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Philipp führt ein beschauliches Leben. Seine Arbeit bei einer Versicherung ist pure Beschäftigungstherapie, die Freunde sind seit zwanzig Jahren die gleichen, und vor Kurzem ist er mit seiner Jugendliebe Amanda zurück in die Vorstadt gezogen. Doch nach einem ausschweifenden Musikfestival hört der arme Philipp plötzlich Stimmen. Auf eine Panikattacke folgt die nächste. Und war das wirklich ein Tausendfüßler, der da aus Amandas Ohr gekrochen ist? Als Philipp der Wahrheit auf die Spur kommt, ist es bereits zu spät. Rolf, ein schleimiger und ziemlich frivoler Dämon, hat das Steuer an sich gerissen. Er ist von der langweiligen Landstraße auf die Autobahn des Chaos abgebogen und brettert jetzt jauchzend ins Verderben – mit einem zähneklappernden Philipp auf dem Beifahrersitz. Der weiß: Nur wenn er sich seinen Gefühlen stellt, hat er eine Chance, den langen Tentakeln seines Dämons zu entrinnen. Doch will er das überhaupt? "Rolf" ist ein temporeicher Roman, der den Ängsten und Problemen all derer, denen das Erwachsenwerden nur bedingt zu gelingen scheint, ein glubschäugiges und breitmauliges Gesicht verleiht. Ein augenzwinkerndes Plädoyer gegen die Vernunft. Und eine Anleitung fürs Anfreunden mit unseren eigenen Dämonen.
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Andri Hinnen
Roman
Elster & Salis wird vom Bundesamt für Kultur mit einem
Förderbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.
Andri Hinnen
Rolf
Roman
Verlag
Elster & Salis AG, Zürich
www.elstersalis.com
Lektorat
Patrick Schär
Korrektorat
Kristina Wengorz
Satz
Peter Löffelholz
Umschlaggestaltung
André Gstettenhofer
Umschlagbild und
Illustrationen innen
Christof Gähwiler
Gesamtrealisation
www.torat.ch
Gesamtherstellung
CPI Books GmbH, Leck
1. Auflage 2021
© 2021, Elster & Salis AG, Zürich
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-03930-010-5eISBN 978-3-03930-011-2
ERSTER TEIL
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
ZWEITER TEIL
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
DRITTER TEIL
Kapitel 77
Kapitel 78
Kapitel 79
Kapitel 80
Kapitel 81
Kapitel 82
Kapitel 83
Kapitel 84
Kapitel 85
Kapitel 86
Kapitel 87
Kapitel 88
Kapitel 89
Kapitel 90
Kapitel 91
Kapitel 92
Kapitel 93
Kapitel 94
Kapitel 95
Kapitel 96
Kapitel 97
Kapitel 98
Kapitel 99
Kapitel 100
Kapitel 101
Kapitel 102
VIERTER TEIL
Kapitel 103
Kapitel 104
Kapitel 105
Kapitel 106
Kapitel 107
Kapitel 108
Kapitel 109
Kapitel 110
Kapitel 111
Kapitel 112
Kapitel 113
Kapitel 114
Kapitel 115
Kapitel 116
Kapitel 117
Kapitel 118
Kapitel 119
Kapitel 120
Kapitel 121
Kapitel 122
Kapitel 123
Kapitel 124
Kapitel 125
Kapitel 126
Kapitel 127
Kapitel 128
Kapitel 129
Kapitel 130
Kapitel 131
Kapitel 132
FÜNFTER UND HOFFENTLICH LETZTER TEIL
Kapitel 133
Kapitel 134
Kapitel 135
Kapitel 136
Kapitel 137
Kapitel 138
Kapitel 139
Kapitel 140
Kapitel 141
Kapitel 142
Kapitel 143
Kapitel 144
Kapitel 145
Kapitel 146
Kapitel 147
Kapitel 148
Kapitel 149
Kapitel 150
Kapitel 151
Kapitel 152
Kapitel 153
Kapitel 154
Kapitel 155
Kapitel 156
Kapitel 157
Kapitel 158
Kapitel 159
EPILOG
Kapitel 160
Kapitel 161
Kapitel 162
DANK
ZUM AUTOR
»What a chimera then is man!
What a novelty, what a monster, what a chaos,
what a contradiction, what a prodigy!
Judge of all things, feeble earthworm,
repository of truth, sewer of uncertainty and error,
the glory and the scum of the universe.«
Blaise Pascal
»Lucky are those who
meet their demons in the flesh.«
aus Star Trek
Es stank.
Es stank nach feuchtem Gras, über das zu viele Jugendliche getrampelt waren. Nach abgestandenem Bier und eingetrocknetem Schweiß. Nach Erbrochenem, Urin und nach dem synthetischen Stoff eines neu gekauften Campingzelts.
Ein goldener Strahl drängte sich durch dessen Öffnung. Staubflocken tanzten durch die Luft. Ein heller Punkt landete auf Philipps geschlossenem Augenlid. Amanda hatte recht behalten. Was für eine dumme Idee das Wochenende doch war. Was gäbe er jetzt nicht alles für ein Badezimmer in Gehdistanz. Für eine wohltemperierte Tasse Grüntee. Für seine Memory-Foam-Matratze.
Aber noch hatte Philipp keine Ahnung, als wie dumm sich die Idee tatsächlich entpuppen würde. Und auch das Wort »entpuppen« war zutreffender, als er wissen konnte. Sein Lid zuckte, die Fliege surrte davon, und als er in die Vormittagssonne blickte, war es, als hämmerte jemand einen Stahlträger durch sein dehydriertes Gehirn.
Er versuchte, seinen kribbelnden Arm zu befreien, ohne das belgische Mädchen aufzuwecken. Dies hatte jedoch nur zur Folge, dass sie sich umdrehte und noch näher an ihn herankuschelte. Wie würde er das bloß Amanda erklären? Er legte sich die Geschichte zurecht, die er zu Hause erzählen würde, brachte aber keinen Gedanken zu Ende.
Dann sah er die Schlange. Langsam kroch sie über den Rucksack beim Zelteingang und richtete ihre roten, stechenden Augen auf ihn. Er zuckte vor Schreck dermaßen zusammen, dass jetzt auch das Mädchen erwachte.
»Guuuuten Morgen«, nuschelte sie.
Philipp erinnerte sich, wie unfassbar originell er sich vergangene Nacht vorgekommen war, als er ihren französischen Akzent inmitten wummernder Technomusik mit dem Gesang einer Nachtigall auf einer Baustelle verglichen hatte. Gleichzeitig fand er es ziemlich verwegen, dass sie das »gut« derart betonen musste. Aber natürlich wusste seine junge Bekanntschaft weder vom Stahlträger in seinem Gehirn noch von seinem kribbelnden Arm noch von seiner Sorge, Amanda von seinem sündhaften Wochenende zu berichten, noch von der Schlange.
Letzteres war erstaunlich. Kroch die Schlange doch mit einer Selbstverständlichkeit durch das blonde Haar des Mädchens, als handelte es sich um ihr stinknormales Habitat. Ja, Philipp und die tausend gequälten Stimmen in seinem Kopf waren sich einig: Den Morgen als »gut« zu bezeichnen, war falsch. Sein freier Arm griff um sich und bekam das Buch über südamerikanische Schamanen zu fassen, das ihm Temo ausgeliehen hatte und in dem Philipp bisher genau dreieinhalb Sätze gelesen hatte. Ohne nachzudenken, schmetterte er es auf die Schlange. Und an den Kopf der jungen Belgierin.
»Au!«, schrie sie. »Spinnst du?!«
Philipp entzog ihr seinen tauben Arm, rappelte sich mitsamt seinem Schlafsack auf und hechtete durch den Zelteingang ins Freie, direkt vor die Füße seines Jugendfreundes.
»Guten Morgen«, sagte Temo und zog an seiner Gauloise. Offenbar hatte auch er den Ernst der Lage nicht erkannt.
Noch bevor Temo zu sinnlosen Fragen ausholen konnte, hatte sich Philipp von seinem Schlafsack befreit, das Mädchen gepackt und aus dem Zelt gezogen. War er dabei unsanft vorgegangen? Womöglich. Doch vor Kurzem hatte er gelernt: In gefährlichen Situationen konnte Zimperlichkeit den Tod bedeuten.
Die Personalabteilung seiner Firma hatte vor einigen Wochen einen Experten eingeladen, um die Belegschaft auf Risikosituationen vorzubereiten. Sollte der unwahrscheinliche, aber leider nie auszuschließende Fall eintreten, dass ein gemobbter Kollege und/oder ein missverstandenes Mitglied einer religiösen Minderheit mit einer oder mehreren Waffen das Büro stürmte und die Mitarbeitenden zur Rechenschaft ziehen würde, wofür auch immer, wollte man vorbereitet sein. Umso mehr, da man als Lebensversicherer mit bestem Beispiel voranzugehen hatte.
Philipp griff nach der verkohlten Grillzange und schaute ins Zelt. Jetzt also ja nicht zimperlich sein. Die Angstherunterschlucken. Handeln. Er klopfte sämtliche Kleider und Schlafsäcke, seinen Rucksack sowie die Essensreste und leeren Bierdosen ab. Doch es half nichts. Die Schlange war verschwunden.
Philipp klammerte sich an seinen Kulturbeutel, als handelte es sich um das letzte Überbleibsel einer längst vergessenen Hochkultur. Er musterte seine Leidensgenossen, die wie er darauf warteten, endlich eine der blauen Plastiktoiletten zu benutzen. Anders als die meisten hatten sie am Ende eines dreitägigen Musikfestivals noch den nötigen Funken Würde übrig, ihr Geschäft in einem engen, stinkigen und bis oben gefüllten Plumpsklo zu verrichten. Sie waren Einäugige unter Blinden, und Philipp fühlte sich ihnen seltsam verbunden.
Sein Blick schweifte über das Meer von Zelten, das Ungetüm einer Bühne bis hin zum Wald, der das Gelände von drei Seiten umgab. Noch immer hämmerte ein aufgedrehter Metallaffe gegen seinen Frontallappen, doch beim Anblick eines Vogelschwarms, der aus den Bäumen emporstieg und durch den inzwischen von farblosen Wolken durchzogenen Himmel tanzte, verspürte Philipp einen kurzen Moment der Glückseligkeit.
Er zählte die Personen vor sich und rechnete die ungefähre Wartezeit aus. Dann nahm er einen Schluck aus seinerEvian-Flasche und wählte die Nummer seiner Verlobten. Und zum ersten Mal blieb der kalte Schauer aus, der bisher über seinen Rücken gekrochen war, wenn er an ihre bevorstehende Hochzeit dachte.
Mit der einen Hand umschloss Amanda das grüne Büschel, mit der anderen strich sie die feuchte Erde beiseite, bis der orangefarbene Ansatz zum Vorschein kam. Dann zog sie die Karotte mit einem Ruck ans Tageslicht. Was für ein Prachtexemplar. Die Möhre war weder besonders groß noch gleichmäßig geformt. Sie war ein knorriges Ungetüm, höchstens doppelt so lang wie dick. Doch das war Amanda egal. Es war ihre Möhre, und sie war stolz auf sie. Sie setzte sich auf ihre neue rote Gartenbank und philosophierte, ob der Stolz tatsächlich der Karotte galt. War es dasselbe selbstlose Gefühl, das sie verspürte, wenn einem ihrer Schüler eine schöne Zeichnung gelang? Oder war es die Gärtnerin, sie selbst, auf die sie stolz war? War es Errungenschaft oder Mutterliebe? Noch bevor sie eine abschließende Antwort fand, vibrierte das Handy in ihrer Schürze.
»Mann, bin ich froh, deine Stimme zu hören«, sagte Philipp.
»Und?«, fragte Amanda.
»Und was?«
»Hast du’s getan?« Amanda war der Meinung, dass man Sorgen und Probleme ohne Umschweife ansprechen musste. Sie hörte, wie Philipp einen Schluck trank.
»Nie wieder, sag ich dir. Ich weiß echt nicht, wie Temo das macht.«
War ja klar. Die Gartenschürze fühlte sich plötzlich eng an. »War’s gut?«
Philipp beobachtete, wie sich zwei leicht bekleidete Mädchen in eine Kabine zwängten. Neben ihm putzte ein blonder Rastafari seine Zähne mit Dosenbier, und wow war die junge Frau hinter ihm bleich.
»Anders als erwartet. Sie war ganz klein.«
»Klein?« Klein war nicht gut. Das hatte ihr Jacqueline eingebläut.
»Mach dir keine Sorgen. Ich bin immer noch der Alte.«
»Das will ich nicht hoffen.« Amanda hoffte es so sehr. Sie kratzte mit dem Daumen etwas Erde von der knorrigen Karotte. Philipp war ihr sicherer Hafen, sie sein abgedrehtes Kreuzfahrtschiff. Und das sollte gefälligst so bleiben.
»Na ja, ein bisschen was hat sich schon getan«, sagte Philipp. Er wollte Amanda gerade erklären, dass das Wochenende tatsächlich den angestrebten Effekt gehabt habe und er sich seit heute Morgen nichts sehnlicher wünsche, als in jenes beschauliche Vorstadtleben zurückzukehren, das sie im Begriff waren, zusammen aufzubauen, als die bleiche Frau hinter ihm auf seine Converse kotzte.
»Und ihr zwei seid sicher, dass ihr’s nicht getan habt?«, fragte Temo und hievte seinen abgewetzten Rucksack in den Kofferraum des VW Golf. Philipp dachte daran, dass nur wenige Gepäckstücke in ihrem Leben mehr Berge besteigen, Flüsse durchqueren und Länder bereisen durften als dieses tapfere Kerlchen.
»Ich war selbst überrascht, aber der brave Junge hat mich nicht angerührt«, sagte die Belgierin, »und irgendwann hat er von nichts anderem mehr geredet als von seiner Anna.«
»Amanda«, korrigierte Philipp, während er seine Schuhe an einem der wenigen Grasbüschel auf dem Schotterparkplatz abwischte.
»Du hast ihr von Amanda erzählt?« Temo fand Philipps ewige Treue gegenüber seiner Jugendliebe ebenso bewundernswert wie verstörend.
»Ich habe selten einen Mann getroffen, der sich so auf seine Hochzeit freut. Echt süß«, sagte sie.
Philipp hob die Augenbrauen. Alles, woran er sich erinnern konnte, waren vereinzelte, isolierte Empfindungen. Ein gegrilltes Marshmallow, das seine Geschmacksnerven in ein gigantisches Meer von Milch und Honig tränkte. Ein halb nackter DJ, der wie ein Aztekengott über der Menge thronte und die einzelnen Schicksale zu einem zuckenden Ganzen verschmolz. Hypnotische Lichtstrahlen, die seinen Körper durchdrangen wie die Dämonen am Ende von Indiana Jones. Und ein Prickeln in seinen Fingern, als sie durch geschmeidiges, nicht enden wollendes blondes Engels haarfuhren. Philipp fragte sich, wem er das göttliche Marshmallow zu verdanken hatte, und glaubte sich zu erinnern, wie er und seine neue Bekanntschaft über den riesigen Zeltplatz getorkelt waren und sich mit zahlreichen Jugendlichen angefreundet hatten, die die Nacht an Lagerfeuern ausklingen ließen.
Temo öffnete die Fahrertür. »Lise, können wir dich noch irgendwohin mitnehmen?«
Lise! So hieß sie, dachte Philipp.
Sie winkte ab. Sie würde den Bus nehmen, um zurück in die Stadt zu gelangen. Sie überlegte kurz, ob sie die auf die vierzig zugehenden Männer an ihre ökologische Verantwortung erinnern sollte, tat den Gedanken aber sogleich als naiv ab. Sie war zu müde für Grundsatzdiskussionen. Außerdem waren ihr die Spinner sympathisch, weshalb sie sich ausnahmsweise erlaubte, ihre Prinzipien nicht ganz so streng auszulegen.
»Meldet euch, wenn ihr wieder mal im Land seid«, sagte sie und gab den beiden ein Küsschen auf die Wange. Dann bedankte sie sich bei Philipp für den Schlafplatz und dafür, dass er sie vor der bösen Schlange gerettet hatte. Sie kniff ihn in seinen Bauchansatz und tänzelte davon.
»Klein ist nicht gut. Das ist wie bei den Skorpionen«, sagte Temo, die Augen auf den Verkehr gerichtet.
Philipp war stets aufs Neue von der Widerstandsfähigkeit seines Freundes beeindruckt. Temo konnte innerhalb einer Woche drei Tage und drei Nächte durchfeiern, einen Fünftausender besteigen und die Facharztprüfung bestehen – in dieser Reihenfolge.
»Wie bei den Skorpionen?« Philipp leerte die letzten Tropfen seiner Wasserflasche in ein Taschentuch und begann, abermals seine Schuhe zu säubern. Er fragte sich, ob er anhand der Spuren, die die bleiche Frau hinterlassen hatte, herausfinden könnte, an welchem Stand sie am Vorabend gegessen hatte – und ob er das Zeug zum Detektiv hätte.
»Je kleiner, desto gefährlicher. Stand was drauf?«
»Ich glaube nicht. Lise meinte, das Ding sei harmlos.«
»Das haben wir ja heute Morgen gesehen. Wieso hast du mich nicht gefragt, Mann? Wenn ich mich mit etwas auskenne, dann …« Temo unterbrach seinen Satz, um den seiner Meinung nach viel zu langsamen roten Toyota vor ihnen bis in alle Ewigkeit zu verdammen.
»Hattest du noch mehr Halluzinationen? Außer heute Morgen?«
Noch immer war sich Philipp ziemlich sicher, dass die Schlange echt gewesen war. Vielleicht war’s ja einfach eine Blindschleiche. »Ich kann mich kaum erinnern.«
Temo grunzte. »Das hingegen kommt vom Saufen!«
Sie einigten sich darauf, für den Rest der Heimfahrt die Musik ihrer Jugend zu hören. Und so klang ein altes Eels-Album aus den Lautsprechern, das von ausgestoßenen Monstern, Psychopharmaka sowie einem Kind im Manne handelte.
Leichter Regen hatte eingesetzt, und die Dämmerung war angebrochen. Temo raste mit hundertachtzig Kilometern pro Stunde über die deutsche Autobahn, und das Dröhnen des Motors und die im Fahrtwind flatternden Fenster hatten eine angenehm einschläfernde Wirkung auf Philipp. Doch es waren weder Temos gelegentliche Flüche noch dessen ruckartige Überholmanöver, die Philipp daran hinderten, im Tiefschlaf zu versinken. Es war eine langsam erwachende Kraft, tief verborgen in seinem Innersten, die so ganz und gar keine Lust hatte, sich seinem Bedürfnis nach Erholung unterzuordnen.
Und so kam es, dass Philippjedes Mal, wenn Temos klappriger VW Golf einen zweistöckigen Reisebus passierte und Philipp wegen der dadurch entfachten leichten Druckwelle für einen kurzen Moment die Augen öffnete, ob seines silhouettenhaften Spiegelbildes in den vorbeiziehenden Fenstern zu Tode erschrak. Denn für den Bruchteil einer Sekunde erkannte er nicht sich selbst, sondern ebenjene Kraft, die sich langsam aus ihrem Kokon befreite.
Die Straßenlaternen waren schon aus, als sie in die Einfamilienhaussiedlung einbogen. Beinahe hätte Temo einen Teenager auf einem BMX überfahren. »Genau darum würde ich nie in die Vorstadt ziehen«, sagte er. »Die Finsternis!« Temo war der Meinung, dass die menschliche Seele unaufhörlich mit Licht gefüttert werden musste, um nicht von ihrer eigenen Dunkelheit verspeist zu werden.
Auch das vor wenigen Monaten bezogene Häuschen von Philipp und Amanda war stockfinster. »Siehst du? Sie verschlingt alles und jeden. Selbst Amanda.« Temos Energie war ungebrochen.
Philipp nahm das wild zusammengeschnürte Zeltbündel aus dem Kofferraum und legte es so leise wie möglich auf den Rasen des Vorgartens. Es war ihm wichtig, sich an die Nachtruhe seiner neuen Nachbarschaft zu halten.
»Wir hätten das Ding dalassen sollen«, sagte Temo mit normaler Lautstärke und ließ die leere, nach abgestandenem Bier stinkende Kühlbox danebenplumpsen.
Philipp zuckte zusammen. »Ich hab’s doch eben erst gekauft«, flüsterte er.
»Heißt das, wir gehen bald wieder campen?«
Im Nachbarhaus ging Licht an. Philipp seufzte.
»Wir hätten es dalassen sollen.«
»Eines Tages wird sich ein gewisser Philipp junior drüber freuen.«
»Wahrscheinlich muss ich mich eines Tages darin verkriechen. Wer weiß, ob mich Amanda nicht irgendwann rauswirft.« Philipp betrachtete die dunklen Konturen seines neuen Zuhauses und dachte an die vergangenen Tage.
»Ja. Wer weiß«, sagte Temo. Er war sich sicher, dass Amanda seinen lieben Freund niemals rauswerfen würde. Umbringen ja, aber doch nicht rauswerfen!
Die beiden verabschiedeten sich. Temo zwängte sich in sein Auto, winkte und brauste davon. Philipp sah ihm nach, wie er mit quietschenden Reifen um die Ecke bog und in der Dunkelheit verschwand. Er war nie wirklich schlau geworden aus seinem Freund. Aber er liebte ihn wie einen Bruder. So zumindest, dachte er, musste sich die Liebe zu einem Bruder anfühlen.
»Willkommen im trauten Heim. Essen ist im Kühlschrank, und die brave Hausfrau wartet im Bett auf dich.« Neben die Notiz hatte Amanda ein Herz gezeichnet und sorgfältig ausgemalt. Philipp hängte das Zettelchen an die mehrheitlich mit Geburtsanzeigen bepinnte Steckwand und öffnete den Kühlschrank, wo er einen Teller Karottenrisotto fand. Obwohl er kaum Hunger hatte, schob er ihn in die Mikrowelle.
Er beobachtete, wie sich der Teller langsam im Kreis drehte, und lauschte dem leisen Brummen. Er hatte Amanda neulich erzählt, dass seine Mutter Gisela und ihr damaliger Freund das »Kühlschrankspiel« jahrelang gespielt hätten. Der geschäftstüchtige Mann kam erst kurz vor Mitternacht nach Hause und fand im Kühlschrank einen fein säuberlich angerichteten Teller mit den Resten des Abendessens vor, das seine Freundin und deren Sohn Stunden zuvor gegessen hatten. Philipp musste in letzter Zeit oft an diesen eigentümlichen Brauch denken. Er fragte sich, ob die Gründe für die späte Heimkehr wirklich immer geschäftlicher Natur gewesen waren – ein Verdacht, auf den er als Kind nie gekommen wäre – und ob das Verhalten seiner Mutter weniger von Liebe als vielmehr von jener subtilen Bissigkeit geprägt gewesen war, die sie bis heute an den Tag legte. Es war, als hätte sie ihrem Mann sagen wollen: Ich liebe dich trotzdem. Und das macht mich zu einem besseren Menschen. Aber so genau wusste er das nicht.
Er beobachtete den digitalen Countdown auf der Mikrowelle, noch 44 Sekunden, und dachte darüber nach, wieso Amanda ihre Schwiegermutter imitiert hatte. Ob es eine Art Warnung war? Spürte sie, dass er sich mit einem Mädchen angefreundet hatte, das fast halb so alt war wie sie? 23 Sekunden. Doch Amanda war nicht der passiv-aggressive Typ. Nein, Amanda nannte die Dinge beim Namen. Eine Eigenschaft, auf die sie ziemlich stolz war. 8 Sekunden. Philipp kam zu dem Schluss, dass sie es wohl einfach lustig finden musste, ihn aufzuziehen. Oder vielleicht handelte es sich tatsächlich um einen Akt der Nächstenliebe? Er nahm sich vor, sie zu fragen.
3 Sekunden. Philipp öffnete die Mikrowellentür, bevor sie Gelegenheit hatte, Amanda mit einem lauten Bing zu wecken.
Während er auf dem Klo des frisch dekorierten Gästebadezimmers saß, den lauwarmen Reis aß und sich der Nahrung der letzten achtundvierzig Stunden entledigte, rechnete sich Philipp aus, dass er das Haus bereits in fünf Stunden wieder verlassen musste. Doch er hatte keine Lust, sich zu beeilen. Zu sehr genoss er die Stille der Vorstadt. Er schloss die Augen und horchte. Er hörte nichts außer dem weit entfernten Bellen eines Hundes, seinem eigenen Atem und dem Tröpfeln im Toilettenkasten.
Doch an die Stelle der stillen Außenwelt trat sein lärmiges Innenleben. Er vernahm die Echos wummernder Beats, grölender Teenager, Gitarre spielender Hippies, Bongo trommelnder Rastafaris, kreischender Fans. Aus den Tiefen seines Kopfes krochen die Stimmen von Temo, Lise und zahllosen Sängerinnen und Sängern empor, deren Konzerte er in den vergangenen Tagen über sich hatte ergehen lassen. Und dann war da plötzlich ein Kichern. Ganz leise, doch umso unangenehmer. Je mehr Philipp versuchte, es zu ignorieren, desto deutlicher wurde es. Ein zischendes, irres Kichern. Er schüttelte sich. Seine Oberschenkel zuckten zusammen.
Erschrocken öffnete Philipp die Augen. Er griff nach dem Klopapier, das er vor einigen Stunden noch so sehr vermisst hatte, und seine Finger krallten sich in die flauschige Rolle, als wollte er sicherstellen, dass dessen Wirklichkeit die einzig wahre war.
Dann nahm er eine ausgiebige Dusche, masturbierte und dachte an Lises jugendlichen Körper.
Die Stufen knarrten unter seinen Füßen. Ein Handtuch um die Hüfte gebunden, öffnete Philipp vorsichtig die alte Holztür zum stockfinsteren Schlafzimmer. Er nutzte das fahle Licht des Treppenhauses, um sich auf den Weg auf die andere Seite des Bettes vorzubereiten, schloss die Tür hinter sich und hangelte sich am Wandschrank entlang. Es war totenstill. Vorsichtig setzte er sich auf das Bett und tastete über die Daunendecke. Seine Hände hatten die Mitte der Matratze erreicht. Wo war sie denn? Er streckte sich, bis er die Kante erreicht hatte. Das Bett war leer.
»Amanda?«, fragte er leise.
Keine Antwort.
»Amanda?«
Stille.
Er fuhr mit seinen Fingern am Kabel der Nachttischlampe entlang, bis er den Schalter erreichte. Das holzgetäfelte Zimmer erschien in einem rotgoldenen Licht, dem sich einzig das dunkle Blau des bodenlangen Vorhangs verwehrte. Dieser bewegte sich sanft. An seinem Fußende präsentierte er zwei nackte, mit rotem Nagellack verzierte Füße.
»Buhhhh!«, rief Amanda und sprang auf ihn drauf.
Sie landete auf Philipps Schoß, er fiel rücklings auf die Matratze. »Endlich!«, sagte sie lachend. »Das hat ja echt ewig gedauert.«
Philipps Herz hämmerte. »Ich wusste nicht, dass du noch wach bist.«
»Versuch mal, in dem Ding zu schlafen.«
Jetzt erst realisierte Philipp, dass Amanda das aufreizende purpurrote Korsett trug, das er ihr in Mailand gekauft hatte. Über ihren blauen Augen baumelten schwarze Fransen, und das seitliche, jede Falte betonende Licht bot Philipp einen Eindruck davon, wie Amanda eines fernen Tages aussehen würde. Sie war wunderschön. Er hätte ihr das gerne gesagt, aber sein müder und noch immer leicht verschreckter Geist brachte nur ein »Oh«, gefolgt von einem »Wow« über die Lippen.
»Das ist alles? Oh wow?« Sie boxte ihn in den Oberarm. Dann begann sie, mit ihren Hüften auf Philipps Schoß zu kreisen. »Das ist schon besser.«
Philipp zog sie zu sich herunter, bis sich ihre Lippen berührten. Amandas Hände fuhren über Philipps Bauch und unter sein Handtuch, das sich langsam löste. Ihr Gesicht vergrub sich in den dampfenden Poren seines Nackens. Philipps Augen wanderten zur weißen Holzdecke. So könnte es für immer weitergehen.
Doch während sie miteinander schliefen, prasselte ein Schwall von Gedanken auf Philipp nieder. Würde er nochmals zum Höhepunkt kommen? War das Amanda wirklich egal? Was, wenn nicht? Was dächte Lise, wenn sie ihn jetzt sähe? Oder Temo?
Amanda bewegte sich schneller und wilder, genauso wie Philipps Bilder, Fragen und Zweifel. Seine Hände krallten sich in ihre Hüften. Sie stöhnte. Und aus seinem Gedankenkarussell wurde eine jener Jahrmarktattraktionen, die ihre Passagiere über drei Achsen und um sieben Angelpunkte durch die Luft schleuderten. Bis ihnen die Zuckerwatte hochkam.
Auch Philipp wurde schwindlig. »Ahhhhhh«, schrie er plötzlich.
Doch als Amanda ihn fragte, was los sei, brachte er es nicht über sein rasendes Herz, ihr von den Asseln zu erzählen, die aus ihren Ohren gekrabbelt waren.
Philipp stand in der Männertoilette im siebzehnten Stock eines Geschäftshauses und betrachtete sich im Spiegel. Noch immer waren die Spuren des vergangenen Wochenendes sichtbar. Seine Augenringe waren tiefer als sonst, und auf seinem Nasenflügel hatte sich ein dicker Pickel breitgemacht. Für einen Augenblick befürchtete Philipp, dass dieser einen negativen Einfluss auf die Qualität der anstehenden Präsentation haben könnte. Er fasste sich mit beiden Händen an die Nase, klemmte den Pickel zwischen seine Zeigefinger und drückte zu. Sowohl Philipps Nase als auch seine Angst, wie ein unfähiger Clown auszusehen, schwollen daraufhin weiter an.
Er stützte sich auf die Ablage, sah in die leeren Augen seines Spiegelbildes und probte zum zwanzigsten Mal den Anfang seines Vortrages.
Rolf versuchte vergeblich, die Seiten der Boulevardzeitung umzublättern, die er auf dem Boden gefunden hatte. Es störte ihn nicht, dass sie ein paar Urinspritzer von seinem Vorgänger abbekommen hatte. Aber er fand die Typen grundsätzlich lächerlich, die sich zum Pissen in die Kabinen zwängten, statt die dafür vorgesehenen Pissoirs zu benutzen. Er konnte nach Jahrzehnten der Gefangenschaft nicht verstehen, wieso sich die Menschen freiwillig einsperrten.
»Verdammte Scheiße«, fluchte er. Es wollte ihm einfach nicht gelingen, zwei Seiten voneinander zu trennen. Er war eben erst aus seinem langjährigen Dämonenschlaf erwacht, weshalb der Großteil seiner Tentakel noch leicht betäubt und seine Feinmotorik eingeschränkt war.
»Meine sehr geehrten Damen und Herren«, hörte er Philipp sagen. Was war das denn für ein Dreck? Rolf rollte seine blutunterlaufenen Glubschaugen. Er zog es vor, Präsentationen mit einem Witz oder einer provokanten These zu beginnen.
»Ich freue mich, heute vor Ihnen zu stehen …«, fuhr Philipp fort, worauf Rolf die Zeitung zu Boden warf, seine Morgentoilette beendete und beschloss, Hilfe zu leisten.
Mitten im Satz öffnete sich die Tür zur Männertoilette. Philipp erschrak.
»Na, bist du bereit?«, fragte Felix.
»Geht so«, antwortete Philipp. Überhaupt nicht, dachte er.
»Nervosität im Griff?«
»Mehr oder weniger.« Seit Jahren bekam Philipp schlotternde Knie, wenn er vor großen Gruppen sprach. Sosehr er auch versuchte, seine Ängste zu unterdrücken.
»Keine Sorge. Bist ja top vorbereitet.« Felix betrachtete den Papierstapel, der neben dem Seifenspender lag. »Und im Notfall kann ich das Zepter ja jederzeit übernehmen.« Er klopfte Philipp auf die Schulter und verschwand in einer der Kabinen. Philipp war bereits früher aufgefallen, dass sein Chef Pissoirs nicht zu mögen schien.
»Dir ist schon klar, dass du das Ganze versauen wirst?«, klang es aus einer der Toiletten.
»Was?«, erwiderte Philipp.
»Hast du was gesagt?«, fragte Felix.
Philipp war verwirrt.