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Nicole Krome ermöglicht einen faszinierenden Einblick in die inneren Funktionsweisen der russischen Wirtschaft. Sie bietet erstmals einen Erklärungsansatz für die Frage, warum die Russische Föderation ihre umfassenden Ressourcen und ihr Know-how über Jahrzehnte nach Einführung der Marktwirtschaft hinweg nicht nutzen konnte, um die De-Industrialisierung der 1990iger Jahre zu vermeiden und später eine Re-Industrialisierung anzuschieben. Kromes Untersuchung macht deutlich, dass die Ursachen ganz wesentlich in den systemimmanenten Netzwerkprozessen in der Gesamtgesellschaft Russlands zu finden sind. Diese Netzwerkprozesse weisen eine hohe Eigendynamik auf und sind weder über politische Institutionen noch über wirtschaftliche Marktmechanismen steuerbar. Das Buch basiert auf einer Vielzahl an akribisch recherchierten Fallstudien, auch aus der Sowjetzeit, und ermöglicht einen direkten Einblick in die formellen und informellen Interaktionsprozesse von Unternehmen, ausländischen Investoren, staatlichen Akteuren und Abnehmern. Kromes interdisziplinäre Untersuchung ist für Wirtschaftswissenschaftler, Politologen und Soziologen gleichermaßen hilfreich, da sie deutlich die Verquickung von ökonomischen, politischen und soziologischen Anreizen und Sanktionen aufzeigt und damit nicht nur eine nachvollziehbare Erklärung für Entscheidungen und Verhaltensweisen russischer Akteure bietet, sondern auch für den andauernden Modernisierungsstau des Landes.
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Seitenzahl: 716
Veröffentlichungsjahr: 2014
ibidem-Verlag, Stuttgart
ANTKAviazionnyj Nautschno Technitscheskij Kompleks (Wissenschaftlich-luftfahrttechnischer Komplex) – im Rahmen der Arbeit wird nur von KB, von Konstruktionsbüro gesprochen
AOZTAkzionernoe Obschtschestvo Zakrytogo Tipa (Aktiengesellschaft geschlossenen Typs)
EADSEuropean Aeronautic Defence and Space Company
EBRDEuropean Bank for Reconstruction and Development (Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung)
FABRIDFöderale Agentur zum rechtlichen Schutz der Ergebnisse intellektueller Tätigkeit
FAPSIFederal’noe Agenstvo Pravitel’stvennoi Svjasi i Informazii (Agentur für das Kommunikationsnetz der Regierung der Russischen Föderation)
FGUPFederal’noe Gosudarstvennoe Unitarnoe Predprijatie (Föderales Staatliches Monopolunternehmen)
FIGFinanz-Iindustrielle Gruppe(n)
FPAFederal’noe Agenstvo po promyschelnnosti(Föderale Agentur für Industrie)
FPSFederal’naja Pogranitschnaja Slugba (Föderaler Grenzschutz)
FSBFederal’naja Slugba Besopasnosti(Föderaler Sicherheitsdienst)
FSFOFederal’naja Slugbapo Finansovomu Ozdorovleniju i Bankrotsvo (Föderale Insolvenzbehörde)
FSNPFederal’naja SlugbaNalogovoj Polizii (Föderale Steuerpolizei)
GKOGosudarstvennye Kratkosrotschnye Obligazii (kurzfristige Staatsobligationen)
GOSPLANGosudarstvennyjPlanovy Komitet(StaatlichesPlankomitee)
GSGAGosudarstvennaja Slugba Gragdanskoj Aviazii (Staatlicher Dienst für zivile Luftfahrt)
GUSGemeinschaft Unabhängiger Staaten
HNSHolding Novoe Sodrugestvo (Holding Neue Gemeinschaft)
IFCIljushin Finance Corporation
IFSInternational Finance Corporation
IGPIInstitut Guminitarno-politischeskich Issledovanij (Institut für Humanitäre und Politische Wissenschaften)
KAPOKazanskoe Aviazionnoe Promyschlennoe Ob’edinenie (Kazaner Flugzeugvereinigung
KBKonstruktionsbüro
KiAPOKievskoe Aviazionnoe Promyschlennoe Ob’edinenie (Kievsker Flugzeugvereinigung)
KMUkleine und mittlere Unternehmen
KPdSUKommunistische Partei der Sowjetunion
LIKLetny Issledovatelny Kompleks (Flugversuchskomplex)
MAKMeggosudarstvennyj Aviazionnij Komitet (Zwischenstaatliches Luftfahrtkomitee – Zertifizierungsbehörde der GUS (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten))
MIKmilitärisch-industrieller Komplex
NIIEAPNautschno Issledovatel’skij InstitutEkonomiki Aviazionnoj Promyschlennosti (Wissenschaftliches Forschungsinstitut für die Wirtschaft der Luftfahrtindustrie)
NPKNautschno-Proizvodstvennaja Korporazija (Wissenschafts- und Produktionskomplex)
NRBNational’nyj Reservnyj Bank(Nationale Reserve Bank)
OAKOb’edinennaja Aviastroitel’naja Korporazija (Vereinte Flugzeugbauholding oder United Aircraft Corporation)
OAOOtkrytoe Akzionernoe Obschtschestvo(Offene Aktiengesellschaft)
OOOObschtschestvos Ogranitschennoj Otvetstvennost’ju(Gesellschaft mit beschränkter Haftung)
OPGOrganizirovannaja Prestupnaja Gruppirovka
OPKOboronno-Promyschlennyj Kompleks (Rüstungsindustriekomplex)
PPPPromyschlenno-Proizvodstvenny Personal (Produktionspersonal)
RAKRossiskij Aviazionno-Konsorzium (Russisches Luftfahrtkonsortium)
RAKARosaviakosmos (Rossiskij Aviazionno-KosmitscheskoeAgenstvo – Russische Luft- und Raumfahrtbehörde)
RATRemonta Aviazionnoj Techniki (Reparaturarbeiten für Luftfahrttechnik)
RAUDRegional’noe Agenstvo Upravlenija Dolgami (Regionale Behörde für Schuldenmanagement)
RFRussische Föderation
ROARussische Rüstungsbehörde (Rossijskie Oboronnye Agenstvo)
RSFSRRussische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik
SPSamoletnoe Proisvodstvo (Flugezugproduktion)
SSSRSojus Sovjetskich Sozialistitscheskich Respublik (Sowjetunion)
TPGTexas Pacific Group
UAPKUl’janovskij aviazionnyj promyschelnnyj kompleks imeni D. F. Ustinova (Ul’janovsker Industriekomplex unter der Leitung von D.F. Ustinov)
VALVnukov AirlinesVnukovskie Avialinii
VASOVoronegskoe Akzionernoe Samolotostroitel’noe Obschest’vo (Voroneschsker Flugzeugbau und Aktiengesellschaft)
VEBVneschekonombank
VPKVoenno-Promyschlennyj Komissia (Kommission für Rüstungsindustrie)
VTADVoenno Transportnoj Aviazionnoj Divizii(Division der Luftstreitkräfte)
VTBVoenno Transportnoj Aviazionnoj (Luftstreitkräfte)
VTSVoenno Technitscheskoe Strudnitschestvo (Kommission für rüstungstechnische Zusammenarbeit)
VVBVoennoVozduschnych Sil (Luftstreitkräfte)
VVPVoenno-Vozdusnyj Park (Flugzeugpark)
ZALIZ(Zentrale Leasinggesellschaft für Luftfahrt)
ZAOZakrytoe Akzionernoe Obschtschestvo
ZKZentralkomitee
ZTOZentr Technitscheskogo Obslugivanija (Zentrum für Technische Wartung)
ZTO-EAT(Zentrum für Technische Wartung und Test der Luftfahrttechnik)
Die Buchstaben des russischen Alphabets
А аAa
Б бBb
В вVv
Г гGg
Д дDd
ЕеE e
Ж жGg
З зZz
И иIi
Й йJj
К кKk
Л лLl
М мMm
Н нNn
О оOo
П пPp
Р рRr
С сSs
Т тTt
У уUu
Ф фFf
Х хChch
Ц цZz
Ч чTschtsch
ШшSch sch
ЩщSchtsch schtsch
Ь’
ЫыY y
ЭэE e
ЮюJu ju
ЯяJa ja
In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre scheiterte der letzte Versuch, die Krise des staatssozialistischen Gesellschaftsentwurfs systemimmanent zu überwinden. An der Wende zu den 1990er Jahren mündete diese Krise in den schnellen Zusammenbruch des Gesamtsystems. Ein radikaler Neubeginn schien ebenso nötig wie möglich. Im Gefolge des Herbstes 1989 zerfiel die sowjetisch dominierte Hemisphäre der Welt;die ehemaligen SatellitenstaatenOstmitteleuropasführtendemokratische Spielregelnein.Durch einenPutsch kommunistischer Hardlinerwurdeim August 1991auch der Untergang derSowjetunionbesiegelt;als Gebot der Stunde erschiender Übergang zur Demokratie. Am Jahresende 1991 erlangten die fünfzehn ehemaligen Unionsrepubliken ihre völkerrechtliche Souveränität, und am1. Januar 1992 begannen in Russland radikale Wirtschaftsreformen,welche dieEinführung der Marktwirtschaftzum Ziel hatten.
So radikal und umfassend dieser Neubeginn für das postsozialistische Russland war, begann er doch nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum. Er wurde vorangetrieben und gebremst durch Akteure, die selbst einen Wandlungsprozess durchlebten und mehr oder weniger kompetent von außen beraten wurden. Die bisherigen Regelsysteme waren in ihrer Geltung erschüttert, aber keineswegs über Nacht abgelöst. Neue Regeln mussten nicht nur gesetzt, sondern auch ausgehandelt, angepasst und durchgesetzt werden. Russland durchlebte daher in den vergangenen zwei Jahrzehnten politische, ökonomische, soziale und kulturelle Entwicklungen, die widersprüchlich und manchmal hochdramatischverliefen. Kerninstitutionen der Demokratie wurden zwar geschaffen, erwiesen und erweisen sich aber oft als nicht effektiv. Die Umwandlung des„Volkseigentums“ in privates Eigentum schuf keine freie Marktwirtschaft, sonderneine hybride Ökonomie mit einem starken staatskapitalistischen Sektor. Der überwiegende Teil der Bevölkerung bezahlte einen hohen Preis für das beispiellose Experiment der postsowjetischen Transformation.
Aus diesem Kontext schöpft die vorliegende Langzeitbeobachtung des Schicksals eines großen russischen Flugzeugherstellers ihre Bedeutung. Nicole Kromeverfolgt die Entwicklung von„Aviastar“ über mehr als zwei Jahrzehnte.Auseinem Ende der 1970er Jahre gegründeten Großbetrieb der sowjetischen Rüstungsindustrieverwandelte sichdas Unternehmen nach seiner Privatisierung im Jahre 1991 für über zehn Jahrein einObjekt der Begierde unterschiedlicher Investoren, bevor es in der ersten Amtszeit Putins wieder in zentralstaatliche Steuerungsstrukturen eingegliedert wurde. Die Geschichte, die Nicole Krome anhand akribischer Recherchen präsentiert, ist voller Dramatik, sie betrifft einen gewichtigen Fall, und die Autorin verfolgt geduldig die immer wieder neuen Anläufe, die Rettung für „Aviastar“ versprachen und dann doch erneut scheiterten. Der lange Atem dieser Studie ist einerihrer großen Vorzüge gegenüberanderen Fallstudien über den Verlauf derUnternehmensprivatisierung und-restrukturierung beim Übergang von der sowjetischen Zentralverwaltungswirtschaft zueinem„something else“.
Die Autorin zeigt, wie unter den Bedingungen eines chaotischen Rückzugs des Staates aus der Wirtschaft und fehlender oder schwacher formaler Institutionenes letztlichkonkurrierende Personennetzwerkeund ihre Interaktionen waren, dieden Lauf der Ereignisse bestimmten. In dieser Geschichte sind es nicht nur die Insider-Privatisierung und der daraus resultierende Kapitalmangel, Innovationsdefizite und fehlende Zugänge zu globalen Märkten, welche den Niedergang des Unternehmens erklären, sondern es sind in erster Linie rivalisierende, einander blockierende, wechselnde, inkompetent oder gar kriminell operierende „Seilschaften“, welche versuchten, die Kontrolle über „Aviastar“ zu gewinnen. Keinem dieser Netzwerke gelang es, sein Potential für die Restrukturierung des Unternehmens zu nutzen. Inadäquate Anreizstrukturen einerseits, das „Wuchern“ interpersoneller Beziehungsnetzwerke andererseits, die sich zunehmend miteinander verflochten, lähmten – so die Autorin – die Handlungsfähigkeit der Investoren.
Nicole KromesTheselautet demnach: Diese Netzwerke haben als Koordinationsmechanismus versagt; sie führten nicht zur effektiven Restrukturierung des Unternehmens, sondern dienten der Abschöpfung und Verteilung von Unternehmenswerten. Aber auch die Alternative „hierarchische Steuerungdes Wandels“ erweist sich nicht als überlegen, wie die Autorin ebenfalls zeigt.Sieargumentiert, dass die Integration von „Aviastar“ in die Steuerungskette der Präsidialadministration, die seit dem Jahre 2002 in wechselnder Form vollzogen worden ist, das Unternehmenebenso wenigweltmarktfähig gemacht hatwie seine vorangegangene Preisgabe an private Akteure und deren informelle Koordinationsformen. Auch unter zentralstaatlicher Kontrolle blieben die fälligen Modernisierungs- und Innovationsprozesse aus.
Im systematischen Sinne weisen die Befunde der vorliegendenUntersuchung also weit über ihrenunmittelbarenForschungsgegenstand hinaus,bereichernsie dochdieDiskussion über die Koordination und Steuerung komplexer Wandlungsprozesse. Aber auch in ihrem unmittelbaren Ertrag als Fallstudie ist sie bemerkenswert. Neben der Länge des erfassten Zeithorizonts betrifft dies insbesondere die akribische Rekonstruktion der Akteureund ihres Handelns: Illustriert wird, dass es nicht nur „Oligarchen“, ihre Interessen und Interaktionen mit der „Mafia“ und dem „Staat“, sind, welche den Verlauf der postsowjetischenTransformation der russländischen Industrie geprägt haben, wie oft angenommen wird. Wesentliche handelnde Personen im Fall von „Aviastar“ sind vielmehr, neben Insidern aus Politik und Wirtschaft, insbesondere ein ägyptischer Geschäftsmann und ein berühmter russischer Filmregisseur, die in ihren Netzwerken jeweils sehr spezifische Ressourcen mobilisieren konnten.
Ob die„Schocktherapie“ der frühen 1990er Jahrefür die Wirtschaft Russlands alternativlos war oder als gigantische wirtschafts- und sozialpolitische Fehlentscheidung zu bezeichnen ist, bleibt bis heute umstritten. Sicherlich ist sie in dem Sinne gescheitert, dass sie keinen schnellen, effizienten, im hergebrachten Sinne „erfolgreichen“ Übergang vom Staat zum Markt erzwingen konnte. Für die tatsächlich ablaufenden Prozesse war, im Großen wie im Kleinen, über lange Jahre charakteristisch, was die vorliegende Studie anhand ihres Falls detailliert nachvollziehbar macht: ihre geringe Steuerbarkeit und hohe Kontingenz.
Petra Stykow
Warum konnte Russland sein umfassendes technologisches und industrielles Potenzial nicht nutzen, um die Deindustrialisierung zu verhindern oderum heuteeine Reindustrialisierung zu ermöglichen? Dafür gibt es sicherlich viele Gründe.
Ähnlich wie die anderen sozialistischen Länder war Russland für mehrere Jahre indasstaatliche und ökonomische Chaos eines historisch einmaligen Transformationsprozesses gestürzt, der praktisch alle gesellschaftlichen Bereiche erfasste. Infolge dessen waren alle formellenStrukturender Koordination weitgehend außer Kraft gesetzt.Diese Transformationsprozesse lassen sich mit keinem anderen Land vergleichen, weder mit der Transformation in China oder in den Ländern Lateinamerikas noch mit den Umwandlungsprozessen in den klassischen Entwicklungsländern. Dabei bestätigte sich das von Offe dargelegte Problem der Gleichzeitigkeit als wesentlicher Unterschied.[1]In China beispielsweise wurde das wirtschaftliche System in eine Marktwirtschaft umgewandelt,währenddas politische Systemzunächsteinmal in seinen Grundstrukturen bestehenblieb. In Lateinamerika hingegen wurden diktatorische, autoritäre Regime in eine Demokratie transformiert. Die Transformation des wirtschaftlichen Systems von einer tendenziell staatswirtschaftlichen in eine private Ökonomie standdagegen nicht im Vordergrund. Einen analytischen Nutzen aus dem Vergleich mit den Umwandlungsprozessen in den Entwicklungsländern zu ziehen, ist schon deshalb schwierig, weil es hier, vorwiegend an entwicklungstheoretischen Überlegungen ausgerichtet, vor allem um den Übergang von einer Subsistenzwirtschaft in die Industriewirtschaft ging. In den osteuropäischen Ländern hingegen gab es schon eine hochentwickelte Industriebasis. Dies traf insbesondere auf die Sowjetunion zu.
Die Industrie der Sowjetunion basierte vor allem auf der Schwerindustrie,und diese wurde wiederum von der Rüstungsindustrie dominiert. Bis Mitte der 1980er Jahre stellte die Schwerindustrie 75Prozentder landesweiten Industrieproduktion, davon entfielen rund 80Prozentauf die Rüstungsindustrie[2], die auch 3/4 aller Forschungs- und Entwicklungsressourcen verbrauchte.[3]
Die hohen industriellen und technischen Voraussetzungen des Landes ließen damals nicht nur die Wissenschaftler in Moskau[4]davon ausgehen, dass das Land eher mit den Industrienationen als mit den Entwicklungsländern vergleichbar sei und der Anschluss an die westlichen Volkswirtschaften ohne große Opfer vollzogen werden könne. Ein auf den ersten Blick naheliegenderSchluss, letztlich gehörte die Sowjetunion neben den USA zu den führenden Weltmächten und konkurrierte mit den führenden Industrienationen auf dem Weltmarkt. Unabhängig davon, dass sich die internationale Wettbewerbsfähigkeit nur auf die hochsubventionierte rüstungsindustrielle Produktion beschränkte, setzte diese Einschätzung die häufig unterschätzte Annahme voraus, dass sich die unter realsozialistischen Bedingungen akkumuliertenProduktionsmittel mit Kapital gleichsetzen ließen.
Neben der Problematik der Transformation realsozialistischer Produktionsmittel in Kapitallittdas Land untereinerÜbermilitarisierung. So waren die zivilen Industrien technologisch rückständig, ihr Kapitalstock war veraltet und ihre Produktionsmengen zu gering.[5]Die Sowjetunion war, wie Götz treffend schrieb, „nicht eigentlich ein Industriestaat mit hohen Rüstungsausgaben, sondern vielmehr eine permanente Kriegswirtschaft mit peripherer Zivilproduktion.“[6]Dementsprechend war eine Restrukturierung des Landes, das hieß die Nutzung der im Militär-Industriellen Komplex[7]gehorteten hochtechnologischen Ressourcen für die Modernisierung der zivilen Industrien, eine unausweichliche Aufgabe,wollte das Land den Anschluss an die anderen Industrieländer schaffen. Und so hatte GorbatschowAnfang 1988 auf der XIX.Parteikonferenz die „soziale Reorientierung unserer Ökonomie“[8]angekündigt und der Rüstungsindustrie hierbei eine Schlüsselstellung zugesprochen.Soziale Reorientierung meintehierdie Umstellung der Produktion von militärischen Gütern auf die Herstellung von Konsum- und Verbrauchsgütern.
In Moskau ging man davon aus, dass die im Rüstungssektor gehorteten Ressourcen relativ problemlos für die Modernisierung der gesamten Volkswirtschaft genutzt werden könnten. Aufgrund der allgemeinen[9]sowiederspezifischen Konversionsschwierigkeiten[10]scheiterte die Rüstungskonversion unter Gorbatschowjedoch. Aber auch das postkommunistische sozioökomische System hatte erhebliche Schwierigkeiten,die bestehenden volkswirtschaftlichen Ressourcen für den technologischen und wirtschaftlichen Anschluss an die Entwicklungen der internationalen Industrienationen zu nutzten. Es kam zu einer einzigartigen Deindustrialisierung des Landes und einer wachsenden Abhängigkeit von den extraktiven und rohstoffnahen Exportbranchen, wodurch die russische Volkswirtschaft zunehmend von den Symptomen der „Dutch Disease“[11]gezeichnet war. Bis heute fehlen dem Land breit angelegte Innovations- und Wertschöpfungssysteme, die für einen Strukturwandel unabdingbar sind. Dementsprechend geht die Reindustrialisierung gerade in den hochtechnologischen Industrien, abgesehen von einigen Prestigeprojekten, kaum voran.
Aufgabe dieser Arbeit ist es, die Gründe für die chronischen Restrukturierungsresistenzen zu erfassen und zu verstehen. Dafür gibt es sicherlich viele Gründe. Im Rahmender vorliegenden Untersuchungwerden die Restrukturierungsprozesse unter der Perspektive der Netzwerke analysiert.
Dieser Blickwinkel scheint umso sinnvoller, als mit der Systemimplosion 1991 erst einmal alle bekannten formellenMöglichkeitender Koordination weitgehend außer Kraft gesetzt worden waren. Geblieben waren allein die informellen Institutionen und Interaktionsformen. Die nun eingeführten Koordinationsmechanismen des Kapitalismus mit ihrenspezifischenAnreizenundhierkaum funktionierenden Sanktionsimpulsen zeigten sich noch weniger geeignet,die anstehenden Restrukturierungsaufgaben zu bewältigen,als das alte Wirtschaftssystem. Während für einen funktionsfähigen marktwirtschaftlichen Kapitalismus der Strukturwandel automatisch dazu gehört, stagniert der Restrukturierungs- und Reindustrialisierungsprozess in Russland nach 20 Jahren Kapitalismus noch immer. Es war also ein Gesellschaftssystem entstanden, das weit von einem marktwirtschaftlichen Kapitalismus entfernt war. Ein Tatbestand,der, wie insbesondere David Stark betont hatte, nicht weiter verwunderlichist. Zwar waren nach 1991 die formellen Fassaden gewechselt worden, aber das gesamte soziale Gefüge des alten Systems hinter den Fassaden war noch immer existent.[12]Dieses soziale Gefüge basierte vor allem auf Netzwerken. Es ist kein Geheimnis, dass schon zu Zeiten der Sowjetunion informelle Netzwerke existierten und menschliches Handeln wesentlich durch die informelle Mobilisierung von sozialen Relationen bestimmt wurde. Diese lösten sich nach 1990 bekanntermaßen nicht einfach in Luft auf, sondern sie haben sich im Chaos der postsowjetischen Phase der 1990er Jahre reproduzieren können.[13]Nun stellt sich allerdings die Frage, wie dieses soziale Gefügesich entwickelt hatteund welches Gesellschaftssystem des Kapitalismus entstanden war.
King und Szelenyi hatten das postkommunistische Gesellschaftssystem in Russland als Kapitalismus „von oben“ oder als patrimonialen Kapitalismus beschreiben.Dabei könnengerade über die Beschreibung des patrimonialen Charakters dievertikalengesellschaftlichen Interaktionsformen des postsowjetischen Systems sehr gut erfasst werden.[14]Aufgrund der Vielfalt an informellen Praktiken,derVergabe von Sonderprivilegien,derSchwäche der Institutionen bei der Durchsetzung von politischen Maßnahmen undderVielzahl an Akteuren,die auf die Restrukturierungsprozesse Einfluss zu nehmenversuchen, lässt bezweifeln, dass dieseProzesse vorwiegend durchTop-down-Entscheidungen einer mehr oder weniger handlungsfähigen politischen Elite gelenkt wurden. Vielmehr ist davon auszugehen, dass das Gesellschaftssystem durchBottom-up-Prozesse mitbestimmt wird. Diese Prozesse werden dabei vor allem von Netzwerken initiiert und getragen.Über diese Netzwerkperspektive lässt sich auch die geringe Durchschlagkraft der Top-Down-Modernisierung unter Putin erklären.Das heißt nicht, dass es keineTop-down-Prozesse gibt. Allerdings wurden und werden auch diese maßgeblich über Netzwerke gelenkt. Während der Großteil der Forschung sich vor allem auf Institutionen konzentriert und Netzwerke gerne als Randerscheinung marginalisiert, werden in der vorliegenden Arbeit Netzwerke und ihre vorwiegend informellen Interaktionssysteme als zentrale Größe zur Beschreibung gesellschaftlicher Koordinationsprozesse herangezogen. Vor diesem Hintergrund ist es hilfreich,von einem Netzwerkkapitalismus[15]zu sprechen.
Während in den sozialwissenschaftlichen Debatten Netzwerke vor allem im Zusammenhang mit den asiatischen Transformationen als entscheidendes Charakteristikum für die erfolgreichen Modernisierungsprozesse diskutiert werden[16], zeigen sie in den postkommunistischen russischen Restrukturierungsprozessen einen höchst ambivalenten Charakter. Anhand der Restrukturierung eines russischen Luftfahrtkomplexesaus dem rüstungsindustriellen Bereich kann aufgezeigt werden, warum die Netzwerke ihre Potenziale nicht für Restrukturierungsaufgaben nutzen können, sondern die Prozesse vielmehr durchLock-in-Szenarien, emergente komplexe Fragmentierungsdynamikensowiebelastende Abschöpfungs- und Verteilungsstrategien blockiert werden.Die Arbeit ermöglicht damit einen Einblick in die Funktionsweisen des russischen Wirtschaftssystems und seinen Modernisierungsresistenzen.
Die Frage der Modernisierung und Reindustrialisierung in Russland ist gleichzeitig eine Frage der Restrukturierung, da im Rüstungssektor der Großteil der industriellen und hochtechnologischen Ressourcen konzentriert war– ein Tatbestand, den erst Gorbatschow offiziell zu benennen wagte. Auf dem XXVIII. Parteitag der KPdSU im Juli 1990 beklagte er, dass die „Militarisierung der Wirtschaft kolossale – und zwar die besten materiellen und intellektuellen – Ressourcen verschlungen hat“.[17]Die zentrale Frage wardaher, wie die in den Rüstungsindustrien gehorteten Ressourcen für die zivilen Industrien genutzt werden können. DiesesProblemstellte sich umso dringender,als mit dem Ende der UdSSR der neue Staat sich einen Komplex dieses Ausmaßes gar nicht mehr leisten konnte. Wenn aber der gesamte Rüstungskomplex–und damit die industrielle „Kernkompetenz“ der ehemaligen Weltmacht–nicht stillgelegt werden sollte, mussten ihre Akteure sich früher oder später der Restrukturierungsaufgabe stellen.
Der Restrukturierungsprozess umfasstezwei Aufgaben: zum einen die Rüstungskonversion, zum anderen die Umstellung von einem planwirtschaftlichen Betrieb hin zu einem marktwirtschaftlich agierenden Unternehmen. Mit anderen Worten mussten die Akteure nicht nur lernen, zivile Flugzeuge herzustellen, sondern auch, wie man damit – im marktwirtschaftlichen Sinne – Geld verdienen kann.
Während die technische Umwandlung voneinermilitärtechnischenhin zu einer zivilausgerichtetenProduktion aufgrund des technischen Know-howsrelativ leicht bewerkstelligt werden konnte, stellte der zweite Aspekt das eigentliche Problem des Restrukturierungsprozesses dar:die Umwandlung von realsozialistischem in „echtes“ Kapital. Man könnte diesen Prozess auch als Kapitalisierung beschreiben. Wesentliche Faktoren dieser Umwandlung hatte niemand dezidierter beschrieben als Karl Marx, wenn auch in deren ausbeuterischsten Form und unter der Annahme eines gegenläufigen Entwicklungsverlaufes der Gesellschaftsform. In seiner Theorie über die „ursprüngliche Akkumulation“ sind Geld, Waren und Produktionsmittel nicht automatisch Kapital, sondern zunächst lediglich Produktionsmittel, die in Kapital verwandelt werden müssen.[18]Dafür müssen, um mit Marx zu sprechen,die Unternehmen lernen,die Ressourcen so effizient einzusetzen, dass sie einen Produktpreis erzielen, der mindestens die Entlohnung der Produktionsfaktoren sicherstellt. Darüber hinaus sind ständige Investitionen in eine fortschrittliche Technologie notwendig, um über eine effiziente Kostenstruktur eine Kapitalakkumulation zu erreichen.[19]Damit hatte Marx wesentliche Punkte des Umwandlungsprozesses, also des transformatorischen Aspektes der Restrukturierung, beschrieben.
Die Restrukturierung wird demnach im Rahmen dieser Arbeit als die gewinnorientierte Neuausrichtung der realsozialistischen Ressourcen und Prozesse an die Nachfragebedürfnisse des zivilen Marktes über Produktionseffizienz, Investitionen und Innovationen definiert. Dabei umfasst der Umwandlungsprozess den gesamten Wertschöpfungs- und Innovationsprozess, angefangen bei der eigenständigen Koordination und Finanzierung von Forschung und Entwicklung[20]über die Produktion bis hin zu der Entwicklung der marktnahen Unternehmensfunktionen wie Marketing, Vertrieb und Kundenservice.Vor dem Hintergrund der wesentlichen institutionellen Schwächen und der fundamentalen ökonomischen Krise hing der Restrukturierungserfolg eng mit den Netzwerkkompetenzen der handelnden Akteure zusammen, zumal die Unternehmen nach dem Wegfall der hierarchischen Koordination die Integration der an den Wertschöpfungsprozessenund Innovationszyklen beteiligten Akteure selber organisieren mussten.
Untersuchungsgegenstand: Flugzeugkomplex Aviastar
In dieser Arbeit werden die Restrukturierungs-und Netzwerkprozesseanhand derAnalyse eines hochtechnologischen Großunternehmens aus der Luftfahrtindustrie, des Flugzeugherstellers Aviastar, beschrieben. Die Aviastar ist ein typischer Flugzeughersteller des sowjetischen MIK. Allerdings war er der letzte in der Sowjetunion gebaute Komplex und damit auch der modernste und mit seinen ursprünglich 36000 Mitarbeitern auch einer der größten des Landes. Der Flugzeugkomplex liegt 893km südlich von Moskau in derOblast Ul’janovsk. Ursprünglich hieß die Aviastar„Ul’janovsker Flugzeugkomplex UAPK imeni D. F. Ustinova“.[21]Nach der Privatisierung im Jahr 1991 wurde sie in„OAO[22]UAPKAviastar“umbenannt. Umgangssprachlich wurdeallerdingsnur von der Aviastar gesprochen. Der Ul’janovsker Betrieb isteinHersteller für die Flugzeugkonstruktionen des ukrainischen Konstruktionsbüros (KB) Antonov und des Moskauer KB Tupolev. Die Aviastar produzierte zwei Flugzeugmodelle: den militärischen Schwertransporter An-124 (Ruslan) sowie das Mittelstreckenflugzeug Tu-204. Mit diesen beiden Flugzeugen hatte die Aviastar relativ gute Voraussetzungen für die Restrukturierung ihres Betriebes, denn beide Flugzeuge verfügten über ein „ziviles“ Wettbewerbspotenzial.
Die zentrale Fragestellung lautet: Welchen Einfluss haben die Netzwerke auf die Restrukturierung der Aviastar? Unter der Annahme, dass Netzwerke maßgeblich für das Handeln der Akteure sind, soll erklärt werden,wie Netzwerke funktionieren, handeln und wie sie miteinander interagieren. Im Hinblick auf die marktwirtschaftlichen Restrukturierungsanforderungen muss deutlich werden, inwieweit Netzwerke eine ökonomisch rationale, effektive und marktorientierte Ressourcenallokation fördernoderob sievielmehr zu einer nichtmarktwirtschaftlichen und nichtrestrukturierungsfreundlichen Nutzung führen. Dabei ist zu überprüfen, inwieweit Netzwerke ein Kooperations- bzw. Koordinationspotenzial generieren, um möglicherweise die formellen Organisationen und Institutionen ersetzen zu können.
Die These der vorliegenden Arbeit lautet, dassdieNetzwerkeim vorliegenden Fallihr Kooperationspotenzial nicht für die Restrukturierungsprozesse nutzenkönnenund diese vielmehr blockieren.DieErarbeitung derGründedafür,gehörtzu derzentralenAufgabestellungder Arbeit.
In Anbetracht der Schlüsselstellung der Rüstungssektoren für die Industrialisierung stehen dieseAufgabein einem engen Zusammenhang mit den Innovationssystemen und den Reindustrialisierungschancen und -grenzen des Landes. DievorliegendeArbeit ermöglicht,dabei die Rolle und Komplexität von Netzwerken in den Restrukturierungs- und Innovationssystemen zu überprüfen.
Umfassende Studien über die Wechselwirkung zwischen den Restrukturierungsprozessen in der Rüstungsindustrie und der gesellschaftlichen Transformation gibt es kaum. Bereits in der ersten Hälfte der 1990er Jahren wurde eine Reihe empirischer Fallstudien aus der Perspektive der Rüstungskonversion vorgelegt,[23]die jedoch nur selten einen Bezug zwischen der Konversion der Rüstungsbetriebe und dem Übergang zur Marktwirtschaft herstellten.[24]Mit dem offensichtlichen Scheitern der Konversion verschwanden die Unternehmensprozesse der russischen Rüstungsindustrie nach 1996 dann auch vollständig von der Agenda der internationalen Konversions- und Friedensforschung.
Als Gegenstand der Transformationsforschung blieb die Umstellung der Rüstungsunternehmen jedoch peripher. Neben sporadischen Beiträgen in Sammelbänden[25]ist insbesondere Julian Coopers Studie über die politischen und administrativen Veränderungen des MIK um die Wende zu den 1990er Jahren zu erwähnen.[26]
Forschungen über die formal-institutionellen Rahmenbedingungen der marktwirtschaftlichen Transformation in Russland liegen in weitaus größerer Zahl vor. Untersucht werden dabei Probleme der Unternehmensprivatisierung und Corporate Governance, derEinführung marktwirtschaftlicher Institutionen (Eigentumsrechte, Privatisierung, Wettbewerb, Preisliberalisierung) und ihrer rechtlichen Ausgestaltung.[27]Obwohl dabei die zentralen, marktwirtschaftliches Handeln induzierenden Institutionen behandelt werden, greift der RahmensolcherAnalyse für die Fragestellungder vorliegendenArbeit zu kurz. Denn de facto setzen die Autoren mehr oder weniger die Existenz eines marktwirtschaftlichen Wirkungsgefüges voraus. Dies war aber in der Realität der russischen Transformationsgesellschaft kaum gegeben. Problematisch sind solche Beiträge, die sich relativ rigide an ökonomischen Modellen undin hohem Maßegeneralisierten Annahmen orientieren und sich damit methodisch zwar absichern können, inhaltlich aber nur geringes Erklärungspotenzial bieten. Das trifft auch auf die in den letzten Jahren geführte Debatte über dievarieties of capitalismzu, welche sich mit den spezifischen institutionellen Konfigurationen von Marktwirtschaften und Wettbewerbsvorteilen der entwickelten Industriegesellschaften sowiederSchwellen- undEntwicklungsländer auseinandersetzt.Sie lässt sich allerdings nur bedingt auf die russische Transformationsgesellschaft übertragen, bei der es sich weder um einen liberalen Kapitalismus noch um einen koordinierten korporatistischen Kapitalismus handelt.[28]
Für die vorliegende Arbeit von größter Bedeutung sind daher Perspektiven, welche die Existenz marktwirtschaftlicher Institutionen nicht voraussetzt, sondern ihre Entstehung als dynamischen Prozess in den Blick nimmt. Für eine genaue Erklärung der osteuropäischen Transformationsprozesse sind dabei vor allem Arbeiten, die die informellen Institutionen und Prozesse konzeptualisieren,von Bedeutung. Eine Konzeptualisierung der informellen Interaktionssysteme istjedochschwierig. Dementsprechend besteht in diesem Bereich ein hoher Forschungsbedarf.[29]
Während es für die Öl- und Gasindustrie sowie den Bankensektor branchenspezifische Fallstudien gibt, welche die informellen Interaktionsmuster und Strategien in der Mitte der 1990er Jahre untersuchen[30], liegen keine aktuellen Forschungsarbeiten zum MIK vor. Es gibt allerdings eine Reihe von Studien, die einen guten allgemeinen Einblick in die informellen Strukturen und Prozesse der russischen Transformation geben. Dazu gehören insbesondere Beiträge der russischen Wissenschaftler,die sich mit Themen der Wirtschaftskriminalität, Korruption, Schutzgelderpressung, der Nutzung von Schutzdiensten und administrativen Dienstleistungen beschäftigten.[31]Andere Studien haben grundlegende informelle Strategien wie Blat(Austauschsystem von Gefälligkeiten zwischen Freunden und Bekannten)[32]-, Barter-und Rent-Seeking-Methoden fallstudienbezogen herausgearbeitet.[33]In einigen Untersuchungen kann dabei gezeigt werden, dass die informellen Strategien in historischer Kontinuität mit der sowjetischen und vorsowjetischen Verwaltungspraxis stehen.[34]
Generell fehlt es allerdingsan neueren Studien, die die verschiedenen informellen Interaktionsmethoden und ihre Veränderungen empirisch genau erfassen. In den letzten Jahren wurden informelle Strukturen unter Putin mit allgemeinen Begriffen wie „Militarisierung“(für die informelle Rekrutierung der politischen und administrativen Eliten aus den Repressionsapparaten), BusinessCapture(für das „Entern“ des Staates durch reiche Großunternehmer),StateCapture(für den umgekehrten Prozess einer administrativen „Übernahme“ des Privatsektors)und (Re-)Sowjetisierung(für die erneute Steuerung der gesellschaftlichen Prozesse unter einer autoritärenFührung einer politischen Elite)beschrieben.[35]Die Wirksamkeit der informellen Interaktionsformen empirisch zu belegen ist jedoch generell schwierig. Das trifft besonders für die jüngere Entwicklung zu, was sowohl als das Ergebnis einer Formalisierung der informellen Interaktionsprozesse interpretiert werdenalsauch für eine „Professionalisierung“, d.h. eine Verfeinerung der Verschleierung informeller Interaktionsformen, sprechen kann. Dies stellt große Anforderungen an eine brauchbare empirische Bestandsaufnahme.[36]
Neben den empirischen Herausforderungen besteht auch ein theoretisches Defizit. Die informellen Strukturen und Prozesse durchdringen fast alle gesellschaftlichen Bereiche der russischen Transformation.[37]Das Problem der Forschung besteht darin, dass es an einer in sich konsistenten und übergeordneten Theorie fehlt. Die Arbeiten von North oder Helmke/ Levitsky geben wichtige Anhaltspunkte, reichen aber kaum für eine umfassende Konzeptualisierung der informellen Interaktionsprozesse.[38]Letztlich fehlt ein Konsens über Art und Inhalt von Schlüsselkonzepten, mit welchen die vielfältigen empirischen Probleme erfasst und geordnet werden können. Zum anderen ist kaum operationalisiert, wie informelle Strukturen, Regulationen und Funktionen deskriptiv erfasst und miteinander verglichen werden können. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll das theoretische Defizit über die Netzwerkperspektivevermindertwerden. Einen Anhaltspunkt gibt die Netzwerkforschung. Bezogen auf postsozialistische Netzwerke stehtallerdingsauch diese Perspektive am Anfang, wenngleichbereits eine Reihe von Studien vorliegt.[39]Nebender Erarbeitung derinhaltlichen Konzepte, stellt die Konfrontation mit dentheoretischenLückenzwischen den Strukturen, den Akteuren und ihren Interaktionsformeneine Herausforderung dar.
Die Erfassung der Restrukturierungsprozesse unter dem Einfluss von Netzwerken wird in der vorliegenden Studie über die Analyse der Unternehmensprozesse eines hochtechnologischen Großunternehmens ausderRüstungsindustrie,des Ul’janovsker Flugzeugkomplexes UAPK Aviastar,im Rahmen einer Fallstudie durchgeführt. Vor dem Hintergrund der Transformation und der historischen Perspektive umfasst die Analyse ein Zeitfenster von 25 Jahren, angefangen bei Strukturen und Prozessen zur Zeit derspätenSowjetunion bis zum Jahr 2006.
Datengewinnung
Da es sich bei den Netzwerkprozessen uminformelle Interaktionsformen handelt, bestand das Problem, die für eine brauchbare empirische Bestandsaufnahme notwendigen Daten zu gewinnen. Erschwert wurde die Erfassungdadurch, dasses sich vor allem um nichttransparente Zusammenhänge in einem traditionellen Rüstungskomplex handelte. Die tradierte Mentalität der Geheimhaltung, das Misstrauen gegenüber ausländischen Akteuren erschwerte die Befragung erheblich.[40]
Grundlage der Datengewinnungder vorliegendenFeldstudie waren mehrstündige Gespräche mit Experten und relevanten Akteuren aus dem direkten Umfeld der Aviastar in Ul’janovsk und in Moskau. In den meisten Fällen willigten die Interviewpartner nicht ein, die Interviews mit einem Tonband aufzuzeichnen. Die Interviews sind demzufolge als Gesprächsprotokolle im Anhang dieser Arbeit angeführt
Darüber hinaus basiert die Arbeit auf der Auswertung von Primär- und Sekundärliteratur vorwiegend russischer Quellen. Zu den wichtigsten Quellen gehörten die Berichte des Rechnungshofes der Russischen Föderation, der Regionalen Behörde für Schuldenmanagement RAUD (Regional’noe Agenstvo Upravlenija Dolgami) sowie des staatlichen Forschungsinstituts NIIEAP (Nautschno Issledovatel’skij Institut). Über diese Institutionen war es möglich, einen weitgehend objektiven und direkten Einblick in die betrieblichen Kennzahlen des Komplexes zu bekommen. Diese Daten sind der Ausgangspunkt, um beurteilen zu können, ob ein Akteur in seinen Handlungen ökonomisch-rationalausgerichtet oder an nicht ökonomischen Größen orientiert ist.
Neben wichtigen überregionalen Zeitschriften und Zeitungen für Wirtschaft und Politik, wie dem„Kommersant“, der„Izvestija“,„Vedomosti“ und„Kompanija“stellten gerade die regionalen Zeitschriften, wie der„Narodnaja Gazeta“und der„Simbirskij Kur’er“eine wichtige Grundlage für die Informationsgewinnung.
Theoretische Konzeptualisierung
Die theoretische Konzeptualisierung der Studie stellte in Anbetracht der für die Analyse postkommunistischerGesellschaften noch nicht ausreichend entwickelten Netzwerkforschung eine Herausforderung dar. Dabei bedingt die Arbeit einen relativ offenen Analyserahmen, der sowohl die Interaktionsformen zwischen den Akteuren konzeptualisiert als auch makro- und mikrosoziologische bzw. institutionelle als auch akteursbezogene Elemente verbindet. Vor diesem Hintergrund stellt das Analysekonzept des von Mayntz und Scharpf 1995 entwickelten Ansatzes des „akteurszentrierten Institutionalismus“ einen wichtigen Anhaltspunktdar. Allerdings mussder Ansatz im Hinblick auf die Fragestellung der vorliegenden Arbeit auf die Anwendung für die Netzwerkprozesse in der postkommunistischen Transformationsgesellschaft abgewandelt werden.[41]
InhaltlicherAufbau der Arbeit
Dieser Aufgabe widmet sich das Theoriekapitel. Dabei werden dieBegrifflichkeiten und Erkenntnissen der Netzwerkforschungmit dem Analysekonzept des akteureszentrierten Institutionalismus auf qualitativer Ebeneverbunden
Die Kapitel drei bis sieben behandeln die Feldstudie. Die Arbeit unterscheidet vier Zeitphasen, die den Aufbau der Arbeit vorgeben und die sich den spezifischen Problemender jeweiligen Zeitphasen widmen. In Kapitel drei werden die formellen und informellen Interaktionssysteme (Top-down- und Bottom-up-Interaktionsprozesse) der Aviastar im Rahmen derzentralen Verwaltungswirtschaft analysiert. Sie stellen die Ausgangslage für die 1991 beginnenden Restrukturierungsprozessedar. In dieser ersten Phase stehen die Netzwerkaktivitätenim Mittelpunkt, diemit der Aviastarzur Privatisierung desersten Werksder Luftfahrtindustrie führen. Kapitel vier untersucht die Folgen der Privatisierung auf die Wertschöpfungs- und Innovationsprozesse des Werkes unter dem Einfluss neuer und alter Netzwerke. Es stellt die Adaptionsphase des Werkes an den Systemwechsel dar. In den zwei folgenden Zeitphasen (Kapitel fünf und sechs) gerät das Werk zunehmend unter den Einfluss verschiedener externer Investoren und ihrer Netzwerke. In diesen Abschnitten kann gezeigt werden, wie eine Restrukturierung „von unten“ über dezentrale Akteure in einem netzwerkorientierten Umfeld aussieht. Die großen Unterschiede zwischen den verschiedenen Interaktionssystemen (Akteure, Strukturen, soziale Bindungen, Integrationsgrad, Vernetzungsgrad, Handlungsfähigkeit, Strategien) bilden eine gute Grundlage für eine vergleichende Akteursanalyse. Das letzte Kapitel beleuchtethingegendie Restrukturierung „von oben“, sprich die hierarchische Steuerung der Restrukturierungsprozesse,von der die letzte der hier betrachteten Phasen der Entwicklung geprägt ist:Seit 2003 fiel das Werk unter die Führung der Netzwerkstrukturen des Präsidenten Putin, und die hierarchischen Steuerungsprozesse dauern bis heute an.
In der Schlussbetrachtung (Kapitel 8) werden die Möglichkeiten und Grenzen der Netzwerke für komplexe Wertschöpfungsprozesse und Innovationszyklen herausgearbeitet und die verschiedenen Netzwerke miteinander verglichen.
Methodischer Aufbau der Arbeit
DieUntersuchung der einzelnenZeitphasenistjeweils gleich aufgebaut und orientiertsich an dem in Abbildung 1 aufgezeigten Konzept des akteurszentrierten Netzwerkansatzes. Demnachwerdenin denKapiteln drei bis fünfdie institutionellen und netzwerkorientiertenRahmenbedingungen auf zentralstaatlicher, regionaler und marktorientierter Ebene erarbeitet. Sie geben den groben Handlungskorridor vor. In dem folgenden Kapiteln werden die Akteure und Interaktionsformen im Hinblick auf die Unternehmens- und Restrukturierungsprozesse der Aviastar analysiert.[42]
Aufgabe dieses Kapitel ist es,einen theoretischen Rahmen zubilden,der es erlaubt,das Restrukturierungsverhalten wichtiger Akteureanalytischbessererfassen und darstellen zu können.Bekanntermaßen wird dasmenschliche Handelnvon institutionellen Regelsystemen (Markt und Hierarchien), soziokulturellen Werten und Normen, den direkten sozialen Beziehungsmustern sowie den individuellen Kompetenzen und Präferenzen bestimmt. Im Rahmen dieser Arbeit stehen die direkten sozialen Beziehungsmuster, zu denen auch die Netzwerke zählen, im Vordergrund. Netzwerke werden dabei als ein Geflechtvon sozialen Beziehungenaufgefasst, indieEinzelne, Gruppensowiekollektive oder korporative Akteure eingebettet sind.[43]
Einen ersten Anhaltspunkt für die theoretischeKonzeptionalisierung (der Netzwerkperspektive)bietet die Netzwerkanalyse.MitihrerHilfe können wesentliche Größen von sozialen Beziehungskonstrukten systematischer erfasst und beschrieben werden.Es stellt sich jedoch die Frage, inwieweit diehochstandardisiertennetzwerktheoretischenInstrumentefür die Erklärung derNetzwerk- und Restrukturierungsprozessein der russischen Transformationsgesellschaftgenutzt werden können.Aufgrund der Offenheit, mit derdiese Arbeitan ihren Forschungsgegenstand herantritt,undaufgrundihresAnspruchs,möglicheneue Netzwerktypen, FunktionenundInteraktionenformen zu erfassen,istihrAnalyserahmenzu weitgesteckt,um eineUntersuchungauf einernetzwerkanalytischenBasisauch nurim Ansatzleisten zu können.[44]Das hält jedoch nicht davon ab,zu prüfen,inwieweitdiein der Netzwerkforschung erarbeiteten Kriterien (Umfang, Dichte, Funktionen sowie die Qualität der Beziehungen)brauchbar sind,um dieKoordinations- und HandlungsfähigkeitenvonNetzwerkenauf einer qualitativen Ebenebesser beschreibenzu können.
NetzwerkanalyseundNetzwerkkriterien
Maßgeblich für die Netzwerkforschung sind die Wirtschaftssoziologen Granovetter, Burt, Wellman und Powell.[45]Sie bauen ihr Netzwerkkonzept als eine Theorie des sozialen Handelns auf. Bestimmt wird das Handeln der Akteure vor allem durch die Anreize und Restriktionen des direkten sozialen Kontexts. Der soziale Kontext wird dabei über Netzwerke und ihre Strukturen definiert.[46]
Für die Erfassung der Netzwerkstrukturen und ihres Einflusses auf das individuelle Handeln werden Netzwerkkriterien entwickelt. Grundlage war das Konzept Granovetters von denstrong and weak ties. AufderBasis des Faktors Zeit, emotionaler Intensität, Vertrautheit und der Reziprozität definiert er zwei konträre Netzwerktypen. Auf der einen Seite stehen die Strong-Ties-Netzwerke. Sie zeichnen sich durch ein dichtes und dauerhaftes Beziehungsgeflecht aus. Intern produzieren sie Solidarität und Vertrauen. Ihre gruppenspezifischen Normen sind klar definiert und werden strikt sanktioniert. Der Nachteil der Strong-Ties-Netzwerke liegt in den eher schwachen bzw. geringen Außenkontakten begründet. Dies hat negative Folgen für die, die nicht im Netzwerk sind, denn sie können nicht an den hier akkumulierten bzw. generierten Ressourcen teilhaben. Nachteile ergeben sich aber auch für die Netzwerkmitglieder selbst, da sie, aufgrund des Ausschlusses von Abweichlern, der Gefahr einer sozialen Schließung ausgeliefert sind.[47]Auf der anderen Seite stehen die Weak-Ties-Netzwerke. Sie verfügen über viele Außenkontakte und sind somit besser für alle Arten von Diffusionsprozessen geeignet. Dafür sind sie intern nur lose koordiniert und normativ eher schwach entwickelt, womit auch ihre Sanktionsmöglichkeiten in der Regel als relativ schwach angesehen werden.[48]
Das Konzept derstrong and weak tieswurde von den Strukturalisten (Parkin, Burt,Colemann, Wellmann, White) in den 1970er und 1980er Jahren immer wieder ergänzt und erweitert. Um die hier entwickelten Kriterien etwas systematischer zu beschreiben, wird zwischen den „orthodoxen“ Strukturkriterien oder morphologischen Kriterien und den relationalen Kriterien unterschieden.Zu dieser Unterteilung kommt es jedoch erst einige Jahre später mit der Entwicklung des Sozialkapitalansatzes.[49]Die orthodoxen/morphologischen Kriterien rekonstruieren das Netzwerk als Gesamtordnung aus den formellen strukturellen Charakteristika der einzelnen Verbindungen. Die relationalen Kriterien erfassen eher den Grad der Verbundenheit der Netzwerkmitglieder untereinander.
Zu den morphologischen Kriterien gehören im Wesentlichen die Größe des Netzwerkes –(Anzahl der Mitglieder), seine Dichte (diese definiert sich als Index aus der Zahl der tatsächlichen Verbindungen zu den theoretisch möglichen Verbindungen),die Erreichbarkeit der Netzwerkmitglieder (diese errechnet sich als Durchschnittszahl für die jeweils kürzeste Verbindung zwischen zwei Mitgliedern) sowie letztlich die Konzepte zur Zentralisierung bzw.Hierarchisierung, Stratifizierung und Bildung von Subgruppen.[50]Eng damit zusammen hängt die Frage nach der Homogenität und Heterogenität von Netzwerken. Eine hohe Homogenität liegt vor, wenn die Netzwerkmitglieder aus einem weitgehend ähnlichen sozialen Hintergrund kommen und ähnliche Einstellungen haben.[51]
Das Kriterium Homogenität/Heterogenität kann allerdings schon den relationalen Faktoren zugerechnet werden. Zu ihren wichtigsten Größen gehört die Intensität der Beziehungen. Diese wird über die Kontakthäufigkeit zwischen den Mitgliedern und die Dauer ihrer Beziehung gemessen. Die Qualität der Beziehung wird aber auch über die Reziprozität (die Gegenseitigkeit von Beziehungen),die Multiplexität (d. h.,die Personen sind auf verschiedenen Ebenen miteinander verbunden, beispielsweise interagieren sie geschäftlich genauso wie privat) unddieTransitivität(Mein Freund ist auch dein Freund)[52]bestimmt.
Wesentliche Impulse hatte die Netzwerkforschung durch den Sozialkapitalansatz erhalten, der sich ab Mitte der 1980er Jahre durchsetzte. Bis dahin hatte sich die Netzwerkforschung zunehmend auf die statistische Verfeinerung standardisierter Verfahren und Modellrechnungen konzentriert.[53]Insbesondere in der Ökonomie schien das Potenzial der Netzwerkanalysenur begrenztgenutzt und vorwiegend als Mittel zur Bestimmung von Kennzahlen für Formen der Unternehmensverflechtung eingesetztzu werden.Dabeiwurden beispielsweise Interaktionskoeffizienten zwischen Netzwerkteilnehmern wie Mutter- und Tochterunternehmen, Joint-Venture-Partnern oder Forschungs- und Entwicklungsorganisationen errechnet.[54]
Es waren die Vertreter des Sozialkapitalansatzes, die die sozialen Werte, die bei der sozialen Interaktion entstehen, wieder in die Netzwerkdebatte einbrachten. Im Mittelpunkt stehen Normen, Vertrauens- und Solidaritätsformen. Allerdings setzte sich auch in der Sozialkapital-Diskussion die Trennung zwischen den systemischen Ansätzen[55], die Sozialkapital wie Systemkapital behandeln, und den handlungstheoretischen Ansätzen[56], die Sozialkapital als Individualgut konzeptualisieren,wiederdurch.
In der Leseart Putnams und Fukuyamas gehören Normen, Vertrauen und Netzwerke zu den drei wesentlichen Komponenten des sozialen Kapitals.[57]Demnachkönnenerst durch geteilte gemeinsame Werte und Normen das notwenige Vertrauen und die Verhaltenssicherheit innerhalb einer Gesellschaft geschaffen werden. Dadurch steigt die generelle Interaktionsbereitschaft zwischen den Personen, und es kommt zu produktiven und innovativen Kooperationen, die andernfalls unterlassen worden wären. Der Begriff des Vertrauens wird hier als „die in einer Gesellschaft entstehende Erwartung eines ehrlichen und den Regeln entsprechenden Verhaltens“[58]definiert. Durch die Gültigkeit der „guten Sitten“ kann also ein Mindestmaß an rechtstreuem Verhalten von den Kooperationspartnern erwartet werden, wodurch, so Putnam, einer generalisierten Reziprozität Vorschub geleistet wird. Die Akteure sind demnach bereit, eine Leistung zu erbringen, unabhängig davon, ob sie von der gleichen Person sofort eine Gegenleistung einfordern können.[59]Diese Form eines generalisierten Vertrauens fördert die allgemeine Hilfs- und Interaktionsbereitschaft nicht nur im Umgang mit Freunden und Familienmitgliedern, sondern auch mit mehr oder weniger Fremden.
Auf der anderen Seite der Sozialkapital-Debatte stehen Coleman und Burt. Sie setzen auf der handlungstheoretischen Ebene an und behandeln soziales Kapital vorrangig als individuelle Ressource. Basierend auf dem Rational-Choice-Ansatz geht es ihnen um den individuellen Vorteil und Nutzen, den rational agierende Akteure aus ihrem Zugang zu sozialen Beziehungen ziehen und aus denen sie „Kapital schlagen“ können.[60]Aber auch innerhalb des Rational-Choice-Theorems bedarf es zur Herstellung einer Kooperationsfähigkeit innerhalb von Beziehungsnetzwerken des Vertrauens.[61]Coleman und Burt nutzen das Instrumentarium der klassischen Netzwerkanalyse, aber sie erweitern es auch, um soziales Kapital methodisch erfassen zu können.Nach ihrer Auffassungerzeugen Netzwerke soziales Kapital über die Dichte und Intensität der Beziehungen sowie durch das Vertrauen, die Homogenität und das Zugehörigkeitsgefühl.[62]Das Sozialkapital zeigt sich im Wesentlichen in der Kooperationsbereitschaft, Gruppensolidarität und Selbstorganisationsfähigkeit des Netzwerks.Engdamitzusammenhängt das Koordinationspotenzial, das sich über die Kategorien Zentralität und Stratifizierung darstellen lässt, d.h. über mögliche Clusterbildungen und Beziehungsmuster wie Zentrum-Peripherie-Relationen oder auch antagonistische Positionen. In diesem Zusammenhang wird das von Burt erarbeitete Konzept der strukturellen Löcher und der strukturellen Autonomie herangezogen. Das Sozialkapital kann hier als Individualgut von Akteuren beschrieben werden. Strukturelle Löcher ergeben sich durch fehlende direkte Kontakte bzw. indirekte Kontakte zwischen den Netzwerkmitgliedern. Die hierbei entstehenden Löcher können durch einzelne Akteure, sogenannte „Makler“, überbrückt werden. Diese Brückenstellung oder „cut-point position“ erhöht die Machtstellung dieses Akteurs innerhalb der Gruppe. Seine Machtposition kann er durch eine hohe Anzahl an Außenbeziehungen und ein entsprechendes Prestige weiter erhöhen. Die Makler haben einige Informations-, Handlungs- und Gewinnvorteile und damit eine relative strukturelle Autonomie und Unabhängigkeit in der Gruppe, die sie kapitalisieren können.[63]Die Sonderstellung des Maklers kann die Handlungsfähigkeit des Netzwerkes in der Weise verbessern, dass durch die Festlegung eines klaren Führungsstatus auch klare Entscheidungs- und Kompetenzbefugnisse bestehen, wodurch die Handlungsfähigkeit eines Netzwerkes erhöht werden kann.Mit der Zunahme von indirekten Beziehungen und Maklerakteuren kann es aber auch zu struktureller Autonomie und zu einer asymmetrischen Verteilung der Ressourcen kommen. Gerade bei größeren losen Gruppen kann bei sehr starken zentralen Positionen die Bildung von Zentrum-Peripherie-Strukturen gefördert werden, was ebenfalls zur Entstehung von Subgruppen und damit zu Antagonismen in der Gruppe führt.
Orthodoxe Strukturkriterien und relationale Kriterien derNetzwerkanalyse
Im Folgenden werden die wichtigsten orthodoxen Strukturkriterien und die relationalen Kriterien der klassischen Netzwerkforschung zusammenfasst:[64]
Orthodoxe Strukturkriterien (morphologische Kriterien)
·Größe des Netzwerkes.Erfasst die Anzahl der Mitglieder. Kleinstes Netzwerk ist die Dyade mitzweiAkteuren.
·Dichte des Netzwerkes. Erfasst die Anzahl an engen Beziehungen der Akteure und die Anzahl von indirekten und distanzierten Beziehungen.
·Hierarchisierungs- und Zentralisierungsgrad. Durch eine klare Hierarchie und Führung kann die Selbstorganisationsfähigkeit von Netzwerken beeinflusst werden.
·Homogenität und Heterogenität. Bezieht sich auf den soziokulturellen Hintergrund der Netzwerkmitglieder,der häufiggemeinsame Weltbilder und Auffassungenimpliziert.
·Vertrauen innerhalb der Gruppeund Zufriedenheit.[65]
·Dauer der Beziehungen. Die Dauer ist ein wesentlicher Indikator für die Intensitätder Beziehung.
·Form der Reziprozität. Diese kann einseitig oder gegenseitig sowie gleichzeitigoderflexibel sein. Die Form der Reziprozität hängt auch von der Intensität der Beziehung ab.
·Multiplexität von verschiedenen Beziehungstypen. Die Akteure eines Netzwerkes sind über mehrere Funktionen miteinander verbunden. Beispielsweise arbeiten sie im Geschäftsleben zusammen, genauso wie sie ihre Freizeit miteinander verbringen oder auch familiär miteinander verbunden sind.[66]Es wird zwischen rein instrumentellen Beziehungen und persönlichen Beziehungen unterschieden.[67]
·Transitivität der Beziehungen. Sie liegt vor, wenn ein Individuum eine starke Beziehung zu zwei Personen hat und diese zwei Personen dann automatischebenfalls in eine Beziehung treten.[68]
·Strukturelle Löcher und strukturelle Autonomien.[69]
·Strong ties and weak ties.Je indirekter und distanzierter die Beziehungen sind, desto eher kann vonweak tiesgesprochen werden.Strong tiesliegen vor, je direkter und gefestigter die Beziehung zwischen den Mitgliedern ist.[70]
Die Errungenschaft der Netzwerkanalytiker ist, dass sie es geschafft haben, wesentliche Größen von sozialen Beziehungskonstrukten zu identifizieren, zu standardisieren und zu quantifizieren. Festzuhalten ist aber, dass sie,obwohl sie Verbindungen zwischen den Akteuren und ihren Leistungen inhaltlich interpretieren – beispielsweise überMacht- undInformationsverteilung oderVertrauen –, nur formale Strukturkriterien benutzen. Die inhaltlichen und funktionalen Aspekte der Beziehungen sowie ihre Handlungsstrategien müssen durch „externe“ Konzepte beschrieben werden.
Dies betrifft auch den Sozialkapitalansatz. Hier ergibt sich das Paradoxon, dass zwar inhaltlich soziale Eigenschaften wie Solidarität und Vertrauen beschrieben werden, diesen Größen selbst aber kein Einfluss auf das Netzwerk eingeräumt wird. In der vorliegenden Arbeit werden die inhaltlichen und funktionalen Faktoren über die Restrukturierungsfragebestimmt.Die Überlegungen zu den strong und weak ties,den strukturellen Löchern und denwesentlichen sozialen Beziehungsintensitäten können im Rahmen der Arbeit zur Beschreibung der verschieden Netzwerke in einer allgemeinen qualitativen Form genutzt werden. Wobei sie nicht auf Basisder standardisierten Methodik der Netzwerkananlyseerarbeitetwerden.Darüberhinaus müssen aber auch die systemischenAnsatzpunkt des generalisierten Vertrauens,dergeneralisierten Solidarität und der Normeneiner GesellschaftEingang in die Analyse der Netzwerkprozesse finden. Wichtigfür die Übernahme der Netzwerkperspektivenach dervorliegendenFragestellung der Arbeitistdabeidie Berücksichtigung derBesonderheiten der Transformationsprozesse.Entsprechend wird der Beitrag der Transformationsforschung zur Netzwerkbildung in der russischen Gesellschaft näher beleuchtet.
Beiträge aus derTransformationsforschung
Die Netzwerkforschung und erst recht die Netzwerkanalyse habenerst relativ spät Eingang in die Osteuropaforschung gehalten.[71]Dennoch gibt es eine Vielzahl von Studien, die sich jenseits der westlichen Netzwerkanalyse sehr differenziert mit komplexen informellen Interaktionssystemen in der ehemaligen Sowjetunion befassten. Die Arbeiten zumadministrativen Markt[72]und zumzweiten Markt[73]sowie zur Cliquen- und Günstlingswirtschaft,[74]zuden Old-Boys-Netzwerken (druzhina) bei der sowjetischen Staatsbildung[75]sowie die Arbeiten zum „zivilen“ Interaktionssystem desBlat(Austauschsystem von Gefälligkeiten zwischen Freunden und Bekannten)[76]haben Netzwerkinteraktionennicht nur als existent und divergent, sondern als systeminhärente Kräfte der sowjetischen Gesellschaft gezeigt. Die verschiedenen informellen Interaktionsformen waren zudem im tradierten zaristischen Werte- und Normensystem verankert.[77]Sie zeigen sich durch den in der russischen Gesellschaft immer noch vorherrschenden hohen Anspruch an Kollektivität und Hilfsbereitschaft (eine spezielle Form generalisierter Reziprozität) einerseits sowie dem „schwachen öffentlichen Ethos“[78]und die kleptokratische Einstellung[79]gegenüber dem Staat andererseits.
Die historisch-kulturelle Verankerung der informellen Netzwerkbildung inderSowjetgesellschaft verdeutlicht, dass sich mit der Veränderung der formellen Institutionen nach 1990 nicht Werte, Normen und Interaktionsmuster gleichermaßen änderten. Auf die Kontinuität tradierter informeller Beziehungen und Regeln hatten Autoren wie David Stark[80], Brie und Stykow[81]sowie Staniszkis[82]schon Anfang der 1990er Jahre aufmerksam gemacht. Sie polemisierten gegen die Annahmen, dass durch einen Zusammenbruch der alten Ordnung und über die Einführung formeller politischer Institutionen ein Wandel des traditionellen Wertesystems erfolgen könnte.[83]„Zwar haben sich die politischen Fassaden der alten Ordnung aufgelöst, dahinter aber befindet sich keineswegs ein gesellschaftliches Vakuum, sondern das soziale Gewebe von informellen Beziehungen, Regeln, Routinen, die die sozialistische Gesellschaft getragen haben.“[84]
Die in den 1990er Jahren entstandenenStudien, die sich im Rahmen der verschiedenen Diskurse[85]mit Netzwerken beschäftigen, verdeutlichen, dass informelle Interaktionssysteme nicht nur überlebt, sondern sich nun ohne die Kontrolle und Steuerung des zentralen Partei- und Staatsapparates vervielfältigt hatten.Es kam zu einer Differenzierung der Eliten in Politik und Wirtschaft,und neue Akteure kamen hinzu.[86]Mittlerweile liegen eineVielzahl von empirischen Studien zur Netzwerkbildung für die verschiedensten Zeitabschnitte, Regionen und Sektoren vor. Diese sind theoretisch weitgehend unfundiert bzw. bleiben untereinander nur schwach „vernetzt“, sodass kaum ausreichende Hilfestellungen für die Erfassung und Ordnung der verschiedenen Interaktionssysteme gegeben werden können.
Anhaltspunkte zur Typologisierung von Netzwerken
Dabei fällt vor allem die Vielfalt an divergenten komplexen Netzwerksystemen ins Auge.[87]Sie unterscheiden sich durch ihre Akteure, ihren Aggregationsgrad (Netzwerk zwischen zwei Personen und komplexe dichte Netzwerke), ihre Größe (Anzahl), ihre Regeln, Funktionen und Vorgehensweisen. An diesem Punkt gilt zu überprüfen, welche Netzwerkkriterien für die Analyse russischer Netzwerkprozesse relevant und welche Unterschiede bei den Ausprägungen dieser Kriterien zu beachten sind.
Zu den zentralen Netzwerkkriterien ist die „Funktion“ der Netzwerke zu zählen. Im Rahmen der westlichen Netzwerkdiskussion werden Netzwerke häufig im Zusammenhang mit der Stabilisierung von Märkten oder der Schaffung von Wettbewerbsvorteilen diskutiert. Generell wird ihnen die Produktion von sozialem Kapital zugesprochen. Über die Funktion der Netzwerke in der russischen Gesellschaft gibt es unterschiedliche Auffassungen.
In der russischen Transformationsökonomie wird den Netzwerken vor allem eine wichtige Funktion bei der Kompensation der politischen und administrativen Dysfunktionalitäten des formellen Interaktionssystems zugesprochen. Die Politikwissenschaftler Brie und Stykow kommen zu dem Schluss, dass es die hinter den Kulissen ablaufenden Konsens- und Koordinationsregulierungen waren, die in der Umbruchsphase und der tiefen wirtschaftlichen Krise nach 1990 den totalen Zusammenbruch des Landes verhindert haben.[88]BrieundStykow sprechen nicht von Netzwerken, sondern von Regimen.[89]Diese basierten nicht auf Ad-hoc-Vereinbarungen zwischen Einzelakteuren, sondern auf stabilen Interaktionen zwischen kollektiven Akteursgruppen, wie der Gebietsadministration,denDirektoren, der Mafia, aber auch derBevölkerung -wobei diesekein Kollektivakteurist. Aufgrund gemeinsamer Interessen sind diese Gruppen fähig, sich nach eigenen Regeln und Erwartungen zu koordinieren, zu handeln und damit zur Stabilität und zu einer gewissen Handlungsfähigkeit der Gesellschaft beizutragen. Der zentrale Interaktionsmechanismus dieser Regime ist das Aushandeln, das „Bargaining“, von Kollektivgütern der jeweiligen Gruppen. So werden beispielsweise zwischen der staatlichen Administration und den Betriebsdirektoren Steuervergünstigungen ausgehandelt, die den sozialen Frieden sichern, oder es werden Privilegien und Posten gegen Zahlung von Steuern und Zöllen getauscht. Es interagiert dabei allerdings mehr als nur eine Gruppe, sodass „hochkomplexe Netze von Austauschbeziehungen“[90]entstehen.
Ähnlich Kompensationsfunktionen zeigen die Arbeiten zu den Barternetzwerken von Humphrey, Ledeneva und Aukutsionek[91]sowie die Untersuchungen über Korruptions- und Schutznetzwerke von Radaeev, die die Verbindungen zwischen den KMU, der Administration und den Schutzagenturen offenlegten.[92]Die hier beschriebenen Netzwerke versuchen die ökonomischen Dysfunktionalitäten,diemakroökonomischen Probleme (Entmonetarisierung der realen Wirtschaft, Einbruch der Absatzmärkte) und die mannigfaltigen administrativen Barrieren (steuerliche Belastungen, willkürliche Rechtsvorschriften und Informationsasymmetrien) zu umgehen. Der Übergang zu der Nutzung von Netzwerkkapital für reine Abschöpfungsprozesse ist dabei fließend. Besonders offensichtlich war dies bei den kriminellenund mafiosen Gruppen,dieinsbesondere in den 1990er Jahren vorzufinden waren.[93]Dabei handelt es sich um stabile autoritäre Koordinationstypen mit engen Interaktionsformen und Abhängigkeiten. Sie nutzen die institutionellen Schwächen,um über „Kompensationsdienste“ Zugriff auf fremde Finanzströme sicherzustellen.
Eine besondere Rolle in Bezug auf die im Rahmen dieser Studie gestellte Frage nach den Restrukturierungs- und Innovationskompetenzen kommt den ArbeitenvonStark und Vederez zu. Sie stellen eine Verbindung zu den ökonomischen Netzwerkkonzepten der regionalen Netzwerkcluster undderInnovationsnetzwerke her.Dabeisehensiein den russischen Netzwerken nicht nur ein Kompensationsinstrumentarium für institutionelle Dysfunktionen, sondern auch eine spezifische Wettbewerbskompetenz auf dem Markt,[94]die zu „normalen“ marktwirtschaftlichen Kooperationen führen. Auch die nach der Finanzkrise 1998 entstehenden Holdings und ihre Interessenkoalitionen werden von Yakovlev, Pappé und Stykow als Ausdruck moderner russischer Finanz- und Investitionsholdings verstanden.[95]
Im Gegensatz dazu betrachten Tatur, Ledeneva und Harter die russischen Netzwerke weitaus skeptischer. Insbesondere Tatur warnt vor einem Vergleich mit solchen Kooperationsformen, wie sie in entwickelten Industrienationen idealtypisch beschrieben werden, da sich die russischen Netzwerke weder in einem kompetitiven Umfeld befänden noch über ein kompatibles soziales Kapital und moralische Ressourcen[96]verfügten.[97]In ihrer Transformationsanalyse der politisch-kulturellen Reproduktionsmodi in der sozialistischen bzw. postsozialistischen Gesellschaft beschreibt Tatur vielmehr, dass sich nach 1990 das institutionelle Grundmuster der sozialistischen Ökonomie, welches auf Macht, Abhängigkeiten und der Umverteilung von staatlichen Ressourcen beruht habe, reproduziert habe.[98]Somit bestehe die Gefahr, dass die postsozialistischen Netzwerke ihre Wettbewerbsvorteile weniger für Produktivitätssteigerungen und technische Innovationen als vielmehr für den exklusiven Zugang zu Informationen und Finanzmitteln und sonstige Privilegien nutzen würden.[99]Ähnlich problematisch sehen auch Ledeneva und Hartner die Kontinuität „alter“ Kontakte, Normen- und Wertesysteme für die Entwicklung der russischen Gesellschaft. Ledeneva spricht sogar von einer zentralen Barriere für die Transformation des Landes und setzt die historische Integration der sowjetischen Gesellschaft über soziale Netzwerke in eine gegenläufige Beziehung zum Transformationserfolg: „In fact it could be argued, that success of transformation is in a reverse proportion to the degree of integration within the Soviet economy.“[100]
Es sind die beiden zuletzt genannten Wissenschaftler, die sich Ende der 1990er Jahre direkt mit der Anwendung der Netzwerkanalyse auf die osteuropäischen Länder auseinandergesetzt haben und dabei die Notwendigkeit einer Anpassung des Konzeptes an die landes- und entwicklungsspezifischen Besonderheiten erkannten. Ledeneva betont dies, indem sie das Netzwerkkonzept um den Aspekt der Ambiguität erweitert. Denn die in der westlichen Forschung analysierten positiven Netzwerkeffekte würden bei den russischen Interaktionsformen ab einem bestimmten Punkt umschlagen und negative Effekte produzieren. Als positive Funktionen von Netzwerken nennt Ledeneva den Zugang zu Ressourcen, die Steige