Rote Blaupausen - Wolfgang Both - E-Book

Rote Blaupausen E-Book

Wolfgang Both

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Beschreibung

Vor über 130 Jahren erschien der Roman "Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 auf 1887" von Edward Bellamy, ein Werk, das die soziale Frage aus Sicht des revolutionären Proletariats in der Industriegesellschaft aufgriff. Neben diesem Werk werden Romane aus Deutschland, Österreich, Frankreich, Russland und England vorgestellt. Heute noch relevante Fragen wie die nach der gerechten Verteilung des sozialen Reichtums, dem Zugang zu Bildung für alle, den Rechten der Frauen, der Rolle von Wissenschaft und Technik in unserer Gesellschaft oder der Energieversorgung werden in diesen Vorschlägen für eine bessere Welt beleuchtet. Portraits der Verfasser ergänzen die Zusammenstellung. Sowohl die sozialistische als auch die bürgerliche Literaturkritik haben diese Spielart der Utopien bisher immer ignoriert, ja abgelehnt. Die Sozialisten selbst verhängten ein "Bilderverbot" über den zukünftigen sozialistischen Staat. Doch die utopischen Werke durchbrechen dieses Verbot, regen auch heute zur Diskussion an und liefern Blaupausen für die Zukunft. Für "Rote Blaupausen" wurde Wolfgang Both mit dem Kurd Laßwitz Sonderpreis ausgezeichnet.

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Wolfgang Both

Rote Blaupausen

Erweiterte Neuausgabe

© 2008, 2021 by Wolfgang Both

Mit freundlicher Genehmigung des Autors

© dieser Ausgabe 2021 by Memoranda Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Korrektur: Christian Winkelmann

Gestaltung: s.BENeš [www.benswerk.com]

Memoranda Verlag

Hardy Kettlitz

Ilsenhof 12 | 12053 Berlin

Kontakt: [email protected]

www.memoranda.eu

www.facebook.com/MemorandaVerlag

ISBN: 978-3-948616-50-2 (Buchausgabe)

ISBN: 978-3-948616-51-9 (E-Book)

Inhalt

Vorbemerkung

Interessieren Sie sich für Utopien?

Die sozialen Utopien – Kritik der Gegenwart oder Blick in die Zukunft?

Die industrielle Revolution und die proletarische Revolution

Die sozialistische Gesellschaft im Spiegel der sozialen Utopien

Revolution oder Tod

Die Diktatur des Proletariats

Expropriiert die Expropriateure!

Die Kulturrevolution

Wir brechen das Bildungsprivileg!

Kampfgefährtin und Geliebte – die Frau in den sozialistischen Utopien

Wissenschaft, Technik und Automation sichern die proletarische Revolution

Recht und Moral

Religion ist das Opium des Volkes

Proletarier aller Länder, vereinigt euch!

Krieg dem Kriege!

Individuum und Gesellschaft, Partei und Kollektiv

Der neue Mensch

Wann beginnt die sozialistische Zukunft? Prognosen von Edward Bellamy bis Mack Reynolds

Das sozialistische Bilderverbot und die Ablehnung der Utopie

Ist die Utopie tot?

Danksagung

Unbekannte Biografien

Gustav Bolle (1842–1902) und seine Utopie Sozial

Walter Müller und seine Utopien Wenn wir 1918 … und Die KPD regiert

Josef von Neupauer (1806–1902), Österreich im Jahre 2020

Literatur

Primärliteratur

Sekundärliteratur

ANHÄNGE

Robert Havemann:Morgen(1980)

Edith – oder die mörderische Frage, wer bei wem abschrieb

Ein Plagiat?

Edith auf Raketenfahrt zur Venus

Edith in Puritanien

Die rote Edith

Ohne Edith

Edith Reloaded

Wer schrieb nun bei wem ab?

Quellen

Index

Bücher bei MEMORANDA

Vorbemerkung

Vor mehr als zehn Jahren erschien meine Studie Rote Blaupausen über linke utopische Entwürfe in einer limitierten Auflage der Reihe der UTOPISCH-PHANTASTISCHEN BIBLIOTHEK, die heute vergriffen ist. Sie war damals mit 49 Euro in einer schönen Hardcover-Ausgabe auch recht teuer, ein rechtes Sammlerstück. Neben dem Pflichtexemplar in der Deutschen Nationalbibliothek finden sich heute nur wenige Kopien in deutschen, österreichischen und Schweizer Bibliotheken (im digitalen Katalog habe ich nur 11 Exemplare gezählt), ihre Rezeption war wohl auf wenige Spezialisten beschränkt.

Der Anlass für das Buch war zufällig. Auf einem Trödelmarkt fand ich Utopolis von Werner Illing (1930). Das war im Frühjahr 2002. Das Buch gefiel mir ganz gut, es war nicht so trocken und didaktisch wie die frühen Utopien. Daher wollte ich wissen, ob es noch mehr von dieser (unterhaltsamen) Sorte gibt. Zum einen fragte ich in unserem Berliner SF-Klub herum, wer mir etwas zu linken Utopien sagen könne. Zum anderen suchte ich in bibliografischen Werken. Aber weder in der DDR noch in der Bundesrepublik hatte man sich mit diesem Genre beschäftigt. Während nationalistische und völkische Utopien[1] sowie grüne Utopien[2] gründlich aufgearbeitet waren, hatte sich niemand um die positiven eutopischen Zukunftsentwürfe in der Literatur gekümmert. Die Sozialisten um Marx und Engels hatten sie schon abgelehnt, selbst Liebknecht und Zetkin äußerten in ihren Vorworten Skepsis über diese sozialistischen Zukunftsbilder. Fachmagazine wie der QUARBER MERKUR, die SCIENCE FICTION TIMES oder SCIENCE FICTION STUDIES boten nur punktuell Hinweise. Und die bürgerliche Literaturwissenschaft hatte für diese linken Gesellschaftsentwürfe einen blinden Fleck. Einen Überblick gab es nicht.

Insgesamt sechzig Bücher standen nach zwei Jahren Suche auf meiner Liste, vierzig davon eigneten sich dazu, als sozialistische Utopieentwürfe genauer betrachtet zu werden. Weitere vier Jahre arbeitete ich (neben Familie und Beruf) an einer Struktur und am Text. Bei der Gliederung habe ich mich an den Hauptaufgaben der proletarischen Revolution orientiert; wer hat hierzu relevante oder interessante Beiträge geliefert? 2008 kam das Buch dann heraus.

Mit dieser erweiterten Neuauflage soll nicht nur ein breiterer Zugang zu diesen utopischen Werken geschaffen werden. In der Zwischenzeit sind auch neue Forschungsergebnisse erarbeitet worden, die eine Ergänzung lohnen, ohne dass die bisherigen Darstellungen oder Schlussfolgerungen infrage gestellt werden müssen. Insbesondere möchte ich auf die DDR-Utopie Morgen von Robert Havemann hinweisen, die ich damals übersehen habe.

Durch die neue Ausstattung wird diese Ausgabe nun für einen breiteren Leserkreis erschwinglicher. Ich danke dem Memoranda Verlag Berlin für diese Initiative einer Neuauflage.

Wolfgang Both

Berlin, im Frühjahr 2021

[1] Hermand, Jost: Der neue Traum vom alten Reich, Athenäum Frankfurt/M, 1988

[2] Hermand, Jost: Grüne Utopien in Deutschland, Fischer Taschenbuch Frankfurt/M., 1991

A map of the world that does not include Utopia is not even worth glancing at.

Oscar Wilde

Interessieren Sie sich fürUtopien?

Dann wird Sie dieses Buch interessieren. Es handelt von literarischen Gesellschaftsentwürfen für eine bessere Welt. Und es handelt davon, warum ein bestimmter Typ sozialer Utopien bisher so wenig Beachtung fand.

Wir beschäftigen uns im Folgenden mit den Utopien des Industriezeitalters. Parallel zu ihnen entstand eine neue Gattung – die Science Fiction. In ihr stehen der Mensch und seine technisierte Umgebung im Mittelpunkt. In den Utopien dagegen geht es um das Individuum und die Gesellschaft. Genau genommen geht es nur um die Gesellschaft. Aber der Verfasser von Utopien muss sein Anliegen irgendwie transportieren. Und dazu dienen Menschen, Protagonisten, literarische Helden. Manche von ihnen haben Weltruhm erlangt. So sind Robinson Crusoe, Pippi Langstrumpf oder Dr. Frankenstein heute allgemeines Kulturgut.

Ein bisschen ist es auch Julian West. Den kennen Sie nicht? Das war der literarische Held, der einhundert Jahre lang schlief und erst in der Zukunft, im Jahre 2000 wieder aufwachte. Der amerikanische Autor Edward Bellamy veröffentlichte 1888 seinen Roman Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 auf das Jahr 1887, in dem er eine Welt ohne Ausbeutung und mit einer gerechten Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums schilderte. Er entwarf in seinem Buch ein staatssozialistisches Gesellschaftsmodell, das damals nicht nur Aufmerksamkeit erregte. Nein – es schlug ein wie eine Bombe! Es entstand eine politische Bewegung, eine Partei wurde gegründet, die Forderungen der Arbeiterschaft erschienen verstärkt auf der öffentlichen Agenda. Allein in Deutschland wurden 1890 sechs verschiedene Übersetzungen dieses Romans herausgegeben. Zahlreiche Epigonen entwickelten Bellamys Ideen weiter, andere wiederum lieferten wütende Gegenentwürfe und versuchten zu belegen, warum das Staatsmodell des Herrn Bellamy nicht funktionieren kann. Selbst August Bebel, der Führer der deutschen Sozialdemokratie, musste in seinem Werk DieFrau und derSozialismus dazu ausführlich Stellung nehmen. In seiner Bewertung sowie im Vorwort einer deutschen Ausgabe des Rückblick, übersetzt von Clara Zetkin, finden wir die Gründe, warum es diese Art von Literatur so schwer hatte: Die Sozialisten selbst lehnten diese Gedankenspiele ab, hielten sie für unwissenschaftlich, gar reaktionär. Und die bürgerliche Kritik machte sich über die Bücher lustig oder verleugnete sie einfach. So erfuhren sie eine doppelte Diskriminierung[3].

Die zu prüfende Hypothese lautet also: Sozialistische Utopien fanden keine Verbreitung, weil die Sozialisten selbst sie ablehnten.

Der englische Literaturtheoretiker L. A. Morton ging in seiner Betrachtung über die sozialen Utopien noch weiter: After Chartism, the Year of Revolution and The CommunistManifesto the old Style Utopia should have come to an abrupt End.[4] Eigentlich sollte es überhaupt keine Utopien mehr geben, meinte er in seiner Schrift von 1952, zumindest keine sozialistischen! Wie er schrieb, war das Jahr 1848 nicht nur das Jahr des Scheiterns der Chartistenbewegung in England, sondern auch das Jahr der Revolutionen in Europa und die Geburtsstunde der kommunistischen Bewegung. Eigentlich, so fuhr er in seiner Betrachtung fort, stünden nun die praktischen Fragen zur Errichtung einer kommunistischen Gesellschaft auf der Tagesordnung. Mit dem Manifest der Kommunistischen Partei war dazu ein Handlungsgerüst gegeben. Marx und Engels analysierten die Geschichte im Allgemeinen (als eine Geschichte von Klassenkämpfen) und die Chartisten im Besonderen (Strategie und Taktik). Damit sollten Gesellschaftsentwürfe einzelner Weltverbesserer eigentlich nicht mehr vorkommen.

Somit fehlte bisher eine Betrachtung dieser Werke – weder die bürgerliche noch die sozialistische Literaturkritik wollten dies leisten. Um die aufgestellte Hypothese zu prüfen, ist also ein Bogen von der Geschichte der Arbeiterbewegung über die utopische Literatur des 20. Jahrhunderts bis hin zu Politik und Ideologie zu spannen.

Um ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln, sind im ersten Teil des Buches ein paar kurze Definitionen zu den literarischen Utopien im Industriezeitalter zusammengestellt. Der historische Kontext von industrieller Revolution und Arbeiterbewegung wird kurz beleuchtet. Der Hauptteil widmet sich den vielfach unbekannten sozialistischen Utopien und ihrer Reflexion der Ziele der Arbeiterbewegung. Das jeweilige Unterkapitel wird mit einer kurzen Erläuterung der sozialen Aufgabe aus Sicht der sozialistischen Theoretiker eingeleitet. Dann belegen Autoren und Werke deren jeweilige Position. Ich gehe also nicht chronologisch über einen Zeitraum von circa einhundert Jahren vor, sondern thematisch. Und im dritten Teil kommen die Sozialisten selbst zu Wort, um ihre Ablehnung der Utopie im Allgemeinen und dieser Literaturgattung im Besonderen zu begründen.

[3] Heyer: Die Utopie ist links!

[4] Morton: The English Utopia

Die sozialen Utopien – Kritik der Gegenwart oder Blick in die Zukunft?

DieUtopie ist der Traum des Abendlandes.

Jean Servier

Seit fünfhundert Jahren sind literarische Gesellschaftsentwürfe ein Spiegel ihrer Zeit, insbesondere ihrer kritikwürdigen Zustände. Gleichzeitig lassen deren Autoren das Bild einer besseren Gesellschaft aufscheinen – einer Gesellschaft ohne die Gebrechen der Gegenwart.

Und seit mehr als einhundertfünfzig Jahren sind diese Gesellschaftsentwürfe Gegenstand literaturwissenschaftlicher Untersuchungen. Um ein gemeinsames Verständnis zu sichern, wird hier kurz eine Definition erarbeitet.

Unter der sozialen Utopie, dem utopischen Roman oder dem Staatsroman werden übereinstimmend literarische Werke verstanden, die alternative Gesellschaftsentwürfe im Kleid einer fiktiven Handlung vorstellen. In einer der vielen Definitionen heißt es: Der utopische Roman ist die literarische Erscheinungsform der spielerischen Zusammenschau von Mensch, Gesellschaft und Geschichte in einem variablen, bildhaften Denkmodell von raum-zeitlicher Autonomie, das die Erkundung von Möglichkeiten losgelöst von der sozialen Wirklichkeit, jedoch mit Bezug auf sie, erlaubt.[5]

Der utopische Roman hat (meist) einen Protagonisten, der glaubwürdig von seinen Erlebnissen in einer besseren oder zumindest anderen Gesellschaft zu berichten weiß. Die soziale Utopie nimmt dazu Elemente des Reiseberichts, des Abenteuerromans, später des Detektivromans und des sozialen Romans auf. Und natürlich werden – wie in Manifesten und Parteiprogrammen – politische Inhalte transportiert. Mit seinem fiktionalen Charakter wird das Werk zu einem politischen Roman. Der Verfasser will den Leser nicht nur unterhalten. Die Handlung dient vielmehr dazu, ihn bei der Stange zu halten, ihm schwer verdauliche Kost bekömmlich aufzubereiten. Eigentlich geht es weniger um den Protagonisten, seine Konflikte oder sein Leben. Es geht um die neue Gesellschaft, ihre Struktur, ihre Geschichte. Sie ist der eigentliche Gegenstand des Buches. Der Autor will den Leser belehren und bekehren, er verfolgt ein erzieherisches Ziel. Daher sticht der didaktische Zeigefinger mehr oder weniger in allen Werken durch. Der politische Roman ist meinungsbildend, ein Tendenzroman. Kunst hat hier ein politisches Ziel, ist nahe an der Propaganda.

Die Utopie soll kein Märchenschloss sein oder bleiben. Vielmehr ist dem Werk die Aufforderung zur Realisierung immanent. Der Verfasser strebt geradezu danach, seine Vision vielen zugänglich zu machen, die Leser dafür zu gewinnen, sie gemeinsam so oder so ähnlich umzusetzen. Der Autor ist manchmal von einem Sendungsbewusstsein durchdrungen, das ihn an den Rand der Gesellschaft oder gar aus ihr herausdrängt. Gelegentlich baut er dazu ein kunstvolles Gebilde auf bis zu tausend Seiten mit einer detaillierten Schilderung der Lebensweise in der anderen Welt.

Somit fällt es bei der sozialen Utopie schwer, zwischen der literarischen Fiktion und dem Anspruch auf Wirklichkeit zu unterscheiden. Der fiktionale Text erhebt gleichzeitig den Anspruch, als sozialer Gegenentwurf auch real zu werden. Diese beiden Bestandteile der Utopie und das Problem, das die Sozialisten damit haben, sind Gegenstand der folgenden Untersuchung.

Die Utopie wird in der griechisch-christlichen Traditionslinie des Abendlandes gesehen. Tatsächlich findet sie sich ausschließlich in diesem Kulturraum. Ihre solitäre Bedeutung manifestiert sie indirekt auch dadurch, dass utopische Welten fast ausschließlich von Hellhäutigen mit griechischer Statur bevölkert werden. Wir finden die soziale Utopie in allen ideologischen Richtungen. Es gibt linke Utopien, völkisch-nationale Utopien, christlich-konservative Utopien, feministische Utopien, ökologische Utopien. Aber nur die linken Utopien perpetuieren die sozialen Ideen eines Thomas Morus, Winstanley oder Cabet von einer gerechten Gesellschaft gleicher Menschen; völkische Utopien dagegen pervertieren diese Traditionslinie.

Der Begriff der »Utopie« geht zurück auf Thomas Morus, Lordkanzler der britischen Krone, und sein Werk von der optimalen Staatsverfassung in der Form eines Reiseberichts von der Insel Utopia, erschienen im Jahre 1516. Dabei ist der Name der Insel ein Wortspiel – im Griechischen bedeutet er »kein Ort«. Das macht deutlich, dass der Bericht nicht von dieser Welt ist. Vielmehr wird ein Gegenentwurf vorgelegt, der den kritikwürdigen Zustand der jeweiligen gesellschaftlichen Verfassung von seinen Grundübeln befreit. Ihre Wurzeln hat die Utopie also in unserer Welt, ihre Krone aber ist (noch) nicht von dieser Welt.

Dabei ist darunter sowohl eine räumliche als auch eine zeitliche Ferne zu verstehen. Bei Morus oder Bacon spielten die Utopien auf fernen Inseln. Später, als die Erde vollständig entdeckt ist, handeln sie auf entlegenen Hochebenen oder fernen Planeten.

Der Franzose Louis-Sébastien Mercier verlagerte dagegen 1771 seine Geschichte Das Jahr 2440 in die Zukunft. Er erkannte die Zeit als geschichtsbildende Kraft[6]. Und damit wird die Entwicklung selbst Teil des epischen Gedankens. Während die Inseln räumlich isolierte, autarke Areale sind und bleiben, wird hier das Irgendwo zum Irgendwann. Geschichte wird als Prozess (Fortschritt?) begriffen. Die Utopie bleibt nicht nur idealer, statischer Gegenentwurf, sie wird erreichbares (Fern)Ziel.

Setzt der Verfasser die Inselutopie ein, so betont er vor allem die Aktualität seines sozialen Gegenentwurfs zur realen gesellschaftlichen Situation. Wählt er dagegen die Zeitutopie, so erwartet er eine notwendige sittliche und moralische Weiterentwicklung hin zum beschriebenen Ideal.

In solchen Fällen steuert der Protagonist die Zukunft nicht bewusst und gezielt an, wie z. B. mit einer Wells’schen Zeitmaschine. Vielmehr wird er aus seiner Gegenwart gerissen und landet unvermutet in der Zukunft. Manchmal träumt er auch nur von einer zukünftigen Welt und erwacht dann ernüchtert wieder in der Gegenwart. Ein andermal taucht nur sein Manuskript aus der Vergangenheit oder aus der Zukunft auf. Von den Inselutopien erhält der Leser einen detaillierten Expeditionsbericht, der das Leben dort in allen Facetten beschreibt. Meist hat der Protagonist einen Führer zur Seite, der ihn in die neue Welt geleitet, ihm Zusammenhänge und die Geschichte erläutert. Daher sind die utopischen Romane stark dialogorientiert, aber oft handlungs- und spannungsarm. Der Reisende ist Frager und Stichwortgeber, sein Begleiter erklärt ihm die Errungenschaften der neuen Welt und nimmt ihn mit zu den verschiedensten Gelegenheiten, um ihm die Vorzüge und Leistungen zu präsentieren. Diese Stereotypen finden wir in allen Romanen mehr oder weniger ausgeprägt wieder. Dies ist aber nicht Gegenstand der Betrachtung.

Der vollkommenen Utopie ist die Konfliktfreiheit eigen. Damit vermag sie keine Entwicklung zu zeigen, verliert alle Dynamik, bleibt statisch und verfällt in Langeweile. Der Erkenntnisprozess beim Besucher oder die Vorzüge des utopischen Gemeinwesens vermögen es nicht immer, den Leser zu fesseln.

Außer der Zeit- und/oder Raumtrennung des heutigen gesellschaftlichen Zustandes von seinem Idealbild muss noch eine andere Unterscheidung der sozialen Utopien beachtet werden. In vielen Büchern finden die Leser die Darstellung des gesellschaftlich optimalen (End)Zustandes in einem eutopischen Gemeinwesen, in anderen widmen sich die Autoren dem sozialen Wandel dorthin. Diesbezüglich liegen also Eutopien (griechisch: guter Ort) und Werke, die als Transformations- oder Revolutionsutopien bezeichnet werden können, vor. Im Gegensatz zum elysischen Glücksland[7] werden in letzteren die sozialen Kämpfe, Brüche, Misserfolge und Irrtümer auf dem Weg in die befreite Welt in oft dramatischer Form geschildert. Unter rein quantitativen Gesichtspunkten sind in dieser Betrachtung beide Typen gleichwertig vertreten. Die Hälfte der untersuchten Romane erweist sich als Revolutionsutopien, die andere Hälfte beschreibt die Verhältnisse in einer kommunistischen Gesellschaft.

Im Unterschied zur Utopie oder Eutopie wird in der Dystopie (griechisch: schlechter Ort) ein Gesellschaftsentwurf vorgestellt, der all die vorgenannten Werte von Freiheit, Gleichheit, Entfaltung und Wohlstand ins Gegenteil verkehrt. Solche Welten werden von einem Diktator beherrscht, der Einzelne versucht, sich in der Masse zu verstecken und nicht aufzufallen. Repression und Mangel sind an der Tagesordnung, Erziehung und Presse sind eingeschränkt und gleichzeitig Eckpfeiler des Systems.

In Abgrenzung dazu ist eine Antiutopie der Gegenentwurf zu einer konkreten Utopie. So hat William Morris seine Kunde von Nirgendwo auch als Gegenschrift zu Bellamys Rückblick verfasst.

Daneben wurde von Robert von Mohl 1845 der Begriff »Staatsroman« geprägt, der auf der einen Seite das Dilemma dieser Werke zwischen Literatur und Sozialwissenschaft deutlich machte, auf der anderen Seite die Seriosität der Entwürfe gegenüber Wolkenkuckucksheimen heraushob. Zu dieser Zeit wurden Utopismus und Utopist zum Synonym von Spinnerei und Phantasten. So bezeichnete Karl Marx in seiner Arbeit über Das Elend der Philosophie die frühen Theoretiker der Arbeiterbewegung als »Utopisten«.

Inzwischen hatte sich der Begriff »Utopie« also von seinem Ursprung Utopia gelöst und wurde Ausdruck für eine Literaturgattung. Gleichzeitig machte er einen Bedeutungswandel durch – vom positiv besetzten gesellschaftlichen Gegenentwurf zum negativ besetzten weltfremden Wunschbild. Das Gedankengebilde wurde zum Hirngespinst. Die Kommunisten nutzten »Utopie« letztlich als Kampfbegriff in Abgrenzung zur Lehre des wissenschaftlichen Sozialismus.

Gegenstand dieser Untersuchung sind die Utopien, die eine sozialistische Gesellschaftsordnung zum Ziel oder zum Gegenstand haben. Nicht jedes hier betrachtete Werk definiert sich als sozialistische Utopie. Und nicht alle, die sich so beschreiben, sind letztlich auch welche. Einige Autoren werfen sich ein sozialistisches Mäntelchen über, um die Eroberung der Weltherrschaft zu rechtfertigen. Andere wiederum wären überrascht, sich hier einsortiert zu finden. Zahlreiche Romane sind von ihren Autoren bewusst und aus innerster Überzeugung so gestaltet worden.

Es fällt auf, dass die Anzahl sozialistischer Utopien überschaubar geblieben ist. Hier werden 38 Romane einer genaueren Betrachtung unterzogen. Dagegen sind Utopien mit nationalistischem Charakter oder technische Utopien Legion. Schon nach dem Manifest der Kommunistischen Partei vermisst man literarische Entwürfe zu dem dort propagierten Gesellschaftsmodell. Auch die russische Revolution von 1917 gebar keine glühenden Zukunftsbilder über das kommunistische Morgen. Vielmehr entstand 1920 mit Wir von Jewgeni Samjatin ein erster dystopischer Entwurf des kommunistischen Systems. Im gleichen Jahr schrieb Alexander Tschajanow an seiner Reise meines Bruders Alexej in das Land der bäuerlichen Utopie. Und noch vor Huxleys Schöne neue Welt erschienen 1928 in einer Zeitschrift einige Kapitel des Romans Unterwegs nach Tschevengur von Andrej Platonow, der die totalitäre Umsetzung der bolschewistischen Idee in der russischen Steppe aufgriff.

Lassen sich der Erste Weltkrieg und sein Ende auch als Bruch im bürgerlichen Fortschrittsoptimismus terminieren – Der Untergang des Abendlandes[8] hatte von nun an Konjunktur –, so arbeitete die Geschichte doch eigentlich weiter für den Sozialismus. Die Revolutionen in Europa von 1917/18 bestätigten diesen Eindruck und damit die historischen Einschätzungen von Marx, Engels und Lenin. Die wirtschaftliche Konzentration, die rasante Zunahme der Produktivität und die wachsende Rolle des Staates deuteten auf eine Sozialisierung von Produktion und Eigentum hin. Wozu also literarische Luftschlösser, wenn der Weg doch klar vorgezeichnet war?

[5] Krysmanski: Die Eigenart des utopischen Romans

[6] Grüg: Utopie und utopischer Roman

[7] Bloch: Abriß der Sozialutopien

[8] Spengler: Titel seines gleichnamigen Buches

Die industrielleRevolution und die proletarischeRevolution

Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte.

Karl Marx

Zwischen den bürgerlichen Revolutionen von 1789 und 1848 auf dem Kontinent geht von England die industrielle Revolution aus. In der Folge bilden sich neue soziale Klassen heraus: Auf der einen Seite der Fabrik- oder Lohnarbeiter, der Proletarier, auf der anderen Seite das industrielle Großbürgertum, die Bourgeoisie. Sie stellen den neuen, den sekundären Sektor. So wie der Unternehmer Friedrich Harkort die Eisenbahn als Leichenzug des Feudalismus bezeichnet hatte, so sollte der Proletarier zugleich Totengräber der Bourgeoisie[9] werden.

Insbesondere zwei Ingenieurleistungen charakterisieren diese Entwicklung: Die Spinnmaschine (James Hargreaves, 1765) und die Dampfmaschine (James Watt, 1775). Diese und weitere Erfindungen vervielfachten plötzlich die Leistungsfähigkeit in der Fertigung und veränderten nachhaltig die Produktionsweise. Die manuelle Tätigkeit von Handwerkern und Heimarbeitern wurde durch die maschinelle Produktion in Fabriken verdrängt. Zuerst verstärkten die Veränderungen in der Textilindustrie die Nachfrage nach Rohstoffen (Wolle) und Maschinen. Dies führte zu wachsender Produktion von Roheisen und Kohle und dann zum Ausbau der Transportwege. Mit der Dampfmaschine stand nicht nur ein alternatives und kraftvolles Angebot für den Antrieb von Maschinen, Pumpen oder Hebekränen zur Verfügung. Erstmals konnten große Leistungen ortsunabhängig bereitgestellt werden. Weder Flüsse noch Tallage diktierten den Fabrikstandort. Die Fertigung konnte sich von jetzt an an wirtschaftlichen Standorterfordernissen ausrichten: Lagerstätten von Kohle oder Erz, Häfen, Handelszentren.[10] Während sich auf dem europäischen Kontinent noch munter die Wasserräder drehten, tobten bereits Kräfte von mehreren Zehntausend Pferdestärken in den Zylindern englischer Dampfmaschinen. Sie hatten längst Göpelwerk und Wasserrad verdrängt. Die rauchenden Schornsteine bestimmten den Horizont der neuen Zentren. Die Bahnhofshallen wurden die Kathedralen des Industriezeitalters.

Das hatte weitreichende soziale Folgen: In wenigen Jahrzehnten veränderte sich die Beschäftigungsstruktur dramatisch. Der Anteil der in der Landwirtschaft Tätigen sank zugunsten des Lohnarbeiters. Arbeiteten in England um 1700 noch etwa 80 % der Beschäftigten in der Landwirtschaft, so hatte sich dieser Anteil um 1800 auf 40 % halbiert, um bis 1900 auf nur noch 6 % zurückzugehen. Mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung vollzog sich dieser Prozess dann auch auf dem europäischen Kontinent und in den USA.

Die Nachfrage nach Rohstoffen und Produkten war nicht mehr mit herkömmlichen Fertigungsweisen zu befriedigen. Die Anforderungen an Quantität und Qualität der Erzeugnisse verlangten nach einer anderen Produktionsweise. Handwerkliche Tätigkeit und Heimarbeit im Nebenerwerb lieferten nicht mehr ausreichend Halbzeuge und Endprodukte.

Die Textilindustrie erlebte als erste Branche diesen Umbruch. Erfahrene Handwerker verbesserten die manuellen Spinnräder und Webstühle. Die einzelnen Handgriffe wurden in mechanische Abläufe übersetzt, deren Arbeitsgeschwindigkeit um ein Vielfaches höher lag als die der Menschen. Die Maschine ersetzte Hände, Füße und Kopf. Die Spinnmaschine »Spinning Jenny« hatte gegenüber dem Spinnrad die sechsfache Leistung. Mechanische Prozesse substituierten die manuelle Arbeit. Viele Maschinen ersetzten noch mehr Hände. Sie erforderten aber auch eine höhere Antriebskraft, als ihnen ein einzelner Handwerker bisher geben konnte. Die Dimension einer Töpferscheibe oder eines Spinnrads war an deren Betreiber gebunden. Gegenüber den neuen Antriebsmaschinen setzte der einzelne Handwerker bisher geradezu zwergenhafte Kräfte ein. Mit der Anzahl der gleichzeitig bewegten Arbeitsmaschinen wächst die Bewegungsmaschine und dehnt sich der Transmissionsmechanismus zu einem weitläufigen Apparat aus[11], stellte Karl Marx dazu fest.

Die Produktion verlagerte sich in größere Komplexe, in die Fabriken. Die maschinelle Fertigung in großen Hallen zerstörte die traditionelle Einheit von Wohn- und Arbeitsstätte. Arbeiteten und lebten Bauern und Handwerker bisher auf ihrem Hof bzw. in ihrer Wohn- und Werkstätte, so trennten sich diese Lebensbereiche nun. Der jahrtausendealte Familienverband begann sich aufzulösen, ebenso wie der Feudalstaat, bisher durch Adel, Erbrecht und Kirche getragen.

Des Weiteren verlangte die maschinelle Fertigung nicht mehr die Fachkenntnisse und Fertigkeiten eines Handwerkers. Das traditionelle Zunftwesen geriet unter Druck. Die Maschine hatte einige Handgriffe übernommen und führte sie schneller und zuverlässiger aus. Sie reproduzierte Stunde um Stunde, Tag um Tag immer die gleichen, einen Menschen ermüdenden Bewegungen und Abläufe. Der Ausstoß wuchs bei konstanter Qualität. Mit wachsender mechanischer Präzision verbesserte sich sogar die Qualität der Waren. Die Vorstufe zur Massenproduktion war erreicht.

Dabei hatte die angelernte Arbeitskraft die Herstellung der Ware nicht mehr selbst vom Rohstoff bis zum Produkt in der Hand, sie begleitete nur noch einen einzelnen Arbeitsschritt, den aber vielfach an mehreren Maschinen gleichzeitig. Der Produzent entfremdete sich mehr und mehr von seinen Produkten.

Zu dieser Zeit war der Eintritt von Frauen in die Beschäftigung weniger ein Ausdruck gesellschaftlicher Emanzipation als vielmehr des Lohndrucks. Die angelernten Kräfte waren billiger als die hoch spezialisierten Handwerker. Einer der übelsten Auswüchse dieser Zeit war die massenhafte Kinderarbeit. Die Arbeit war monoton. Unter ungesunden und kräftezehrenden Arbeitsbedingungen bedienten halbschlafende, schwindsüchtige Kinder die nimmermüden Maschinen. Der Arbeitstag umfasste bis zu 16 Stunden, manchmal mehr. Gasbeleuchtung machte die Nacht zum Tage. Marx konstatierte trocken: Das Kapital feierte seine Orgien.[12] Das Überangebot an Arbeitskräften, an landlosen Bauern sowie Frauen und Kindern ließ das Lohn- und Lebensniveau sinken und führte zur Verelendung breiter Bevölkerungsteile. Soziale Spannungen waren die Konsequenz. Autoren wie Charles Dickens oder Victor Hugo schildern in ihren Werken anschaulich die damaligen Verhältnisse. Der soziale Roman entstand. In ihm fanden die Elenden und Unterdrückten, die Armen und Ausgebeuteten erstmals eine literarische Reflexion ihres Lebens.

Dramatisch veränderten sich weiterhin die Eigentumsverhältnisse: Hatte der Heimarbeiter bisher am eigenen Webstuhl produziert, so ging er nun in die Fabrik, um an den Maschinen eines Fabrikbesitzers zu arbeiten. Auch verfügte er nicht mehr über das Ergebnis seiner Arbeit. Er verarbeitete Material, das geliefert wurde, an einer Maschine, die ihm nicht gehörte, und er erhielt ein Entgelt für seine Tätigkeit. Produktion, Handel und Verkehr konzentrierten sich in der Hand weniger. Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse bildeten sich heraus. Dieser Konzentration folgten weitere Umwälzungen. Marx bemerkte dazu: DieRevolution in derProduktionsweise derIndustrie und Agrikultur ernötigte namentlich aber auch eine Revolution in den allgemeinen Bedingungen des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, d. h. den Kommunikations- und Transportmitteln. [13]

Die industrielle Verwertung technischer Entwicklungen und wissenschaftlicher Erkenntnisse brachte sowohl einen neuen Wissenschaftszweig – die technischen oder Ingenieurwissenschaften – als auch die Standardisierung – die Anwendung von Einheitsmaßen und Qualitätskriterien – hervor. Bereits im Jahre 1799 wurden in Paris der Urmeter und das Urkilogramm als verbindliche Bezugsgrößen festgelegt. Wollte man mit technischen Gütern Handel treiben, waren solche überregionalen Absprachen und Normen unverzichtbar. Die Hersteller von Schrauben, Schienen und anderen Metallteilen konnten ihren Kundenkreis ausweiten, Lieferanten auf Qualität und Preis achten.

Dieser rasante Wandel in der Produktionsweise und in den Produktionsverhältnissen erzeugte erhebliche soziale Spannungen und Verwerfungen. Sie waren nicht nur Ursache von Aufständen, Streiks und Unruhen sowie der Organisation des Proletariats in Verbänden, Gewerkschaften und Parteien. Die »soziale Frage« erschien auf der Tagesordnung. Die herrschende Klasse sah sich mit wachsenden Forderungen nach einer gerechten Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums konfrontiert. Die proletarische Bewegung strebte nach einer Änderung der Machtverhältnisse. Dies bildete dann den Nährboden für die sozialistischen Utopien.

Marx und Engels machten im KommunistischenManifest unmissverständlich klar, dass diese neue soziale Ordnung nur durch die Beseitigung der bestehenden kapitalistischen Gesellschaftsform erreicht werden kann. Die Herrschaft des Proletariats ist durch eine Revolution zu erringen, die den bürgerlichen Staatsapparat beseitigt und in der Folge zu einer Umwälzung der Eigentumsverhältnisse sowie der Produktionsweise führen wird. Im Kommunistischen Manifest beschrieben sie die notwendigen Maßnahmen und Schritte, die in der Folge durch die sozialistischen Theoretiker weiter ausgebaut, ergänzt und detailliert wurden. Was Marx und Engels nicht beschrieben, war die zukünftige kommunistische Gesellschaft selbst.

[9] Marx/Engels: Das Manifest der Kommunistischen Partei

[10] Die Bereitstellung von Elektroenergie und elektrischem Antrieb (Siemens, 1866) beschleunigte Ende des 19. Jahrhunderts diesen Prozess noch einmal.

[11] Marx: Das Kapital

[12] Marx: Das Kapital

[13] Marx: Das Kapital

Die sozialistische Gesellschaft im Spiegel der sozialenUtopien

Im Unterschied zu anderen Untersuchungen erfolgt die Betrachtung der sozialen Utopien anhand der Ziele der Arbeiterbewegung. Wohl finden die Autoren in ihrer Zeit jeweils eigene Antworten, aber die grundsätzlichen Punkte auf der proletarischen Agenda sind mit den folgenden Stichworten im KommunistischenManifest vorgegeben. Die einzelnen Themen werden jeweils mit einer kurzen Beschreibung der Aufgabe aus Sicht der Theoretiker des Marxismus eingeleitet und dann anhand von Beispielen aus der Literatur illustriert.

Im Manifest der Kommunistischen Partei von 1848 wurden die Ziele der proletarischen Revolution eindeutig dargelegt. Aus ihrer Analyse der historischen Gesetzmäßigkeiten leiteten Marx und Engels die Aufgaben des gerade entstandenen Proletariats als Totengräber des sich entwickelnden kapitalistischen Systems ab:

1. Expropriation (Enteignung) des Grundeigentums und Verwendung der Grundrente zu Staatsausgaben.

2. Starke Progressivsteuer.

3. Abschaffung des Erbrechts.

4. Konfiskation des Eigentums aller Emigranten und Rebellen.

5. Zentralisation des Kredits in den Händen des Staats durch eine Nationalbank mit Staatskapital und ausschließlichem Monopol.

6. Zentralisation des Transportwesens in den Händen des Staats.

7. Vermehrung der Nationalfabriken, Produktionsinstrumente, Urbarmachung und Verbesserung aller Ländereien nach einem gemeinschaftlichenPlan.

8. Gleicher Arbeitszwang für alle, Errichtung industrieller Armeen, besonders für den Ackerbau.

9. Vereinigung des Betriebs von Ackerbau undIndustrie, Hinwirken auf die allmähliche Beseitigung des Unterschieds von Stadt und Land.

10. Öffentliche und unentgeltliche Erziehung allerKinder. Beseitigung der Fabrikarbeit der Kinder in ihrer heutigen Form.[14]

August Bebel spannte in seinem Werk DieFrau und derSozialismus (1879) den Themenbogen weiter und machte die Gleichberechtigung der Frau, die Rolle von Wissenschaft und Technik sowie die Arbeitszeit ebenfalls zum Gegenstand der sozialistischen Bewegung.

Die sogenannte historische Mission der Arbeiterklasse besteht aus Sicht der Theoretiker des Sozialismus in der Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung und dem Aufbau des Sozialismus. Das Proletariat wird zu einer selbstständigen politischen Kraft, die in einer sozialen Revolution die Macht erringt, ihre eigene Herrschaft errichtet und verteidigt sowie den Sozialismus als neue Gesellschaftsordnung ohne Ausbeutung und mit gleichgestellten und gleichberechtigten Menschen aufbaut. Diese Diktatur des Proletariats ist gleichzeitig ein Unterdrückungsapparat gegenüber der gestürzten Ausbeuterklasse und Machtapparat gegen die Konterrevolution sowie innere und äußere Feinde. In dieser Periode sollen die sozialistische Produktionsweise entwickelt, die gesellschaftlichen Eigentumsverhältnisse des Sozialismus hergestellt, das bürgerliche Bildungsmonopol gebrochen und eine sozialistische Kultur geformt werden. Soziale Revolution und kulturelle Revolution gehen Hand in Hand. Mit wachsender wirtschaftlicher und politischer Kraft sollen sich Staat und Verwaltung von einem Instrument politischer Gewalt zu einem demokratischen Organ der zentralen Planung und Steuerung der Gesellschaft wandeln. In der klassenlosen Gesellschaft des Kommunismus wird der Staat dann endgültig seine Funktion als Macht- und Steuerungsinstrument verlieren.

Der erste Schritt zum Aufbau des Sozialismus ist die proletarische Revolution.

[14] Marx/Engels: Manifest der Kommunistischen Partei

Revolution oder Tod

So drastisch wird in den Büchern die Frage nach dem Sturz des alten Systems und der Machtübernahme durch die Proletarier durchaus gestellt. Die Hälfte der untersuchten Utopien widmet sich der Vorbereitung und Durchführung der proletarischen Revolution. Diese Transformations- oder Revolutionsutopien beschreiben den dramatischen Prozess des gesellschaftlichen Umsturzes, die massiven und schlagartigen Veränderungen des sozialen Gefüges. Und sie verschweigen die Opfer der oft blutigen Vorgänge und die Verfolgung der Revolutionäre nicht. Damit sind die Transformationsutopien von einer inneren Dynamik und Dramatik, die in den Schilderungen der eutopischen Verhältnisse in einer kommunistischen Welt fehlen. Hier prallen Gegensätze aufeinander, werden Konflikte gewaltsam gelöst, werden die sozialen Verhältnisse völlig umgebrochen. Anders als in den Eutopien gibt es keine Stereotype von Besucher und Begleiter, Vorführung und Erklärung, Perfektion und Autarkie, Konfliktarmut und Gleichheit bis hin zur Uniformität. Vielmehr breiten die Autoren ihre Vorstellungen zur sozialen Revolution aus und schildern ohne Zurückhaltung die geheimen Vorbereitungen sowie die gewalttätigen Auseinandersetzungen. Am Ende steht nicht immer die erfolgreiche Revolution. Vielmehr zeigen die ersten Beispiele das Scheitern der Revolutionäre und ihre Flucht oder gar Vernichtung.

Nach Überzeugung der Theoretiker des Sozialismus ist die Machtübernahme der entscheidende Schritt zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft. Im Manifest der Kommunistischen Partei kulminierte das in dem Satz, daß der erste Schritt in der Arbeiterrevolution die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung derDemokratie ist.[15] Der Klassenkampf zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten bricht sich in einer gewalttätigen Auseinandersetzung Bahn, bei der der alte Machtapparat einschließlich seiner Instrumente wie Armee, Polizei und Spitzeldienst zerschlagen, das politische System umgebaut und neue Machtstrukturen installiert werden. Mit der Revolution werde der alte Apparat hinweggefegt, sie setze neue Kräfte frei, neue Führer träten an die Stelle der alten. Die proletarische Revolution zerstöre die bourgeoise Gewalt und schaffe eine neue. Sie falle aber nicht vom Himmel, sondern ein politisches System wachse über soziale Spannungen, Disparitäten in der Verteilung des Wohlstandes und politische Repression in die revolutionäre Situation hinein. Diese Situation zu erkennen und zu steuern sei Aufgabe einer revolutionären Organisation. Vorstufen seien der Kampf um höhere Löhne und Verringerung der Arbeitszeiten, um das Wahlrecht, Streiks und Aufstände.

In seinem Roman Nach der Sintflut (1924) schildert der US-amerikanische Autor Upton Sinclair die soziale Entwicklung von der Urgemeinschaft bis hin zum Kommunismus. Nach einer atomaren Katastrophe leben nur noch elf Menschen auf der Erde. Die sind dem Atomunfall durch den Jungfernflug in einem neuen Stratosphärenflugzeug entgangen. Diese illustre Gesellschaft durchläuft nun nach anfänglicher Verzweiflung mehrere Metamorphosen ihrer sozialen Beziehungen. Der Autor demonstriert daran die Stufen der menschlichen Gesellschaft aus der marxistischen Perspektive des permanenten Klassenkampfes im Schnelldurchlauf. Neben dem Piloten befinden sich der Großindustrielle Lumley-Gotham, seine Frau, seine zwei Töchter Helen und Eloise, sein Kammerdiener Tuttle, ein Bischof, der Staatssekretär Granville, ein Klatschreporter, der Hofdichter sowie eine Industriellenerbin und Partygirl an Bord. In der Form eines Kammerspiels verschränkt der Autor die Beziehungen der Teilnehmer neu. Der Industriemagnat begreift als Erster seine Befreiung von Besitz und Verantwortung, Geschäft und Bedrohung: »Ich bin frei!« Hausdiener Tuttle sieht seine Chance kommen, denn auch in dieser Welt regiert das Recht des Stärkeren. Er nimmt sich den Hofdichter als Sklaven, während die anderen vor dem gewalttätigen Kammerdiener flüchten. Die Situation eskaliert, als Tuttle die Herstellung der Nährstoffpillen wiederentdeckt. Denn die nährstoffarmen Konserven der amerikanischen Lebensmittelindustrie, die sie in den Regalen der menschenleeren Warenhäuser finden, rufen bei allen nach und nach körperliche Beschwerden hervor. Während der ehemalige Staatssekretär noch versucht, sich zum Baron aufzuschwingen, betätigt sich Tuttle schon als Kleinproduzent. Er lässt die anderen für sich arbeiten und bezahlt sie mit Nährstofftabletten. Sie werden zu Proletariern, von ihm ausgebeutet. Denn sie produzieren auch seine Pillen und die für den Gouverneur. Er lebt als Parasit vom Mehrwert. Die Verbesserung der Manufakturbedingungen führt schließlich zu Überproduktion und zeitweiser Stilllegung der Produktion. Die Beschäftigten verlieren Arbeit und Einkommen (Pillen). Soziale Spannungen und eine revolutionäre Situation entstehen, eine Gewerkschaft wird gegründet (woher die Industriellengattin und das Partygirl allerdings die Internationale kennen, bleibt ein Geheimnis). Dem Kapitalisten und seinem Helfershelfer, dem Gouverneur, gelingt es noch einmal, die Streikfront zu brechen. Aber der revolutionäre Samen ist gelegt. Da sie die Pillenfabrikation nicht in Besitz nehmen können, flüchten die Proletarier mit dem Rezept auf den alten Landsitz der Familie. Dort treffen sie auch den Piloten und Helen wieder. Gemeinsam bilden sie eine Kommune, die Keimzelle für ein neues Menschengeschlecht.

Neben der aktuellen Kapitalismuskritik beschreibt Sinclair hier also das Heranreifen einer revolutionären Situation und die Überwindung der Ausbeutungsgesellschaft durch die Übernahme des Machtinstruments – in diesem Fall der Nährstoffpillen. Und weil der Diener Tuttle sich dieser Gesellschaft nicht anschließen, aber auch nicht selbst arbeiten will, muss er untergehen: Ein Blick auf die zum Skelett abgemagerte Gestalt enthüllte das schauerliche Geheimnis: Der letzte Kapitalist war verhungert! Er war zu faul gewesen, um zu arbeiten, und mußte deshalb zugrunde gehen, und zusammen mit ihm verschwand auch sein System. Der sozialistische Staat aber blieb auf ewige Zeiten bestehen.

Der Roman macht nicht nur den Eindruck eines Kammerspiels, ihm liegt das Skript für das Theaterstück The Millennium – A Comedy of the Year 2000 zugrunde, das bereits 1907 entstand. Sämtliche Exemplare sollen verloren gegangen sein, sodass Sinclair sein Stück als Roman neu schrieb und in den USA in der LITTLE BLUE BOOK-Reihe (Nr. 590–592) herausgab. Der Vierakter gliederte sich ursprünglich in die Teile »Dachgarten«, »Eingangshalle«, »Küche im Consolidated Hotel« und »Landsitz«.

Upton Sinclair

Upton Sinclair wurde 1878 in Baltimore/USA geboren. Er stammte aus ärmlichen Verhältnissen (sein Vater starb als Trinker), schaffte es aber, 1897 eine Ausbildung am City College in New York erfolgreich abzuschließen. Das Studium an der Columbia University finanzierte er u. a. mit ersten schriftstellerischen Arbeiten, die er an Magazine verkaufte. Bereits 1900 gab er das Studium frustriert wieder auf. Sehr früh nahm er sich sozialer Fragen an und arbeitete diese Themen in Reportagen auf. Anfang des 20. Jahrhunderts gehörte er zum Kreis der kritischen Journalisten, der sogenannten Muckraker (der US-Präsident Roosevelt hatte seinerzeit die Journalisten als »Schmutzwühler« beschimpft). Sinclair trat 1902 der Socialist Party bei. Mit dem Buch Der Dschungel (1906), dessen Anregung von Fred Warren, dem Herausgeber einer sozialistischen Zeitschrift, kam und dessen Veröffentlichung von Jack London aktiv vorangetrieben wurde, feierte er einen ersten literarischen Erfolg. Gemeinsam bildeten sie mit anderen Autoren die Intercollegiate Socialist Society. Sein Geld aus den ersten Büchern steckte er u. a. in die Helicon Home Colony in Eaglewood, eine sozialistische Kommune. Nachdem Präsident Roosevelt in The Jungle über die unhaltbaren Zustände auf den Chicagoer Schlachthöfen gelesen hatte, ordnete er eine parlamentarische Untersuchung an, die letztlich zum Pure Food and Drugs Act und zur Einrichtung einer staatlichen Lebensmittelaufsicht führte. Ab 1915 lebte und arbeitete Sinclair in Pasadena. Hinsichtlich des Kriegseintritts der USA nahm er eine andere Position als seine Partei ein – den imperialistischen Krieg verurteilte auch er, aber den Kampf gegen das Deutsche Reich befürwortete er – und trat daher aus.

In der Diskussion um den Ersten Weltkrieg bezog Lenin 1915 Stellung zur Haltung von Sinclair:

In dieser Hinsicht ist die vor dem Krieg im Verlag der chauvinistischen Zeitung »Clarion« erschienene Broschüre»Sozialismus undKrieg« recht lehrreich. Die Broschüre enthält ein »Manifest« gegen den Krieg des amerikanischen Sozialisten UptonSinclair und eine Erwiderung des Chauvinisten Robert Blatchfort, der schon lange auf dem imperialistischen Standpunkt Hyndmans steht.

Lenin stellte fest: Sinclair ist ein Gefühlssozialist, ohne theoretische Bildung. Er stellt die Frage »ganz einfach«, ist empört über den drohenden Krieg und sucht die Rettung davor imSozialismus. […]

Sinclair ist naiv mit seinem Appell, obgleich dieser Appell im Grunde zutiefst richtig ist – naiv, weil er die halbhundertjährige Entwicklung desSozialismus als Massenbewegung und den Kampf der Strömungen innerhalb dieser Bewegung ignoriert, weil er die Bedingungen für das Heranwachsen revolutionärer Aktionen beim Vorhandensein einer objektiv revolutionären Situation und einer revolutionärenOrganisation ignoriert. »Mit dem Gefühl« ist hier nichts auszurichten.[16]

Sinclair wurde aber 1926 wieder Mitglied der Socialist Party und kandidierte mehrfach, aber erfolglos für den Posten des Gouverneurs von Kalifornien. Sein politischer Gegner beschwor die Sowjetisierung Kaliforniens unter Sinclairs Führung, was diesen den Sieg kostete. Er war insgesamt dreimal verheiratet und starb 1968 in New Jersey. Für seine mehr als 90 Bücher gewann er zahlreiche Preise, darunter den Pulitzerpreis. Seine Nominierung für den Nobelpreis wurde aber letztlich vom Stockholmer Komitee nicht verfolgt.

In Deutschland fanden seine Werke durch den Malik-Verlag große Verbreitung unter der Arbeiterschaft. Seine Übersetzerin Hermynia zur Mühlen ging vergleichsweise schöpferisch mit den Vorlagen um, sodass es zum Streit zwischen Sinclair, dem Verleger Herzfelde und zur Mühlen kam. Einige Texte wurden von ihr um die Hälfte gekürzt, andere durch Begriffswahl in ihrer sozialen Aussage verschärft. Sinclairs Bücher gehörten zu den ersten, die 1933 in Deutschland auf dem Scheiterhaufen landeten. Sein Werk wurde 1938 mit der »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums« ebenso verboten wie die gesamte Edition des Malik-Verlages.

Die Vorbereitungen, aber auch das Scheitern der Revolution schilderten Ignatius Donnelly, Jack London und weitere in ihren Büchern. In seinem Roman Cäsars Denksäule (1890) lässt uns Donnelly die Erlebnisse des Züchters Gabriel Weltstein im Jahre 1993 miterleben. Zufällig gerät dieser in New York an einen Geheimbund, der den Sturz der Bourgeoisie vorbereitet. In Briefen an seinen Bruder in Afrika berichtet er von seinen Abenteuern mit den Revolutionären. Sie werden angeführt von seinem Bekannten Max, Cäsar, einem vertriebenen Bauern und einem russischen Juden. Alle drei werden von persönlicher Rache am System und Hass auf die Oligarchie getrieben. Diese regiert in der Form einer Loge beim Fürsten Cabano Land und Wirtschaft. Spitzel auf beiden Seiten verfolgen die Vorbereitungen zu Aufstand und Gegenschlag. Wilde Verfolgungsjagden in Kutschen durch das New York der 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts, Attacken mit Bomben und Handgranaten, falsche Bärte und Verkleidungen, konspirative Treffen und geheime Sitzungen kennzeichnen die Situation. Zwar versucht Weltstein auf einer Arbeiterversammlung noch, seine christliche Überzeugung zur Grundlage revolutionären Handelns zu machen. Aber er wird ebenso verlacht wie ein Priester vor ihm. Die Revolutionäre haben über Jahre an der Vorbereitung des Aufstandes gearbeitet, heimlich in eigenen Werkstätten Gewehre gebaut, Zehnergruppen gebildet und weltweit Waffen verteilt. Die Revolution ist in Amerika ebenso vorbereitet wie in Rumänien und Russland. Die Anführer bestechen die Luftflotte, die über schreckliche Gasbomben verfügt. Zu Beginn des Aufstandes darf sie den Staatsschatz plündern und vernichtet dafür die Bodentruppen der Oligarchie. Opfer in ungeheurer Zahl werden Schicht für Schicht in Beton gegossen und zu einem Turm gestapelt – einem Monument der Revolution, eben Cäsars Säule. Eingebettet in diese Abenteuergeschichte sind die Liebesgeschichten von Max und Gabriel Weltstein. Da der Aufstand letztlich außer Kontrolle gerät, der russische Jude mit seinem Anteil Gold flieht, der Mob die Macht übernimmt und Cäsar erschlagen wird, als er sich zum neuen Diktator aufschwingen will, fliehen auch Max und Gabriel mit ihren Frauen und den treuen Luftschiffern nach Afrika. Der Rest der Welt versinkt in Chaos und Anarchie, der Aufstand endet wie das Himmelsgericht. Auf ihrer Farm in Afrika jedoch vollenden sie ihren Traum einer neuen Gesellschaft, einen Garten in den Bergen. Auf einer Hochebene, nur erreichbar über eine schmale Passstraße, errichten sie ihre kleine Republik, deren Staats- und Rechtssystem all ihre Ideale verkörpert (ein Geist der Bruderliebe ist bei uns eingekehrt).

Ignatius Donnelly

Donnelly wurde 1831 in Philadelphia geboren. Nach dem Schulbesuch studierte er Jura und nahm 1852 eine Tätigkeit am Gericht in Philadelphia auf. Im Jahr 1857 wechselte er nach Minnesota und versuchte sich als Bodenspekulant. Sein Projekt einer neuen Stadt Nininger scheiterte alsbald, und er wechselte in die Politik. Bereits zwei Jahre später wurde er zum Gouverneur gewählt (1859–1863). Dann schaffte er den Sprung in den US-Kongress (1863–1869), konnte dies in den Folgejahren aber nicht wiederholen. Daraufhin wurde er wieder in seinem Bundesstaat aktiv und saß mit Unterbrechungen von 1874 bis 1897 im Senat. Gleichzeitig nahm er seine Arbeit als Rechtsanwalt wieder auf und begann eine schriftstellerische Karriere. Zunächst erschien 1882 sein Buch über Atlantis, in dem er die These vertrat, dass die menschliche Zivilisation von der inzwischen untergegangenen Insel aus die Erde erobert habe. Mit einem weiteren Buch versuchte er die Theorie zu belegen, dass Shakespeares Werke eigentlich von Francis Bacon stammten. Mit Cäsars Denksäule wollte er sich auch an den kommerziellen Erfolg von Bellamys Rückblick hängen. Nach 1890 mischte er sich wieder in politische Fragen ein und stärkte die People’s Party (Populist Party), um Reformen im Bereich der Landwirtschaft sowie des Währungs- und Finanzwesens durchzusetzen. Die Partei nominierte ihn 1892 zum Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten. Dass das Buch für ihn nicht nur eine schriftstellerische Übung war, belegen die von ihm im Populist Manifesto dargelegten Positionen für den damaligen Nominierungsparteitag. Sie fanden sich bereits im Abschnitt mit Weltsteins Utopiegedanken sowie im Verfassungsentwurf am Schluss von Cäsars Denksäule. Im Vorwort bezog er eindeutig Position: Die heutige Welt schreit nach Thaten, nicht nach Glaubensbekenntnissen, nach Brot, nicht nach Dogmen; nach Wohlthaten, nicht nach Ceremonien; nach Liebe, nicht nach Sophisterei. … Die Vielen werden ausgeplündert, um die Wenigen zu bereichern. Ungeheure Kartelle drücken den Preis der Arbeit und erhöhen die Kosten der Lebensbedürfnisse. Die Reichen verachten gewöhnlich die Armen; und die Armen gelangen schließlich dahin, die Reichen zu hassen. Im arbeitsgebräunten Antlitz spiegelt sich nur der Stumpfsinn wider; die alte zartfühlende christliche Liebe ist dahin; stehende Armeen sieht man auf der einen Seite, und große kommunistischeOrganisationen auf der anderen; die Gesellschaft teilt sich in zwei feindliche Lager, und keine Unterhändler sieht man mehr mit der weißen Flagge von einem zum anderen gehen. Sie warten nur noch auf den Trommelwirbel, auf das Trompetensignal, das sie zu den Waffen ruft. Dies beschreibt er in seinem Buch eindringlich, auch als Warnung an die Reichen, die Gebildeten und die Mächtigen. Seine Anklage gegen das System fasst er in der Gedenkplakette an Cäsars Betonsäule zusammen: Die Stadt wurde von Menschen regiert, die durch und durch verdorben waren. Sie haben die Gerichtshöfe, die Geschworenen, die Zeitungen, die gesetzgebenden Körperschaften und Versammlungen korrumpiert, die Wahlen gefälscht und die Volksseele vergiftet. Sie haben ungeheure Kartelle gebildet, um die Armen auszuplündern: um die Elenden noch elender zu machen; um denen, die am wenigsten besaßen, auch dieses wenige zu nehmen, und es denen zu geben, die am meisten besaßen. Sie mißbrauchten das System einer freien Regierung, um damit andere zu unterdrücken; sie machten die Freiheit zum Zerrbild und ihre glorreichen Traditionen zum Spott. … Endlich aber ging ein Schrei der Entrüstung durch die endlosen Gewölbe des Himmels; und die zertretene menschliche Natur erhob sich im allgemeinen weltumlodernden Aufstand. Bis an sein Lebensende 1901 gab Donnelly u. a. die Wochenzeitung POPULIST REPRESENTATIVE heraus.

Die Revolutionsvorbereitungen sind bei ihm in eine abenteuerliche Handlung mit Verkleidungen, Konspiration und Attentaten eingebettet. Aber er analysiert auch sehr genau die sozialen Spannungen, den Machtapparat der Bourgeoisie und die Rolle der Kirche als Teil des Unterdrückungsapparats. Max, einer der revolutionären Führer, ist zwar ein Mitglied der herrschenden Klasse, seine Motive sind durchaus nicht edel. Nicht umsonst ist ein entwurzelter Bauer ein weiterer Revolutionär. Aber Donnelly gibt den Arbeitern bei den geheimen Sitzungen und Massenversammlungen ein Gesicht. Sie sind die Träger des Umsturzes, sie bereiten den Aufstand weltweit vor, sie halten hohe Disziplin, sie liquidieren Verräter und beziehen in den Diskussionen Position. Mehrfach ist man mit Aufständen bereits blutig gescheitert. Nun soll ein synchrones und massenhaftes Vorgehen den Erfolg sichern. Letztlich können sie aber die Volksmassen nicht steuern, der Mob gewinnt die Oberhand und vernichtet ganze Landstriche. Der Ausblick auf eine Insel des Glücks in einem abgeschiedenen Tal in Afrika bleibt eine vage Hoffnung auf die Zukunft.

Jack London

Auch bei Jack London scheitert die Revolution noch. In seinem Roman Die Eiserne Ferse (1907) wirft er einen Blick in das sozialistische Morgen. Sein Buch spannt einen Bogen bis 700 Jahre in die Zukunft, die aber nur in Fußnoten zu einem historischen Text sichtbar wird.

In den Everhard-Manuskripten beschreibt dessen Frau Avis die Ereignisse um die fiktiven Arbeiteraufstände 1912 und 1919 in Chicago. Während Ernest Everhard und Avis 1932 von Söldnern der Oligarchie gefasst und hingerichtet werden, wird das Dokument 700 Jahre später zufällig gefunden und als wichtiger historischer Beleg veröffentlicht. Zu diesem Zeitpunkt hat die sozialistische Revolution endgültig die Eiserne Ferse, den Machtapparat der Bourgeoisie, besiegt.

Im ersten Teil des Romans lernt Avis den Revolutionär Everhard kennen und lieben. In brillanten Disputen mit Vertretern der Geistlichkeit, des Großkapitals und des Mittelstandes legt er deren historische Perspektivlosigkeit als soziale Gruppen bloß und beschreibt die aufstrebende Rolle des Proletariats als wachsender Machtfaktor. Einige, zum Beispiel einen Bischof, kann er bekehren. Deren soziales Schicksal aber ist damit besiegelt.

Die Bourgeoisie bereitet schon den Gegenschlag vor: Nachdem die Abwerbung von Everhard auf einen lukrativen Posten misslingt, wird dessen Umfeld terrorisiert. Zunehmende Polizeigewalt, Aussperrungen und Zerschlagung der Verbände provozieren die Arbeiterschaft. Noch versuchen die Revolutionäre die legale Machtübernahme in demokratischen Wahlen. Aber Tricks und Boykotte sichern der Plutokratie weiterhin alle Positionen an den Schaltstellen der Gesellschaft. Die Vorbereitung der Revolution ist die logische Konsequenz. Ein Generalstreik ist nur der erste Schritt. Dadurch verhindern die amerikanischen Arbeiter im Verbund mit dem internationalen Proletariat 1913 den (Welt)Krieg mit Deutschland.

Der zweite Teil schildert die konspirativen Vorbereitungen für die Revolution. Eine Geheimorganisation wird aufgebaut, revolutionäre Kundschafter in den Geheimdienst der Oligarchie eingeschleust, Spitzel und Verräter eliminiert. Der Kampf im Untergrund, ein labyrinthischer Krieg beginnt. Das Bombenattentat im Parlament liefert dem Klassenfeind den gesuchten Anlass, Revolutionäre einzukerkern. Aber auch dort ist die Organisation bereits eingedrungen. Zwei Jahre später können mehr als 300 Inhaftierte in einer koordinierten Aktion fliehen, es folgen 19 Jahre im Untergrund. Verstecke, Verkleidungen und geheime Zeichen bestimmen nun ihr Leben. Sie entwerfen Umsturzpläne und Flugblätter. Der Oligarchie gelingt es währenddessen, nicht nur das Staats- und Militärwesen zu reformieren, sondern auch die Lebens- und Arbeitsbedingungen des Proletariats zu verbessern. Aber unter ihren Füßen grollte der unterirdische Donner der Revolution. Denn es gab immer noch das Volk des Abgrunds – Landsklaven, Arbeitslose, Alte und Kranke, Verbrecher und Spitzel. Es ist Bestandteil des Umsturzplanes der Revolutionäre: Während sie die Infrastruktur lahmlegen wollten, sollte der Mob die Viertel der Reichen stürmen und zerstören. Dessen Kampf mit dem Söldnerheer würde beide Gruppen gegenseitig vernichten, sodass der Staat den Revolutionären wie eine reife Frucht in den Schoß fallen würde. Spitzel verraten den Plan, und die Oligarchie holt zum Gegenschlag aus. Die Chicagoer Kommune erlebt eine vernichtende Niederlage. Aber dessen ungeachtet setzen Ernest und seine Genossen ihr Revolutionswerk fort.

Der vielfach vergötternde Bericht von Avis über ihren Mann wird durch 115 Fußnoten geschickt gebrochen, in denen nicht nur dessen Rolle (und die von Marx) für die Revolution relativiert, sondern zugleich viele Erklärungen aus der Zukunft für den Leser gegeben werden. So wird Avis’ Beschreibung von Everhard als Übermensch, eine blonde Bestie, wie Nietzsche sie beschrieben hat durch die Fußnote konterkariert: Nietzsche, der tolle Philosoph des 19. Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung, der Lichtblitze der Wahrheit erfaßte, aber im menschlichen Denken immer im Kreise ging, bis er schließlich in den Irrsinn hineindachte. Offenbar wurde sich London der schwülstigen Darstellung bewusst, und er hat der Geschichte nicht nur ein abruptes Ende verpasst, sondern durch die Brechung wieder sein Ziel eines Werkes für die Proletarier vor Augen genommen. Diese Fußnoten bilden daher den dritten Teil seines Buches.

Das Buch hat nicht nur in seinem Aufbau Parallelen zu Donnellys Denksäule. Auch setzt London ihm in Person des Vorarbeiters und Anarchisten Donnelly ein Denkmal. Und mit der Chicagoer Kommune wird die Stadt der großen Unruhen geehrt: der Aufstand von Everhard und Genossen wird in der Stadt des Haymarket-Aufruhrs von 1886 vorbereitet. Das Bombenattentat auf dem Markt verlegt London in das Parlament und liefert dem System damit einen erneuten Anlass zu Massenverhaftungen und Repression der Arbeiterbewegung. Dies sind gegenüber dem Aufbau des Buches und den Zielen Londons aber nur Marginalien. Wie er Anfang 1906 an seinen Freund Cloudlesley Johns schrieb, ging es ihm um die Schaffung eines sozialistischen Romans. Es gelang ihm, in den zwei genannten Teilen des Buches die Elemente Theorie und Praxis des Klassenkampfes zu demonstrieren und zusammenzuführen. In den politischen Diskussionen des ersten Teils fasste er seine Reden, Artikel und Erkenntnisse aus den letzten Jahren Parteiarbeit zusammen. Hier flossen auch seine eigenen Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit dem System, speziell der Presse, ein. Im zweiten Teil entwirft er seine Vorstellung vom Kampf um die Macht. Sie ist noch vom Anarchismus beeinflusst. Theorie und Praxis passen noch nicht zusammen. So geht die Idee eines Aufstandes mithilfe des Lumpenproletariats, des Volkes am Abgrund, auf den russischen Revolutionär und Anarchisten Bakunin zurück. Solche Szenen waren schon bei Donnelly zu lesen. Auch dort gibt es Spitzel auf beiden Seiten, auch dort erfährt die Plutokratie von den Vorbereitungen des Aufstandes, auch dort will man die Taktik der Einkesselung hinter Barrikaden und die Vernichtung mit Fußtruppen wie mit der Luftflotte anwenden. Aber London ist näher an der Realität, am tatsächlichen Geschehen seiner Zeit. Bewusst gibt er seinem Roman einen zeitlichen Vorlauf von nur fünf Jahren. Donnelly macht einen Sprung um 100 Jahre in die Zukunft und intensivierte damit das fiktionale Element seines Romans. Und mit der dritten Ebene seines Buches geht Jack London endgültig über Donnelly hinaus. Dieser pflegt den Rückzug in die afrikanische Idylle. Bei London dauern die Auseinandersetzungen zwischen Proletariat und Oligarchie noch weitere 300 Jahre. Erst dann, nach weiteren blutigen Aufständen, gelingt es, die Eiserne Ferse zu bezwingen, und ein neues Zeitalter der Brüderlichkeit beginnt. Mittels einer Fußnote lässt er die Vergangenheit auch erdgeschichtlich versinken: Ein Erdbeben verschüttet die Höhlen, in denen die Revolutionäre einst Zuflucht gesucht hatten. Nur in Ausgrabungen kommen Artefakte aus längst vergangener Zeit wieder zum Vorschein. Sie sind Relikte einer untergegangenen Epoche, auf die ohne Pathos und Heldenverehrung geschaut wird. Während die offensichtliche Geschichte des Buches die Auseinandersetzung Jack Londons mit seiner Zeit darstellt, sind diese Fußnoten sowie das Vorwort die wahre Utopie.