Risky - Aurora Rose Reynolds - E-Book

Risky E-Book

Aurora Rose Reynolds

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Beschreibung

Die neue Abenteuer-Reihe der New York Times und USA Today Bestsellerautorin Aurora Rose Reynolds. Risky. Eine bittersüße Romanze über die Risiken des Verliebtseins ... Als Single-Mom zurück zu ihren Eltern zu ziehen, hatte Everly so nicht geplant. Da sich ihr Ex allerdings vor seiner väterlichen Pflicht drückt, muss sie selbst eine Möglichkeit finden, um für sich und ihren Sohn zu sorgen. Die Stelle bei Live Life Adventures scheint die Lösung ihrer Probleme zu sein, wäre da nicht Blake, ihr verdammt gutaussehender Chef. Everly ist klar, dass dieser Mann tabu ist, egal wie sehr die Chemie zwischen ihnen stimmt oder wie freundlich er zu ihr und ihrem Sohn ist. Doch je mehr Zeit sie miteinander verbringen, desto schwerer wird es, die Mauern um ihr Herz aufrechtzuerhalten. Bis sich Everly die Frage stellen muss, ob Blake vielleicht genau das ist, was ihr zu ihrem ungeplanten Glück noch fehlt ...

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Seitenzahl: 343

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Aurora Rose Reynolds

© Die Originalausgabe wurde 2022 unter dem

Titel Risky (Adventures in Love Book 2) von Aurora Rose Reynolds veröffentlicht. Diese Ausgabe wird im Rahmen einer Lizenzvereinbarung ermöglicht, die von Amazon Publishing, www.apub.com, in Zusammenarbeit mit der Agentur Hoffmann stammt.

© 2023 Romance Edition Verlagsgesellschaft mbH

8700 Leoben, Austria

Aus dem Amerikanischen von Jennifer Kager

Covergestaltung: © Sturmmöwen

Titelabbildung: © MilanMarkovic (depositphotos)

Redaktion & Korrektorat: Romance Edition

ISBN-Taschenbuch: 978-3-903413-33-7

ISBN-EPUB:978-3-903413-34-4

www.romance-edition.com

An meine Jungs.

Ich liebe euch mehr als alles andere, und ich bin euch für immer dankbar.

1. Kapitel

Everly

Ich sitze an der Kücheninsel bei meinen Eltern und muss grinsen. Meine Mutter spricht mit meinem zehn Monate alten Sohn Sampson, der aufgeregt plappert. Alle Eltern denken, ihr Kind sei das klügste und süßeste, aber Sampson ist wirklich beides. Er kann bereits ein paar Schritte laufen, einige Worte sprechen und sieht überaus bezaubernd aus mit seinen Pausbäckchen, dem blonden lockigen Haar und den großen blauen Augen, die denen meiner Mutter und mir ähneln.

»Ich kann nicht fassen, wie groß er in den letzten drei Monaten geworden ist.« Moms Blick fällt auf mich, und Sampson gluckst zustimmend und zeigt seine ersten beiden Zähne, die er letzte Woche bekommen hat.

»Wie ich dir am Telefon gesagt habe.«

»Ich weiß, aber sogar auf den Bildern, die du geschickt hast, sah er noch so winzig aus.« Sie hält ihn sicher im Arm und schaut auf ihn hinunter.

»Sampson, was hältst du davon, Grandpa zu suchen, damit Mama auspacken kann?«

»Mama«, wiederholt er, dreht sich zu mir um und streckt seine Arme nach mir aus. Sein Blick ist schläfrig, und ich erhebe mich von meinem Hocker, um ihn meiner Mutter abzunehmen. Sobald ich ihn im Arm halte, lehnt er seine Wange an meine Schulter, und ich streichle über seinen Hinterkopf.

»Er sollte ein Nickerchen machen. Im Auto auf dem Weg hierher hat er nicht viel geschlafen«, sage ich an meine Mutter gewandt, und sie berührt seine andere Wange mit den Fingerspitzen.

»Soll ich ihm vorher ein Fläschchen wärmen?« Ich nicke und beobachte Mom, wie sie mit routinierten Griffen die Milch aus dem Kühlschrank nimmt und in ein Fläschchen füllt.

Leise summend wiege ich meinen Sohn hin und her, eine natürliche Bewegung seit dem Tag seiner Geburt, etwas, das mir in Fleisch und Blut übergegangen ist. »Ich würde morgen gern in die Stadt fahren, um mich bei einigen Firmen zu bewerben. Wenn es dir nichts ausmacht, auf Sampson aufzupassen.«

»Schon morgen?« Sie bleibt auf dem Weg zur Mikrowelle stehen und sieht mich über ihre Schulter an. »Willst du dir nicht etwas Zeit nehmen, um dich einzuleben?«

»Ich möchte so schnell wie möglich mit der Jobsuche beginnen. Es könnte ein paar Wochen dauern, bis ich eine Stelle finde.« Ich neige meinen Kopf nach unten und küsse Sampsons Kopf, er drückt sein Gesicht an meinen Hals.

»Du weißt, dass dir dein Dad und ich immer helfen werden«, sagt sie leise. Ihr Blick lässt meine Brust schmerzen.

»Ich weiß, aber ihr helft mir schon, weil wir bei euch wohnen dürfen und ihr auf Sampson aufpasst, während ich arbeite. Sofern icheinen Job finde.«

»Du bist unsere Tochter, und Sam ist unser Enkel, Everly.« Sie hebt eine Braue, als wäre meine letzte Bemerkung lächerlich. »Wir sind froh, dass ihr hier seid, und wir kümmern uns sehr gerne um euch.«

Meine Eltern haben von sich aus angeboten, dass ich wieder bei ihnen wohne. Und dafür bin ich sehr dankbar. Aber das war alles nicht so geplant. Ich hätte nie gedacht, dass ich wieder zu meinen Eltern ziehen würde. Und ganz sicher nicht als alleinerziehende Mutter mit einem Baby.

Vor zwei Jahren lernte ich den Mann meiner Träume kennen, Lex. Er hatte alles, was ich mir von einem Partner wünschte: einen guten Ruf, er war zuvorkommend und nahm seine Arbeit als Vorarbeiter für eine Baufirma sehr ernst. Ich war bis über beide Ohren verliebt, gab mein altes Leben auf und zog mit ihm quer durch den Bundestaat. Die Dinge liefen großartig – nicht nur zwischen Lex und mir. Ich hatte einen tollen Job als Hotelmanagerin in der Stadt und fand schnell Freunde. Lex machte mir einen Heiratsantrag.

Ich war glücklich.

Wir waren glücklich.

Dann erfuhr ich, dass ich schwanger war. Obwohl es nicht geplant war, dachte ich, alles würde gut werden. Aber ich habe mich geirrt ... so sehr geirrt. Als ich Lex mit einem winzigen Strampler und dem positiven Schwangerschaftstest überraschte, fragte er, warum ich einen Strampler kaufe, wenn ich das Kind ohnehin abtreiben würde. Über diesen Scherz konnte ich nicht lachen, glaubte aber nicht, dass er es ernst meinen könnte. Ich dachte, er hätte Angst davor, Vater zu werden, was ich auch verstand. Mir ging es ähnlich. Aber ich wusste, dass ich das Kind behalten würde, weil ich an dem Leben hing, das in mir wuchs.

Je weiter meine Schwangerschaft fortschritt, desto angespannter wurde unsere Beziehung. Rein körperlich waren wir noch zusammen, und trotzdem hatte ich das Gefühl, allein zu sein. Lex sprach nie über das Baby und stellte keine Fragen.

Ich konnte nicht glauben, dass ich mich so in ihm getäuscht hatte, und hoffte, dass sich nach der Geburt von Sampson unsere Beziehung zum Guten wenden würde. Sobald er seinen Sohn gesehen und im Arm gehalten hatte, würde er vielleicht die gleiche Verbundenheit zu seinem Kind empfinden wie ich.

Meine Hoffnung war umsonst.

Nach der Geburt von Sampson arbeitete Lex mehr als je zuvor und blieb manchmal die ganze Nacht weg. Nicht nur einmal kam er nach Parfüm riechend nach Hause. Ein paar Mal sah ich, wie er Nachrichten von Frauen erhielt. Irgendwann konnte ich die Situation nicht mehr ertragen und sagte ihm, dass ich ihn verlassen würde. Er hat mich nicht gebeten, zu bleiben, und sich nicht gegen meine Entscheidung gewehrt. Darüber reden wollte er auch nicht. Sogar beim Packen hat er mir geholfen. Und heute Morgen brachte er mich und Sampson zu meinem Auto und ließ uns fahren.

»Everly«, ruft Mom, und ich schrecke auf. »Geht es dir gut?«

»Ja, alles okay.« Ich nehme die Babyflasche, die sie mir hinhält. »Ich war nur in Gedanken.«

»Bist du müde?« Ihr Blick wandert über mein Gesicht. »Soll ich Sampson nehmen, damit du ein bisschen schlafen kannst?«

»Nein. Ich füttere ihn und bringe ihn dann in sein Bett.« Instinktiv drücke ich Sampson an mich. In den letzten zehn Monaten war ich allein für ihn verantwortlich. Jetzt stimmt mich schon die Vorstellung nervös, ein Nickerchen zu machen, während sich meine Mutter um ihn kümmert. Dabei vertraue ich ihr wie niemandem sonst auf der Welt.

»Geh nur. Ich bereite deinem Vater einen Snack zu und überlege, was ich uns zum Abendessen koche.«

»Klingt gut. Ich bin gleich wieder da und helfe dir«, stimme ich zu und öffne die Küchentür, um Sampson nach oben zu bringen.

»Everly.«

Ich bleibe stehen und sehe mich nach meiner Mom um. Mit Tränen in den Augen schüttelt sie den Kopf.

»Du bist nicht mehr allein, Schatz.« Sie räuspert sich und legt eine Hand auf ihre Brust. »Ich weiß, dass du dich um Sampson ohne jegliche Unterstützung kümmern musstest. Aber jetzt hast du mich und deinen Dad.«

Mit einem Kloß im Hals nicke ich und verlasse die Küche, bevor ich vor ihr in Tränen ausbreche. Lange Zeit habe ich niemandem erzählt, dass Lex das Baby nicht will, weil ich überzeugt war, dass sich die Dinge nach der Geburt bessern würden. Ich wollte auch nicht, dass er in einem schlechten Licht steht. Jetzt wünschte ich mir, ich hätte mich zumindest meiner Mutter anvertraut und ihr alles erzählt. Ihren Rat und ihre Unterstützung hätte ich gut gebrauchen können. Nicht einmal mit meiner besten Freundin wollte ich über meine Probleme reden.

Ich steige die Stufen ins Obergeschoss hinauf und gehe am Zimmer meines Bruders Jayson vorbei, das jahrelang leer stand. Meine Mutter und ihre Freundinnen haben es zu einem Kinderzimmer für Sampson gestaltet. Mein Schlafzimmer liegt am Ende des Flurs, nur ein paar Schritte weiter. Ich mache es mir mit meinem strampelnden Sohn auf meinem Bett bequem und gebe ihm sein Fläschchen. Immer wieder aufs Neue staunend, beobachte ich ihn, während er trinkt.

Ich bin voller Liebe und Geborgenheit aufgewachsen und hatte vor Lex auch schon eine Beziehung. Bis zu Sampsons Geburt bildete ich mir ein, zu wissen, was es bedeutet, einen anderen Menschen zu lieben. Aber ich hatte keine Ahnung. Erst als ich meinen Sohn in den Armen hielt, erkannte ich, wie viel Liebe man in sich trägt. In kürzester Zeit hat er mir viel über mich selbst beigebracht und darüber, was im Leben wirklich zählt.

Nachdem sein Fläschchen leer ist, lehne ich ihn an meine Schulter und warte geduldig, dass er ein Bäuerchen macht. Dann halte ich ihn im Arm, bis er eingeschlafen ist. Während er eindöst, verspreche ich ihm im Stillen, dass er für mich immer an erster Stelle stehen wird. Er soll nicht eine Sekunde denken, dass er nicht erwünscht sei.

Ich liege mit Sampson auf dem Teppich und halte ihn fest, bevor er über meinen Bauch klettern kann. Dann kitzle ich ihn, bis er lacht. Als mein Handy klingelt, setze ich mich mit ihm in den Armen auf. Ich greife nach dem Telefon und versuche, mir keine zu großen Hoffnungen auf ein Jobangebot zu machen. Ich wohne jetzt seit drei Wochen bei meinen Eltern. In dieser Zeit habe ich mich für mindestens hundert Stellen beworben und ein Dutzend Vorstellungsgespräche geführt. Ohne Erfolg. Ich schaue aufs Display und erkenne die Nummer. Sofort nehme ich das Gespräch entgegen.

»Hallo?«

»Everly, hier ist Maverick von Live Life Adventures.« Sampson zappelt und brabbelt auf meinem Arm. »Störe ich dich? Ist es gerade ungünstig?«

»Hallo Maverick. Nein, ich habe Zeit. Wie geht es dir?« Ich setze Sampson auf den Teppich, und er krabbelt in die Richtung los, wo sein Spielzeug liegt.

»Die Dinge laufen recht gut. Ich wollte dich fragen, ob du noch daran interessiert bist, unser Büro in der Lodge zu leiten.«

»Ist das ein Scherz? Natürlich bin ich noch interessiert«, platzt es aus mir heraus. Ich zucke zusammen, als ich merke, wie unprofessionell ich klinge. »Entschuldigung. Ich meine, ja, ich bin immer noch interessiert.«

»Gut.« Er lacht leise. »Hast du vielleicht morgen oder übermorgen Zeit, zu uns zu kommen, um mit mir und Tanner ein paar Dinge durchzugehen und den Papierkram auszufüllen?«

»Auf jeden Fall. Sag mir einfach, wann. Ich werde da sein«, versichere ich ihm, wohl wissend, dass ich wahrscheinlich viel zu aufgeregt klinge. Aber ich bin aufgeregt. Ich brauche dringend ein eigenes Einkommen, das heißt, ich brauche einen Job.

»Gut, wenn du morgen Zeit hast, treffen wir uns nach dem Mittagessen, so gegen drei?«

»Klar. Wahnsinn. Das klingt toll. Danke.«

»Bis dann, Everly.« Nach einer kurzen Verabschiedung legt er auf, und ich springe vor Freude durchs Zimmer.

»Ich glaube, ich wurde gerade eingestellt«, rufe ich und klatsche in die Hände. Sampson ist von dem Geräusch so überrumpelt, dass er seinen Ball loslässt und auf dem Hintern landet. Sofort fängt er an zu weinen. »Oh nein, tut mir leid, Baby.« Ich eile zu ihm. »Mami ist nur glücklich. Es tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken.« Ich küsse seine weiche Wange und wische ihm die Tränen weg.

»Ist alles in Ordnung?«, fragt Mom, als sie das Wohnzimmer betritt.

»Ja, ich habe gerade mit Maverick von Live Life Adventures telefoniert. Er will, dass ich morgen zu einem Gespräch vorbeikomme. Ich bin so aufgeregt, dass ich Sampson erschreckt habe.«

»Du hast die Stelle?« Sampson streckt die Hand nach meiner Mom aus, und sie kommt auf mich zu.

»Ich glaube schon. Er hat gefragt, ob ich noch interessiert bin und mich mit ihnen treffen kann, den Papierkram zu erledigen.«

»Das ist großartig, mein Schatz.«

»Das finde ich auch«, antworte ich grinsend und sehe ihr zu, wie sie Sampson zu seinem Stapel mit Holzklötzen bringt und mit ihm zu spielen beginnt. »Es wird schön sein, etwas Geld zu verdienen.«

»Hast du Lex gefragt, ob er dich finanziell unterstützt?«, will sie wissen und schaut mich fragend an. Unruhig stelle ich mich von einem Fuß auf den anderen.

»Ich will nichts von ihm annehmen.«

»Das weiß ich«, sagt sie leise. »Aber hier geht es nicht nur um dich. Es geht vor allem um Sampson. Selbst wenn er keinerlei Ansprüche auf ihn erheben will, sollte er sich wenigstens am Unterhalt beteiligen. Meinst du nicht auch?«

»Nein, das möchte ich nicht.« Ich hebe eins von Sampsons Stofftieren auf und setze mich auf die Couch. »Er wollte kein Kind. Ich kann ihn nicht einfach um Geld bitten, auch wenn wir es gut gebrauchen könnten.«

»Everly ...«

»Mom, bitte.« Ich umklammere das Plüschtier. »Ich weiß, dass du die Situation anders siehst. Aber letztendlich ist es meine Entscheidung.«

»Du hast recht.« Sie seufzt. Ich verstehe ihre Enttäuschung. Aber ich muss auch Lex respektieren, der sich nie als Vater gesehen hat und dem sein Kind egal ist. Seit ich wieder bei meinen Eltern wohne, hatten wir nur einmal Kontakt. Das war kurz nach meinem Umzug. Ich habe ihm geschrieben, dass wir gut angekommen sind. Seine Antwort bestand aus zwei Buchstaben: ok.

»Könntest du morgen auf Sampson aufpassen?« Ich wechsle bewusst das Thema. Wenn ich zu viel über Lex nachdenke, werde ich wütend, traurig oder enttäuscht. Nichts davon ist gut für meine geistige Gesundheit.

»Aber natürlich.«

»Danke, Mom.«

»Jederzeit, Schatz.« Sie streichelt über mein Knie. Als sich die Tür öffnet, schaut sie auf. Wie immer, wenn sie meinen Vater sieht, hat sie ein Strahlen in den Augen. Auch nach mehr als dreißig Jahren Ehe gehen sie genauso liebevoll miteinander um, wie ich es aus meiner Kindheit in Erinnerung habe. Natürlich streiten sie sich manchmal auch. Aber sie haben definitiv mehr gute als schlechte Zeiten und ihre Beziehung ist eines der Dinge, die bei ihnen oberste Priorität haben.

»Worüber redet ihr zwei?«, fragt Dad, als er den Raum betritt. Sobald Sampson seine Stimme hört, steht er auf und wankt auf unsicheren Beinen zu seinem Grandpa. Dad nimmt ihn hoch und hebt ihn über seinen Kopf, um gegen Sampsons Bauch zu blasen.

»Everly hat einen Job«, sagt Mom, geht zu Dad und drückt ihm einen Kuss auf die Lippen.

»Hoffentlich«, werfe ich ein, und Dad sieht mich interessiert an. »Ich treffe mich morgen mit Maverick und Tanner in der Lodge von Live Life Adventures.«

»Das sind ja tolle Neuigkeiten. Sie wären dumm, wenn sie dich nicht einstellen würden.«

»Dumm, dumm, dumm, dumm«, wiederholt Sampson und tätschelt Dads bärtige Wange.

»Dad«, rufe ich vorwurfsvoll.

»Wenigstens ist es kein Sch...«

»Sag es nicht«, unterbreche ich ihn. Sampson ist inzwischen in der Lage, alles zu wiederholen, obwohl er keine Ahnung hat, was es bedeutet. Meist versteht man ihn kaum. Trotzdem gefällt mir der Gedanke nicht, dass mein süßer, kleiner Junge den ganzen Tag mit Schimpfwörtern um sich wirft.

»Ich wollte es nicht sagen«, beschwichtigt mich Dad mit einem breiten Grinsen. Ich verdrehe die Augen, weil er ständig flucht. So oft, dass er nicht einmal merkt, wenn er es tut. »Ich wollte nur fragen, ob eine von euch beiden für eine Stunde mein Büro bewachen kann. Ich habe einen Termin mit einem Kunden.«

»Ist Sandy immer noch krank?«, fragt Mom, und er wirft ihr einen Blick zu, den ich nicht deuten kann.

»Du weißt genau, dass sie nicht krank ist. Du hast mir gestern doch selbst die Bilder von ihr mit ihrem neuen Kerl am See gezeigt.«

»Ich meinte nicht krank.« Mom rollt mit den Augen. »Ich wollte wissen, ob sie sich heute wieder krankgemeldet hat?«

»Ja, aber sie hat mir versichert, dass sie morgen wiederkommt.« Mein Dad lächelt und scheint sich nicht sehr darüber aufzuregen. Plötzlich weiß ich, über wen sie reden.

»Warte mal«, mische ich mich mit einem Stirnrunzeln ein. »Sprecht ihr beide von der alten Miss Sandy, die vor ein paar Monaten im Büro angefangen hat?«, frage ich und versuche, mich an Details über sie zu erinnern. Doch alles, was mir in den Sinn kommt, sind ihre langen grauen Haare und ihre faltige Haut.

»Ja, genau«, bestätigt Mom.

»Sie hat einen Freund?«, hake ich ungläubig nach.

»Ja, schon seit einiger Zeit. Die beiden haben sich im Internet kennengelernt. Immer, wenn er in der Stadt ist, schwänzt sie seinetwegen die Arbeit.«

»Wie alt ist sie?«

»Siebenundsechzig, glaube ich«, meint Dad und übergibt Sampson an meine Mom.

»Wow. Gut für sie«, antworte ich beeindruckt.

»Also, kann einer von euch ins Büro kommen?« Dad schaut zwischen uns hin und her. »Ich bin nicht lange weg.«

»Es macht mir nichts aus, es sei denn, du willst gehen.« Ich schaue meine Mutter an, und sie schüttelt sofort den Kopf, was mich nicht überrascht.

Mein Vater besitzt eine kleine Anwaltskanzlei nur ein paar Häuser weiter. Als er sein Büro eröffnet hat, hat Mom für ihn gearbeitet. Doch sie merkte schnell, dass der Job nichts für sie ist. Ich kann das verstehen, ich könnte auch nicht für meinen Vater arbeiten. Er ist kein schlechter Chef; er hat einfach eine Art, Dinge zu tun, die für andere Menschen nicht viel Sinn ergibt.

»Kommst du mit Sampson klar, oder soll ich ihn mitnehmen?«

»Er kann hier bei seiner Grandma bleiben.« Mom küsst ihren Enkel auf die Wange.

»Gut, ich zieh mich schnell um und bürste mir die Haare. Dann können wir gehen.«

»Du siehst gut aus. Und was du anhast, ist auch in Ordnung«, sagt Dad. Ich schaue auf mein ausgebeultes T-Shirt und die alte Jogginghose hinunter, beides mit Flecken von Sampsons Frühstück und mit Gott weiß was noch.

»Findest du das angemessen?« Ich halte den Stoff von meinem Körper weg und schaue meinen Vater verwundert an. Meine Mutter seufzt, als er mit den Schultern zuckt.

»Ich finde, du siehst ganz gut aus«, antwortet er auf meine Frage und ignoriert den Blick seiner Frau.

»Danke, Dad. Trotzdem möchte ich lieber etwas anziehen, das nicht mit Sabber bedeckt ist.« Ich lache und gebe Sampson einen Kuss, bevor ich in mein Zimmer verschwinde.

Bevor ich Mutter wurde, war mir nie bewusst, wie selbstverständlich ich mich morgens zurecht gemacht habe. Ich laufe nach wie vor nicht im Bademantel rum, nur weil ich das Haus nicht verlassen muss. Aber an den meisten Tagen habe ich keinen Grund, etwas anderes als weite und bequeme Kleidung zu tragen, mit der ich auf dem Boden herumrollen oder Sampson hinterherjagen kann. Nachdem ich mich für eine dunkle Jeans entschieden habe, kremple ich den Saum an den Beinen hoch, um meine braunen Stiefel mit Keilabsatz zur Geltung zu bringen. Dann hole ich meinen dicken Lieblingspulli aus dem Schrank. Die Farbe ist irgendwo zwischen pfirsichfarben und hellrosa angesiedelt. Ich stecke die Vorderseite in die Jeans, damit es figurbetonter aussieht, und lege mir einen Gürtel um, der zu meinen Stiefeln passt.

Nachdem ich mit meinem Outfit zufrieden bin, gehe ich ins Badezimmer, bürste mir durch mein langes dunkles Haar und beschließe, mich ganz leicht zu schminken. Auch das kommt inzwischen nur noch selten vor.

Mein Vater erwartet mich schon im Wohnzimmer. Nachdem ich Sampson einen Kuss gegeben habe, schnappe ich mir meinen Mantel und meine Mütze und folge Dad nach draußen.

»Hier ist der Schlüssel«, sagt er und zieht ihn aus der Tasche seiner Jeans, die fast die gleiche Farbe wie meine hat, und drückt ihn mir in die Hand.

»Erwartest du heute noch jemanden?«, will ich wissen und drehe mein Gesicht aus dem kalten Wind, der mir in die Wangen sticht.

»Ja, aber bis dahin bin ich zurück.« Er wirft einen Blick in den Himmel, dann die Straße hinunter. Erste Schneeflocken fallen. »Willst du, dass ich dich fahre?«

»Nein, ich kann einen Spaziergang gut gebrauchen.«

»Wenn nötig, bin ich erreichbar. Also ruf an.«

»Wird gemacht.« Ich salutiere vor ihm, was ihn zum Lächeln bringt. Anschließend mache ich mich auf den Weg. Hinter mir höre ich, wie mein Dad den Motor seines Wagens startet.

Im ersten Jahr an der Highschool zog ich mit meinen Eltern in diese Gegend. Ich fand es immer so cool, in der Stadt zu wohnen. Andere Kinder mussten ihre Eltern überreden, sie zum Einkaufen, ins Kino oder zum Essen zu fahren, ich musste nur aus der Haustür gehen und ein Stück die Straße entlanglaufen. Als Erwachsene gefällt es mir noch genauso wie früher. Ich kann es kaum erwarten, Sampson in seinen Kinderwagen zu setzen und mit ihm den Tag in der Stadt zu verbringen, wenn das Wetter wärmer wird.

Es dauert nur ein paar Minuten, bis ich das Büro in der Main Street erreiche. Der Wind ist stärker geworden und es fällt deutlich mehr Schnee als zuvor. Ich bin erleichtert, ins Warme zu kommen, schalte das Licht ein, lege Mantel und Mütze ab und drehe das Vorübergehend geschlossen-Schild um, das Dad während der Mittagspause in die Tür hängt. Die Anwaltskanzlei meines Vaters ist klein. Sie besteht nur aus drei Räumen: seinem Büro im hinteren Teil, einer Toilette und dem Eingangsbereich, der mit einem Schreibtisch, einer kleinen Couch und einer Kaffeestation für die Klienten ausgestattet ist.

Ich mache es mir an Sandys Schreibtisch bequem, falls ein unangemeldeter Besucher auftauchen sollte. Sofort fällt mir ein fleckiges Foto in einem Glasrahmen neben dem Computer ins Auge. Ich nehme es in die Hand. Sandy mit ihrem grauen Haar und einem breiten Lächeln steht inmitten einer großen Gruppe fröhlich aussehender Menschen. Ob es sich dabei um ihre Familie handelt?

Als ich das Foto genauer betrachte, bemerke ich einen wirklich gutaussehenden Mann mit blondem Haar. Ich beiße mir auf die Unterlippe und frage mich, wer das sein könnte. Als die Eingangstür geöffnet wird, blicke ich auf und bekomme einen Schreck. Der Typ, den ich gerade auf dem Bild angestarrt habe, betritt das Büro, als hätte ich ihn herbeigezaubert. Unfähig zu einer Reaktion, gleitet mir der Bilderrahmen durch die Finger und fällt zu Boden. Es klingt, als wäre er beim Aufprall zersplittert. Leicht panisch bücke ich mich, um ihn aufzuheben. Dabei schlage ich mit der Stirn so heftig gegen die Schreibtischkante, dass ich aufschreie und Sterne sehe.

»Verdammt«, sagt der Kerl, während ich mir die Stirn halte und mit dem Stuhl rückwärtsrolle. Durch die schnelle Bewegung auf dem Linoleum gerate ich ins Wanken und kann mich gerade noch abfangen, bevor ich aus dem Stuhl falle. »Ganz ruhig.« Warme Finger schließen sich um mein Handgelenk, und Blitze schießen durch meinen Arm. Mir ist die Situation unendlich peinlich, sodass ich mich zwingen muss, zu dem Fremden aufzusehen. Als sich unsere Blicke treffen, beginnt mein Herz noch mehr zu rasen. Er schaut mich besorgt an.

»Mir geht es gut.« Ich versuche, mein Handgelenk aus seinem Griff zu lösen. Doch er hält mich fest, während er mit seinen schönen meergrünen Augen mein Gesicht betrachtet.

»Du blutest nicht«, sagt er leise. Dann streicht er mit seinem Daumen über meine Stirn, was mir einen wohligen Schauer über den Rücken jagt. »Aber du wirst eine Beule bekommen, wenn du nicht etwas Eis drauflegst.« Er lässt mich los. Ich bin seltsam enttäuscht, als er zurücktritt und ich nicht länger von seiner Wärme und seinem Duft umgeben bin. Dann geht er auf die Tür zu und verschwindet ohne ein weiteres Wort. Verwirrt starre ich ihm hinterher.

»Ist das gerade wirklich passiert?« Ich blinzle in den leeren Raum. Nur wegen meiner beginnenden Kopfschmerzen weiß ich, dass ich nicht geträumt haben kann. Verwundert über die seltsame Begegnung sammle ich die Glasscherben ein und hoffe, dass der Rahmen kein unbezahlbares Familienerbstück war.

Gerade als ich alles aufgeräumt und das Foto verstaut habe, klopft jemand an und öffnet die Bürotür.

»Ich wollte dich nicht wieder erschrecken.« Der Mann von vorhin tritt ein, in der einen Hand eine kleine weiße Tasche, in der anderen einen Kaffeebecher.

»Oh.« Mehr als das bringe ich nicht hervor und beobachte, wie er beide Dinge auf den Schreibtisch stellt und seine Jacke auszieht. Darunter trägt er ein grünes Thermohemd, das einen gut trainierten Oberkörper erkennen lässt.

»Setz dich«, sagt er knapp und deutet auf Sallys Schreibtischstuhl, neben dem ich stehe. Er öffnet die Tasche und holt eine kleine Flasche und ein Stück Stoff heraus. Als er den Deckel des Bechers abnimmt, eine Handvoll Eis auf das Stück Stoff legt und die Enden zusammenbindet, frage ich mich erneut, ob ich träume. »Babe.« Sein Blick trifft den meinen. Ich öffne und schließe den Mund, stumm wie ein Fisch, während ich versuche, meine Gedanken zu sortieren. »Bitte setz dich.«

Wie ferngesteuert taste ich nach dem Stuhl und drehe ihn so, dass ich mich hinsetzen kann. Dann beobachte ich, wie der Fremde an mich herantritt. Warum ist mir vorher nicht aufgefallen, wie groß er ist? Nicht nur das, seine Schultern sind auch so breit, dass ich zweimal in seine Arme passen würde. Und seine Beine wirken so kräftig wie Baumstämme. Er sieht aus, als könnte er mich ohne Probleme hochheben, obwohl ich nicht gerade klein bin.

»Halte das bitte an deinen Kopf. Ich hole etwas Wasser.« Behutsam legt er mir den Eisbeutel auf die Stirn, nimmt meine Hand und drückt sie dagegen. Ich komme mir vor wie ein hilfloses Kind.

»Du hättest das nicht tun müssen«, sage ich leise, während er zu dem kleinen Kühlschrank unter der Kaffeestation geht und eine Flasche Wasser herausholt.

»Es war meine Schuld.« Er kehrt zum Schreibtisch zurück, nimmt das Pillenfläschchen in die Hand und liest den Text auf der Rückseite.

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass das nur passiert ist, weil ich so tollpatschig bin.«

»Nein, ich habe dich erschreckt.« Unsere Blicke treffen sich, und ich beobachte fasziniert, wie sich seine Lippen zu einem kleinen Grinsen verziehen, das in meinem Magen seltsame Gefühle auslöst. Schon auf dem Foto konnte ich erkennen, dass er gut aussieht. In natura ist er noch attraktiver: markanter Kiefer, Dreitagebart, wunderschöne Augen und volle Lippen. »Auf der Flasche steht, dass man zwei nehmen soll. Ich glaube, eine sollte reichen.« Er schüttelt eine weiße Pille aus dem Fläschchen und reicht sie mir zusammen mit der geöffneten Wasserflasche.

»Danke.« Ich nehme ihm beides ab und schlucke die Tablette hinunter.

»Kein Problem.« Er mustert mich mit verschränkten Armen, was seinen Bizeps noch muskulöser erscheinen lässt. »Ich nehme an, du vertrittst meine Großmutter.«

»Sandy?«, frage ich, und er hebt sein Kinn zur Bestätigung. »Sie hat sich krankgemeldet.«

»Krank ... richtig.« Offensichtlich weiß er, wo sie ist, und scheint darüber nicht glücklich zu sein. »Ich hätte sie anrufen sollen, statt einfach vorbeizukommen.«

»Tut mir leid, dass sie nicht da ist.«

»Es ist nicht deine Schuld.« Er seufzt, setzt sich auf die Schreibtischkante und fährt sich mit den Händen über das Gesicht.

»Kann ich dir irgendwie weiterhelfen?«

»Kannst du dafür sorgen, dass sich meine Familie einmal normal verhält?«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Dachte ich mir.« Er seufzt erneut, steht auf und greift nach seiner Jacke. »Wie heißt du?«

»Ähm ...« Ich lecke mir über die Lippen. »Everly.«

»Blake.«

»Freut mich, dich kennenzulernen.«

»Mich auch.« Er zieht seine Jacke an und setzt sich eine Mütze auf. »Hilfst du heute hier aus, oder hat Gene meine Großmutter rausgeworfen, weil sie sich wie eine Sechzehnjährige aufführt?«

»Mein Vater würde sie wegen so etwas nicht entlassen.«

»Du bist Genes Tochter?« Er zieht die Brauen leicht zusammen. »Die mit dem Kind?«

»Das bin ich«, murmle ich, unsicher, was ich von seinem Kommentar halten soll.

Er nickt und steckt seine Hände in die Taschen seiner Jeans. »Ich werde jetzt gehen. Du solltest deine Stirn weiter kühlen.«

»Wird gemacht«, stimme ich zu und sehe ihm nach, wie er hinausgeht. Als sich die Tür hinter ihm schließt, starre ich sie länger an, als ich sollte, während ich herauszufinden versuche, warum ich so enttäuscht bin.

2. Kapitel

Blake

Nachdem ich vor der Live Life Adventures-Lodge vorgefahren bin, stelle ich den Wagen ab und greife nach meinem klingelnden Handy. Es ist mein Vater. Ich nehme das Gespräch entgegen und halte mir das Telefon ans Ohr.

»Hey Dad.«

»Hey Junge. Geht’s dir gut?«

»Ja, alles klar. Was gibt’s? Bist du okay?« Die Frage ist lächerlich, da wir beide wissen, dass es ihm nicht gut geht. Trotzdem tun wir so, als wäre alles in Ordnung, obwohl es das schon seit einem Jahr nicht mehr ist.

»Ja.« Er räuspert sich. »Ich wollte dich nur wissen lassen, dass du mich diese Woche vertreten musst.«

»Klar.« Ich reibe über meine Brust in einem sinnlosen Versuch, den Schmerz darin loszuwerden. »Liegen deine Termine zur gleichen Zeit wie letzte Woche?«

»Etwas später am Nachmittag.«

»Kannst du selbst fahren, oder soll ich dich ...?«

»Es geht mir gut«, unterbricht er mich. Ich schüttle über seine Reaktion den Kopf, weil er mir nie sagen würde, wenn er Schwierigkeiten hat. Mein Vater war schon immer stur, aber seit seiner Diagnose ist es schlimmer.

»Du weißt, ich bin für dich da, und tue alles, was getan werden muss.«

»Ich weiß.« Er atmet tief aus. »Ich hab dich lieb, Junge. Wir sprechen uns bald wieder.«

»Hab dich auch lieb, Dad.« Ich lege auf und klopfe mit dem Telefon gegen meinen Oberschenkel. Als mein Vater mir erzählt hat, dass bei ihm Prostatakrebs diagnostiziert wurde, ist eine Welt für mich zusammengebrochen. Für mich war mein Vater immer wie ein Superheld; nichts konnte ihn in die Knie zwingen. Ich war mir sicher, dass er immer für mich da sein würde. Es war ein Schock für mich, zu erkennen, dass er auch nur ein Mensch ist, und dass seine Zeit wie die eines jeden anderen begrenzt ist. Irgendwann werde ich ohne ihn leben müssen, und diese Vorstellung ist niederschmetternd. Er hat mich gebeten, seine Erkrankung geheim zu halten; er will nicht, dass sich meine Mutter oder meine Schwester Sorgen machen. Angesichts meiner eigenen Gefühle habe ich eingewilligt. Jetzt, Monate später, bin ich mir nicht sicher, ob das die richtige Entscheidung war. Bisher sind seine Ärzte zuversichtlich, dass die Protonentherapie anschlägt. Die Nebenwirkungen sind zum Glück nur minimal. Aber ich weiß nicht, ob es gut für ihn ist, die Behandlung allein durchzustehen. Und ob ich stark genug bin, ihn weiterhin als Einziger zu unterstützen.

Mit einem Seufzen schicke ich an meine Schwester und an meine Mutter je eine Nachricht und frage, wie es ihnen geht. Auch wenn sie keine Ahnung haben, was los ist, fühle ich mich besser, wenn ich weiß, dass die beiden gut zurechtkommen. Danach lese ich die vielen neuen E-Mails in meinem Posteingang, steige aus meinem Wagen und gehe die Treppe zur Lodge hinauf. Ich fühle mich seit Wochen urlaubsreif. In meinem privaten Umfeld und auch bei der Arbeit ist so viel los, dass mir oftmals der Kopf schwirrt. Es kommt mir vor, als hätte ich in den letzten Monaten nicht eine Sekunde für mich gehabt. Leider wird sich das so schnell nicht ändern. In zwei Tagen kommt eine Gruppe von zehn Leuten zu einem einwöchigen Betriebsausflug. Vorher will ich noch einmal überprüfen, ob Maverick und Tanner, die mit mir zusammen das Unternehmen führen, wirklich an alles gedacht haben.

Sie haben mir mehrmals versichert, dass wir gut auf unsere Gäste vorbereitet sind. Natürlich weiß ich, dass ich den beiden vertrauen kann. Wir waren jahrelang zusammen beim Militär. Sie sind diejenigen, auf die ich mich immer verlassen konnte, und umgekehrt ist es genauso. Es fällt mir nur schwer, die Kontrolle abzugeben. Außerdem muss ich mehr denn je dafür sorgen, dass wir Gewinne erwirtschaften, vor allem, weil ich für die Behandlung meines Vaters aufkomme, nachdem sich seine Versicherung geweigert hat, die Kosten zu übernehmen.

Auf dem Weg ins Büro höre ich von weitem das Lachen einer Frau. Ich runzle verwundert die Stirn. Es gibt nur drei Frauen, die regelmäßig in der Lodge sind: meine Mutter, meine Schwester Margret und Cybil, Tanners Frau. Dieses Lachen gehört zu keiner von ihnen.

Als ich die Bürotür aufstoße, bleibe ich wie angewurzelt stehen. An dem einzigen Schreibtisch im Raum sitzen Tanner, Maverick ... und Everly. Die hübsche Brünette, die ich gestern in Genes Büro kennengelernt habe. Sie ist verdammt hübsch und völlig tabu, weil sie einen Mann und ein Kind hat.

»Was ist denn hier los?«, frage ich, und alle Blicke im Raum richten sich auf mich, zwei davon wirken schuldbewusst und einer sehr überrascht.

»Everly hat gerade den Job als Büroleiterin angenommen. Und jetzt gehen wir den Plan für diese Woche durch«, sagt Mav und lehnt sich in seinem Stuhl zurück.

»Wir dachten, es wäre gut, sie an Bord zu haben, bevor die nächste Gruppe eintrifft«, fügt Tanner hinzu. Ich spüre, wie sich die Muskeln entlang meiner Wirbelsäule verkrampfen.

»Ich muss mit euch beiden reden. Draußen.« Ich schaue zwischen Mav und Tanner hin und her und beobachte, wie sie einen Blick tauschen, bevor sie beide aufstehen.

»Wir sind gleich wieder da«, höre ich Mav leise zu Everly sagen, während ich ihnen voran aus dem Zimmer gehe. Dabei versuche ich, die irrationale Wut und Frustration, die ich empfinde, zu unterdrücken. Ich weiß, dass wir jemanden einstellen müssen. Aber auch in dieser Angelegenheit fällt es mir schwer, die Kontrolle abzugeben, und ich möchte unbedingt sicherstellen, dass wir die richtige Person auswählen.

Ich nehme die letzten Stufen der Veranda und drehe mich dann zu den beiden Männern um, die ich wie eine Familie liebe, aber auf die ich gerade verdammt sauer bin. »Was zum Teufel soll das?«

»Wir haben doch vereinbart, dass wir jemanden für die Büroarbeit einstellen.« Mav zuckt lässig mit den Schultern, wie es seine Art ist. Der Kerl war schon immer ausgesprochen beherrscht. Selbst wenn er wütend ist, merkt man ihm nichts an. »Wir haben mit mehr als vierzig Leuten gesprochen. Sie ...«

»Keiner dieser Bewerber ist für die Arbeit hier geeignet, und das weißt du ganz genau«, unterbreche ich ihn.

»Einige dieser Leute waren überqualifiziert. Und das weißt du auch«, erwidert Tanner und verschränkt die Arme. Ich atme tief ein und muss ihm recht geben. Einige hatten keine Ausbildung und keinerlei Referenzen, andere hatten so viele Erfahrungen gesammelt, dass wir sie uns nicht leisten konnten. Aber keiner der Bewerber passte zu uns.

»Ich weiß, dass es dir schwerfällt, anderen zu vertrauen und die Verantwortung abzugeben. Aber wir mussten endlich jemanden einstellen. Everly ist perfekt für den Job«, schwärmt Mav und bekommt einen sanfteren Gesichtsausdruck. Ich dagegen spüre eine irrationale Eifersucht in meiner Magengrube.

»Sie hat einen Mann und ein Kind. Das weißt du doch, oder?«, frage ich mit zusammengepressten Kiefern, und er hebt eine Braue.

»Was hat das mit der Arbeit zu tun?«

»Nichts.« Natürlich spielt das keine Rolle. Mich treibt nur der Gedanke um, dass einer meiner besten Freunde möglicherweise bei der Arbeit Gefühle für sie entwickelt. Das macht mich verdammt unruhig, obwohl es das nicht sollte.

»Kennst du sie?«, will Tanner wissen. Ich fahre mir mit den Fingern durchs Haar.

»Nein, nicht wirklich. Ich habe sie gestern bei Gene getroffen. Sie ist seine Tochter. Und meine Großmutter hat erwähnt, dass sie ein Kind und einen Mann hat.« Meine Erklärung lässt ihn grinsen, und ich kneife die Augen zusammen. »Was?«

»Nichts.« Tanner steckt die Hände in die Hosentaschen und schüttelt den Kopf. »Wir können das nicht weiter aufschieben. Cybil wird mich nach der Geburt brauchen, und ich will mindestens einen Monat zu Hause bei meiner Frau und meinem Kind sein. Gern länger, wenn es sich irgendwie einrichten lässt.«

»Das weiß ich«, antworte ich leise und freue mich für ihn und seine Familie. Ich weiß, wie wichtig es ist, dass ich seine Entscheidung mittrage, nachdem ich mich vor ein paar Monaten wie ein Idiot benommen habe. Cybil war allein zu einem unserer Paartreffen nach Montana gereist, nachdem ihr Zukünftiger die Verlobung gelöst ha

tte. Tanner bot an, ihr Ersatzpartner zu sein, damit sie ihren gebuchten Urlaub wahrnehmen konnte. Während dieser Zeit kamen sie sich näher. So nahe, dass Cybil ihren Besuch hier verlängerte, um noch mehr Zeit mit ihm zu verbringen. Als sie nach Hause fahren musste, weil die Frau, die sie wie eine zweite Tochter aufgezogen hatte, einen Herzanfall erlitt, begleitete Tanner sie zurück nach Oregon. Letztendlich haben sie sich ineinander verliebt, leben nun zusammen und erwarten ein Kind. Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen und meine erste Reaktion auf die beiden als Paar ungeschehen machen. Heute weiß ich, dass ich Angst hatte, einen meiner besten Freunde zu verlieren, gleich nachdem mir mein Vater anvertraut hatte, dass er Krebs hat.

»Wir wissen, dass du auch nicht erst in letzter Minute irgendjemanden für den Job haben willst. Und ja, wir hätten Everly nicht ohne dein Okay einstellen sollen. Aber wir sind uns sicher, dass sie die Richtige ist. Auch wenn du wie immer etwas finden wirst, dass dir nicht in den Kram passt«, erklärt Mav, und ich schlucke schwer. Tanner und Mav kennen mich besser als alle anderen. Trotzdem möchte ich Mav zurufen, dass er keine Ahnung hat, wovon er spricht.

»Weiß sie, wie man mit einem Quad fährt, Fische ausnimmt oder einen Reifen wechselt?«, frage ich die beiden und bin mir bewusst, dass Everly wahrscheinlich nichts davon in ihrem Job bei uns je tun muss.

»Nein, aber sie kann es lernen.« Mav zuckt mit den Schultern. »Das Wichtigste ist, dass sie weiß, wie man ein Büro führt. Den Rest können wir ihr beibringen, falls es nötig ist. Du musst nur nett zu ihr sein.«

»Ich werde sie schon nicht vertreiben.«

»Okay.« Tanner presst die Lippen aufeinander. »Als du vorhin ins Büro gerauscht bist und dich wie ein knurrender Idiot benommen hast, hast du nicht wie ein guter Chef gewirkt.«

»Ich habe nicht geknurrt.«

»Besonders freundlich warst du aber auch nicht«, behauptet eine weibliche Stimme. Wir drehen uns um und sehen Everly am oberen Ende der Treppe stehen, mit der Schulter an den Pfosten gelehnt und die Arme vor der Brust verschränkt. Ihre Haltung ist lässig, aber der Hauch von Verärgerung in ihrem Gesichtsausdruck lässt mich fragen, wie lange sie schon dort steht. »Aber das ist schon in Ordnung. Ich weiß jetzt, dass du überrumpelt wurdest.«

»Er wusste wirklich nicht, dass wir dich eingestellt haben«, sagt Tanner, und sie nickt ihm zu, bevor sie wieder mich ansieht.

»Du kennst mich nicht und hast offensichtlich ein Problem damit, dass ich ein Kind habe. Aber gerade als alleinerziehende Mutter bin ich die beste Wahl für diesen Job. Ich bin auf ein stabiles Einkommen angewiesen, um meinem Sohn das beste Leben bieten zu können. Und dafür muss ich arbeiten. Das bedeutet, dass ich zu den vereinbarten Terminen erscheine und alles daransetze, einen guten Job zu machen. Wenn du mir eine Chance gibst, werde ich dich nicht enttäuschen.«

»Ich habe kein Problem damit, dass du ein Kind hast«, antworte ich und bemühe mich, nicht darüber nachzudenken, warum ich so erleichtert bin, dass sie single ist.

Everly neigt den Kopf zur Seite und zuckt mit einer Schulter, als würde sie mir nicht glauben. »Du hast jetzt schon zweimal erwähnt, dass ich Mutter bin, und dich jedes Mal seltsam verhalten«, entgegnet sie und kommt die Treppe zu uns herunter.

»Ich habe mich nie seltsam benommen, und es ist unhöflich, zu lauschen. Das weißt du doch, oder?«

»Vielleicht«, stimmt sie zu, und verdammt, ihre kecke Art hat etwas sehr Anziehendes.

»So unterhaltsam das auch ist, ich muss los«, sagt Tanner und klopft mir auf den Rücken. »Cybils Kontrolluntersuchung findet in einer Stunde statt. Danach treffe ich mich mit unserem Gaslieferanten, damit die Jungs den Tank hinter der Lodge auffüllen.«

»Okay«, antworte ich. »Steht das Abendessen morgen noch?«

»Ja, klar«, entgegnet er und sieht Everly an. »Wenn du morgen Abend gegen fünf noch nichts vorhast, kannst du gerne zu uns kommen und auch deinen Sohn mitbringen. Das ist Tradition, bevor und nachdem wir eine größere Gruppe betreuen.«

»Oh.« Sie blickt mich kurz an. »Danke für das Angebot, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich es schaffen werde.«

»Ich hoffe, du lehnst nicht wegen diesem Miesepeter ab.« Mav klopft mir auf die Schulter, und Everly lächelt, was sie noch schöner erscheinen lässt.

»Ich werde darüber nachdenken«, sagt sie vage.

Mein Handy beginnt zu klingeln. Als ich sehe, dass mein Vater anruft, entferne ich mich ein paar Schritte von den anderen. »Sorry, da muss ich rangehen.« Ich drehe mich um und halte mir das Handy ans Ohr. Alle Gedanken an Everly, ihr Lächeln und die Tatsache, dass sie single ist, verblassen, als mich die Realität einholt.

3. Kapitel

Everly

Nachdem ich zum dritten Mal in Folge gegähnt habe, stoße ich mich von meinem Schreibtisch ab und verlasse das Büro. Je näher ich der Küche komme, desto stärker wird der Duft von frisch gebrühtem Kaffee. Sampson hat mich in den letzten Nächten wachgehalten. Durch den wenigen Schlaf und die Anstrengungen meines Jobs, für den ich früh aufstehen muss, bin ich erschöpft. Dabei ist es gerade mal halb acht Uhr morgens.

Ich bleibe in der offenen Küchentür stehen und beobachte eine Frau, die in einer großen Metallschüssel rührt. Maverick und Tanner haben mir erzählt, dass Blakes Mutter Janet die Küche leitet, wenn wir Gäste haben. Bisher habe ich sie noch nicht kennengelernt.

Ich wippe mit den Füßen und überlege, ob ich mich umdrehen und zurück ins Büro gehen soll. Der Kaffee scheint nicht mehr so wichtig zu sein wie noch vor ein paar Minuten. Aus irgendeinem Grund ist Blake kein Fan von mir. Ich bin mir nicht sicher, ob er seine Abneigung gegen mich mit seiner Mutter geteilt hat.

»Ich beiße nicht.« Bei dieser Bemerkung konzentriere ich mich auf die Frau, die mich von der anderen Seite des Raumes aus anlächelt. »Du musst Everly sein.«

»Genau die bin ich, und Sie sind Janet?«