Rundgang nur mit Korb - Peter Schmidt - E-Book

Rundgang nur mit Korb E-Book

Peter Schmidt

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Beschreibung

Mai 1984. Der junge Fabrikarbeiter Axel Weber zieht mit seiner Frau Gerda und seinen Kindern Heiko und Jana von Neubrandenburg in eine Kleinstadt im Norden des Bezirks Leipzig. Dieser fremde Ort soll ab sofort die neue Heimat der Familie werden. Während sich die Kinder schnell in die Umgebung eingewöhnen, sehnt sich seine Frau nach ihrem alten Zuhause, nach ihren Eltern und Freunden. Wie kann Axel sie bei der Eingewöhnung unterstützen, wo er doch selber noch nicht richtig angekommen ist? Vielleicht würde sie ein kleiner Garten versöhnen. Ein Stückchen Erde, auf dem sie ihr eigenes Obst und Gemüse ernten könnten. Aber wie kommt man überhaupt zu einem Garten? Und woher bekommt man Gartenwerkzeuge, Pflanzen und die Baustoffe für ein kleines Häuschen? Dazu benötigt man Beziehungen. Und Beziehungen hat er nicht. Dieses Buch erzählt die wahre Geschichte eines Hindernislaufs, bei dem Axel Weber über ungewöhnliche Wege und abenteuerliche Umwege dem großen Familientraum vom eigenen Gartenparadies Stück für Stück ein bisschen näher kommt.

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Peter Schmidt

RUNDGANG NUR MIT KORB

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

WIDMUNG

Früher freuten wir uns über das,

was wir beschaffen konnten.

Heute ärgern wir uns darüber,

wenn es etwas nicht zu kaufen gibt.

Für meine deutsche Familie zur Erinnerung

Für meine italienische Familie zum Verständnis

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Man muss sich erst einmal dran gewöhnen

Wie kommt man zu einem Garten?

Werkzeug

Geräteschuppen oder Gartenlaube

Gasbetonsteine

Zement für einen Sockel

Wasser Marsch

Ein neuer Versuch

Sockelmauer und Fenster

Rosen kaufen

Eine Überraschung folgt der nächsten

Einsatz für die Gartensparte

Herbstmarkt

Ein Haus voller Möglichkeiten

Abbau für den Aufbau

Eine neue Hoffnung

Auf Abwegen zum Ziel

Ein vorläufig gutes Ende

Wie aus dem Nichts

Eine unverhoffte Möglichkeit

Die Laube wächst

Das erste Fenster

Ein erneutes Hindernis

Umwege

Licht und Schatten

1. Mai

Ein Licht geht auf

Der Durchbruch

Die neue Gartenhecke

Gartenfest

Nachtrag

1984

1. Kapitel

MAN MUSS SICH ERST EINMAL DRAN GEWÖHNEN

Freitagnachmittag. Sechzehn Uhr zehn. Axel Weber saß auf seiner dunkelblauen Simson und fuhr durch die Straßen der Stadt. Unter seinem schwarzen Ledersitz explodierte es unzählige Male. Motorengedröhn. Zwei rollende Gummireifen drückten die Stirn gegen den rauen Straßenbelag. ›Feierabend‹ dachte er. ›Endlich nach Hause‹. Er hatte sich gar nicht mehr umgezogen sondern ließ seine Arbeitssachen gleich an. Auf seiner Hose saßen ein paar ausgetrocknete Ölflecken. Sein kariertes Arbeitshemd roch nach Maschinenschmiere und hatte an den Seiten wie immer zwei schwarze Dreckstellen, die sich einstellten, wenn er die Hände in die Hüfte stemmte. Die Hände hatte er noch schnell mit Kernseife gewaschen und dann ging es nach Hause. ›In Neubrandenburg war das schlimmer mit dem Schmutz - wenigstens ein Vorteil‹. Er dachte zurück an die Zeit in Mecklenburg. Seine Heimat. Die Heimat seiner Frau Gerda. Die Kinderstube von Heiko und Jana.

Zuerst war er ein normaler Mitarbeiter gewesen, unauffällig in einem Korridor zwischen Lob und Tadel. Dann kamen sie zu ihm. »Genosse Weber, wir schlagen dich vor zum Mitarbeiter des Monats«. Er fühlte sich geehrt. Endlich hatten sie seinen wahren Wert erkannt. Den Wert des kleinen Montagearbeiters Axel Weber. Er wurde zum Mitarbeiter des Monats Januar. Er wurde zum Mitarbeiter des Monats Februar. Er hatte sein Arbeitsverhalten nicht verändert, aber auf einmal war er jemand. Er wurde gegrüßt und bekam zu spüren, dass er für den Betrieb wichtig war. Als er zum Mitarbeiter des Monats März gekürt wurde, kippte die Stimmung in der Jugendbrigade. »Was kann denn der Besonderes« fragten sich die Kollegen hinter vorgehaltener Hand. Er wurde ausgeschlossen von Pausenrunden, in denen die Arbeitskameraden mitgebrachte Bouletten und Brötchen verteilten und sie genüsslich und mit viel Senf zu sich nahmen. Auf Fragen wurden die Kameraden zunehmend einsilbig und zeigten ihm, was man von einem Mitarbeiter des Monats zu halten hatte. ›Undank ist der Welten Lohn‹ dachte er. Dann rief ihn die Kombinatsleitung zu sich. »Genosse Weber, du wirst gebraucht. Ein Mann mit deiner Qualifikation.

Ein Mann mit deinem Können. Brigadeleiter. VEB1 Werkzeugmaschinenkombinat. Die benötigen dort einen ausgebildeten Montageschlosser mit besonderen Fähigkeiten. Ein sensibles Schlüsselstück unserer sozialistischen Produktion. Eine Chance für deine Karriere. Ein Schleudersitz nach oben. Da gibt es eigentlich gar nicht viel zu überlegen.« Er überlegte nicht lange. Er handelte. Sachsen. Das neue Familienheim. Weg von den Freunden. Aber eben ein Schleudersitz ganz nach oben.

Auf dem Betriebsparkplatz war bereits gähnende Leere. Am Freitag war die sozialistische Produktion eher erledigt als in der Woche. Und er, das Schlüsselstück? Wurde er hier wirklich gebraucht wie die Milch im Kaffee? Scheinbar konnte man hier auch ohne ihn und seine sensible Schlüsselstelle Feierabend machen.

Der Fahrtwind tat gut und wehte ihm die Sorgen der lauten und staubigen Produktionshalle aus seinen Gedanken. ›Man muss sich erst einmal dran gewöhnen‹.

Er musste ein paar Schlaglöchern ausweichen, als er in die Gustav-Adolf-Straße bog. Zu Beginn der Woche hatte er sich hier einmal verfahren. ›Umwege erhöhen die Ortskenntnis‹ hatte er zu sich gesagt. Jetzt fuhr er noch schnell an der Kaufhalle vorbei. Keine Schlange vor dem Eingang. Dann gab es auch nichts Besonderes. Darauf konnte er sich verlassen. Keine Menschenansammlung, keine Sonderangebote. Wenigstens das war so wie in Neubrandenburg. Wenn man höflich fragte, wann es Kasslerbraten oder frischen Hering gab, bekam er zur Antwort: »Das wüssten wir selber gern.« In Neubrandenburg kannten sie diesen und jenen und so purzelten wertvolle Informationen über den Ladentisch, die hin und wieder die Anstehzeit verkürzten. Hier kannten sie noch niemanden und auf freundliches Grüßen reagierten die Verkäuferinnen anders, als man in den Wald hineinrief. Man muss sich erst einmal dran gewöhnen.

Sein Blick fiel auf das Fahrradschloss unterhalb des Lenkers. Dort hatte sich Heiko festgehalten, als er ihn in Neubrandenburg in den Kindergarten gebracht hatte. Ein Sicherheitsgriff. Seine Erfindung. Er setzte den Blinker und fuhr in die Schmiedeberger Straße ein. Gleichmäßig leuchtete am Ende des Lenkers ein orangefarbenes Licht auf und ging wieder aus.

Auf dem Fußweg spazierte eine Familie. In weiße Wochenendklamotten geschlüpft lief der Kombinatsleiter Liedke mit seiner Frau und seinen Kinder über die staubigen Gehwegplatten. Genosse Liedke hatte am Freitag für gewöhnlich Außentermine. Das war im Kombinat bekannt. Ein Treffen mit dem Bürgermeister. Empfänge in den anderen sozialistischen Kombinatsleitern in der näheren und ferneren Umgebung. Auftritte zum Tag der NVA. Konferenzen. Parteitage. Immer freitags. Freitag haben wir sturmfrei. So wurde er von den neuen Kollegen begrüßt. ›Und der Kombinatsleiter hat sturmfrei von seiner Belegschaft‹ dachte er.

Auf Höhe des Kombinatsleiters drückte er auf die Hupe. Ein klägliches, gedrücktes und unnatürliches Geräusch löste sich irgendwo im Innern der Simson, schwappte aus und ergriff die Ohren des Kombinatsleiters Liedke. Der blickte sich um, hob zuerst mechanisch seine Hand zum Gruß. Er wurde wahrscheinlich viel gegrüßt, denn der Genosse Liedke war ja ein Jemand. Dann erkannte er den neuen Brigadeleiter Weber und sein unverbindlicher Gruß wurde durch ein erfreutes Lächeln persönlich.

Es tat gut zu zeigen, dass man bis Feierabend gearbeitet hat. Er hatte das Gefühl, einen guten Eindruck gemacht zu haben. Und der Kombinatsleiter? Hatte er nicht das Ziel vorgegeben, die Arbeitszeit voll auszunutzen? Zur Verteidigung des Sozialismus gegen die westlichen Imperialisten? ›Der schnellste Mann der Welt‹ dachte Axel. ›Um 16 Uhr Feierabend und um 15 Uhr schon zu Hause‹. Irgendwie läuft hier so einiges ganz anders. War seine Beförderung tatsächlich ein Aufstieg oder nur eine Umbuchung? Oder muss man sich vielleicht erst einmal dran gewöhnen?

*

Er fuhr in die Wohnsiedlung ein. Drei Blöcke. Baujahr 1975. Jeweils fünf Eingänge. Pro Aufgang zehn Familien. Zwischen den Wohnblöcken ein Kinderspielplatz mit Klettergerüst, Sandkasten, Schaukel und ein Platz zum Wäschetrocknen.

Er dachte an die Begrüßung des Kombinatsleiters. »Herzlich Willkommen Genosse Weber. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit. Gute Leute sind bei uns immer willkommen«. Waren die guten Leute deswegen willkommen, weil er sich dann von der Sonne des Erfolges bescheinen lassen konnte? Er, der Neue, lebte nach den Regeln, die der Leiter ausgab, aber selber nicht einhielt? Wie ein Bienenschwarm summten die Gedanken um seinen Kopf. ›Wasser predigen und Wein trinken‹. ›Wenn zwei Leute das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe.‹ Er verschluckte seine Gedanken, denn es war Wochenende. Er steuerte in eine Mopedparklücke vor dem Haus und drehte den Zündschlüssel zurück. Die Simson beruhigte sich, die gebogene Plastikfrontscheibe hörte auf zu vibrieren und der Motorenlärm verschwand in der azurblauen Atmosphäre des Nachmittags.

Sein Blick wanderte den Wohnblock hinauf. Fünfter Stock rechts. Ein kleines Vogelnest. Nicht gerade gemütlich, aber mit Fernheizung, Küche, eigenem Bad und Aussicht auf ein Telefon. »Wichtig ist, was man draus macht.« Hatte seine Frau Gerda gesagt, als sie sich die Wohnung gemeinsam anschauten.

An der überdachten Eingangstür hing eine Lampe: 13 c. Das war die Hausnummer. Immer wenn jemand nachts nach der Nummer 13 c suchte, brauchte er dazu keine Taschenlampe. Die Haustür stand weit offen. Er putzte sich die Schuhe am Stahlrost ab, das in den Türsockel eingelassen war. Er wollte keinen unnötigen Straßendreck in das Treppenhaus schleppen. Ordnung muss sein. Und wenn alle mitmachen, geht es allen besser. Eine Errungenschaft des Sozialismus. Alle ziehen am gleichen Strang. Er schloss die Tür hinter sich, denn auch das bedeutete Ordnung. Flüchtig überlas er das Schild am Informationsbrett. »Tür bitte nicht offen stehen lassen. Ab 20 Uhr bitte abschließen!« Er nickte zu sich selbst. Richtig gemacht. Ordnung muss nun mal sein. Das gefiel ihm.

Der Hausflur war von der Decke bis zur Höhe des Treppengeländers weiß gestrichen. Darunter hellblau mit weißer Wickeltechnik. In Neubrandenburg hatte er gesehen, wie die Wickeltechnik angewandt wurde. Man taucht einen Waschlappen in weiße Farbe wickelt ihn zusammen und rollt ihn von unten nach oben aus. So entstanden die Schönwetterwolken auf einem stahlblauen Frühlingshimmel. Im ersten Stock las er die Namensschilder. »Lange«; »Heinrich«. Nüchtern und anonym verrieten sie nicht, was sich dahinter verbarg. Aber man wird sich kennenlernen. Der Hausvertrauensmann stellt sie in der nächsten Woche allen Bewohnern vor.

Er musste schmunzeln, als er daran dachte, wie sie zu der Wohnung gekommen waren. Umständlich aber erfolgreich. Die Anfrage beim städtischen Wohnungsamt lief ins Leere. »Wir haben keine freien Wohnungen. Sie können aber gern jederzeit wieder nachfragen«. Die Telefonstimme der Dame war ihm damals abwesend und scheinfreundlich vorgekommen. Das Werkzeugmaschinenkombinat hatte keine Beziehungen und niemand kannte jemanden, der von einer freien Wohnung wusste. ›Scheinbar traf sich der Kombinatsleiter Liedke freitags eher selten mit den Vorsitzenden des Wohnungsamtes‹, dachte er öfter.

Er und seine Frau Gerda setzten eine Annonce in die Leipziger Zeitung. »Wir suchen eine Neubauwohnung. Mindestens zwei Zimmer, Küche, Bad. Wir bieten eine Einraumwohung in Neubrandenburg. Küche, kleines Bad.« Über zwei Monate gab es keine Resonanz. Dann kam der Brief. Frau Heller, eine ältere Dame mit einer vornehmen Handschrift, wollte zu ihren Kindern ziehen. Sie las die Anzeige in der Leipziger Zeitung im Zugabteil auf dem Weg nach Neubrandenburg. Auf dem Hauptbahnhof in Berlin hatte sie 35 Minuten Aufenthalt, bis der Zug nach Stralsund einfuhr und in der Vier-Tore-Stadt haltmachte. Sie wickelte ihre Brote aus, die sie in Zeitungspapier gepackt hatte. Dann kam der Zug und sie aß während der Fahrt weiter. Halb interessiert überflog sie die Gesuche. »Wir suchen eine Neubauwohnung. Mindestens zwei Zimmer, Küche, Bad. Wir bieten eine Einraumwohnung in Neubrandenburg. Küche, kleines Bad«, stach es ihr in die Augen.

Alles das schrieb sie in einem Brief und verschickte ihn an die Familie Axel Weber. »Ich habe eine Zweizimmerwohnung nach ihren Wünschen zum Tausch gegen eine Einzimmerwohnung in der Oststadt. Familie Weber wohnte aber nicht in der Oststadt, sondern auf dem Datzeberg. Dies war der erste Kontakt zu Frau Heller. Ein Teilerfolg. Daran musste festgehalten werden.

In der zweiten Etage las er interessiert »Pietsch«; »Müller«. Müller ist der Hausvertrauensmann. So viel wusste er schon.

Sie schrieben Frau Heller zurück an ihre jetzige Adresse. Sie würden sich um eine Wohnung in der Oststadt bemühen und einen Tauschpartner für eine Wohnung auf dem Datzeberg finden. Sie gaben eine Anzeige in der Neubrandenburger Zeitung auf. »Suchen Einzimmerwohnung mit Bad und Küche in der Oststadt und bieten Wohnung mit gleicher Ausstattung auf dem Datzeberg«. Dabei suchten sie nicht wirklich eine Wohnung in der Oststadt. Das kam den Interessenten merkwürdig, aber nicht außergewöhnlich vor.

Dritte Etage: »Hofmayer«; »Ullrich«.

Es gab Komplikationen wie bei einer schwierigen Geburt. Die Terminvorstellungen passten nicht zusammen. Sie räumten die Wohnung. Frau Heller räumte ihre Wohnung erst, als die Wohnung in der Oststadt frei wurde. Das war 14 Tage später. ›Wohin mit den Möbeln und mit der Familie?‹ Er wollte seine neue Arbeitsstelle pünktlich beginnen. Dann gab es eine Lösung: Im Aufgang 9 b gab es eine Gastwohnung. Probleme dieser Art waren bekannt und das Wohnungsamt konnte zumindest hier flexibel unterstützen. Die Möbel konnten in der Schule abgestellt werden. Es waren Ferien. Gerda ging jeden zweiten Tag in den Klassenraum 306 und goss die Blumen.

Vierte Etage: »Seifert«; »Knorrich«. Bei Knorrich sprang die Tür auf. Eine Frau mit roten Haaren und Kittelschürze tat so als putze sie den Türrahmen und grüßte freundlich: »Sie sind wohl da oben eingezogen?«

»Ja.«

»Das ist aber schön. Wenn Sie was brauchen, einfach klingeln.«

»Danke.« Er nahm gleich drei Treppenstufen auf einmal ›Neugier oder Hilfsbereitschaft? Vielleicht ein bisschen von beidem. Durch Hilfsbereitschaft getarnte Neugier‹, dachte er.

Die Möbelträger meckerten über unmögliche Arbeitsbedingungen. »Die einen Möbel rauf und die anderen Möbel runter. Und dann noch bis ganz nach oben.« Das war die Idee von Frau Heller gewesen. »Wir können uns doch die Kosten für die Umzugshelfer teilen.« Das gefiel allen außer den Möbelträgern. Aber die hatten noch genug Puste um etwas wie ›Ausbeutung des Menschen durch den Menschen sei ein für allemal abgeschafft‹ zu schimpfen. »Wir haben es uns fast gedacht, dass diese beiden Fuhren für euch zu viel sind. Das nächste Mal engagieren wir richtige Profis.« setzte Axel entgegen und schon liefen sie so gleichmäßig wie die Zahnrädchen in einem Uhrengehäuse aus Ruhla. Treppauf. Treppab. Wenn man den Handwerker an seiner Ehre packt, dann läuft er zu Fuß bis zum Nordpol, um seinen angezweifelten Ruf zu retten.

Fünfte Etage: »Schäfer«; »Weber«. Ihr neues Familienwappen bestand aus einem altgelben Klebestreifen, der mit einem roten Filzstift beschrieben war. Gerda muss es im Laufe des Tages zusammen mit den Kindern angebracht haben. Nur ein Provisorium. Das richtige Namensschild war noch in irgendwelchen Kisten verschollen.

Er klingelte und Jana machte die Tür auf. »Papa.« Sie klammerte sich um sein rechtes Bein. Er konnte sich nur noch schwer vorwärts bewegen. »Lass mich doch erst mal reinkommen.« Er zog sich seine Schuhe aus, stellte sie auf den zweiten Fußabtreter, machte einen großen Schritt in die Wohnung und zog die Tür hinter sich ran.

Gerda saß vor ein paar Umzugskartons und räumte zusammen mit Heiko die Sachen für das Kinderzimmer in die Schränke. »Heute Abend gibt es Erbsensuppe mit Brot.«

»Mit frischem Brot?«

»Nein, das Brot ist von gestern. Frisches Brot gibt es in der Kaufhalle nur um 13 Uhr. Sonst ist nur noch Brot vom Vortag übrig.« hatte Gerda herausgefunden. Warum ist das frische von gestern übrig? Wo konnte denn das frische Brot über Nacht ungestört alt werden? Warum legte man nicht alles Brot raus? Wenn du Brot von heute haben willst, musst du morgen wiederkommen. Auch wenn es sich ihnen jetzt noch nicht richtig erschloss: Es gab sicherlich wie für alles einen einfachen und nachvollziehbaren Grund. Und auch daran musste man sich erst einmal gewöhnen.

*

Das Radio knirschte, als wenn beim Umzug Sand in die Boxen geraten wäre. Schlechter Empfang. Es wurde eine Musiksendung aus dem Leipziger Funkhaus abgespielt. »Wie geht es Dir?« fragte er seine Frau Gerda, die gerade einen leeren Pappkarton zusammenfaltete und die geringelte Kugelschreiberhandschrift ihrer Mutter ›Heiko – Kinderzimmer‹ auf dem Deckel las. Diese Frage war fast überflüssig und er erwartete auch keine ehrliche Antwort, denn er konnte in ihren Augen lesen, dass sie vor Heimweh fast verbrannte. Sie hatte sich dem Wohl der Familie untergeordnet und ihr fiel es sichtlich schwer, die Chancen zu erkennen und mit gleichem Gewicht auf die Waage des Für und Wider zu legen. »Ich komme mir vor, als ob ich eine fremde Wohnung mit unseren Sachen einrichte.« quälte sie sich heraus und versuchte dabei die fließbereiten Tränen hinter ihren Staumauern zurückzuhalten. Nicht vor den Kindern. Er hatte sie aus einer Landwirtschaftsfamilie herausgeheiratet. Eine Familie, die mit ihren Äckern seit Urzeiten Stalldung gegen Kartoffeln, Rüben und Getreide tauschte. Nach dem Eintritt in die LPG2 war seinen Schwiegereltern ein Stückchen eigenes Land geblieben. Seit er Gerda kannte, hatte auch sie auf diesem Fleckchen Erdekruste gehackt, gesät, gegossen und geerntet. Es steckte in ihr drin, war ihr angeboren. Nun hoffte er darauf, dass sie in der Umgebung aus Betonplatten – einer Industriestadt mittleren Ranges - neue Wurzeln schlagen würde. Er hatte aus einem Nesthocker einen Zugvogel gemacht. Und bisher glich ihr Flug in die neue Heimat eher einer Bruchlandung. Die gemeinsame Wohnung in Neubrandenburg war wenigstens umzingelt von Grün. Unverbrauchte Natur, Wiesen, Bäume, ein See. Diese ausschweifende Landschaft war nun zu einer Aussicht auf eines der modernsten Hauskomplexe der Neubaugeneration und 45 Quadratmeter senkrechte Wände mit braunem Streublumenmuster zusammengeschrumpft. Der Umzug in die Schmiedeberger Straße 13 c stellte in viele Richtungen einen Bruch dar.

»Habt ihr schon neue Freunde auf dem Spielplatz gefunden?« Er wandte sich seinen Kindern zu. »Wir haben schon Verstecken gespielt und morgen soll ich zu Katja kommen. Die wohnt da drüben im Querblock und kommt auch in zwei Jahren in die Schule.« Er strich Jana über ihre blonden glatten Haare. Und du Heiko? »Ich habe Fußball gespielt und dann hat uns ein Mann von den Wäscheleinen weggejagt und dann haben wir im Sandkasten Burgen gebaut.« Das ist doch etwas. Kinder tun sich nicht so schwer mit Veränderungen. Einen alten Baum verpflanzt man nicht. Einen jungen Baum kann man umsetzen und er treibt wie vorher einfach weiter. Kleine Wurzeln sind nicht so tief. Und wie bekamen sie Gerdas Triebe wieder zum Grünen? Er musste ihr etwas bieten. Aber was? Warum kümmerten sie sich nicht um eine Gartenparzelle? In Neubrandenburg hatten sie ihr eigenes Gemüse angebaut. Sie waren Selbstversorger mit Rosenkohl, Salat und Kartoffeln. Wäre das eine Aufmunterung? »Was hältst du von einem Garten?«, fragte er Gerda. In ihr lebte die Bauerntochter auf und kurzzeitig verzogen sich die Gewitterwolken aus ihrem Gesicht und ließen einen kurzen Moment Sonnenschein zu. An manchen Regentagen ist ein kleiner Sonnenstrahl die einzige Hoffnung auf besseres Wetter. »Wir könnten dann wieder unser eigenes Gemüse anbauen. Das wäre gesünder und wir wären nicht andauernd vom Wohlwollen der Kaufhallendamen angewiesen, die dir nur dann was verkaufen, wenn sie selber Vorteile haben.« Er hatte sie mit seiner Idee angesteckt. »Die Kinder könnten ein eigenes Beet bekommen und so schon mal Verantwortung für Radieschen oder Möhren übernehmen. Wir könnten im Sommer grillen. Und im Garten lernt man viele neue Leute kennen, die einem hier und da weiterhelfen können.« Sie redeten sich in einen kleinen Rausch. »Von meinem Vater könnten wir Gartenwerkzeug aus der LPG bekommen.«

»Und wenn die Erdbeeren reif sind, dann können wir unser Überangebot gegen andere Dinge tauschen. Vielleicht bekommen wir dann die Kaufhallenfrauen weich gekocht.«

»Spargel, Erbsen, Kirschen und Blumenkohl. Das wäre schon eine Erleichterung.«

»Dann machen wir uns unsere eigene kleine LPG.« An diesem Tag sprach sie nicht mehr von Heimweh. Er hatte im Fechtkampf gegen ihre Sehnsucht nach Heimat und Vertrautheit den ersten Treffer gesetzt. Nun muss die Zeit für ihn arbeiten.

Sie packten ihre Sachen aus den Kisten in die Schränke ein und sie träumten von langen warmen Sommertagen, an denen sie unter dem Sonnenschirm eine Erdbeertorte mit Erdbeeren aus eigener Ernte zum Kaffee genießen würden.

Ein Kleingarten. Das wäre ein Versuch. Aber wo beantragt man eine Gartenparzelle? Gleich am Montag würde er dazu die Kollegen im Betrieb befragen. Vielleicht hält man es besser aus, wenn man sich auf seine eigene grüne Insel zurückziehen kann. Und an die anderen Umstände wird man sich dann sicherlich auch noch gewöhnen.

2. Kapitel

WIE KOMMT MAN ZU EINEM GARTEN?

Am Montagmorgen war die Stimmung im Kombinat nicht gerade auf dem Siedepunkt. Lang gezogene Wochenanfangsgesichter streckten sich Axel entgegen, marschierten wie eine Trauergesellschaft im Gänsemarsch in die Umkleidekabinen und zeigten deutlich an, dass sie überall lieber wären als hier bei der Arbeit. Aus den großen und schlecht belüfteten Werkshallen schwamm der Geruch nach Maschinenöl bis in die Pausenräume. Bis dann die einzelnen Produktionsabschnitte als ein Ensemble zusammenspielten, dauerte es noch eine ganze Weile und so erzeugten erst einzelne Sägen und Bohrer ein paar falsche Töne. Dieses morgendliche Durcheinander nutzte Axel noch schnell aus, um im Büro des Kombinatsleiters vorzusprechen. Er huschte die Treppen hinauf. Ein paar Arbeiter in sauber gewaschenen blauen Anzügen taumelten ihm gemütlich in Richtung Arbeitsplatz entgegen und werteten das Heimspiel von Lok Leipzig aus. Dann stand er vor dem Büro von Herrn Liedke. Durchatmen. Einmal Anklopfen. Auf ›Herein!‹ warten.

»Herein!«, klang es militärisch durch das Schlüsselloch und unter dem Türspalt hindurch. Axel drückte auf die Klinke und trat ein. »Guten Morgen!« Der Kombinatsleiter entgegnete ein kameradschaftliches Kopfnicken. Er klemmte zwischen den Armlehnen seines Stuhls fest wie eine Glühbirne in ihrer Fassung und schien sich in dieser Position recht wohlzufühlen. »Nehmen Sie Platz, Genosse Weber. Wo drückt denn der Schuh?« Sein Gesichtsausdruck blieb so unverändert, als würde er eine Maske tragen. »Herr Kombinatsleiter Liedke, Sie haben mir zu meiner Einstellung gesagt, dass ich mit Problemen jederzeit zu Ihnen kommen kann.«

»Jederzeit, außer freitags.« Das sagte er so dahin. Es sollte sicherlich kein Versuch sein, sich für die Begegnung am Freitagnachmittag zu rechtfertigen. Das hatte er nicht nötig. »Deshalb komme ich ja auch jetzt zu Ihnen«, lenkte er ein. »Wie kann ich behilflich sein, Genosse Weber?« Er lehnte sich zurück und sah ihn interessiert an. »Nun, meine Frau kommt aus einer Bauernfamilie. Ihre Vorfahren haben seit Menschengedenken den Erdboden durchpflügt und sich mit allem versorgt, was sie zum Überleben benötigten. Und jetzt ist uns die Idee gekommen, dass wir uns selber einen kleinen Garten anschaffen sollten. Nur haben wir beide keine Ahnung, wo wir hier eine Parzelle bekommen könnten.« Der Kombinatsleiter wirkte angestrengt. Es entstand eine Denkpause, in der Axel das Büro begutachtete. Blick aus dem Fenster auf die Flusswiesen. Dunkelrote Stoffvorhänge. Ein Schraubenbaum neben dem Schreibtisch. Ein Bild von Erich Honecker an der Wand. »Fragen Sie beim Genossen Krugmann nach. Jürgen Krugmann. Er ist Montageleiter in der Halle fünf. Der hat einen Garten und muss ja demzufolge da irgendwie rangekommen sein. Also sonst fällt mir niemand anders ein.«

»Montageleiter Jürgen Krugmann, Halle fünf«, wiederholte er halblaut um zu zeigen, dass er alles richtig verstanden hatte. »Danke!«

»Keine Ursache, ich fühle mich auch für das allgemeine Wohlbefinden meiner Mitarbeiter verantwortlich.« ›Außer freitags‹ dachte er. »Apropos, wie kommen Sie denn eigentlich in ihrer neuen Heimat zurecht?«

»Nun«, er war sich nicht sicher, wie weit er das Heimweh von Gerda ausschmücken sollte. »es geht schon. Am Anfang dauert es seine Zeit, bis alles rund läuft, aber wir sind tapfer.«

»Hat Ihre Frau schon eine Arbeit gefunden?«

»Nein, sie hat bisher in Neubrandenburg beim Kreisgutachter im Gesundheitswesen gearbeitet und so etwas gibt es hier nicht.«

»Was hat sie denn gelernt?«

»Kinderkrippenerzieherin und dann ein Fernstudium zur Fürsorgerin.«

»Soll ich mal meine Fühler ausstrecken? Ich habe ein paar Verbindungen.«

»Gern, vielen Dank.« Schon wieder ein Erfolg. Wenn Gerda hier arbeiten kann, dann lernt sie viele neue Leute kennen und das hilft ihr auch ein bisschen über ihr Heimweh hinweg. Der zweite Treffer im Fechtkampf gegen ihre Sehnsucht nach der mecklenburgischen Heimat stand bevor. Er verließ das Büro, pustete die angestaute Luft aus und fühlte sich wie der kleine Sieger einer großen Schlacht.

*

Mittagspause. Axel Weber hatte sich schmutzig gearbeitet und Schmierfette und Öltropfen hatten sich schon größere Gebiete seiner frisch gewaschenen Arbeitskleidung wieder zurückerobert. Er hatte keine Zeit zum Händewachen. Er hielt das Pausenbrot mit dem Butterbrotpapier fest, in das es Gerda heute früh eingewickelt hatte. ›Käse und Salami‹ schmeckte er schon beim ersten Biss. ›Lecker.‹ »Wo ist denn die Werkhalle Nummer fünf?« Die Kollegen zeigten einstimmig in Richtung des Notausgangs und aßen dann selber gemütlich weiter.

Die Halle fünf war nicht viel größer als seine Werkhalle. Es standen fast die gleichen Geräte herum und die Menschen, die hier arbeiteten, waren ihm noch genauso fremd wie die Mitarbeiter seiner Jugendbrigade. »Wo finde ich denn den Genossen Krugmann?« fragte er in den Pausenraum, in der das Heimspiel von Lok immer noch nicht bis zu Ende ausgewertet war. Ein schwarzhaariger kleiner Fast-Rentner fühlte sich zuständig: »Jürgen oder Wolfgang? Wir haben hier zwei Krugmänner.«

»Jürgen Krugmann.«

»Der ist mal an der frischen Luft und kommt so in einer Stunde wieder.«

»Danke. Ich komme dann später noch mal wieder.«

»Schon gut.« Auf dem Rückweg überlegte er, dass die Mittagspause nur eine halbe Stunde betrug. Wo war er denn? Und was bedeutet frische Luft? Man kann sich an diese Arbeitseinstellung gewöhnen und heute störte es ihn schon weniger als am Freitag. ›Immer schön mit dem Strom schwimmen, dann gehst du nicht unter‹ dachte er und musste dabei sogar ein wenig schmunzeln.

Nach einer guten Stunde kam ein unscheinbarer Mann mit Brille auf ihn zu, dessen helles Haar dazu neigte, sich zu locken, wenn es länger wächst. Er strahle eine freundliche Ruhe aus, als er Axel selbstsicher begrüßte: »Guten Tag Axel Weber«

»Ja?«

»Jürgen Krugmann. Kennst du mich noch?« Grübeln. Wann sollten sich ihre Wege denn schon einmal gekreuzt haben? Er wühlte die Schubladen seiner Erinnerung durch und kramte nach einem Gesicht das so aussah wie jenes, das er gerade vor sich hatte. »Fernlehrgang Schweißen. Berlin Grünau 1980.« Jetzt dämmerte es. Er war zum Schweißerlehrgang nach Berlin delegiert worden. Und das war auch 1980. Aber Jürgen Krugmann kannte er nicht mehr. »Ich habe schon gehört, dass jemand aus Neubrandenburg hier angefangen hat. Das passiert eher selten. Warst du denn so gut?«

»Das haben andere entschieden.« sagte er unverfänglich. »Du hast mich gesucht«, lenkte er zum eigentlichen Thema. »Ich war an der frischen Luft aber die Kollegen haben mir Bescheid gesagt, dass der neue Montageleiter nach mir gesucht hat.«

»Ja, das stimmt, der Genosse Liedke hat mich an dich verwiesen.«

»Was wollte er denn?«

»Meine Familie wünscht sich einen Garten. Weißt du, wo man einen beantragen kann?« Er strengte sichtbar seine Gedanken an und was als Ergebnis seiner Anstrengungen herauskam waren zwei Worte: »Wolfgang Blume.« Dann entstand einen Augenblick Stille, der im Hintergrund nur von den Maschinengeräuschen bedrängt wurde.

»Wolfgang Blume ist der Vorsitzende unserer Gartensparte Karl Liebknecht und verwaltet auch die Gartengesuche. Am besten ist es, wenn du mal heute nach der Arbeit bei ihm im Garten vorbeifährst und dich persönlich vorstellst.«

*

Im Garten Nummer 31 goss ein kleinwüchsiger Mann, der in einem gelben Sporthemd steckte, mit der Gießkanne das Zwiebelbeet. »Herr Blume?« die Frage kroch zögernd aus ihm heraus und übertönte nur minimal das Regengeräusch. »Ja.« Der Mann stoppte den Niederschlag, stellte die Gießkanne auf den Plattenweg und kam zum Gartenzaun. »Was gibt’s?« versuchte er neugierig aber freundlich zu erkunden. Seine scharfen Blicke tasteten ihn von oben nach unten ab. »Ich soll Ihnen einen schönen Gruß von Jürgen Krugmann bestellen. Er hat gesagt, dass ich bei Ihnen einen Garten beantragen kann.«

»Hat er das gesagt?« Er schmunzelte dabei zu sich selbst und hob die Augenbrauen. Auf seiner Stirn zogen drei Etagen Falten in parallelen Linien auf. »Dann kommen Sie doch bitte mal mit.« Als er zu seiner Laube ging, pfiff er ein Lied, das er sich aller Wahrscheinlichkeit nach gerade selber ausgedacht hatte. Es gab weder eine klare Klangfolge noch so etwas wie einen Refrain. ›Ein fröhlicher und zufriedener Mensch hat den ganzen Tag ein Lied auf den Lippen‹, dachte Axel Weber zuversichtlich und folgte dem Spartenvorsitzenden auf die Terrasse. »Nehmen Sie bitte Platz.« Herr Blume trug einen Hut, der sein Gesicht beschattete. Seine Oberlippe glich einem abgemähten Getreidefeld. Und jene blonden Stoppelhaare wippten beim Reden immer auf und nieder. »Woher kennen Sie denn den Genossen Krugmann.«

»Mein neuer Kollege.«, rechtfertigte er sich »Wir sind von Neubrandenburg hergezogen wegen der Arbeit. Die haben hier einen Montageleiter gesucht und ich bin dafür ausgesucht worden.« Er nickte interessiert und wurde dann förmlich: »Also aktuell haben wir keinen freien Garten und auch noch ein paar offene Anträge, die vorrangig bedient werden müssen, aber ich nehme ihre Daten natürlich gern auf und sobald sich etwas ergeben sollte, dann werde ich mich bei Ihnen melden.« Er beschrieb mit seinem Kugelschreiber einen ausgerissenen Zettel kariertes Blockpapier und legte es gewissenhaft unter den Berg von anderen Anträgen. ›Wie kommen wir nur ganz nach oben?‹ fragte er sich und dann fragte er den Spartenvorsitzenden »Wann können wir dann in etwa mit einer Zusage rechnen?« Dieser überschlug im Kopf seine Rechnung und veröffentlichte dann seine Mutmaßungen: »Sie sind jetzt auf Platz dreizehn. Erfahrungsgemäß springen immer ein paar Leute ab, wenn wir uns melden. Aber ich denke, wenn der sechste oder siebente Garten frei wird, dann könnte es was werden.«

»Wie lange wird das dauern?«

»Na so Pi mal Daumen etwa zwei bis drei Jahre. Wenn nicht gerade ein Wunder geschieht, brauchen Sie vorher nicht mit einer Zusage rechnen.« Er wirkt mitfühlend »Ich habe fünf Jahre gewartet.«

»Vielen Dank.« Die Enttäuschung war ihm anzumerken. Was sagte er jetzt zu Hause? Er wollte das zarte Gewächs der Euphorie doch nicht mit den realen Tatsachen wieder vernichten. Er lief mit summenden Gedanken aus dem Garten Nummer 31 und der Vorsitzende spielte wieder Regenwolke auf dem Zwiebelbeet und für die Blumen war es wohl so, als ob zwischen zwei Schauern kurzzeitig die Sonne durchgeblickt hatte.

*

»Macht ihr Überstunden?«, fragte Gerda, als er die Wohnungstür aufschloss und war sichtlich erleichtert. »Nein, ich war in der Gartensparte und habe eine Parzelle beantragt.«

»Das ging ja schnell. Wann bekommen wir denn den Zuschlag?«

»Wir sind auf Platz Nummer dreizehn. Also im schlechtesten Fall müssen noch dreizehn Gärten frei werden und dann haben wir sicher einen. Wenn jemand abspringt, sind wir schon eher dran.« Gerda nahm ihm seinen gespielten Optimismus nicht ab. »Zumindest haben wir jetzt einen Antrag laufen.« Sie nickte gedankenverloren. »Gab es sonst noch was Besonderes?«

»Der Kombinatsleiter kümmert sich um eine Arbeit für Dich. Er hat gute Kontakte.«

»Kontakte, die er freitags immer pflegt?« Ihre Laune hob sich etwas und das erleichterte ihn ungemein. »Wo sind die Kinder?«

»Auf dem Spielplatz. Heiko hat seine Klassenkameraden und Jana spielt mit ihren Freundinnen aus dem Kindergarten. Ich habe heute frisches Brot in der Kaufhalle bekommen.«

»Warst du um 13 Uhr da?«

»Nein, schon eher. Ich habe Frau Heinrich von ganz unten im Hausflur getroffen und die hat mir den Tipp gegeben, schon zwanzig Minuten eher hinzugehen. Denn wenn es um 13 Uhr frisches Brot gibt, dann sind vorher die Körbe alle weg. Und ohne Korb darf man nicht in die Kaufhalle.« Er freute sich und strich ihr über ihr müdes Gesicht. »Rundgang nur mit Korb!« sagte er spöttisch und drückte sie schmunzelnd an sich.

*

Die Sonne beschien den Parkplatz vor dem Kombinat, der sich nach und nach mit Autos und Mopeds füllte. Eine Amsel sang aus dem Pappelwald. Axel Weber stellte seine Simson neben dem Fahrradständer ab. Lautes Motorengeheul überschwemmte den Parkplatz und kam direkt auf ihn zu. Eine große silberne ETZ ließ sich ausrollen und steuerte den Stellplatz neben ihm an. Der Fahrer winkte ihm zu, war aber durch das abgedunkelte Visier seines Integralhelms nicht zu erkennen. ›Er sieht die Welt, aber die Welt sieht ihn nicht‹, dachte Axel und war gespannt wer unter dem Helm hervorkriechen würde. Als sich der Motor des Motorrades beruhigt hatte, sprang sein Fahrer ab und lüftete das Geheimnis um seine Person. Aus einem anonymen Verkehrsteilnehmer wurde eine ihm vertraute Person: Jürgen Krugmann. »Na warst du gestern beim Genossen Blume?« Er tarnte seine Neugier durch Hilfsbereitschaft. »Ja, aber so erfolgreich war ich nicht.« Krugmann verzog sein Gesicht, sodass er keine weitere Frage zu stellen brauchte. »Wir sind auf Platz dreizehn gelandet. Wenn wir Glück haben, springt noch jemand ab und wir kommen eher dran.«

»Soll ich mal mit ihm sprechen?« Er wirkte fürsorglich und war scheinbar wirklich daran interessiert, ihm weiterzuhelfen.« Das machte Eindruck. ›Irgendwie kommt man hier leichter mit den Leuten in Kontakt als in Mecklenburg.‹ Er wertete das als einen neuen kleinen Fortschritt. »Glaubst du, dass man da noch an der einen oder anderen Schraube drehen kann, um die Zuteilung zu beschleunigen?«

»Was du machen kannst, ist noch mal hingehen und ihm Folgendes sagen: du hast zwei Kinder, würdest auch einen verwilderten Garten nehmen und bist bereit, die allgemeinen Anlagen mit zu pflegen.«

»Die allgemeinen Anlagen pflegen?«

»Ja, dazu werden sowieso alle verpflichtet. Du musst 40 Stunden im Jahr allgemeine Arbeiten rund um das Pumpenhaus arbeiten. Umgraben oder harken. Möglicherweise kannst du auch zum Rasenmähen auf den gemeinschaftlichen Flächen herangezogen werden.«

»Und warum soll ich ihm das dann extra sagen?«

»Dann sieht er, dass du dich auskennst. Das kommt gut an. Ein Mann, der die Arbeit liegen sieht und nicht wartet, bis sie die anderen machen.« Das war wieder Auftrieb. Er fühlte sich wie die Kohlensäure in einer Limonadenflasche. »Ach ja, und wenn du auf Nummer sicher gehen willst, dann habe ich noch einen Tipp für dich: Er trinkt gern Rosenthaler Kadarka.«

»Danke. Solche Leute wie du sind rar gesät.« Er winkte ab. »Schon gut, für einen alten Schweißerkollegen …« Könnte der Morgen besser beginnen als mit dem Blick über eine Wand, die bis vorhin noch ein unüberwindbares Hindernis war? ›Beziehungen schaden nur dem, der keine hat.‹ dachte er und lachte zufrieden in sich hinein.

*

»Haben wir noch eine Flasche Rosenthaler Kadarka?« Gerda war überfragt. »Ich glaube nicht. Warum?«

»Wir könnten sonst eher an einen Garten kommen. Der Spartenvorsitzende trinkt gern Rotwein und das soll wohl so etwas wie Schmierseife sein, damit er sich eher für uns entscheidet.« Sie wurde enthusiastisch und überlegte. »Hier in der Kaufhalle brauchen wir wohl erst gar nicht nachfragen. Die haben bestimmt ein paar Flaschen hinten stehen, aber wieso sollte sie die gerade an uns verkaufen, wenn sie von anderen Leuten irgendwelche Vorteile erlangen können.«

»Wir brauchen etwas zum Anbieten, zum Beispiel frisches Gemüse aus dem Garten oder Erdbeeren. Dann läuft es bestimmt besser.«

»Das ist ein klassisches Paradoxon: Wir benötigen eine Flasche Rotwein, um möglicherweise einen Garten zu bekommen. Und die Flasche könnten wir wohl eher bekommen, wenn wir etwas aus dem Garten zum Tausch hätten.« Beide schüttelten den Kopf. Dann hatte er eine Idee. »Kann nicht deine Mutter in Neubrandenburg mal losziehen und bei Bärbel in der Kaufhalle in Monckeshof nachfragen?«

»Wir können Bärbel auch direkt schreiben, denn sie wollte sowieso mal gern wissen, wie es uns hier gefällt.«

Eine Stunde später warfen sie einen Brief an Bärbel Kolley in Neubrandenburg in den gelben Briefkasten an der Schmiedeberger Straße ein, der im Nachmittagsschatten vor sich hindöste und geduldig auf eingehende Postsendungen wartete.

*

Nach einer Woche hatten sie einen Paketzettel in der Post. »Abholung ab morgen. Nicht jedoch vor 14 Uhr.« befahl eine strenge Handschrift. Am darauffolgenden Tag betrat Axel Weber um 16 Uhr und 10 Minuten das Postamt in der Torgauer Straße. Die Postangestellte bemühte sich erst gar nicht, zu lächeln. Dafür wurde sie nicht bezahlt. Er tauschte einen Paketzettel gegen ein Paket und erkannte sofort die Handschrift ihrer alten Freundin Bärbel aus der Kaufhalle in Monckeshof. ›Die alten Seilschaften funktionieren auch über die Entfernung.‹ Behutsam lud er das Paket auf seine Simson und fuhr so vorsichtig wie bei Glatteis nach Hause. Gerda wartete und beide öffneten sie zusammen den Pappkarton. Ein Brief, zerknüllte Zeitungen als Dämmmaterial und zwei Flaschen Rotwein. Gerda öffnete das Briefkuvert und ließ einen schweren Seufzer. Unter Tränen begann sie zu lesen. »Ihr geht es gut und die zweite Flasche sollen wir auf unseren Garten trinken. Wenn wir wieder in Neubrandenburg sind, dann müssen wir bei ihr vorbeikommen. Viele Grüße an die Kinder.«

»Jetzt kann ich zum Genossen Blume gehen. Krugmann hat bestimmt schon mit ihm gesprochen. Ich nehme Heiko mit. Mal sehen, was jetzt rauskommt.«

*

Die Abendsonne senkte sich und die Schatten der Häuser und Bäume zogen sich in die Länge. Der Gartenspartenvorsitzende im Garten Nummer 31 zupfte am Unkraut auf dem Kohlrabibeet. Das Fehlen eines Hutes legte den Blick auf seine Glatze frei. Kein einziges Haar sollte darüber hinwegtäuschen, dass seine Kopfhaut ebenso glatt war wie seine Beete. »Guten Abend Herr Blume.« sagte er aufgemuntert. »Guten Abend Herr Blume.« schallte die Stimme von Heiko wie ein Echo hinterher. »Genosse Weber.« er tat verwundert. »Und dann auch noch mit Verstärkung.«

»Ja, das ist mein Sohn Heiko und seine Schwester Jana ist bei der Mutter zu Hause.« Heiko hatte die Flasche Rosenthaler Kadarka in der Hand und streckte die über das Gartentor. »Einen schönen Gruß von der Mutti soll ich ausrichten und das ist für Sie.« Diesen Satz hatten sie auf der Fahrt einstudiert. Das Gesicht des Spartenvorsitzenden leuchtete als wenn es von einem Scheinwerfer bestrahlt wurde »Kommt rein. Dein Kollege Krugmann hat mir schon alles berichtet.« Jetzt wechselte er vom distanzierten Sie zum du, wie das unter Gartenkollegen so üblich war. Ein gutes Zeichen. »Ich habe noch ein Stückchen wilden Garten. Den wollte bisher keiner haben. Alle haben abgelehnt. Deswegen biete ich ihn niemandem mehr an. Aber wenn du willst, dann zeige ich ihn dir.« ›Ein Stückchen wilder Garten.‹ dachte er. ›Egal, Garten ist Garten. Welches Fleckchen Erde ist von sich aus schon kultiviert? Überall bedarf es der Intelligenz und Kraft des Menschen, den Boden fruchtbar zu machen.‹ Die Spannung knisterte wie in einem Kriminalfilm.

Genosse Blume schaukelte so gemütlich über die Spartenwege aus Schottersteinen wie ein Kamel über den Wüstensand. »Da hinten, das Stückchen könnt ihr haben.« Er zeigte mit dem Finger auf ein Stückchen unberührte Natur. Garten Nummer 14 lag im Licht der untergehenden Sonne und träumte vor sich hin. Verwildert standen ein paar nutzlose Sträucher. Keine Beete. Kieshaufen vom Vorgänger. Ungezähmte Erde wartete darauf, urbar gemacht zu werden. ›Ein gewaltiges Stückchen Arbeit‹ dachte Axel Weber und atmete tief ein. ›Aber ein guter Start wäre es allemal. Und man kann den Garten nach seinen Vorstellungen entwerfen und formen. Schlimmer wäre ein fertiges Stückchen Land, was uns nicht gefallen würde. Man muss die Vorteile erkennen‹. Dann stellte er so etwas wie eine Bilanz auf. Verwachsene Kirschenbäume. Ausgeruhter Boden. Ein Brunnen. Zwei schiefe Rosenstöcke. Er nickte genügsam. Seine Zweifel ertranken in der Vorfreude. Eine schön gewachsene Hecke. Ein Plattenweg spaliert von Rosen. Eine Terrasse. Ein Stückchen Wiese für die Kinder zum Spielen. Erbsen, Blumenkohl, Bohnen, Spinat aus eigener Produktion. Und vielleicht, vielleicht sogar ein kleines Gartenhäuschen. »Wann können wir anfangen?« befragte er den Spartenvorsitzenden. »Heute, wenn ihr wollt.« Zwei Hände fielen ineinander, zwei Gesichter grinsten sich freundlich an. Über ihnen flogen ein paar kreischende Schwalben durcheinander und flochten einen unsichtbaren Knoten in den dämmernden Abendhimmel. Kurz darauf fuhr eine blaue Simson durch die leeren Straßen der Stadt, die zwei Fahrer und eine frohe Nachricht beförderte.

3. Kapitel

WERKZEUG

Das angerostete Tor stand offen und gab den Schotterweg frei. Links Gärten. Rechts Gärten. Geradeaus der Weg. Die Sonne drückte. Windstille. Irgendwo sang eine Amsel. Sie hoben ihre Füße beim Laufen, damit die Schottersteine keinen Staub aufwirbelten. »Dort hinten, der verwachsene Garten, das ist unserer.« Seine Worte waren von Stolz und Entschlossenheit getragen, die jeden Zweifel im Keim ersticken sollten. Garten Nummer 14. Eine wilde Hecke. Ödes Durcheinander. Ein mit Kieselsteinen übersätes Stückchen Erdkruste. Gerda wirkte enttäuscht. Das Samenkorn der Euphorie war in ihr noch nicht aufgekeimt. Sie sah skeptisch über die Halde, die vor ihnen lag wie ein geplatzter Sack, aus dem alle Zuversicht entwichen war. »Kein Wunder, dass er den Garten niemand anderem angeboten hat. Dafür muss man sich ja fast schämen.«

»Wir können ihn doch so aufbauen wie er uns gefällt« versuchte Axel zu beruhigen. »Dafür brauchst du doch eine Ewigkeit.«

»Wir haben doch Zeit und in diesem Jahr wird es ja sowieso nichts mehr werden.«

»Mama, ich habe einen Hühnergott gefunden. Schau mal wie groß das Loch ist.«

»Kein Wunder, dass bei den vielen Steinen auch einer mit einem Loch zu finden ist«, flüsterte sie müde und lächelte Heiko zu, der gerade über einen Haufen Wackersteine kletterte. »Den Kindern gefällt es.« Axel versuchte Heiko und Jana mit ins Spiel zu bringen, um sie von den Vorzügen und der Notwendigkeit ihres eigenen Stückchens Land zu überzeugen. »Gib mir einfach noch ein bisschen Zeit. Ich hatte mit einem Garten und nicht mit einem Schlachtfeld gerechnet. Wenn wir Hilfe von meiner Mutter bekommen, dann werden wir uns hier schon was Schönes hinzaubern.«

»Deine Mutter ist doch vom Fach und die kann uns bestimmt den einen oder anderen Tipp geben.«

»Es wird schon werden.«, sagte Gerda versöhnlich, obwohl es ihr sichtlich schwerfiel. »Kann ich diese Steine mit nach Hause nehmen.« Jana hatte ihre Hosentasche voller Kieselsteine gesammelt und holte sie jetzt heraus. Gerda streichelte ihr über das Haar. »Na klar, dann sind es schon mal ein paar weniger, die uns ärgern können.« Sie lachte Axel an und gab ihm das Zeichen, dass sie wieder auf Frieden eingestellt war.

*

»Wir benötigen einen Plan.« Er hatte seinen Optimismus nicht vergraben und die Zweifel seiner Frau bestärkten nur seinen Tatendrang. ›Man kann erst zur Höchstform auflaufen, wenn man auf Widerstände stößt‹, hatte er als Jugendlicher in einer Zeitung gelesen. Diese Worte waren für ihn zu einem Kompass durch sein Leben geworden. Hier fanden sie wiederum einen guten Platz, um zu wirken. Sein Ziel war es, ein Fleckchen Gartenland so zu zähmen, dass es bereitwillig vervielfältigt, was man ihm anvertraut. »Wie bekommen wir die Erde fruchtbar?« Gerda entgegnete nüchtern: »Zuerst müssen die Steine und der Wildwuchs weg, dann sollten wir umgraben und ein paar Beete anlegen.«

»Mit dem Steine Sammeln haben die Kinder ja schon begonnen.«

»Und woher bekommen wir das Werkzeug zum Umgraben? Wir brauchen doch mindestens einen oder zwei Spaten, eine Schippe, eine Hacke und eine Harke.«

»Ich frage Krugmann morgen früh. Der kennt sich ja aus.«

*

Genosse Krugmann war schon vor ihm im Betrieb. Seine ETZ stand auf dem Parkplatz neben den Fahrradständern. Aber vor der Arbeit wollte Axel ihn auch nicht schon wieder mit seinen persönlichen Problemen belagern. Er begann seine Arbeit und nahm sich vor, seinen Gartenkollegen in der Frühstückspause aufzusuchen.

Sie begegneten sich schon auf dem Gang. »Hey Axel, Glückwunsch zu eurem Garten. Ich habe es vom Genossen Blume erfahren. Ihr seid recht mutig hat er gemeint.«

»Ja, der Garten ist nicht unbedingt in einem optimalen Zustand, aber wir können ja alles so herrichten, wie es uns gefällt.«

»Das denke ich auch. Und einen Eindruck hast du schon gemacht. Blume hat gesagt, wer sich an so ein Stückchen Erde herantraut, der beweist Charakter.«

»Ja, aber um sich an das Land heranzutrauen, brauchen wir doch wenigstens ein bisschen Werkzeug, einen Spaten und eine Hacke. Du weißt nicht zufällig, wo man so etwas herbekommt?« Er kratzte sich am Kopf. »Keine Ahnung. Du kannst es bei der BHG3 versuchen. Dort ist die Chance zwar klein, aber immer noch größer als woanders. Nur dummerweise kenne ich dort niemanden, den man mal persönlich ansprechen könnte.«

»Wo ist denn die BHG?«

»Gleich hinter der Brücke rechts. Dann siehst du es schon.« Er sprach es für sich selber noch einmal nach: »Hinter der Brücke rechts.«

»Aber wenn du willst, können wir auch mal schnell zusammen hinfahren. Ich habe nämlich vor einiger Zeit einen Sack Zement bestellt und soll in Abständen immer mal nachfragen, wie weit die Bearbeitung ist. Ich will mir nämlich einen massiven Grill neben die Laube mauern. Die Steine habe ich schon, aber irgendwie müssen die ja noch zusammenhalten.«

»Wann hast du denn mal Zeit?«

»Eigentlich nie, aber du weißt ja: die einzige Möglichkeit Zeit zu haben ist sich welche zu nehmen. Also fahren wir gleich.«

»Aber wir haben doch gar nicht so lange Pause.«

»Dann sage einfach deinen Kollegen, dass du noch ein bisschen an der frischen Luft bist, dann wissen alle bescheid.«

»An der frischen Luft?«

»Ja, dann fragt niemand nach Dir, weil jeder mal was benötigt und solange man es nicht übertreibt ist alles in bester Ordnung.«

»Und was ist, wenn Genosse Liedke davon Wind bekommt?«

»Du kannst dich beliebt machen, wenn du ihm berichtest, was es an Besonderheiten in der BHG gibt und sonst ist er doch freitags immer an der frischen Luft.« Zehn Minuten später saßen sie beide auf der ETZ vom Genossen Krugmann und waren auf dem Weg zur BHG.

*

Die Löcher im Putz des BHG – Gebäudes legten den Blick auf das Mauerwerk aus roten Ziegelsteinen frei. ›Läuferverband‹ dachte Axel, als er von der ETZ stieg, seinen Helm abnahm und sich die Haare vom morgenfrischen Wind umwehen ließ. Unter dem verwitterten Dachvorsprung klebten ein paar Schwalbennester. Zwischen den Treppenstufen machten sich Hirtenstängel und Spitzwegerich breit. Am Eingang hing eine verrostete Laterne. Er bezweifelte, dass sie überhaupt noch funktionierte. Doch ob sie nachts leuchtete, war ihm jetzt egal, denn es war bereits 10 Uhr und die Morgensonne erwärmte und erhellte die ganze Umgebung. Die Eingangstür war abgeschlossen. Hinter einem Türspalt aus Fensterglas baumelte ein selbst geschriebenes Schild aus Pappkarton, das in der Lage war, allen Lesern Respekt einzuflößen: Wegen Warenannahme bis 14:00 Uhr geschlossen! wehrte es alle kaufwilligen Kunden ab. Krugmann schüttelte niedergeschlagen den Kopf. Seine Enttäuschung dauerte allerdings nicht besonders lang, denn er hatte sich schnell wieder aufgerappelt. »Dann müssen wir gleich um zwei wieder hier sein, vielleicht haben die heute etwas bekommen, was wir gebrauchen können.« Sie waren zwar noch nicht weiter gekommen und hatten doch einen Informationsvorsprung vor allen denen, die nicht wussten, dass heute neue Ware gekommen war. Und wie oft entscheidet der richtige Ort zur richtigen Zeit über Erfolg oder Misserfolg. »Lass uns lieber zehn Minuten eher hier sein, damit wir in der Schlange ganz vorn stehen.« Krugmann nickte. »Frühzeitiges Erscheinen sichert die besten Plätze.« Und das traf nicht nur auf die Abendveranstaltungen im Kino oder im Kulturhaus zu.

*

Um 13:50 Uhr warfen die Lindenbäume schon die ersten Schatten auf den ausgetretenen Vorplatz aus Sand und Steinen. Das Befahren und Betreten drängte das Gras zurück und übrig blieb ein vertrocknetes und staubiges Niemandsland zwischen ausgeblühten Fliederbüschen und rissigem Straßenasphalt. Sie waren nicht die ersten Interessenten. Vor der Treppe der kleinen BHG wartete schon eine Traube von zehn bis fünfzehn Menschen, die nicht miteinander sprachen, in unterschiedliche Richtungen starrten und sich abwechselnd immer wieder mithilfe ihrer Armbanduhren über die aktuelle Uhrzeit informierten. Jürgen Krugmann und Axel Weber vergrößerten die Schlange um zwei weitere Personen. Sie ließen sich von der verriegelten Eingangstür aufhalten wie der strömende Fluss von einer Schleuse. Krugmann zwinkerte: »Wir bekommen noch einen Korb.« Dann verstummte auch er, ließ sich von der drückenden Stimmung voller Hoffnungen und Vorahnungen anstecken und starrte wie Axel Weber geduldig auf das Pappschild hinter dem gläsernen Türspalt, dass sich pünktlich um 14:00 Uhr bewegte, ein Schlüsselklappern im Türschloss nach sich zog und die Menschenmenge vor der BHG in einen langsam fließenden und seufzenden Strom verwandelte.

Hinter dem Eingang, der nach Holz und Linoleum roch, standen etwa zwanzig Handkörbe aus Drahtgeflecht. Über dem Tisch war ein Schild an die Wand angebracht: Rundgang nur mit Korb. »Nimm dir auch einen Korb, Axel.« riet ihm Krugmann. »Dann kommen weniger andere Leute in den Laden. Und wenn du keinen Korb in den Händen hältst, macht die Leiterin wieder ein Riesentheater. Die kann ein ganz schöner Besen sein. Wenn du es bei ihr verspielt hast, dann bekommst du nicht mal einen rostigen Nagel zu kaufen. Dafür sorgt sie schon.« Axel nickte »Ordnung muss sein« und zog an dem Bügel eines Korbes, drückte mit der anderen Hand die restlichen Körbe zurück und begann seinen Einkauf, indem er durch die Gänge mit überwiegend leeren Regalen schlenderte. Mausefallen. Friedhofsvasen. Tüten mit Sämereien. Hier gab es einen Überfluss an Dingen, die man nicht benötigte.

»Sagen Sie bitte, was für Waren haben Sie denn den ganzen Vormittag angenommen, wenn das Geschäft immer noch genauso ausgefegt ist, wie gestern Abend?« Die erboste Stimme eines Kunden, der seine Enttäuschung immer noch versuchte freundlich zu verpacken schallte durch das kleine Geschäft und sprach genau das aus, was alle anderen Besucher der BHG dachten. Sie liefen durch die hohlen Gänge und suchten nach den besondern Waren wie die schnüffelnden Polizeihunde nach einer heißen Spur.

Eine scharfe Frauenstimme heulte wie eine Kreissäge zurück: »Das geht Sie überhaupt nichts an, mein Herr. Wenn Sie bei uns nicht einkaufen wollen, dann brauchen Sie diesen Laden ja nicht zu betreten.«

»Ich würde ja gerne ein paar Holzbretter kaufen.« entgegnete die energische Männerstimme. Die Verkäuferin war beleidigt und ließ sich entnervt zu einer Antwort hinreißen: »Das tut mir leid, junger Mann. Diesen Artikel führen wir momentan nicht in unserem Sortiment. Sie können aber jederzeit immer wieder nachfragen.«

Krugmann tauchte mit leerem Korb auf: »Das kannst du heute vergessen.« Er winkte in die Richtung, aus der das Gespräch gekommen war: »Die Alte hat heute wieder schlechte Laune. Da ist es besser, gar nicht erst in ihre Schussbahn zu geraten.«

»Wir haben es doch noch gar nicht probiert.«

»Ein Hoch auf deinen Optimismus, Axel, aber spare dir den Ärger.«

»Vielleicht freut sie sich ja über eine nette Anfrage.« Jürgen winkte ab. »Du kannst ja machen, was du willst. Ich warte draußen auf Dich.« Axel sah Jürgen Krugmann verwundert hinterher. Was hatte das zu bedeuten? Er war es doch, der ihm Mut machte. Und jetzt gab er sich hier so kampflos geschlagen? Ein wenig komisch kam ihm das schnelle Einlenken schon vor. Trotzdem entschied er sich, nicht unverrichteter Dinge verschwinden. Es musste vorwärts gehen mit dem Garten, sonst wäre Gerda enttäuscht. Und Gerdas Enttäuschung rief sofort wieder ihr Heimweh auf die Tagesordnung. Er atmete tief durch, wie er das neulich auch vor dem Büro des Kombinatsleiters Liedke getan hatte, und ging durch die Gänge, bis er die Kasse sah. Dort lehnte eine ältere Verkäuferin auf dem Ladentisch und langweilte sich. ›Diese Frau ist es, die zwischen mir und meinem Gartenwerkzeug steht.‹ »Entschuldigen Sie bitte.« Er legte alle Freundlichkeit in diese Worte und gab sich Mühe, trotzdem natürlich und bescheiden zu wirken. »Ich bin hier neu hergezogen und habe für meine Familie einen Garten gepachtet und jetzt wollte ich einmal anfragen, ob man bei Ihnen einen Spaten und eine Schippe anmelden kann.« Die Frau in der rosafarbenen Kittelschürze verarbeitete die Worte langsam und ohne Regung. Sie schien zu überlegen. »Sagen Sie, sind sie nicht in die Schmiedeberger Str. 13 c eingezogen?« Das brachte ihn aus dem Konzept und alle seine zurechtgelegten Worte waren auf einmal verschwunden. »Ja, wir wohnen ganz oben in der fünften Etage.« Die Frau lächelte: »Ich weiß, neben Schäfer. Wir wohnen in der zweiten Etage rechts.« Er ging in Gedanken den Hausgang bis in dien zweite Etage rechts hinauf: »Frau Müller?«

»Ja, mein Mann ist der Hausvertrauensmann und hat Sie überall vorgestellt, außer bei seiner eigenen Frau.« Er nickte: »Das haben wir ja jetzt nachgeholt.«

»Ich habe Sie schon ein paar Mal mit dem Moped kommen sehen. Und ihre Kinder grüßen immer so nett im Treppenhaus, dass das immer eine rechte Freude ist, ihnen zu begegnen.«

»Das freut mich, dass sie zu Ihnen nett sind und wir sagen ihnen immer, lieber einmal zu viel grüßen als einmal zu wenig.«

»Ihr Sohn hat mich neulich dreimal an einem Tag gegrüßt. Und Sie und Ihre Frau haben mir auch schon Guten Tag gesagt, aber wenn man neu ist, dann stürzt alles auf einen ein.«

»Beim nächsten Mal weiß ich ganz bestimmt, wer Sie sind, versprochen.« Frau Müller lehnte sich zu ihm, damit sie nicht so laut sprechen musste: »Was brauchen Sie denn für Ihren Garten?«

»Er flüsterte zurück: »Wenn wir dürfen, dann hätten wir gern zwei Spaten, eine Schippe, eine Harke, eine Hacke und einen Sack Zement.« Sie nickte. »Kommen Sie heute Abend kurz nach sechs mit einem Anhänger.«

*

Um fünf Minuten vor sechs fuhr Axel mit seinem Trabant und dem geliehenen Anhänger von Jürgen Krugmann auf den wilden Parkplatz vor der BHG. Die Schatten waren länger geworden. Er wartete. Im Radio wurden schon die Nachrichten verlesen. Kurz darauf erschien Frau Müller vor der Eingangstür und gab ihm ein Zeichen, dass er an den Hintereingang kommen sollte. Sie kassierte 13,50 Mark und deutete auf einen 50-Kilo-Sack mit frisch abgefülltem Zement, der neben der Laderampe lag. An der Wand lehnten ein Spaten und eine Hacke. Ein kleines Häufchen glückliche Fügung. »Den Rest habe ich aufgeschrieben. Vielleicht bekommen wir ja nächste Woche wieder was. Aber versprechen kann ich nichts.«

»Vielen Dank, Frau Müller. Wie kann ich das nur wieder gut machen?«

»Wo haben Sie ihren Garten?«

»Die Anlage heißt Karl Liebknecht und liegt am Schleifbach.«

»Dann könnten Sie mich nach Hause fahren. Das liegt doch so gut wie auf dem Weg.« Er lud den Zement und das Werkzeug auf den Hänger. Sie holte ihre Jacke aus dem Aufenthaltsraum. »Schönen Feierabend rief sie in den Verkaufsraum.«

»Schönen Feierabend.« klang es wie ein Echo zurück.

*

Jürgen Krugmann saß vor seiner Gartenlaube in einem Campingstuhl und trank eine Flasche Bier. »Ach Axel, da bist du ja.«

»Hilfst du mit anfassen.«

»Na klar doch.« Sie trugen den Sack in seinen Schuppen. »Möchtest du auch einen Schluck Bier?«

»Nein danke, ich bin doch mit dem Auto.«

»Vielleicht das nächste Mal. Als Dankeschön für deine Mithilfe.«

»Ach, ich habe noch viel mehr offen bei Dir.«

»Wann fängst du mit dem Umgraben an?«

»Morgen nach der Arbeit. Irgendwie habe ich das Gefühl, das es jetzt richtig losgehen kann.«

*

Am nächsten Morgen begrüßte ihn der Kollege Krisch in der Umkleidekabine: »Genosse Liedke hatte gestern Nachmittag mal nach dir gefragt. Vielleicht ist es nicht verkehrt, wenn du dich mal blicken lässt.« Zuerst durchzuckten ihn Gewitterblitze, dann wurde ihm kalt und gleichzeitig heiß. Er litt augenblicklich unter einer besonderen Art von Polarfieber, das nur ein schlechtes Gewissen hervorrufen kann. Er war aufgeflogen. Er, der neue Kollege. Der Brigadeleiter. Ein Vorbild für seine Jugendbrigade. »Was hat er denn gewollt?« Kollege Krisch schüttelte den Kopf: »hat er nicht gesagt.«

»Und was hast du gesagt?« Axel spürte, wie unsicher seine Stimme klang. »Ich habe gesagt, du wärst unterwegs und dann ist er wieder gegangen.«

Wie ein Dampfkessel stieg er die Treppen zum Direktorat hinauf. Ein Dampfkessel, ohne Ventil. Er fühlte, wie er neben sich stand. Und dieser Mensch an seiner Seite klopfte an die Tür und von weit her aus dem Inneren des Büros schallte ihm ein »Herein« entgegen. Mechanisch öffnete er die Tür und das gewohnte Bild des am Schreibtisch sitzenden Kombinatsleiters wirkte wieder auf ihn ein.

»Ah Genosse Weber, treten Sie doch näher.« Wie sollte er seine Freundlichkeit deuten? Spielte er seinen Triumph aus? Dann begann er, sachlich zu werden: »Ich habe mich umgehört und in Erfahrung gebracht, dass der Thälmannkindergarten in der Straße des Friedens eine stundenweise Aushilfe benötigen kann. Vielleicht wäre das was für Ihre Frau.« Es ging also gar nicht um gestern. Es ging um Gerda. Doppelt gut. Er fühlte, wie der Druck nachließ. Und dieser Druckabfall brachte ihm jene Erleichterung wie ein Dammbruch dem aufgestauten Flusswasser. Außerdem kann Gerda arbeiten gehen und kommt so unter Leute. Ein großer Schritt in die richtige Richtung. »Danke für Ihre Bemühungen, Herr Liedke.«

»Keine Ursache, das Wohlergehen meiner Mitarbeiter liegt mir persönlich am Herzen.« Er sparte wie gewöhnlich mit Mimik und Gestik jeder Art. »Sie soll einfach mal vorsprechen und alles Weitere vor Ort klären.« Als er die Treppe hinunterlief, war ihm nach Singen zumute und das Gefühl der Schwerelosigkeit zog sich bis zum Feierabend hin.

*

»Du kannst im Kindergarten aushilfsweise arbeiten, wenn du willst.« Seine Begeisterung war ansteckend. Gerda hob beide Hände vor ihren Mund und ihre Augen signalisierten Freude. »Der Kombinatsleiter hat es für dich in Erfahrung gebracht. Wenn du willst, kannst du mal hingehen und mit denen sprechen.«

»Das klingt gut, Axel. Dankeschön. Manchmal fällt mir schon die Decke auf den Kopf.« Sie drückte ihn. »Du musst dich nicht beim Postboten bedanken, wenn du hundert Mark im Brief hast, sondern beim Absender.«

»Mir steht aber gerade nur der Überbringer der Nachricht zur Verfügung.«

»Na dann geht ausnahmsweise auch der Bote.«

Es klingelte. Er öffnete die Tür. »Guten Abend Frau Müller, kommen Sie doch bitte herein.« Sie winkte bescheiden ab: »Nein, nein, ich will Sie nicht stören. Ich wollte nur sagen, dass ich heute noch eine Schippe, eine Harke und noch einen Spaten zurückgelegt habe. Unser Hauptlager hatte noch einen kleinen Vorrat und den habe ich ihnen abgeschwatzt. Also können Sie am besten Montagabend kurz nach um sechs einfach wieder vorbeikommen.« Sie lächelte stolz und zufrieden. Gerda lachte zurück: »Danke Frau Müller. Aber wie können wir das wieder gut machen?« Sie winkte erneut ab: »Das ist schon gut. Sie haben so nette Kinder, da gibt man lieber denen etwas, die gut erzogen sind.« Dankeschön Frau Müller und noch einen schönen Abend und viele Grüße an ihren Mann.«

»Der ist heute Abend beim Fußball und ich genieße deshalb gerade die Ruhe.«

»Eine nette Frau.« sagte Gerda, als die Schritte von Frau Müller immer noch im Treppenhaus schallten.

*

»Wie sollen wir das schaffen?« Gerda wirkte überfordert, als sie am Samstag Mittag wieder an der Gartenhecke standen. Ihr Land war überwuchert von Unkräutern und nutzlosen Gewächsen jeder Art. Ein grüner Schrottplatz. »Ganz einfach. Wir fangen am Anfang an und hören am Ende auf. Denn eine Sache erledigt sich nicht dadurch schneller, wenn man lange drüber redet.« Dann begannen sie damit, die wuchernden Sträucher zu entfernen und auf einen großen Haufen zu legen. Er zog an den halbhoch gewachsenen Büschen und half mit dem Spaten nach, wenn sich die Wurzeln zu fest im Boden verankert hatten. Gerda zupfte am Unkraut, das sich nach Kräften wehrte, indem es sich in der Erde festklammerte. Heiko und Jana sammelten Kieselsteine in einen Drahtkorb.

Aus dem Garten auf der anderen Seite des Schotterweges sah ihnen ein Mann zu. Er blickte durch eine Hornbrille in die Welt. Der Zigarrenrauch verhüllte zeitweilig sein Gesicht. »Ihr seid wohl die mutigen Optimisten, die es mit dem Garten aufnehmen wollen?« Gerda unterbrach ihre Arbeit nicht ungern und entgegnete: »Wir lassen uns nicht so leicht unterkriegen.« Der Mann nahm dies als Einladung zu einem Gespräch entgegen und kam an die Gartenhecke. Der lockere Rauch seiner Zigarre folgte ihm wie der Dampf einer davon eilenden Lokomotive. »Da habt ihr euch aber was vorgenommen. Eure Vorgänger haben ziemlich schnell das Handtuch geschmissen.« Jetzt mischte sich auch Axel mit ein. Er drückte Knie und Rücken durch und kam an die Grenzbepflanzung gelaufen: »Wir sind ja nicht wie unsere Vorgänger. Und erst wenn es kompliziert wird, zeigt sich der Charakter.« Diese Worte zauberten ein Lächeln in das Gesicht des fremden Mannes in roter Sporthose aus Baumwolle. »Axel Weber.« sagte er freundlich und reichte die Hand über die vertrockneten Heckenbüsche, die auf seiner Kniehöhe das Wachsen eingestellt hatten. »Das ist meine Frau Gerda und die fleißigen Steinesammler da hinten sind unsere Kinder Heiko und Jana.«

»Schmidt. Dietmar Schmidt.« erwiderte er ebenso freundlich und drückte mit seiner Hand die Finger von Axel Webers rechter Hand zusammen. »Meine Frau Waltraud ist gerade in der Laube und kocht Mittag. Wir wohnen im Sommer das ganze Wochenende immer hier draußen. Das ist schöner als die staubige Neubaublockluft.« Axel stieg auf seine Worte ein: »Ja das ist eine echte Erleichterung.«

»Auf gute Nachbarschaft, Kollege Weber.«

»Auf gute Nachbarschaft, Kollege Schmidt.« Er runzelte die Stirn: »Und was wollt ihr denn jetzt eigentlich mit dem Garten anstellen?«

»Ein paar Beete und ein bisschen Rasen für die Kinder zum Spielen.«

»Und wo wollt ihr euer Werkzeug unterstellen?« Das war eine gute Frage. Denn jeden Tag immer alles mit dem Trabant nach Hause zu transportieren, das wäre ja aufwändig. »Darüber haben wir noch gar nicht nachgedacht. Aber einen Geräteschuppen brauchen wir dann wohl auch noch.«

»Zuerst könnt ihr eure Sachen mal bei mir unterstellen, wenn ihr wollt.«

»Das ist aber nett.« sagte er zu seinem neuen Gartennachbarn und nickte dann aufmunternd seiner Frau Gerda zu. »Wenn ihr eine Schubkarre braucht, kann ich euch gern meine ausborgen. Ich denke, sie wird momentan bei euch mehr Nutzen stiften als bei mir.«

»Nochmals danke.«

»Keine Ursache. Unter Gartenkollegen gibt es ein ständiges Geben und Nehmen zum Nutzen für alle Beteiligten.« ›Wie hieß diese Lebensform noch in der Biologie?‹ Axel grübelte und stieg tief in seine Gedanken an die Schulzeit hinab, bis es ihm endlich in den Kopf schoss: ›Eine Symbiose. Eine Lebensgemeinschaft zum gegenseitigen Vorteil.‹ Ihn umgab das wohlige Empfinden, auf einmal ein Element einer gut funktionierenden Symbiose geworden zu sein.

4. Kapitel

GERÄTESCHUPPEN ODER GARTENLAUBE

Am Montagabend kurz vor 18 Uhr betrat Axel die BHG und suchte zwischen den Verkaufsgängen nach der Verkäuferin Frau Müller. Der Geruch nach Linoleum und Holz machte sich wieder in seiner Nase breit und drängte die anderen Empfindungen zurück. Leere Regale. Neonlicht. Der Schall seiner Schritte auf dem Boden.

»Guten Abend Herr Weber.« Frau Müller hatte sich schon umgezogen und winkte ihn ins Lager hinter dem Ladentisch. »Da hinten stehen die Sachen für Sie.« Sie zeigte auf die kleine Ansammlung von Gartenwerkzeugen. Sonst war die Lagerhalle fast leer. Auf dem Boden stapelten sich ein paar Holzbretter und etwa zehn Säcke mit Gips. In den Wandregalen lagen Schraubenzieher und Tapezierbürsten. »Wir haben heute überraschend noch mal eine Lieferung von dicken Holzbrettern bekommen. Die hatten wir zwar gar nicht bestellt, aber umso mehr freut man sich über die unverhofften Sendungen aus dem Hauptlager.«

»Was machen Sie jetzt damit Frau Müller?«