Ruin und Erneuerung - Paul Betts - E-Book

Ruin und Erneuerung E-Book

Paul Betts

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Beschreibung

»Ein Buch von bemerkenswerter Tiefe, das es vermag, sowohl eine Weltgeschichte Europas als auch eine europäische Geschichte der Welt nach 1945 zu sein.« Christopher Clark 1945 liegt Europa in Trümmern. Städte und Gemeinden sind durch Krieg zerstört, die Wirtschaft am Boden. Das von den Nationalsozialisten industrialisierte Morden hat ethische Werte ebenso pervertiert wie Religion, Kultur und Wissenschaft. Wie ist es gelungen, dem zerrütteten Kontinent wieder Frieden, Wohlstand und Fortschritt zu bringen? Auf der Grundlage von Originalquellen und Zeitzeugenberichten schreibt Paul Bett die vielstimmige Erzählung der Wiedergeburt Europas und zeigt, welch große Errungenschaft wir heute wieder verlieren könnten.

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Ruin und Erneuerung

Der Autor

Paul Betts, geboren 1963 in Phoenix /Arizona, ist Professor für Moderne Europäische Geschichte am St. Antony's College der Universität Oxford. Er ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen über die europäische Kultur und Politik im 20. Jahrhundert. Ruin und Erneuerung ist die Summe langjähriger Forschungen über den grundlegend neuen Platz Europas in der Welt seit 1945.

Das Buch

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ringen europäische Aktivistinnen und Politiker  unterschiedlicher Couleur, Schriftstellerinnen und Geistliche aller Glaubensrichtungen mit sehr großen und ganz kleinen Fragen – vom Erbe des Kolonialismus bis zur Kommunikation am Arbeitsplatz. Sie entwickeln Ideale, aus denen Institutionen wie die Vereinten Nationen und die UNESCO hervorgehen. Die Neuerfindung der europäischen Zivilisation war eine Leistung, die postkoloniale Intellektuelle wie Frantz Fanon genauso einbezog wie die polnische Gewerkschaft Solidarnosc´´. Auf der Grundlage von Originalquellen und Zeitzeugenberichten zeigt Paul Betts, welch große Errungenschaft wir heute wieder verlieren könnten.

»Unverzichtbare Lektüre für jeden, der die Welt von heute verstehen will.«Margaret MacMillan»Ein originelles und fesselndes Buch, das zeigt, wie vielfältig das Verständnis von Zivilisation war und bis heute ist.«Richard Evans

Paul Betts

Ruin und Erneuerung

Die Wiedergeburt der europäischen Zivilisation 1945

Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter und Jan Martin Ogiermann

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

ISBN 978-3-8437-2706-8© 2020 by Paul Betts© der deutschsprachigen Ausgabe 2022 Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinTitelfotografie: © bpk / Herbert HenskyAutorenfoto: © Anna BettsUmschlaggestaltung: Morian & Bayer-Eynck, CoesfeldE-Book-Konvertierung powerded by pepyrus.com

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Inhalt

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

Einleitung: Die Erneuerung der alten Welt

Die wichtigste Zusammenkunft seit dem Letzten Abendmahl

Kämpfe und Illusionen

Kathedralen und McDonald’s

Die Ursprünge eines Begriffs

Instrumentalisierte Zivilisation

Krise und Selbstbeherrschung

Die unterschätzte Rolle einer geschmähten Idee

Die Spaltung der Welt und eines Begriffs

Afrikas Ringen um die Zivilisation

Bedrohung von außen, Bedrohung durch sich selbst

Erstes Kapitel: Spenden statt Waffen

Die Geografie der Zerstörung

Zeugen der Not

Die UNRRA

Humanitäre Helfer

Zweites Kapitel: Bestrafung und Erbarmen

Barbarei und Zivilisation

Reeducation

Fraternisierungsverbote

Vergebung statt Vergeltung

Die Macht der Bilder

Drittes Kapitel: Glaube und Grenzen

Das gelbe Buch

Christentum und Kalter Krieg

Gehirnwäsche

Die (christlichen) Menschenrechte

Eine christliche Zivilisation

Die Wiederentdeckung des Abendlandes

Ein Opfer der Geschichte

Viertes Kapitel: Wissenschaft, Zuflucht und Höflichkeit

Ban the bomb

Auf dem Weg in die Konsumgesellschaft

Antiamerikanismus

Der moderne Knigge

Fünftes Kapitel: Die Restauration der Imperien

Das koloniale Gesicht des Faschismus

Zivilisation als Vorwand

Die freien Völker unterstützen

The American Way of Life

Paneuropa, Eurafrika

Auf dem Weg zu einem Afrika der Nationalstaaten

Die »Kleinen« im Zentrum: Belgien und Portugal

Zivilisation im kurzen 20. Jahrhundert

Sechstes Kapitel: Entkolonialisierung und afrikanische Zivilisation

Von der Goldküste zum modernen Ghana

Algerien den Algeriern?

Der Senegal und die Idee einer Zivilisation des Universalen

Regionalisierte oder universale Menschenrechte?

Auf dem Weg zu einem neuen Zivilisationskonzept

Siebtes Kapitel: Weltzivilisation

Der Kampf um Gleichwertigkeit

Selektive Erinnerung und Rehabilitation

Die Geschichte der Menschheit – ein UNESCO-Projekt

Die Rettung und Bewahrung von Kulturgütern

Brückenbauerin UNESCO

Achtes Kapitel: Die Zivilisierungsmission des Sozialismus in Afrika

Der zweite Wettlauf um Afrika

Sowjetische Kulturdiplomatie

Das Goldene Zeitalter der Kulturabkommen

Kooperationen im Zeichen des Sozialismus

Sozialistische Afrikastudien

Afrikanische Kunst im Fokus

Sozialistische Verbrüderung

Neuntes Kapitel: Religion, »Rasse« und Multikulturalismus

Die Korruption des Zivilisationsbegriffs

Apartheid – eine Sache der Weltgemeinschaft

Europa statt Zivilisation

Säkularisierung vs. christliche Zivilisation

Die Zersplitterung alter transkontinentaler Solidaritäten

Die Idee einer islamischen Zivilisation

Zivilisation in Zeiten des Multikulturalismus

Zivilisation und Identität

Schluss: Neue eiserne Vorhänge

Nachwort und Danksagung

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Einleitung: Die Erneuerung der alten Welt

Einleitung: Die Erneuerung der alten Welt

Ruin und Erneuerung erkundet, wie und warum viele Europäer, die 1945 nur zu bewusst in eine neue Epoche gingen, sich ausgerechnet vom beschädigten Konzept der Zivilisation inspirieren ließen. Europa lag in Trümmern. Ungefähr 50 Millionen Menschen waren tot, die Städte in Schutthaufen verwandelt, und große Teile des Kontinents siechten in physischem und moralischem Bankrott. Anders als der Erste Weltkrieg, der überwiegend in ländlichen Gegenden zwischen Soldaten ausgetragen worden war, verwischte der Zweite Weltkrieg gnadenlos die Grenze zwischen Zivilisten und Kombattanten, was ihn zum ersten Krieg der jüngeren Geschichte machte, in welchem die zivilen die militärischen Verluste bei Weitem überstiegen. Recht und Ordnung waren zusammengebrochen, überall waren Flüchtlinge unterwegs oder gestrandet, und fremde Mächte übernahmen die Kontrolle. Die Befreiung der Konzentrationslager enthüllte einem großen internationalen Publikum die Schrecken des nationalsozialistischen »Rassenkriegs« und die unfassbaren Gräuel gegen Juden und andere Minderheiten.

Der Kontinent, nach eigener Auffassung seit Langem der weltweite Maßstab der Zivilisation, hatte seine Ansprüche in ihr barbarisches Gegenteil verkehrt. Die internationale Gemeinschaft sah sich verpflichtet, neue rechtliche Begriffe wie »Völkermord« und »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« zu formulieren, um den deutschen Untaten gerecht zu werden (und sie zu bestrafen), was dem Bewusstsein, in radikal neuen Zeiten zu leben, starken Auftrieb gab. Hannah Arendts berühmter Kommentar von 1945, dass »das Problem des Bösen […] das grundlegende Problem des geistigen Lebens im Nachkriegseuropa« sein würde, »wie der Tod die grundlegende Frage des letzten Krieges« gewesen sei, fand großen Widerhall bei den Zeitgenossen. Die Entdeckung der Lager und die Frage, wie mit Deutschland und seinen gefangen genommenen Anführern umzugehen sei, löste eine breite Diskussion darüber aus, inwiefern das Schicksal der Zivilisation selbst in der Schwebe hing.1

Während manche den Untergang der Zivilisation betrauerten, strebte die Mehrheit der Zeitgenossen ihre Erneuerung in veränderter Form an. Es waren die Verdorbenheit und Fragilität der europäischen Zivilisation selbst, die eine große Bandbreite von Denkern, Politikern, Aktivisten und Reformern auf den Plan riefen, um sie aus den Trümmern von Krieg, Zerstörung und moralischem Kollaps zu bergen. Mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands erstarb die politische Rede von der Zivilisation keineswegs. Sie kehrte im Gegenteil wieder als mächtige Metapher mit der Aufgabe, dem materiellen und moralischen Wiederaufbau Sinn zu verleihen. Und mehr noch: In der Nachkriegssituation diente die Zivilisation als Bezugspunkt, um jenseits des Nationalstaats und der Teilung im Kalten Krieg die neue Lage Europas zu erfassen und das Verhältnis des Kontinents zu Vergangenheit, Zukunft und dem Rest der Welt neu zu denken.

Für diese vielfältigen Aufgaben erschien sie geeignet, weil es nie eine einheitliche oder allgemein akzeptierte Vorstellung davon gab, was Zivilisation sei, doch gerade diese Eigenschaft gab dem Begriff seine Beständigkeit. Er war formbar, widersprüchlich und umstritten, zuweilen restriktiv und dann wieder expansiv – doch immer vermochte er, ein breites öffentliches Interesse und große politische Aufmerksamkeit zu erregen.

Auf der Bühne Nachkriegseuropas stritt man entsprechend energisch um das Sorgerecht für die Zivilisation und um ihre Bedeutung nach dem Ende von Nationalsozialismus, Krieg und Kolonialismus. Zwar ist Zivilisation die europäischste aller Ideologien und die am höchsten geschätzte unter den reichen Traditionen des Kontinents. Doch abseits der allgemeinen Definition einer ererbten Summe von Überzeugungen zu Herkunft, Leistungen, Bräuchen und Werten einer bestimmten politischen Gemeinschaft, deren Zerbrechlichkeit in Augenblicken des Zwielichts und der Gefahr aufscheint, gibt es gewichtige Unterschiede. Zivilisatorische Ideen beinhalten divergierende Geschichtsbilder, die gemeinschaftliche Erlebnisse radikaler Umwälzung in Erzählungen einbinden, welche Vergangenheit und Gegenwart verklammern.

Während wir die Substanz der Zivilisation sonst als etwas Dauerhaftes, Kontinuierliches, ständig Präsentes oder sogar Zeitloses empfinden, werden historische Ansprüche auf die Vormundschaft über sie typischerweise dann laut, wenn moralisches Durcheinander, politische Verwerfungen und existenzielle Bedrohung die Szene beherrschen. Dies geschah in Europa nach der Französischen Revolution und den Napoleonischen Kriegen und ein weiteres Mal nach den beiden Weltkriegen. Dass man sich in das Geschick der Zivilisation vertieft, ist deshalb weniger ein Ergebnis von Frieden und Wohlstand als von Brüchen, Verwundbarkeit und dem Verlangen nach Reformen. Sie war deshalb ein Schlüsselbegriff für den Neuentwurf Europas nach 1945, geboren aus einer Haltung des Was-wäre-wenn und zu Hause im Reich von Wunsch, Begehren und Bestreben. Im Augenblick einer extremen kulturellen Diskontinuität und des Urteilsspruchs der Geschichte wurde bereits um Europas neuen Platz in der Welt gerungen.

Die wichtigste Zusammenkunft seit dem Letzten Abendmahl

Im Nachhall des weltumspannenden Kriegs ging es verständlicherweise nicht nur um Europa. Ein gutes Beispiel bietet die Gründung der Vereinten Nationen 1945. Sie kündigte eine neue Weltordnung an, die die »friedliebenden Staaten« nach dem Sieg über Hitler schmiedeten, und war das ehrgeizigste internationalistische Experiment des 20. Jahrhunderts. In jenem Frühling trafen sich Menschen aus zahlreichen Ländern in San Francisco, um auf der United Nations Conference on International Organization einen neuen Anlauf zum globalen Frieden zu nehmen. Delegierte aus 55 Ländern kamen vom 25. April bis zum 26. Juni 1945 im riesigen War Memorial Opera House zusammen, an ihrer Seite die Vertreter von 250 internationalen Organisationen. Außer Hunderten Offiziellen und ihren Mitarbeitern waren Zeitungs- und Radiojournalisten mit von der Partie und berichteten durchgehend über die Sitzungen, die Tag für Tag eine halbe Million Blatt Papier produzierten. So groß war der diplomatische Karneval, dass dafür 2600 Mann des amerikanischen Heeres und der Marine, 400 Rot-Kreuz-Mitarbeiter, 800 Pfadfinder und 200 zusätzliche Telefonisten abgestellt wurden. Die US-Delegierte Virginia C. Gildersleeve: »Noch nie zuvor hatte eine große internationale Konferenz, die Angelegenheiten von größter Bedeutung verhandelte, in einem derart grellen Licht der Öffentlichkeit stattgefunden.« Die NewYork Post nannte sie sogar »die wichtigste Zusammenkunft von Menschen seit dem Letzten Abendmahl«. Als die Vereinten Nationen in ihrer Doppelrolle als Militärbündnis und Träger der Zivilisation für eine erschütterte Nachkriegswelt die ersten Gehversuche machten, richteten sich die Gedanken der Delegierten auf nichts weniger als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Zivilisation.2

Feldmarschall Jan Christiaan Smuts, Premierminister Südafrikas und einer der wenigen Delegierten, die schon 26 Jahre zuvor an der Gründung des Völkerbundes teilgenommen hatten, fand in seiner Eröffnungsrede die passenden Worte für den feierlichen Anlass: »Für die menschliche Rasse hat die Stunde geschlagen. Die Menschheit ist an dem Punkt angelangt, an dem sich ihr Schicksal entscheiden muss, ihre Zukunft als zivilisierte Welt«, deren Gründungsurkunde auf das »Vertrauen in die Gerechtigkeit und auf die Entschlossenheit, die fundamentalen Menschenrechte zu verteidigen«, zu gründen sei. Smuts drängte auf eine machtvolle Präambel zur UN-Charta, um der Welt klarzumachen, worum es sich bei den Vereinten Nationen handelte. Ihre Mission sollte vor allem darin bestehen, »eine Wiederkehr des mörderischen Bruderstreits zu verhindern, der zweimal in unserer Generation unnennbare Trauer und Verlust über die Menschheit gebracht hat«. Die UN solle das Vertrauen in »die Heiligkeit und den äußersten Wert der menschlichen Person und in die gleichen Rechte aller Männer und Frauen sowie der großen und kleinen Nationen« wiederaufrichten. Diese »Smuts-Prinzipien« dienten als Basis der Präambel, der Gildersleeve eine amerikanische Nuance hinzufügte, als sie die globale Willenserklärung an die berühmten ersten Wörter der amerikanischen Verfassung anglich: »Wir, die Völker der Vereinten Nationen …« Das vollkommen Neue in diesem geschäftigen Sommer brachte ein kanadischer Bericht auf den Punkt: »Seit die Vereinten Nationen ihre Arbeit aufgenommen haben, ist Deutschland gefallen, Churchill gefallen, die Atombombe gefallen, Japan gefallen. Die Dinge sind schnell vorangeschritten, und in diesen Tagen werden neue Fundamente gelegt.«3

Der Übergang vom Völkerbund zu den Vereinten Nationen markierte den Wechsel von der alten Sprache der Zivilisation hin zur konkreteren Sprache individueller Rechte und kollektiver Sicherheit. Die berüchtigte Unterscheidung des Völkerbunds zwischen der »Familie der zivilisierten Nationen« und dem Rest der Welt tauchte in keinem UN-Dokument mehr auf, und Zivilisation als grundlegende moralische Norm wurde aus den Konferenzbeschlüssen verbannt. Während die Menschenrechte sich 1945 also ins Zentrum der Debatte schoben, verschwand die Rede von der Zivilisation jedoch keineswegs und wurde vielmehr, weit abseits von Smuts’ wortmächtiger Eröffnungsansprache, einer Generalüberholung unterzogen. Schließlich war ihre Bedeutung äußerst dehnbar und eignete sich für Forderungen aller Art. Ihr moralisches Gewicht zog diverse Interessenten und Fürsprecher an, die sie als Forum für ihre jeweils eigenen Anliegen nutzen wollten. Der afroamerikanische Intellektuelle W. E. B. Du Bois beispielsweise, der wie Smuts bei der Pariser Friedenskonferenz 1919 vor Ort gewesen war, sagte, dass die UN-Charta »klar und unzweideutig« das »aufrichtige Eintreten der zivilisierten Welt für die Gleichheit der Rassen« festschreiben solle, »um die menschliche Zivilisation vor dem Selbstmord zu bewahren«. Denn was »auf die Vereinigten Staaten in der Vergangenheit zutraf, trifft [ebenso] auf die Weltzivilisation heute zu – wir können nicht zur Hälfte Sklaven und zur Hälfte frei sein«. Von seiner Seite war die Berufung auf die Zivilisation ein politischer Hebel, um Kolonialimperien zur Rechenschaft zu ziehen. Andere Gruppen bezogen sich in beharrender Absicht auf die Zivilisation. Der britische Delegierte und konservative Politiker Robert Arthur James Gascoyne-Cecil, auch bekannt als der Viscount Cranborne, bestand auf einer Regelung, die auf den Unterschieden zwischen »Völkern verschiedener Rasse, Völkern verschiedener Religion und Völkern verschiedener Zivilisationsstufen« basierte. Es zirkulierten also in San Francisco unterschiedliche Konzepte von Zivilisation, die von europäisch bis universell, von radikalem Wandel bis zu konservativer Restauration, von Kolonialismus bis zum Antikolonialismus alles bedeuten konnten.4

Bekanntlich hatten die ehrgeizigsten Träume von Erneuerung und Wiederherstellung jedoch bald mit Ernüchterung und Enttäuschung zu kämpfen. Lobbygruppen von Frauen wie die Commission on the Status of Women mit ihrer Vorsitzenden Bodil Begtrup verließen die Konferenz von San Francisco aus Frustration darüber, dass im Namen von Sicherheit und Wohlstand für alle der »Umsetzung des Friedens« strenge Beschränkungen gesetzt wurden. Dasselbe galt für die Protagonisten der Selbstbestimmung und Gleichheit der »Rassen«. Kritiker empfanden – wie andere vor ihnen die falschen Versprechungen des Völkerbundes 1919 – die Charta aufgrund von imperialistischen, nationalistischen und rassistischen Einflüssen als wenig schlagkräftig. Dass ausgerechnet Smuts, der südafrikanische Premierminister und langjährige Vorkämpfer für die »Rassentrennung« und die Herrschaft weißer Siedler, die Person mit dem größten Anteil an der Präambel der Charta war, stuften Gegner als Ironie und Heuchelei ein. Du Bois kommentierte verbittert, »wir haben Deutschland überwunden«, aber »nicht seine Ideen. Wir glauben immer noch an die weiße Vormachtstellung, halten die Neger nieder und lügen über die Demokratie, wenn wir an die imperiale Kontrolle über 750 Millionen menschliche Wesen in den Kolonien denken.« In den Augen der Auguren des Neubeginns war die UNO zumindest in ihren ersten Jahren vor allem darauf ausgerichtet, eine erschütterte imperiale Ordnung zu festigen.5

Kämpfe und Illusionen

Zivilisation war nie nur eine einzige Sache, sondern sie erfüllt auf verschiedenste Art die Zwecke eines Streitpunkts, eines umkämpften Werts, eines Objekts der Begierde und eines Machtanspruchs. In den letzten Jahrzehnten jedoch wurde eine selektive Lesart von Zivilisation verbreitet, welche die umfassende Entschlüsselung von Krieg und Gewalt im 21. Jahrhundert erlauben sollte. Diese Sichtweise machte unter anderem der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel Huntington in seinem Bestseller Der Kampf der Kulturen(The Clash of Civilisations) von 1996 prominent. Huntingtons Hauptargument besagt, dass zukünftige globale Konflikte sich weniger um Politik und Wirtschaft als um Kultur drehen würden. »Weltpolitik [ist] die Politik von Kulturkreisen. Die Rivalität der Supermächte wird abgelöst vom Konflikt der Kulturen.« Seiner Auffassung nach bilden einzelne Zivilisationen weitgehend unveränderliche regionale Blöcke kultureller Identitäten, die von einer jeweils gemeinsamen Religions- und Kulturgeschichte geprägt sind. Der Zusammenstoß ihrer jeweiligen Werte würde den politischen Konflikten ihre Gestalt geben und sie antreiben. Ungeachtet all der Fallstricke, die Huntingtons Theorie aufweist und die hier zu wiederholen nicht notwendig ist, belegt sein Buch doch gut, wie die Bedeutung des Zivilisationsbegriffs nach dem Ende des Kalten Krieges verändert wurde.6

Eine nützlichere Deutung von Rolle und Geschichte der Zivilisation als weltpolitischer Kraft ist das lange vergessene Werk des britischen Historikers Arnold J. Toynbee. Sein zwölfbändiges universalhistorisches Werk Der Gang der Weltgeschichte (A Study of History), veröffentlicht zwischen 1936 und 1961, diente der Globalgeschichte jahrzehntelang als wichtigste Referenz. Normalerweise wird Toynbee als ein weiterer düsterer Prophet vom Niedergang Europas in einem Atemzug mit Oswald Spengler genannt, doch übersieht dieses Urteil einige Erkenntnisse Toynbees, die für das vorliegende Buch von Bedeutung sind. Er plante die Überschreitung der üblichen Grenzen der modernen Geschichtswissenschaft, die sich hauptsächlich mit dem Nationalstaat als Messgröße der historischen Analyse befasste. Für ihn war die am besten »verständliche Einheit für die historische Forschung weder ein Nationalstaat noch (am anderen Ende der Skala) die Menschheit als Ganzes, sondern eine gewisse Gruppierung von Menschen, die wir einen Gesellschaftskörper nennen«. Gesellschaftskörper dieser Art hießen für gewöhnlich Zivilisationen. Nach seiner Sicht sind Zivilisationen deshalb im Wesentlichen große Gesellschaften, welche dieselben Glaubenssätze und Werte teilen und die letzte Bastion für Diversität und Pluralität bilden. Toynbee war ein gläubiger Christ und wetterte in den Dreißigerjahren gegen das Neuheidentum und die Götzenverehrung, die um die Staatsmacht – ob nun kommunistisch, nationalistisch oder faschistisch – getrieben würde. Er kritisierte sogar den Mythos der westlichen Überlegenheit und die Illusion des geradlinigen Fortschritts, was zum Teil erklärt, warum er von so vielen nicht europäischen Antikolonialisten ebenso bewundert wurde wie von osteuropäischen Kommunisten. Dabei ging es ihm jedoch nicht um eine Verteidigung des Kulturrelativismus. Während einzelne Zivilisationen zugrunde gingen, bleibe die gemeinsame globale Geschichte der Zivilisation doch über die Epochen hinweg eine verlässliche Konstante. In seinem Bändchen Kultur am Scheidewege (Civilization on trial) schrieb er: »Kulturen kamen und gingen, aber die Kultur als solche konnte jedesmal in neuen Exemplaren ihrer Gattung wieder aufleben.« Obwohl manches abstrakt erscheinen mag, so traf Toynbee doch bei zahllosen Lesern rund um die Welt von den Dreißigerjahren bis in die Fünfzigerjahre einen Nerv und wurde so zum meistverkauften Historiker des 20. Jahrhunderts. Seine Popularität entsprang weniger seinen komplexen Interpretationen vom Aufstieg und Fall der Weltzivilisationen als seiner Fähigkeit, den Lesern während der turbulenten Jahrhundertmitte ein Bewusstsein von gemeinschaftlicher Identität und von einer größeren historischen Zielrichtung jenseits des Nationalstaats zu vermitteln.7

Zivilisation entzieht sich jeder einfachen Definition. Der bedeutende britische Kunsthistoriker Kenneth Clark begann seine 1969 äußerst erfolgreiche BBC-Fernsehserie Civilisation, deren Begleitbuch in mehr als 60 Ländern verkauft wurde, mit einem Eingeständnis: »Was ist Zivilisation? Ich weiß es nicht. Ich kann es nicht in abstrakten Begriffen erklären – noch nicht. Aber ich glaube Zivilisation zu erkennen, wenn ich sie sehe.« Was immer man von seinem unbekümmerten patrizischen Selbstvertrauen halten mag – Clark wies darauf hin, wie schwierig es ist, Zivilisation festzulegen. Für ihn und viele andere war sie gleichbedeutend mit einem Kanon ehrwürdiger kultureller Artefakte aus Kunst und Wissenschaft, das einzigartige materielle Erbe einer Kultur, in seinem Falle das westliche kulturelle Vermächtnis, das bis ins alte Griechenland zurückreicht.

Andere begriffen Zivilisation eher als die kulturelle Frucht urbanen Lebens, im Sinne von Straßen und Zentralstaaten, Agrarproduktion und Krankenhäusern, Frachtschiffen und Kathedralen. Der deutsch-amerikanische Theologe Reinhold Niebuhr übernahm in den frühen Fünfzigerjahren diese Sicht, als er den Unterschied zwischen Kultur und Zivilisation mit den Kriterien Umfang, Integrationskraft und Dauerhaftigkeit erklärte. Kultur »steht für die Gesamtheit der Kunst, Philosophie, Literatur und Religion einer Zivilisation, und Zivilisation steht für die sozialen, ökonomischen, politischen und rechtlichen Regelungen, nach denen das menschliche Zusammenleben geordnet ist«. Niebuhr spielte hier auf die aus dem 19. Jahrhundert stammende – und, wie wir sehen werden, besonders in Deutschland beachtete – Unterscheidung zwischen Kultur und Zivilisation an.

In den Fünfzigerjahren hatte diese einst wütend verteidigte Dichotomie viel von ihrer kulturellen Kraft verloren, von episodischen Verlautbarungen in der Bundesrepublik Deutschland einmal abgesehen. Der französische Anthropologe Claude Lévi-Strauss dehnte in seiner klassischen Grübelei über die Grenzen der Ethnologie, Traurige Tropen, die Reichweite des Begriffs noch weiter aus, als er die Zivilisation zum letzten und grundlegendsten Element der Artzugehörigkeit in einer vernetzten Welt erklärte: »Denn Menschsein heißt für jeden von uns, einer Klasse, einer Gesellschaft, einem Land, einem Kontinent, einer Kultur (civilization) anzugehören.«8

Doch während manche die Zivilisation als ein erbauliches Integrationsnarrativ lebhaft begrüßten, waren andere weniger begeistert. Kritiker verurteilen bis heute die Idee der Zivilisation als einen der widerwärtigsten Aspekte der europäischen Politik und Kultur seit dem 18. Jahrhundert, deren Vermächtnis seit dem späten 19. Jahrhundert mit schändlichen imperialistischen »Zivilisierungsmissionen«, Kriegen und diversen heimischen Social-Engineering-Projekten eng verbunden ist. Ideologisch war Zivilisation für das Selbstverständnis Europas im 19. Jahrhundert ebenso wesentlich wie für die Machtentfaltung in Übersee vor dem Ersten Weltkrieg, während sie heute im Allgemeinen als peinliches Relikt, das glücklicherweise die Mitte des 20. Jahrhunderts nicht überlebte, verworfen wird. Nach dieser Lesart trug Europa seine Zivilisierungsmission in den zwei Weltkriegen, dem Holocaust und der Entkolonisierung ein für alle Mal zu Grabe; ihre letzten Weihen erhielt sie an Tiefpunkten wie Verdun, Auschwitz und Algier. Der britische Historiker Tony Judt war sicher nicht allein mit seiner Meinung, dass der Nationalsozialismus und sein Vernichtungskrieg die europäische Zivilisation als »die allergrößte Illusion« bloßgestellt hätten.9

Mehr als ein Jahrhundert lang lehnte die westeuropäische Linke die Ideologie der Zivilisation ab, weil diese nichts anderes sei als die hübsche Fassade des westlichen Imperialismus, die alle möglichen Eroberungen und Barbareien kaschierte. Der deutsch-jüdische Literat und Philosoph Walter Benjamin spitzte die Polemik in seinen Thesen zur Philosophie der Geschichte noch einmal zu: »Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.« Für jene, die die europäische Expansion und koloniale Eroberung zu erleiden hatten, war die Linie zwischen Zivilisation und Barbarei bis zur Unkenntlichkeit schmal. Mahatma Gandhis angebliche Witzelei auf die Frage, was er über die westliche Zivilisation denke – »Ich glaube, es wäre eine gute Idee« –, fing die weitverbreitete Wahrnehmung von Gewalt und Heuchelei ein, die dem europäischen Projekt zu eigen seien.10

Und doch verfehlen diese wohlbekannten Vorwürfe zwei wesentliche Punkte. Der erste lautet, dass die westliche Zivilisation nie einheitlich oder konsistent war – ihre Geschichte war von ständigem Zweifel und von Selbstkritik geprägt, die seit dem 18. Jahrhundert von verschiedenen Seiten kommt und nach dem Zweiten Weltkrieg lauter denn je war. Der zweite Punkt: Die Ansprüche der Zivilisation wurden von den antikolonialistischen Intellektuellen nie vollständig abgelehnt. Wie wir sehen werden, wurde die Sprache der Zivilisation durch asiatische und afrikanische Eliten neu formuliert, um die glanzvollen Errungenschaften der eigenen vorkolonialen Geschichte als Symbole einer postkolonialen Souveränität hervorzukehren. Relevant ist an dieser Stelle außerdem, dass frühe postkoloniale Kritiker das Konzept der Zivilisation nicht rundheraus ablehnten, sondern eher darauf bestanden, dass Zivilisationen vielfältig und gleichrangig seien, weshalb kein Kontinent – schon gar nicht Europa – ein Monopol oder eine Vorrangstellung besitze.

Kathedralen und McDonald’s

Das Wesen der Zivilisation hat der bekannte französische Philosoph und ehemalige Regierungsberater Régis Debray in seiner jüngsten Studie zur globalen Wirkung des amerikanischen Imperiums präzise erfasst. Er beschreibt Zivilisation als ein »dampfähnliches, ätherisches, formwandlerisches Wort«, das »auf allen möglichen Bühnen singt und gesungen wird«, »eine wandelnde Fee, die sich in eine schillernde Wolke auflöst«. Indem Debray mit Recht die sich permanent wandelnde Natur des Begriffs beschwört, übersieht er, wie sehr die Zivilisation ihre Kraft daraus zieht, dass sie sowohl sichtbar als auch unsichtbar ist. Zivilisation geht über das hinaus, was das Auge sieht, und bietet einen Mythos von Ursprung und Entwicklung, der sich aus dem Hier und Jetzt ableitet. Damit steht sie in scharfem Kontrast zu ihrem weniger feierlich daherkommenden Vetter, dem kulturellen und historischen Erbe, das in der Regel einen fassbaren Ausdruck findet, sei es als publikumswirksames Reenactment, patriotisches Gepränge, eine behagliche Sehenswürdigkeit oder massengefertigter Souvenirplunder. Anders als dieses Erbe kennt die Zivilisation keine allgemein verständlichen Embleme – Kreuzritterfahnen, Kathedralen oder McDonald’s-Filialen mögen für viele die westliche Zivilisation symbolisieren, doch entstanden sie nicht zu diesem Zweck. Zivilisation ist, und darum geht es, flüchtig und kaum festzulegen, nicht zuletzt, weil sie über den Nationalstaat, die religiöse Identität einer Gruppe und jede Einzelperson hinausreicht. Sie ist zugleich materiell und transzendent; real wird sie durch Glaube, Vision und Debatten um das, was aus der Geschichte auf uns gekommen ist. Zivilisation ist eine Art der Wahrnehmung und des Handelns, was die Historikerin Mary Beard 2018 in der von ihr komoderierten BBC-Fernsehserie Civilisations sowohl »das Auge des Glaubens« als auch einen »Akt des Glaubens« nannte.11

Überall auf der Welt füllen gelehrte Geschichtswerke über Zivilisationen ganze Bibliotheken, sie zählen die Errungenschaften diverser Reiche, Nationen, Regionen und Völker auf und verorten sie in glorreichen Stammbäumen kultureller Zugehörigkeit. Diese Bücher sprechen von einzelnen Zivilisationen als konkreten Manifestationen. Doch die Beschwörung von Zivilisation als Konzept nimmt typischerweise gerade nicht die goldenen Zeiten solcher Entitäten in den Blick, sondern zeigt Umbrüche an und ruft zum Handeln auf. Der Zusammenbruch der Ordnung in Europa 1945 bietet dafür ein lehrreiches Beispiel: Auf dem Kontinent entfalteten sich gewaltige Aktivitäten, die sich der – freilich unterschiedlich verstandenen und umgesetzten – Wiedererschaffung Europas und der Europäer widmeten. Dort diente Zivilisation als ein rhetorisches Mittel, das moralisch aufrütteln sollte und einen kulturellen Kollaps mitsamt der Notwendigkeit verkündete, einbindende und ausschließende Grenzen zu errichten. Viele Stimmen sprachen von ihr und nahmen sie für ganz verschiedene Pläne und Reformen in Anspruch. Wie die Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg ein politischer Streitpunkt war, was schon die zahlreich wuchernden Attribute wie sozial, christlich, liberal und sozialistisch anzeigen, so zerfiel auch die Zivilisation in vielfältige, einander teils überschneidende und teils widersprechende Erzählungen von den westlichen, christlichen, atlantischen, afrikanischen, weißen, universellen und sozialistischen Zivilisationen. Und gerade weil die Debatte um die Demokratie nach 1945 ausgesprochen gegenwartsverhaftet war und ihre flachen historischen Wurzeln verleugnete, sollte die Zivilisation dem postfaschistischen Europa ein tieferes historisches Bewusstsein für seine Lage und seine Bestimmung verleihen.

Bald nach 1945 begann die Idee der Zivilisation allerdings für etwas anderes zu stehen und ihr traditionelles Verständnis hinter sich zu lassen. Anders als im 19. Jahrhundert war dieses neue Verständnis vorwiegend durch Verunsicherung, Besorgnis, Niederlage und die einschüchternde Aufgabe, noch einmal von vorn anzufangen, geprägt. Um zu begreifen, wie tief dieser Bedeutungswandel war, müssen wir die Geschichte des Begriffs zurückverfolgen.

Die Ursprünge eines Begriffs

Etymologisch wurzelt »Zivilisation« im Frankreich des 18. Jahrhunderts und wurde lange mit Condorcet, Mirabeau, Voltaire und François Guizot genauso assoziiert wie mit den Vertretern der schottischen Aufklärung, darunter Adam Smith und David Hume. Seine Verwendung fiel im frühen 18. Jahrhundert in die Jurisprudenz und bezeichnete die Umwandlung eines Strafprozesses in eine Zivilverhandlung. Im letzten Viertel des Jahrhunderts wurde »Zivilisation« synonym mit Verbesserung, Verfeinerung und Humanität beziehungsweise als das Gegenteil von Barbarei gebraucht. Viel verdankt die Weiterentwicklung des Konzepts dem einflussreichen deutschen Soziologen Norbert Elias, dessen zweibändiges Werk Über den Prozess der Zivilisation 1939 erschien. Für die Analyse dieses Prozesses schlug er zwei Wege ein: Zum einen betrachtet er Zivilisation als gleichbedeutend mit Höflichkeit, Freundlichkeit, feinen Manieren sowie dem Auftreten des rechtlich verfassten Staates und der bürgerlichen Gesellschaft. Zum anderen deutet er den Begriff als Teil eines größeren staatlichen Projekts der Befriedung und Konsolidierung. So neutralisierte der absolutistische Staat eine mit ihm rivalisierende adelige Kriegerkaste und andere Gegner. Ob der »Zivilisationsprozess« von der Zivilgesellschaft oder dem Staat ausging, hängt von der Perspektive ab. Beide Dimensionen haben den Gedanken gemeinsam, dass Zivilisation ein Aufruf zum Handeln und ein Ringen um Macht ist. Tatsächlich existierte der Begriff als Verb – »zivilisieren« oder »zivilisiert werden« –, lange bevor er im späten 18. Jahrhundert zum Nomen wurde. Der Begriff der Zivilisierung setzte die Idee der einen Zivilisation voraus, die eng mit dem Fortschritt und der Aussicht auf universelle Geltung verbunden war.12

Das 19. Jahrhundert brachte eine neue Vielfalt von Definitionen hervor. Die aufklärerische Idee einer einzigen Zivilisation zerfiel in verschiedene, auf Differenzen zielende Philosophien, welche in der zweiten Jahrhunderthälfte zunehmend von Nationalismus und Rassismus durchdrungen wurden. In diese Richtung besonders effektiv wirkte der erstarkende Imperialismus, als dessen Hauptrechtfertigung sich Zivilisierungsmissionen hervortaten, die wiederum auf einer eigennützigen evolutionären Hierarchie von »Rassen« und Kulturen fußten. Die Französische Revolution münzte die weltliche Mission der Zivilisation zu einem auf republikanischen Fortschritt gegründeten, französisch geführten Universalismus um; dann erlegte Napoleon den eroberten Gebieten Reformen auf und implizierte damit die volle Gleichsetzung von Zivilisation und französischer Nation.

Eine ausführliche Geschichtsschreibung vollzieht detailliert nach, welche unterschiedlichen Bedeutungen »Zivilisation« im Deutschen, Französischen, Italienischen und Englischen annahm und wie sie mit geheiligten nationalen Werten und Tugenden angereichert wurden. In Deutschland wurde viel Mühe darauf verwendet, zu zeigen, wie sehr die innerliche, verfeinerte und autochthone deutsche Kultur in stolzem Gegensatz zum wurzellosen und oberflächlichen Materialismus der englisch-französischen Zivilisation stand. Doch gerade weil Kultur zunehmend als Sphäre des Wettbewerbs zwischen den Nationen aufgefasst wurde, konnte die Zivilisation ihrerseits breitere Zugehörigkeiten, die über den Nationalstaat hinausgingen, umreißen, wie die weithin anzutreffende Terminologie von europäischer, westlicher oder christlicher Zivilisation bezeugt. Die semantischen Unterschiede zwischen »Kultur« und »Zivilisation« verhärteten sich entlang der nationalen Grenzen, als während des Ersten Weltkriegs sämtliche grenzüberschreitenden Philosophien über das menschliche Zusammenleben in den Dienst der jeweiligen Kriegsführung gestellt wurden.13

Instrumentalisierte Zivilisation

Der Große Krieg beflügelte in allen beteiligten Ländern die Militarisierung der Zivilisation. H. G. Wells beschrieb ihn als einen »Krieg des Geistes« und einen »Konflikt der Kulturen (cultures) und sonst nichts auf der Welt … Wir kämpfen nicht, um eine Nation zu zerstören, sondern eine Brutstätte böser Ideen.« Im Oktober 1914 gaben 93 führende deutsche Intellektuelle den »Aufruf an die Kulturwelt« heraus und wiesen darin Vorwürfe zurück, deutsche Truppen hätten in Belgien Gräueltaten verübt; sie bestanden darauf, dass die deutsche Armee die große Hüterin der deutschen Kultur sei. Thomas Manns 1918 veröffentlichte Betrachtungen eines Unpolitischen deuteten den Krieg als einen existenziellen Kampf zwischen den romantischen Idealen der deutschen Kultur und den Übeln der »Weltdemokratie«, des »Imperium[s] der Zivilisation«, der »›Gesellschaft der Menschheit‹«. Der Angriff des Kaisers auf Osteuropa wurde als teutonische Zivilisierungsmission und als Export deutscher Werte in abgelegene Landstriche des Kontinents legitimiert. Die Franzosen reagierten mit Attacken auf die heimelige Eintracht von deutscher Philosophie und militärischer Aggression und stellten ihre Kriegsanstrengung als Verteidigung französischer republikanischer Prinzipien dar. Amerikanische Plakate verkündeten, dass der Krieg ein »Aufruf zur Zivilisation« sei, während der italienische revolutionäre Journalist Benito Mussolini den Krieg in dramatischen Farben als epische Schlacht zwischen »lateinischer Zivilisation« und »germanischer Zivilisation« zeichnete.14

Das industrialisierte Töten und die moralische Auszehrung durch den Krieg, die Pervertierung von Wissenschaft, Technologie, Religion und Nationalismus zu derartig destruktiven Zwecken stießen eine gründliche Gewissenserforschung über den eigentlichen Sinn der Zivilisation an. Ein apokalyptisches Unbehagen, das dem Verlust der Menschlichkeit entsprang und sich mit der Furcht vor einem direkt bevorstehenden Niedergang des Westens verband, erfasste den Kontinent. Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit gab das allseits herrschende Gefühl wieder, dass die sakrosankten Normen des 19. Jahrhunderts ein für alle Mal aufgegeben worden waren. Nirgendwo findet sich der Ruin der Zivilisation kraftvoller beschrieben als im Brief des französischen Dichters Paul Valéry an die Literaturzeitschrift La Nouvelle Revue Française von 1919, wonach die Zivilisation – wie die Körper der Soldaten in den Schützengräben – nun das Schicksal der eigenen Sterblichkeit erleide. »[W]ir sehen jetzt, daß der Abgrund der Geschichte Raum hat für alle. Wir fühlen, daß eine Kultur genau so hinfällig ist wie ein einzelnes Leben.« Seine Generation habe lernen müssen, »wie das Schönste und das Ehrwürdigste, das Gewaltigste und das Bestgeordnete durch bloßen Zufall dem Untergang verfallen kann«.15

Die Desillusionierung über die vorgebliche Überlegenheit westlicher Werte beflügelte die Neugier auf andere Zivilisationen. In der Zwischenkriegszeit erstarkte das Interesse Europas an der islamischen, buddhistischen und hinduistischen Zivilisation und verzahnte sich in Paris und anderen europäischen Hauptstädten gelegentlich mit den jungen antikolonialistischen Bewegungen. Der Krieg hatte von der Idee eines einzigen evolutionären Modells der Zivilisation kaum etwas übrig gelassen; eine aus vielfältigen Zivilisationen zusammengesetzte Welt rückte in den Fokus des internationalen Geisteslebens. Schon im 19. Jahrhundert war, vor allem in der Archäologie und der Religionswissenschaft, die Wertschätzung für außereuropäische Zivilisationen gewachsen, ehe sie nach dem Ersten Weltkrieg dramatisch zunahm, wie das Echo auf die Werke von Okakura Tenshin, Rabindranath Tagore, Liang Qichao und Mahatma Gandhi demonstrierte – ganz zu schweigen von den Positionen Spenglers und Toynbees. Das Auseinanderbrechen der Reiche der Habsburger, Hohenzollern, Romanows und der osmanischen Sultane, die Aussicht auf kommunistische Revolutionen, die Ausbrüche des Nationalismus und der Aufstieg des Faschismus führten zu einem ernstlichen Nachdenken über die Schicksalswege Europas in einer sich wandelnden Welt. Die Wirkungen der Russischen Revolution von 1917 verschärften diese Ängste, und europäische Denker, Politiker und religiöse Autoritäten wandten sich zunehmend der »roten Gefahr« und ihrer Herausforderungen für – religiöse wie weltliche – Identitäten zu. Überall in Westeuropa erklangen Aufrufe zur Verteidigung der bedrohten europäischen Zivilisation. Liberale, Nationalisten, christliche Konservative und selbst Sozialisten warnten vor der unheilvollen Drift, die den Kontinent erfasst habe.

Die radikale Rechte nutzte den Alarmismus für ihre eigenen Zwecke. Italienische Faschisten sangen das Lied von der gefährdeten Zivilisation, um Mussolinis Machtstellung und seine imperialen Träume zu legitimieren, besonders im Zusammenhang mit der Invasion Abessiniens 1935. Beschwörungen der Zivilisation erlebten im Zweiten Weltkrieg eine Hochphase, als der Kampf der Alliierten gegen den Nationalsozialismus routiniert zum »Krieg für die Zivilisation« erklärt wurde. Ebenso unumwunden erklärte sich NS-Deutschland zum großen Verteidiger von europäischer Kultur und Zivilisation gegen angloamerikanischen Materialismus, sowjetische »Barbarei« und eine vermeintlich von den Juden beherrschte Welt.16

Krise und Selbstbeherrschung

Was das Verständnis von Zivilisation im 20. Jahrhundert von früheren Zeiten unterschied, war die ausdrückliche Bezugnahme auf eine kulturelle Krise. Nicht zufällig schrieben die für die Idee der Zivilisation wichtigsten Autoren – Lucien Febvre, Joachim Moras, Norbert Elias, Toynbee und natürlich der späte Freud – in den Dreißigerjahren. Im Großbritannien der Zwischenkriegsjahre stand »Zivilisation« im gesamten politischen Spektrum für eine vergangene Epoche, den Begriff färbte oft die nostalgische Sehnsucht nach der Belle Époque. Man verwies auf den prekären Zustand der Zivilisation, der sich aus dem Chaos nach dem Großen Krieg, einer gefährlichen Instabilität des Kapitalismus, den Ängsten vor »rassischer« Degeneration und der Erwartung eines weiteren Krieges ergebe. Ein Briefwechsel zwischen Sigmund Freud und Albert Einstein über die Frage WarumKrieg? erschien 1933 und enthielt Einsteins Bemerkung, dass die Kriegsgefahr eine »Existenzfrage für die zivilisierte Menschheit« sei. Nach dem Sieg des Nationalsozialismus in Deutschland 1933 diagnostizierte eine Reihe von Büchern »die Wiederkehr der Barbarei«. 1939 erschien eine Auswahl von Schriften Freuds unter dem Titel Civilisation, War and Death (Zivilisation, Krieg und Tod).17

Nach dem Zweiten Weltkrieg avancierte die in Bedrängnis geratene Zivilisation wie schon nach dem Ersten Weltkrieg zu einem Hauptthema der politischen Debatte, wobei das auf 1945 folgende Kapitel später vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit erhielt. Beide Nachkriegskonstellationen zeichneten sich durch ein offeneres Verhältnis zu Emotionen aus – und standen damit in vollem Gegensatz zu traditionellen Konzepten von Zivilisation, welche die Kontrolle und Selbstkontrolle von Gefühlen, besonders von heftigen und leidenschaftlichen, unterstrichen hatten. Ungehemmte Gefühle waren mit Barbarei gleichgesetzt worden, mit Gewalten, die es zu zähmen und zu beherrschen galt. Für die schottischen Aufklärer wie auch für Thomas Hobbes war dies ein zentraler Punkt gewesen, der, etwa in Benimmratgebern, noch bis in die 1950er-Jahre einen Nachhall fand. Auch im 19. Jahrhundert hatten Konzepte von Persönlichkeit, Gesellschaft und Staat vorgeherrscht, die auf einem strengen Emotionsmanagement beruhten. Im 20. Jahrhundert – und gerade nach 1945 – hingegen trat dieser Anspruch zurück. Die zweimalige Neuformulierung von Zivilisation verband sich eng mit dem nunmehr gestatteten Ausdruck von Emotionen wie Mitleid und Verachtung, Hoffnung und Angst, Stolz und Scham, Wut und Trauer. Höflichkeit und Zivilisation waren, wie schon in früheren Jahrhunderten, noch immer Appelle zur Transformation, doch verlieh nun die Erfahrung extremer Zerstörung und äußersten Verlusts den Träumen vom Wiederaufbau emotionale Kraft und moralisches Gewicht. Zwar nahmen diese Reforminitiativen verschiedenste Formen an, doch teilten sie alle die selbstverständliche Überzeugung, dass es sowohl möglich als auch notwendig sei, Europa und die Europäer nach Hitlers Niederlage umzugestalten.18

Reflektierende Studien zur Zivilisation hingegen waren für Jahrzehnte interessierten Vertretern der Ideengeschichte vorbehalten, die den Begriff in erster Linie dazu heranzogen, die Expansion und die Rechtfertigung europäischer Herrschaft in Übersee zu beschreiben. Und Rechtstheoretiker behandelten den Aufstieg und Fall des Völkerrechts als »sanften Zivilisierungsfaktor« in den internationalen Beziehungen.

Die unterschätzte Rolle einer geschmähten Idee

Das vorliegende Buch belässt die Geschichte der Zivilisation nicht innerhalb der Grenzen des Völkerrechts und zeigt, welche bedeutende Rolle sie in den öffentlichen Debatten Nachkriegseuropas spielte. Im Unterschied zu den beeindruckenden Überblickswerken zur politischen Geschichte Europas nach 1945, die Tony Judt, Mark Mazower, Konrad Jarausch und Ian Kershaw vorgelegt haben, geht es nicht nur um West- und Osteuropa, sondern auch um die Kolonialreiche, internationale Organisationen, die Entkolonisierung und den Multikulturalismus. Erzählungen zu Europa nach 1945, die sich auf die wirtschaftliche Erholung, die politische Stabilität und die Spaltung im Kalten Krieg beschränken, vernachlässigen diese zentralen kulturellen Entwicklungen, während sich die meisten kulturhistorischen Darstellungen allein auf die Amerikanisierung und Sowjetisierung der europäischen Kultur konzentrieren. Aus dieser breiten Perspektive ergibt sich eine Mischung aus Politik-, Geistes- und Kulturgeschichte, die Religion, Wissenschaft, Fotografie, Architektur und Archäologie einbezieht. Neue Vorstellungen von Zivilisation brachten neue kulturelle Landkarten Europas hervor, welche die in der Entkolonialisierung umdefinierten Beziehungen zwischen West- und Osteuropa einerseits und zu den europäischen Gebieten in Übersee andererseits verzeichneten. Ruin und Erneuerung nähert sich der europäischen Nachkriegsgeschichte nicht als einer Erzählung über die Herrschaft der Supermächte oder als Sammlung einzelner Nationalgeschichten, sondern vollzieht nach, wie die Rede von der Zivilisation Eliten und einfache Bürger in die Lage versetzte, Sinn und Bedeutung Europas unter politischen Verhältnissen, die sie sich oftmals nicht ausgesucht hatten, umzugestalten.19

Dieses Buch erzählt keine selbstzufriedene Geschichte darüber, wie die Europäer lernten, friedlich zusammenzuleben, und ein glanzvolles, friedliebendes Reich auf den rußgeschwärzten Trümmern der Vergangenheit errichteten. Die Befriedung Westeuropas ist für sich genommen zweifellos eine bemerkenswerte Geschichte, und die Verleihung des Friedensnobelpreises 2012 an die Europäische Union als der Hüterin dieses Friedens ist sicher nicht das letzte Kapitel in dieser ermutigenden Erzählung vom rezivilisierten Europa. Bis heute berichten viele Studien zu Europa im 20. Jahrhundert von einer Zweiteilung: Die erste Hälfte des Jahrhunderts sei von Krieg, Zerstörung, Krise und Revolution gekennzeichnet gewesen, während die zweite als Narrativ von erzwungenem Frieden, politischer Stabilität und wachsendem Wohlstand in beiden Blöcken daherkommt. Diese Charakterisierung ist jedoch zu einfach, da der sich wandelnde Gebrauch von »Zivilisation« auf größere politische Transformationen verweist.

Der Ausgangspunkt ist, wie verschiedene gesellschaftliche Gruppen Zivilisation verstanden und wie sie handelten, um sie in einer gefährlichen Welt zu beschützen, oft zusammen mit verwandten Begriffen wie Erbe, Tradition, Humanität und sogar Demokratie. Der geografische Fokus der Analyse geht über die typischerweise ausschließlich westliche Begriffsgeschichte hinaus und betrachtet den gesamten Kontinent sowie Europas ehemalige afrikanische Kolonien, wo das Konzept von den unabhängigen afrikanischen Staaten angepasst wurde. In den späten Sechzigerjahren schlug die Ideologie der Zivilisation in neuen und gefährlichen Erscheinungsformen auf Kontinentaleuropa zurück.

Die einzelnen Kapitel des Buchs thematisieren verschiedene Aspekte der Frage, warum die neue Mission der Zivilisation für so viele so lange so viel bedeutete. Sie beleuchten, wie und warum die kulturellen Kämpfe einer gar nicht so fernen Vergangenheit noch immer das heutige Europa und sein Verhältnis zur übrigen Welt beeinflussen. Sie betrachten, wie Deutschland in den Vierziger- und Fünfzigerjahren neu geschaffen wurde, und handeln von Ruinen, Flüchtlingen und Nothilfe, von Völkerrecht und militärischer Besatzung. Naheliegenderweise lieferte der Umgang mit dem unterlegenen Deutschland – mit seinen Anführern, seinen Opfern, seinem zerschlagenen Imperium – den Rahmen für die Diskussion der Alliierten über die Rezivilisierung des Kontinents, dessen Befriedung dazu beitrug, den Kalten Krieg kalt zu halten.

Am dramatischsten stach das Schicksal Europas während jener wegweisenden Jahre in Deutschland ins Auge. Hatte seine imperiale Macht 1942 ihren Zenit erreicht, so lag es nur drei Jahre später in totaler Niederlage, materieller Zerstörung und militärischer Besatzung darnieder. Sein Status als aufgeteiltes Land blieb zwar auf wenige europäische Länder beschränkt, doch galt der neue »koloniegleiche« Status Deutschlands als emblematisch für die Geschicke des Kontinents, der nun in zwei von den Supermächten beherrschte Hälften zerfiel. Daraus entstand etwas Einmaliges: Von 1945 bis 1955 war Westeuropa zugleich Imperium und Kolonie, und Zivilisierungsmissionen aller Art waren prägend für jede dieser beiden Dimensionen.

Die erhebliche Akzeptanz des Begriffs in Westeuropa hing direkt mit diesem widersprüchlichen Zustand des Kontinents 1945 zusammen. Noch während auswärtige Streitkräfte für Ordnung sorgten, verlangten Frankreich, die Niederlande und Belgien, die unter nationalsozialistischer Besatzung gelitten hatten, außerhalb Europas ihre Kolonialreiche mit dem Verweis auf ihre Zivilisierungsabsichten zurück. Bekanntlich waren die Franzosen am 8. Mai 1945 damit beschäftigt, einen Aufstand im algerischen Sétif niederzuwerfen, was freilich kein vereinzeltes Ereignis war und aufzeigte, dass diese besiegten europäischen Mächte sich ihre zerbrechenden Imperien zurückzuholen gedachten.

Die Spaltung der Welt und eines Begriffs

Nicht weniger wichtig waren die Visionen, die ein kämpferisches Christentum von der Wiederbelebung Europas hegte. In den Vierzigerjahren meldeten die Kirchen neuerlich – angetrieben von der wiedererstehenden katholischen Kirche unter Papst Pius XII. – eine Führungsrolle an, indem sie die kulturellen Grenzen des Kalten Kriegs anhand von Glauben, Christdemokratie und einer neuen Identität des Westens festlegte. Die Verteidigung der christlichen Zivilisation – oder gar der jüdisch-christlichen Zivilisation – war für diese Mission von zentraler Bedeutung. Konservative westeuropäische Ideen vom Wiederaufleben des im Mittelalter wurzelnden Abendlandes halfen, die konfessionellen Spaltungen zwischen Katholiken und Protestanten zu bewältigen und gegen den »gottlosen« Kommunismus zu streiten, aber auch, eine übermäßige Einflussnahme aus Amerika abzublocken.

Darüber hinaus bedienten sich die militärischen und kulturellen Behörden der USA eines säkularen Ideals westlicher Zivilisation, um Nordamerika und Europa in einem neuen transatlantischen Bündnis zusammenzufügen, wie die Marshallplan-Hilfe und das Eingreifen in den Griechischen Bürgerkrieg Ende der Vierzigerjahre am klarsten belegen.

Die Zivilisation wurde jedoch nicht nur dazu herangezogen, Westeuropa von seinem östlichen Gegenstück abzugrenzen, sondern diente gelegentlich dazu, die Teilung im Kalten Krieg zu überwinden. Naturwissenschaft, Friedensbewegungen, Wohnarchitektur und Benimmhandbücher bieten Beispiele für Parallelen und sogar für Kooperation. Der Beginn der atomaren Kriegsführung entzündete in Europa eine lebhafte Diskussion über die Auswirkungen Hiroshimas auf das Verständnis von Zivilisation und ließ eine Reihe von gleichgesinnten Organisationen und Friedensbewegungen beiderseits des Eisernen Vorhangs entstehen, die sich die »Zivilisierung« der Wissenschaft zum Ziel setzten und sie zu einem Quell des Friedens und der internationalen Zusammenarbeit umgestalten wollten.

Weitere Aufmerksamkeit erhalten in diesem Buch zentrale gesellschaftliche Themen: das Wohnen, der Primat der Familie, Bücher über Umgangsregeln und die Besorgnis über die Durchsetzung der »amerikanischen Zivilisation« sowohl in West- als auch in Osteuropa. Deutlich wird auch, wie internationale Organisationen im Namen der Zivilisation manche Spaltung des Kalten Krieges überbrückten. Insbesondere die UNESCO – ein internationaler Akteur ersten Ranges – handelte das neue Konzept einer »Weltzivilisation« aus, die auf der Idee einer gemeinsamen universalistischen Vergangenheit, des Welterbes und auf den Sozialwissenschaften gründete. In all diesen Beispielen trat die Zivilisation als ein friedlicheres und weniger elitäres Konzept des universellen, materiellen Fortschritts hervor, was sie von ihren Vorläufern aus dem 18. und 19. Jahrhundert absetzte.

Afrikas Ringen um die Zivilisation

Während sich die erste Hälfte des Buchs auf Europa konzentriert, wendet sich der zweite Teil dem sich wandelnden Platz des Kontinents in der Welt zu. Der Fokus liegt auf den Imperien in Übersee, der Entkolonisierung und den in beiden Lagern des Kalten Krieges spürbaren Herausforderungen durch den Multikulturalismus in den Siebziger- und Achtzigerjahren. Dass Europa seine Gebiete in Übersee verlor, erforderte eine grundlegende Transformation der asiatischen und afrikanischen Geschichtsschreibung wie auch der europäischen selbst, wobei neue Konzepte von Zivilisation diesen politischen Umwälzungen auf beiden Seiten Sinn gaben. Wie wir sehen werden, spielte Afrika bei der Verschiebung der begrifflichen Grenzen eine besondere Rolle und beeinflusste die Vorstellung von Europa gleichermaßen aus imperialer, antiimperialer und postimperialer Perspektive. Ghana, Algerien und der Senegal waren Pioniere in dieser Entwicklung. Dort und anderswo kehrten afrikanische Eliten, die nach Unabhängigkeit und neuen nationalen Identitäten strebten, die Rhetorik von der europäischen Zivilisation um. Sie schufen eine neue Version einer präkolonialen afrozentrischen Zivilisation und lieferten damit einen Schlüssel für eine genuin afrikanische Modernisierung und Souveränität.

Diese nunmehr unabhängigen afrikanischen Länder waren nicht die einzigen außerhalb des Westens, die ein Interesse an der Umwidmung der Zivilisation für eigene politische Zwecke hatten. Ein solches hatten auch die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten, deren Gebrauch des Zivilisationsbegriffs die sich entfaltenden Beziehungen zwischen Osteuropa und der übrigen Welt widerspiegelte. Zwar mobilisierten die Sowjetideologen die Rede von der bedrohten Zivilisation anlässlich des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher, doch angesichts der intensiven westlichen Nutzung des Begriffs in den ersten Jahren des Kalten Krieges neigten Kommunisten dazu, die westliche Zivilisation als rein ideologische Fassade für Barbarei, Heuchelei und Imperialismus abzutun. Kommunistische Regime griffen dementsprechend kaum auf die Rhetorik von der Zivilisation zurück und bevorzugten zunächst andere mobilisierende Begriffe – Humanismus, Gerechtigkeit, Würde und Solidarität –, um für die Tugenden der sozialistischen politischen Kultur zu werben.

Der Neologismus »sozialistische Zivilisation« avancierte dann in den Sechzigerjahren zu einer gebräuchlichen Selbstbezeichnung des sozialistischen Lagers, um dessen neue Rolle im Verhältnis zu Asien und Afrika zu bestimmen. Damals ergriffen die Sowjetunion und kleinere osteuropäische Länder eine Reihe ganz unterschiedlicher Initiativen, um solidarische Beziehungen zu voraussichtlichen sozialistischen Partnern in den Entwicklungsländern, besonders in Afrika, aufzubauen. Osteuropas Modernisierungskreuzzug entwickelte sich zu einer sozialistischen Variante der Zivilisierungsmission.

Dieses Buch gibt den vielen Menschen eine Stimme, die sich anstecken ließen vom Fieber des Wiederaufbaus, das weder an den Frontlinien des Kalten Krieges haltmachte noch die ehemaligen Kolonien aussparte und den Blick auf Erneuerung und Reform lenkte. Unter ihnen waren Kriegstreiber und Pazifisten, Denkmalschützer und liberale Modernisierer, Wissenschaftler und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, christliche Konservative und Kommunisten, Nationalisten und Internationalisten, außerdem europäische Imperialisten und afrikanische Antiimperialisten. Sie alle versuchten auf unterschiedlichen Wegen, in der Niederlage und Spaltung Europas einen Sinn zu erkennen und ein neues Verständnis von Zivilisation zu formen, das dem kaputten Kontinent Frieden und Fortschritt bringen sollte. Es geht nicht nur darum, wie europäische Intellektuelle über die fundamental veränderte Basis des Zivilisationsbegriffs philosophierten, sondern um ganz praktische Reforminitiativen, wie sie die Aufgabe, die Zivilisation wiederherzustellen, nun einmal erforderte. Einige betrachteten sie als singulär und universell, andere als plural und begrenzt gültig. Doch alle diese Strömungen machten sich daran, Europa aus den Trümmern von Nationalsozialismus und Krieg neu zu errichten. Der Wettstreit um die Zivilisation veranlasste vielfältige Stimmen in beiden Lagern des Kalten Krieges dazu, für ihre Antworten auf die Fragen der Zeit zu werben, Fragen vor allem zu Krieg und Frieden, Religion und Wissenschaft, Recht und Wiederaufbau, Imperialismus und antikolonialistischer Befreiung, Kommunismus und Antikommunismus.

Bedrohung von außen, Bedrohung durch sich selbst

Als 1989 die kommunistischen Regime zu zerfallen begannen, schien die Zivilisation nach transatlantischem Verständnis gesiegt zu haben. Die nach 1989 auf dieser Grundlage beschworene Rückkehr Europas und seines gemeinsam geteilten Verständnisses von Zivilisation und Zivilisierungsmission ist einerseits Realität geworden, andererseits fragiler als von vielen erhofft.

Heute erklingen neuerlich schrille Aufrufe zur Verteidigung der Zivilisation, doch wie es dazu kam, verstehen wir nicht recht. Unter anderem tun wir uns deshalb so schwer zu begreifen, was da vor sich geht, weil wir den Begriff der Zivilisation zu hassen lieben. Wenn er in Büchern oder der Presse Verwendung findet, dann beinahe immer in ironischen Anführungszeichen oder begleitet von einem unfreundlichen »sogenannt«. Solche rhetorischen Strategien dienen dazu, jeden belastenden Zusammenhang zwischen dem Sprecher und dem Wort zu leugnen. Es gibt gute Gründe für Distanzierung und moralische Missbilligung, bedenkt man das Erbe des Begriffs: Elitismus im 18. Jahrhundert, Imperialismus im 19. Jahrhundert, dazu Rassismus und religiöse Intoleranz, die in unzähligen Gestalten bis heute fortbestehen.

Die radikale Aneignung durch heutige Konservative und Neofaschisten lenkt davon ab, wie Zivilisation zu einem einigenden Aufruf für den Bau eines besseren Europa wurde, häufig im Namen von Frieden, Gerechtigkeit, Entkolonisierung und Multikulturalismus. Rechte Kampagnen, die neuerlich Anspruch auf die Zivilisation erhoben, fanden zweifellos statt und wurden von einem erstarkenden Christentum, Verteidigern des Imperialismus und dem Antiamerikanismus getragen. Doch sie stießen auf entgegengesetzte und ebenso mächtige Ansprüche auf das neue Europa, die Liberale, osteuropäische Sozialisten, Radikale aus der Dritten Welt, Denkmalschützer der UNESCO und andere Reformer vertraten. Unter dem Dach der inner- und außereuropäischen (Re-)Zivilisierungsmission fanden zahlreiche politische Narrative darüber Platz, wie Europa und die Welt kulturell imaginiert und (re)organisiert werden sollten.

Das reiche und widersprüchliche historische Erbe der Zivilisation haben wir auch deshalb aus den Augen verloren, weil diese nach Ende des Kalten Krieges zu einer groben und kurzschlüssigen Erklärung für politische Konflikte umfunktioniert wurde. Es gibt etliche Politiker, die nicht müde werden, wegen der (angeblichen) Belagerung der europäischen Zivilisation, ihrer Bedrohung von außen, Alarm zu schlagen. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán erklärt oftmals, dass Flüchtlinge aus Syrien und anderen Konfliktherden des Nahen Ostens die christlichen Wurzeln Europas gefährdeten und »die Zivilisation Europas« für immer verändern würden. Politiker in vielen anderen europäischen Staaten äußern ähnliche Befürchtungen darüber, dass Europas fragile Grenzen, seine kulturelle Identität und »christliche Zivilisation« sich in tödlicher Gefahr befänden.

Präsident Wladimir Putin beruft sich auf die »eigenständige Zivilisation« Russlands, um die amerikanisch geprägte Globalisierung zurückzuweisen und die militärische Expansion in der Ukraine zu rechtfertigen. Nicht weniger beunruhigend ist der in den letzten Jahren anschwellende rassistische Fanfarenschall, der die radikale Rechte in Europa und Nordamerika dazu aufruft, die »weiße Zivilisation« zu verteidigen. Regelmäßig wird das Schlagwort von der »Zivilisation in der Krise« angestrengt, auch weil seine Bedeutung elastisch genug ist, um – je nach Zusammenhang und vermeintlicher Gefahr – säkulare, christliche, internationale oder nationale Anliegen einzuschließen.20

Doch nicht nur von außen erscheint die Zivilisation gefährdet. Eine entscheidende Bedrohung ist eine Zivilisation, die ihrem eigenen Anspruch nicht gerecht wird: Nach dem Schock des 11. September zog sich der »Kampf für die Zivilisation« im Kontext des »Krieges gegen den Terrorismus« durch die Reden der republikanischen US-Präsidenten George W. Bush und Donald Trump. Genau 20 Jahre später sollte der Abzug amerikanischer Truppen aus Afghanistan ein Symbolbild für den Erfolg der Zivilisierungsmission werden. Doch dieser Abzug von Soldaten aus zahlreichen Ländern, allen voran der Amerikaner, endete in einem Desaster. Im Handstreich eroberten radikale Taliban das Land zurück, in dem doch seit 20 Jahren eine so bezeichnete Zivilisierungsmission im Gange war. Menschenrechte, Demokratie und moralische Werte – sie sind in Kabul und anderswo gescheitert. Diese Entwicklung stellt gewichtige Fragen, zuallererst: Wird sich die Zivilisation von ihrem Versagen erholen? Das bleibt abzuwarten. Aber es besteht Hoffnung, denn wenn sich eines aus Ruin und Erneuerung lernen lässt, dann ist es das: Der Zivilisationsbegriff ist wandelbar.

In einer Ära, in welcher die Schlagzeilen das Auseinanderfallen Europas über zivilisatorische Fragen ankündigen, wendet dieses Buch seinen Blick zurück zu der radikalen Rekonstruktion des Kontinents im Schatten einer viel größeren Krise als heute: Zu zeigen, wie und warum der alte und viel geschmähte Glaube an die Zivilisation dabei half, Europas Erbe zu kartieren, zu erhalten und seine Identitätskrise besser zu verstehen, ist dabei mein wichtigstes Anliegen.

Ruin und Erneuerung bietet eine alternative Geschichte der Neuerschaffung Europas nach 1945, die das beschädigte und umkämpfte kulturelle Erbe des Kontinents in den Mittelpunkt stellt. Nachdem Europas Zivilisierungsmission im Namen von Fortschritt und Entwicklung zuvor in alle Winkel der Erde exportiert worden war, kehrte diese Mission mit dem Kriegsende an ihren Ursprungsort zurück. Bis Ende der Vierzigerjahre war Europa in einem Zeitalter der Spaltung und Entkolonialisierung ein vorrangiges Testgelände für den »Prozess der Re-Zivilisation« geworden. Der politischen und kulturellen Restauration des Kontinents hatten zwar die Supermächte auf sehr ungleiche Weise zum Durchbruch verholfen, doch waren es die Europäer selbst, die den eigenen Ort in der Geschichte und in der Welt aus neuen Perspektiven heraus bestimmten. Die Zivilisation gewährte dabei einen Zugang zum Nachdenken über Europa jenseits des Nationalstaats – und auch heute bietet der Begriff einen überaus hilfreichen Ansatz zur Interpretation der europäischen Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg.

Erstes Kapitel: Spenden statt Waffen

Im Juli 1945 reiste der englische Dichter Stephen Spender mit einem Sonderauftrag von Frankreich nach Deutschland. Er hatte während der letzten Jahre der Weimarer Republik in Hamburg und Berlin gelebt und war seitdem nicht wieder dort gewesen. Nun betrat er Deutschland als Offizier der alliierten Kontrollkommission in der britischen Besatzungszone mit der ungewöhnlichen, auf sechs Monate angelegten Aufgabe, »etwas über das Leben und Denken der deutschen Intelligenz zu erfahren und zu erkunden, ob es überhaupt noch literarische Talente gab, die überlebt hatten«, und »mir ein Bild vom Zustand deutscher Bibliotheken zu machen«. Er schrieb ein Tagebuch über seine Mission, das schon 1946 unter dem Titel European Witness (Deutschland in Ruinen) erschien und einige der ersten Reflexionen eines Augenzeugen über das verwüstete Europa lieferte. Nur wenige Jahre zuvor, 1942, hatte Spender den Gedichtzyklus Ruins and Visions veröffentlicht, der persönliche Erfahrungen mit Themen wie Luftangriffen, der nationalsozialistischen Besetzung Frankreichs und dem Tod selbst verband, aber nichts hatte ihn auf den erschütternden Anblick der gewaltigen Trümmerfelder vorbereitet. Das Stadtbild Kölns – oder was davon übrig war – überwältigte ihn: »Beim ersten Durchfahren schien es mir, als sei dort auch nicht ein einziges Haus übrig geblieben.« Die verkohlten, geborstenen Mauern seien »wie dünne Masken vor der feuchten, hohlen, stinkenden Leere ausgewaideter [sic] Innenräume«. Nicht weniger verstörend war, dass die Trümmer zugleich die Verfassung der Überlebenden beschrieben: »Die Verheerung der Stadt spiegelt sich in der inneren Verheerung ihrer Bürger«, die »eher einem Stamm von Nomaden [gleichen], die inmitten einer Wüste eine Ruinenstadt entdeckt und dort ihre Lager aufgeschlagen haben, in ihren Kellern hausen und zwischen den Trümmern nach Beute suchen, Überresten einer toten Zivilisation«.21

Für Spender sprach aus den qualmenden Überresten der bombardierten Städte viel mehr als der Flammentod von Hitlers Reich. Diese »Leichenstädte« seien »Errungenschaft unserer Zivilisation«, deren Ruinen »die von unserem Jahrhundert geschaffene Gestalt« seien, »so wie das Mittelalter sich seine Gestalt in der gotischen Kathedrale schuf«. Spender gestand, deprimiert von dieser obszönen »Gestalt« zu sein, und dass seine Bedrückung untrennbar mit der noch quälenderen Sorge verbunden war, dass »aus der Zerstörung Deutschlands die Zerstörung ganz Europas erwachsen könnte. […] Während ich durch die Straßen Bonns ging und der Wind mir nach Verwesung riechenden Trümmerstaub in die Nase trieb, der wie Pfeffer brannte, hatte ich das Gefühl, die Schutzmauern unserer Zivilisation seien so dünn wie Eierschalen und könnten an einem einzigen Tag fortgeblasen werden.«22

Spender war keineswegs der Einzige, der im Europa der sogenannten Stunde Null vom Untergang der Zivilisation sprach. Für ihn und für andere hatte die Beschwörung der Zivilisation nichts von den romantischen Betrachtungen eines zerfallenden kulturellen Erbes, wie sie das frühe 19. Jahrhundert oft angestellt hatte. Wir werden sehen, dass diese Narrative von einem überwältigenden Schock und Bruch handelten. Bis ins Detail zeichneten sie den Kollaps der Macht und der kulturellen Stärke Europas. In der gewaltigen Zerstörung lag auch ein Aufruf zum Handeln. Dieses Kapitel schaut auf Beobachter von außerhalb, auf Nothelfer und das internationale Personal der United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA), die gleich nach dem Krieg an vorderster Linie materielle und moralische Wiederaufbauarbeit leisteten, und darauf, wie sie über ein in Trümmern liegendes Europa Zeugnis ablegten. Dies war nicht irgendeine nebensächliche Entwicklung – es ging um die vollständige Umkehrung der Zivilisierungsmission Europas. Der Kontinent, für lange Zeit und in allen Teilen der Welt die kraftvolle missionierende Macht, war nun selbst ein Schauplatz eifriger missionarischer Tätigkeit und Objekt der Einflussnahme von außen. Auswärtige Hilfsorganisationen, religiöse wie weltliche, standen denen bei, die unter der Besatzungsherrschaft der Achsenmächte gelitten hatten; die UNRRA errichtete Niederlassungen in 16 europäischen Ländern und versorgte Displaced Persons (DPs) in Deutschland, Österreich, Frankreich und Italien. Diese üppig ausgestatteten Niederlassungen waren in der unmittelbaren Nachkriegszeit kühne Experimente des Internationalismus und wurden bald zu einem Quell von Konflikten und Kontroversen. Der Kalte Krieg – sein Beginn wird üblicherweise mit der Truman-Doktrin 1947 oder der Berlin-Blockade 1948/49 angesetzt – nahm bereits in den DP-Camps Gestalt an. Ausländische Freiwillige der religiösen Wohlfahrtsorganisationen und der intergouvernementalen Institutionen waren unter den Ersten, die vom Nachkriegseuropa erzählten, dort fotografierten und zugleich an ihm arbeiteten. Ihr Werk war wesentlich für den moralischen und materiellen Wiederaufbau des Kontinents.

Die Geografie der Zerstörung

Das Elendsjahr 1945 war eines der Bestandsaufnahme, die durch die Berge von Schutt, Asche und Leichen nur zu offensichtlich eingefordert wurde. Ganze Städte waren ausgelöscht; Guernica, Rotterdam, Caen, Coventry, Leningrad, Dresden und Warschau wurden zur architektonischen Signatur der Ära des totalen Krieges. Über 90 Prozent der Wohnbebauung Warschaus waren so schwer beschädigt, dass eine Wiederherstellung unmöglich war. Minsk, Budapest, Kiew und Charkow hatten ein ähnliches Schicksal erlitten, ebenso gegen Ende des Krieges viele deutsche Städte. Und doch nahm Berlin einen besonderen Platz in der Geografie der Zerstörung ein. Der amerikanische Auslandskorrespondent William Shirer sah in Berlin »[s]o weit das Auge reicht, in allen Windrichtungen nur Zerstörung und Trümmer, dazwischen ausgebrannte Häuser ohne Dach, die im Licht der niedrigstehenden Nachmittagssonne wie kleine Mausefallen wirken«. Tod, unheimliche Stille und ein Gefühl der Endgültigkeit bestimmen die zeitgenössischen Berichte über das besiegte Deutschland. Einen britischen Soldaten traf in Berlin die »Stille, die über allem lag«, in der Menschen »mit gedämpfter Stimme sprachen, als fürchteten sie, die Toten unter dem Schutt zu wecken«. Oft nicht ohne Befriedigung bemerkten sowjetische Korrespondenten, dass Berlin ein »Chaos aus riesigen Kratern und rußgeschwärzten Steinen, zerbrochenem Beton, verbogenen Stahlträgern und gesplittertem Glas« war.23

Die Beobachter empfanden die Zerstörung schlicht als unverständlich, nicht zuletzt hinsichtlich des radikal gewendeten Schicksals der Deutschen und Deutschlands. Shirer fragte in seinem Berliner Tagebuch am 3. November 1945, fast sechs Monate nach dem Ende der Kämpfe: »Wie soll man Worte finden, um das Bild einer bis zur Unkenntlichkeit zerstörten großen Hauptstadt wahrheitsgetreu und genau zu schildern?« Wie sollte man die Angehörigen der einst hochmütig selbstgewissen »Herrenrasse« beschreiben, die »man nun in den Ruinen herumstochern sieht, gebrochen, betäubt, zitternd; hungrige menschliche Wesen ohne Willen, Lebenszweck, Ziel, reduziert auf animalische Funktionen wie Nahrungs- oder Obdachsuche, um den nächsten Tag lebendig zu erleben?«. Janet Flanner betonte im New Yorker, wie sehr sich der Zweite Weltkrieg von seinem Vorläufer unterschied: »Die Niederlage im letzten Krieg hat Deutschland keinen Stein gekostet. Diesmal ist der Zerstörer selbst zerstört worden.« Cornelia Stabler Gillam war eine junge Quäkerin aus Philadelphia, die herüber nach Europa gekommen war, um in Kantinen der US-Armee Klavier zu spielen. Sie beschrieb ihren Eltern die zerstörte Domstadt Aachen in einem Brief vom Juni 1945: »Menschen kriechen wie Ratten aus den zertrümmerten Gebäuden, in denen sie leben. […] Ich hatte Angst, dass ich weinen würde, und wusste, dass es missverstanden würde. Ich würde nicht um die Deutschen weinen, sondern um die ganze Welt.«24

Auch deutsche Autoren, besonders heimkehrende Exilanten, erfassten Schock und Verwirrung. Klaus Mann, der als Reporter der US-Militärzeitung Stars and Stripes in sein geliebtes München zurückkehrte, schilderte seine Fassungslosigkeit und Verzweiflung: »Was einmal als die schönste Stadt Deutschlands galt, […] hat sich in einen riesigen Friedhof verwandelt. […] Nur mühsam fand ich meinen Weg durch die einst vertrauten Straßen.« Theodor Plievier, der im Frühjahr 1945 von Moskau nach Deutschland reiste, erzählte von einer »gespenstisch verändert[en]« Stimmung in Dresden, »[e]ine Düne aus Backsteinbrocken und geronnenem Mörtel, dahinter wieder eine Düne und wieder«. In seiner Notiz »Fahrt durch die Ruinenstadt« deutete Arnold Zweig die Trümmer als »Rückschläge des totalen Krieges«, als grausames quid pro quo: »Von hier aus wurde er losgelassen, hunderttausend Kehlen brüllten im Sportpalast ihr ›Ja‹ zu ihm – und hunderttausend Häuser liegen deshalb hier in Trümmern, einschließlich jenes Sportpalastes selbst. Der Redesport der Herren Hitler und Goebbels kam Berlin teuer zu stehen.« Für Zweig und andere stellte die Zerstörung Berlins die angemessene Vergeltung für die von der nationalsozialistischen Kriegsmaschinerie entfesselte Gewalt dar, die in den letzten beiden Kriegsjahren nach Deutschland zurückgekehrt war.25

Berlin, Sinnbild eines vollständig verunsicherten Europas, stieß historische Reflexionen an, die, um der Verwüstung Sinn zu geben, Bögen ins Altertum schlugen. Spender näherte sich den Ruinen von Reichstag und Reichskanzlei »mit demselben Staunen, derselben angespannten Fantasie wie dem Kolosseum in Rom«. Beim Blick aus dem Flugzeugfenster über Berlin verglich Harry Hopkins, langjähriger Berater von Präsident Franklin D. Roosevelt, die Stadt mit einem »zweiten Karthago«. Der im englischen Exil lebende polnische Historiker Isaac Deutscher stellte die zerbombte frühere Hauptstadt des sogenannten Dritten Reichs neben die Ruinen des Altertums. Im Observer schrieb er 1946: »Wenn die Gebäude ihr trügerisches solides Aussehen verlieren, macht Berlin den Eindruck einer wundersam guterhaltenen Ruine des Altertums – wie Pompeij oder Ostia – in riesiger Grösse.« Solche Ruinenromantik war schon während des Nationalsozialismus ins Auge gefasst worden, als Albert Speer sehnsüchtig die noble Schönheit vorausahnte, die von seinen verfallenden Berliner Bauwerken in Jahrhunderten ausgehen würde. 1945, als das NS-Deutschland in die schweigenden Trümmer einer totalen Niederlage gesunken war, wurde Speers berüchtigte Ruinenwerttheorie brutale Realität.26