierung – optisch und in Bezug auf ihre Leistungsfähigkeit.

In den neoliberalen Leistungsgesellschaften des heutigen „Globalen Nordens“, also der reichen Industrienationen, sind Schönheit und Attraktivität dementsprechend nicht etwa eine als solche reflektierte und hingenommene glückliche Fügung, ein Zufall, der gesellschaftliche Privilegien für eine Person mit sich bringt. Ganz im Gegenteil: Wer nicht schön genug ist, hat das als persönliches Versagen zu interpretieren, weil er*sie nicht hart genug am zu optimierenden „unternehmerischen Selbst“21 gearbeitet hat. Der eigene Körper wird zum Projekt und zur lebenslangen Baustelle22, er wird immer wieder aufs Neue produziert: „Der Körper stellt nunmehr einen Rohstoff der Selbstoptimierung dar, welchen das Subjekt selbstständig und aktiv durch den Einsatz von (ungleich verteilten) Ressourcen im Sinne vorherrschender Körperideale zu verbessern bemüht ist“.23

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass der Druck, als schön wahrgenommen zu werden, auch für Männer steigt. Wie Studien belegen, sorgen sich etwa schwule Männer besonders um ihr Aussehen und leiden öfter an Essstörungen als ihre heterosexuellen Geschlechtsgenossen.24 Warum könnte das so sein? Das als biologische Veranlagung zu sehen, erachte ich als hochproblematisch. Ich würde eher sagen, dass queere Männer überproportional unter Schönheitsdruck und Dickenhass leiden, weil sie im Gegensatz zu heterosexuellen Männern nicht die unhinterfragte Norm darstellen, sondern durch ihre Homosexualität bereits als „anders“ wahrgenommen werden. Dem Schönheitsideal eines heterosexuellen cis Mannes zu entsprechen, kann sie vor weiterer gesellschaftlicher Ausgrenzung schützen. Ganz ähnlich geht es Schwarzen Frauen: Ihre Haare zu glätten und ihre Haut mit giftigen Cremes aufzuhellen, näher an gängige Vorstellungen von Normschönheit zu rücken – das alles kann ihnen in einer zutiefst rassistischen Gesellschaft Vorteile verschaffen oder sie gar vor Übergriffen schützen.

In meiner Forschung konnte ich ganz oft feststellen, dass zwar eine Grenzüberschreitung von der gesellschaftlichen Norm mitunter akzeptiert wird, allerdings nicht mehrere zugleich. Du bist ein schwuler Mann? Das ist okay, aber dann sei bitte auf keinen Fall dick und gliedere dich auch sonst gut in die Gesellschaft ein. Anne Helen Petersen fasst das als „Homo- und Transnormativität“25 – queere Menschen werden eher gesellschaftlich akzeptiert, je näher sie an eine klassische heteronormative Lebensgestaltung herankommen (langjährige, monogame Paarbeziehung, kein flamboyantes Auftreten, „Passing“, also binärgeschlechtliches Erscheinungsbild bei trans Menschen etc.). Das gleiche gilt für Plus-Size-Models: Für sie ist es okay, mit den „richtigen“ Proportionen dick zu sein, und somit nicht dem schlanken Ideal der Leistungsgesellschaft zu entsprechen. Gleichzeitig sind diese Models aber perfekt enthaart, geschminkt, gestylt und jung. Dick und haarig zugleich wäre „zu viel des Guten“.

Schönheit produziert sich also aus alltäglichen Praktiken, dem Stylen unserer Haare, der Pflege unserer Haut, der Entfernung von ungeliebter Körperbehaarung oder dem Auftragen von Schminke oder Nagellack. Mit dieser Arbeit schaffen wir auch unsere Vorstellungen von uns selbst, unsere Geschlechts- und sexuelle Identität. Wie wollen wir von anderen wahrgenommen und gelesen werden, wie wollen wir durch die Welt gehen?

Spannend ist: Arbeit am eigenen Erscheinungsbild gab es schon immer. Schon im alten Ägypten wurden beispielsweise mit Muschelschalen und ähnlichen Werkzeugen Haare entfernt. Die deutsche Soziologin Paula-Irene Villa stellt fest, dass die Arbeit am eigenen Körper immer schon ein Bedürfnis des Menschen gewesen sei, sie ihn mitunter in seiner Menschlichkeit ausmache: „Im Sinne unserer biologischen Grundausstattung, unserer Körperlichkeit, unserer anthropologischen Verfasstheit: Zum Menschsein gehört es dazu, dass wir unsere Körper gestalten können, als Freiheitsgewinn, aber auch unsere Körper gestalten müssen, als unausweichliche Form unserer Existenz in der Welt.“26

Gerade in einer Welt des entfesselten globalen Kapitalismus und vorherrschender Optimierungsrhetorik wird der Umgang mit dem Rohstoff Körper jedoch zu einer zweischneidigen Sache. Einerseits ermöglicht uns die Gestaltung unseres Körpers durch Fitness oder Tattoos freudvolle Selbstdarstellung, andererseits passiert diese nicht im luftleeren Raum: „Zugleich ist [diese Arbeit am eigenen Körper, Anm.] aber auch eine Zumutung, ist immer auch verbunden mit Zwängen, ist immer auch Teil von Herrschaft, von Politik, bisweilen auch von Unterdrückung“, so Villa.27

Wie geht es allen Nicht-Schönen?

Schönheit ist ein System, das nur dann funktioniert, wenn es viele ausschließt. Diese Exklusivität hat drastische ökonomische und soziale Konsequenzen für Menschen abseits der weißen, jungen, dünnen Norm. Gemäß den immer unerreichbar bleibenden Idealen, mit denen immer neue Produkte verkauft und besonders Frauenkörper überwacht und kontrolliert werden, handelt es sich bei Schönheit um ein zutiefst widersprüchliches Konzept – denn selbst wer als „zu schön“ und „zu sexy“ gilt, kann Benachteiligung erfahren (vgl. das Klischee der „dummen Blondine“).28

Die größten heute vorzufindenden Tabus sind „zu viel“ Körperfett in den „falschen“ Proportionen oder eine „falsche“ Körperbehaarung, etwa dunkle, borstige Haare oder ein Damenbart. Wenn klare binäre Geschlechtergrenzen überschritten werden oder Menschen mit sichtbaren Behinderungen es wagen, auch als schön und begehrenswert gelesen werden zu wollen, folgt ein vorhersehbarer Aufschrei. Diese widerständigen Menschen fordern für sich Räume ein, die ihnen bisher nicht zugestanden wurden. Trotz wachsenden Widerstands gegen die eng gefassten Normen empfinden immer mehr Gruppen immer stärkeren Druck, schön zu sein. Es werden immer neue Körperregionen beschämt, damit auch sie künftig mit Produkten der Schönheitsindustrie optimiert werden müssen. Während „Beauty-Elixir-Deos“ eine schöne Achsel versprechen und Anti-Cellulite-Cremes glatte Oberschenkel, gibt es auch drastischere Eingriffe ins eigene Erscheinungsbild, die von Permanent-Make-up über „Vulva-Korrekturen“ bis hin zu sogenannten „Brazilian Butt Lifts“, also Hintern-Vergrößerungen mit Eigenfett, reichen29, von denen wir auch in Europa dank internationalen Superstar-Vorbildern wie Kim Kardashian eine drastische Zunahme verzeichnen.

Wie lassen sich diese immer erweiterbaren Schönheitsideale rund um weibliche Körper und der Ausschluss von nicht normschönen Menschen nun als Diskriminierungsform fassen? Der Terminus „Lookismus“ selbst stammt aus dem US-amerikanischen Englisch und wurde in den späten 1970er-Jahren in der Washington Post das erste Mal verwendet.30 Lookismus beschreibt zunächst die Stereotypisierung und Bewertung von Menschen aufgrund ihres Äußeren – „schöne“ Menschen werden aufgewertet, „hässliche“ abgewertet. Meist wird der Begriff aber nicht neutral verwendet, sondern „um die Normierung von Körpern und damit einhergehende Diskriminierung und Ausschlüsse zu beschreiben“.31

Lookismus beschreibt also die Hierarchisierung von Gesellschaften anhand des Faktors Attraktivität/Schönheit. Wenn als „hässlich“ oder gar „eklig“ geltende Menschen abgewertet werden, spricht man vom aktiven Vorgang des „Body Shaming“, „einer Form der lookistischen Diskriminierung, Beleidigung und Demütigung von Menschen aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes.“32 Wie unzählige Studien zeigen, führen ausgeprägtes Body Shaming und die damit einhergehende Scham und der Hass gegenüber dem eigenen Körper nicht nur zu weniger Selbstvertrauen im Umgang mit anderen, sondern oft ganz drastisch zum Rückzug aus dem Sozialen und zu Vereinsamung.33 Je mehr man von der schönen Norm abweicht, sei es, weil man dick und Schwarz, oder haarig und behindert ist, desto härter trifft einen diese Stigmatisierung.

Lookistische Diskriminierung basiert also auf der Praxis, aufgrund von Äußerlichkeiten Gruppenzugehörigkeiten herzustellen, über die man Charaktereigenschaften und Kompetenzen feststellen zu können glaubt. Diese Vorgehensweise, menschliche Fähigkeiten anhand des Äußeren abzulesen, ist nicht nur meist nicht zielführend, sondern erinnert in ihren rassistisch und ethnisch diskriminierenden Facetten auch an die zutiefst problematischen und im 19. und 20. Jahrhundert weit verbreiteten Pseudo-Wissenschaften der Physiognomik und Phrenologie. Bei der lookistischen Kategorisierung und Abwertung von Menschen auf Basis ihres Aussehens gilt es zu bedenken, dass Identitätsmarker wie Geschlecht, Race, Klasse, Sexualität, Alter, Körperform/-gewicht und Behinderung nie für sich, sondern immer als einander gegenseitig bedingend und in komplexer Abhängigkeit voneinander betrachtet werden müssen.

Intersektionalität, wie Kimberlé Crenshaw das Phänomen 1991 auf Basis von Vorläufertexten wie jenem von Sojourner Truth (1851) oder jenem des Combahee River Collective (1981) dem sprachlichen Bild der Straßenkreuzung (engl. „intersection“) folgend benannte, bezeichnet also, kurz auf den Punkt gebracht, „die Verschränkung verschiedener Ungleichheit generierender Strukturkategorien“.34 Während es seit der Einführung des Konzepts auf verschiedensten Ebenen Kritik gab, ist Intersektionalität heute vor allem auch als „Sensibilisierungsstrategie“ (Küppers) wichtig. Das Konzept funktioniert wie eine Brille, die uns, einmal aufgesetzt, folgende Fragen vor Augen führt: Welche Schnittmengen von Diskriminierung gibt es? Sind die binären Unterscheidungen, die wir alltäglich treffen, wirklich ausreichend? Was sind die Machtstrukturen und Herrschaftsverhältnisse hinter diesen kategorialen Zuschreibungen?35

Auf den Bereich Schönheitsideale umgemünzt bedeutet das Folgendes: Wer keinen normschönen Körper vorweisen kann, das heißt, wer als zu dick, zu haarig, zu dunkel, zu groß/klein, zu alt, behindert, zu queer oder unrein/krank (etwa wegen Narben oder Akne) wahrgenommen wird (besonders dann, wenn mehrere dieser Identitätsmarker zutreffen), wird in vielen Lebensbereichen benachteiligt, abgewertet, verlacht, unsichtbar gemacht und im schlimmsten Fall entmenschlicht, objektifiziert (also buchstäblich zum Objekt gemacht) und oft sogar mit Gewalt konfrontiert. Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht mehr oberflächlich, den (bewussten oder unbewussten) Wunsch zu hegen, sein Äußeres möglichst dem Ideal anpassen zu wollen.

Oft heißt es dann: In sozialen Medien werden gerade junge Menschen immer nur mit Werbungen für Abnehm-Tees, Vorher-Nachher-Posts von Fitness-Blogger*innen und Bildern von normschönen Menschen überflutet, die auch noch digital nachbearbeitet und perfektioniert wurden. Sie können sich ja nur schlecht fühlen, so meinen viele, müssten ja geradezu Essstörungen und ein problematisches Körperbild entwickeln. Bis zu einem gewissen Grad ist das richtig. Mir ist es an dieser Stelle jedoch wichtig zu sagen, dass dieses viel zitierte „Media Effects Model“ (dt. etwa „Medieneinfluss-Modell“) zu kurz greift.36 Die Relation zwischen User*innen und Bildern/Sender*innen ist nicht so einfach, keine Einbahnstraße, und Medien-Nutzer*innen sind nicht so passiv. Wer heute noch eine Schulklasse mit dem Einsatz von Photoshop schockieren will, wird nur Gelächter ernten. Gerade die jungen Frauen wissen Bescheid und positionieren sich ganz bewusst widerständig. Im Sinne der britischen Kulturwissenschaften möchte ich also an die agency, das heißt die Handlungsfähigkeit der Nutzer*innen erinnern, die durchaus in der Lage sind, das Gesehene einzuordnen und abzulehnen. Umso mehr, wenn sie in Medienkompetenz geschult sind, doch dazu später mehr.

Schönheit – ein zutiefst ambivalentes Konzept

Abschließend lässt sich festhalten: Schönheit ist ein widersprüchliches Konzept. Es ist überhaupt nichts Falsches daran, Make-up zu tragen, Beauty-Produkte auszuprobieren oder sich waxen zu lassen. Sich um die eigene Schönheit zu kümmern kann ja, wie bereits gesagt, auch Spaß machen, Identität stiften und eine Form der Selbstfürsorge sein. Auf einer individuellen Ebene werden wir nämlich die Diskriminierung, die mit Schönheit einhergeht, sowieso nicht lösen. Ein gutes Beispiel ist Make-up für Männer: Auf der einen Seite ist es toll, dass Geschlechterklischees aufgebrochen werden und jetzt immer mehr Menschen mit Schminke neue Formen der Selbstpräsentation leben können. Gleichzeitig bekommt die Schönheitsindustrie aber so neue Konsument*innen und kann plötzlich ganz neue Körperteile zu Problemzonen erklären.

Gerade die Pandemie-Lockdowns haben uns die Ambivalenz von Schönheitsarbeit deutlich vor Augen geführt. Während im März 2020 Schönheitsarbeit nicht zu den „systemrelevanten“ Bereichen unserer Gesellschaft zählte, fehlte sie uns nach der ersten Freude über den Wegfall des mit ihr einhergehenden Drucks aber schließlich doch. Alltagshandlungen wie das Lackieren der Nägel, das Rasieren der Beine oder das Zupfen der Augenbrauen konnten den Anschein von Normalität vermitteln und Halt bieten. Schönheitsarbeit mag oberflächlich erscheinen, doch wie dieses Buch zeigen soll, ist sie zutiefst politisch. Unser Selbstbild ist untrennbar mit ihr verbunden. Mit Tätigkeiten wie dem Auftragen von Make-up versichern wir uns unserer (Geschlechts-)Identität, unserer Weiblichkeit. Die Bedeutungen, die wir diesen Praktiken zuschreiben, erschaffen jeden Tag aufs Neue erstrebenswerte gesellschaftliche Positionierungen und damit gleichzeitig auch solche, die jedenfalls vermieden werden sollten. Die Schönheitsindustrie suggeriert mit ihren Produkten und ihren Werbetexten beispielsweise strenge heterosexuelle Zweigeschlechtlichkeit, wodurch Frauen mit Achsel- und Beinbehaarung beziehungsweise Männer mit Make-up oder Nagellack zur wandelnden Grenzüberschreitung werden.

Gerade für Frauen ist es sehr wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, dass es keine richtige Art gibt, im Patriarchat Frau zu sein. Irgendetwas wird immer falsch sein. Mal ist der Bauch zu dick, dann sind wieder die Haare ein Problem und wenn es am Aussehen wirklich nichts mehr auszusetzen gibt, ist wahrscheinlich die Stimme zu grell. Normative Weiblichkeit ist genauso wie „Schönheit“ unerreichbar, und wie könnte es auch anders sein? Mit diesen Unsicherheiten werden massive Profite generiert, oder wie Velvet D’Amour, Fotografin und Plus-Size-Model, in einem Interview mit Soziologin Amanda Czerniawski sagt: „Sie müssen das Unerreichbare schaffen, denn das Unerreichbare ist das, was den Kapitalismus antreibt. Wenn alle sich so akzeptieren würden, wie sie sind, stellt euch vor, wie die Umsätze einbrechen würden.“37

Solange Schönheit ein so hoher Wert zugeschrieben wird und „schöne“ Menschen unzählige Vorteile im Leben genießen, ist jede Diversifizierung zu begrüßen. Und solange braucht es auch radikale Body Positivity, die inklusivere Schönheitskonzepte entwirft und mehr Menschen Zugang zu dieser vorteilhaften Kategorie verschafft. Für wirkliche Veränderung brauchen wir aber neue Utopien, die über unsere Besessenheit mit dem Äußeren hinausgehen, und denen wenden wir uns im nächsten Kapitel zu.

NEUE UTOPIEN!

„A feminist movement is built from many moments of beginning again. And this is one of my central concerns: how the acquisition of a feminist tendency to become that sort of girl or woman, the wrong sort, or bad sort, the one who speaks her mind, who writes her name, who raises her arm in protest, is necessary for a feminist movement. Individual struggle does matter; a collective movement depends upon it.“

Sara Ahmed, Living a Feminist Life

WIE WIR MIT BODY POSITIVITY UND BODY NEUTRALITY ZU EINER GESELLSCHAFT OHNE SCHÖNHEITSDRUCK KOMMEN

Das, was wir heute als die Social-Media-Phänomene „Body Positivity“ und „Body Neutrality“ kennen, hat eine lange Vorgeschichte. Westliche Feminismus-Geschichte ist schließlich untrennbar mit dem Kampffeld Frauenkörper verbunden.

In diesem Kapitel erarbeiten wir uns die Ursprünge der Body-Positivity-Bewegung. Wir versuchen nachzuverfolgen, wie aus einer anfänglich radikalen Gruppe von US-Aktivist*innen, die in den 1960er Jahren als Fat-Ins bezeichnete Sitzstreiks im New Yorker Central Park abhielten38, über erste Online-Foren in den 1990ern und frühen 2000ern (die sog. „Fatosphere“), thematische Ausdifferenzierung und Kommerzialisierung ein oftmals widersprüchliches, transnationales Phänomen werden konnte, das ich „Popfeministische Body Positivity“ nenne. Zeitgenössische Body Positivity spielt sich meines Erachtens nämlich auf einem Spektrum ab und beinhaltet radikale „Fat Activists“ genauso wie plumpe Versuche von Firmen, über vorgetäuschte Body Positivity neue Zielgruppen zu erreichen und mehr Produkte zu verkaufen.

Von der Fat Acceptance über die Fatosphere zur Body Positivity – eine Bewegungsgeschichte in Schlaglichtern

Die Ursprünge der Body-Positivity-Bewegung liegen in der Fat-Acceptance- oder Fat-Liberation-Bewegung der 1960er und 70er Jahre in den USA. Während Feminist*innen der ersten und zweiten Welle sich dafür einsetzten, dass Frauen dieselben Rechte wie Männer bekamen, also Zugang zu Universitäten, Wahlrecht und körperliche Selbstbestimmung erkämpften, wurden dicke Frauen oftmals auch in feministischen Gruppen benachteiligt, abgewertet und ausgeschlossen.39 Als Antwort darauf schlossen sich dicke Frauen in eigenen Gruppierungen zusammen, in denen sie sich ihrer spezifischen Situation bewusst wurden, sich über ihre Probleme austauschten und einander gegenseitig Unterstützung im Kampf gegen systemische Diskriminierung boten.40

Solche Frauengruppen mit dem Ziel der Selbstermächtigung und widerständigen Verschwesterung werden in der englischsprachigen Feminismus-Geschichtsschreibung als „Consciousness Raising“ (dt. etwa „Bewusstseinsbildung“) bezeichnet. In Betty Friedans The Feminine Mystique wird beispielsweise eindrucksvoll beschrieben, wie eindrücklich es für weiße Frauen war, die unter ihrem Hausfrauendasein litten, von anderen gleichgestellten Frauen zu erfahren, dass sie mit ihren Problemen nicht alleine, dass sie nicht individuell „schlechte“ Ehefrauen und Mütter waren, sondern dass ihre eng gefassten geschlechtlichen Rollenzuschreibungen im Patriarchat das eigentliche, systemische Problem darstellten.41

Aus diesem Aktivismus rund um widerständige Kollektive wie die Fat Liberation Front oder den Fat Underground entstanden nicht nur aufschlussreiche Kritiken der Diet Culture und Hinweise auf Parallelen zwischen der Unterdrückung von Frauen und dicken Menschen, die in Flugblatt-Form verteilt wurden42, sondern 1969 auch die Gründung der National Association to Advance Fat Acceptance (NAAFA), eine zivilgesellschaftliche Non-Profit-Organisation, die es sich zum Ziel gesetzt hat, Diskriminierung von Dicken in allen Formen zu beenden. Außerdem entwickelte sich aus diesem radikalen Aktivismus vieler mutiger Frauen, gerade auch Schwarzer Frauen und Women of Color sowie einiger Männer, die transdisziplinäre Forschungsrichtung der Fat Studies43, deren Erkenntnisse wir noch aufgreifen werden.