Ruth und das Levirat - Rainer Uhlmann - E-Book

Ruth und das Levirat E-Book

Rainer Uhlmann

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Beschreibung

Das Buch Ruth ist ein Juwel des Alten Testaments. Seine Botschaft steckt voller Ermutigung, Lebenskraft und Hoffnung. In Niederlage und Trauer nicht steckenzubleiben, neu aufzustehen, Visionen zu entwickeln und sie tatsächlich umzusetzen - das ist der Stoff, aus dem dieses Buch gemacht ist. Dabei wird eine tragische Familiengeschichte zu einem großartigen biographischen »Teppich«, in den Gott überraschend wunderbare Fäden einwebt. Faszinierend und bewegend. Mit Menschen, die einem unmittelbar nahe kommen.

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Miriam und Max

zu ihrer Trauung am 4. August 2018

mit dem Trauspruch aus Ruth 1,16:

„Wo du hingehst, da will ich auch hingehen;

wo du bleibst, da bleibe ich auch.

Dein Volk ist mein Volk,

und dein Gott ist mein Gott.“

Gewidmet unseren familiären »Ruths«

Comtesse Terrage de Villeneuve

und

Anna Warkentin

im Glauben an den Erlöser Jesus Christus

Vorwort

Die zunehmende Beschäftigung mit dem biblischen Buch Ruth lässt in seinen nur vier Kapiteln eine weite »Landschaft« göttlicher Heilsgeschichte - die Geschichte einer großen Liebe voll von Leid und Treue, Schuld und Gnade entdecken. Was hier im Leben weniger Menschen geschieht, hat zuletzt Auswirkungen auf die Menschheit. Ruth und Boas sind die Vorfahren der königlichen Messiasdynastie, aus der schließlich der hervorgehen wird, dem "alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben ist" (Mt 28,18). Dass die Bibel ein über Jahrhunderte ausgespanntes Netzwerk von Generations-, Heils- und Segenslinien entfaltet, die einen durchgängigen »Code« tragen und von der Handschrift Gottes signiert sind, ist für mich immer wieder faszinierend. Die skizzenhafte Vorabbildung des Wirkens Jesu in alttestamentlichen Zusammenhängen zeigt den wahrhaft prophetischen Charakter dieser alten biblischen Erzählungen und lässt sie gegenwartsnah und zukunftsrelevant erscheinen.

Die Geschichte von Ruth ist eingebettet in die Geschichte von Naomi. Sie ist die einzige, die alles von Anfang an erlebt hat: wie die Familie in Bethlehem Hunger litt und schließlich aufgab, um ihr Glück in Moab zu suchen. Der Umzug, die Suche eines Wohnorts und Hauses, das Kennenlernen von Land und Leuten, sich in eine fremde Kultur, die den Gott Israels nicht kannte, einzugewöhnen, war nicht einfach. Neue Bekanntschaften wurden geschlossen, ihre Söhne lernten moabitische Mädchen kennen und heirateten. Zehn Jahre lang durften sie als harmonische Familie zusammenleben, bis unerwartete Ereignisse ihren Lauf nahmen: zuerst der schmerzliche Verlust des Ehemanns und Vaters Elimelech, dann der tragische Tod der beiden Söhne. Diese Heimsuchungen bilden den Ausgangspunkt all der Ereignisse, die im Buch Ruth geschildert werden, bis zum glücklichen Ende, als Naomi durch Ruth ein Sohn geschenkt wird. Ein Sohn, dessen Nachkommen über David bis zu Jesus reichen werden. Naomis Lebensweg ist ein Beispiel dafür, wie Gottes Geschichte entlang einem durchgängigen »roten Faden« verläuft, der sich mithin über Jahrtausende hinweg fortsetzt und sich auf das kommende Reich Gottes zubewegt. Aus der Familienlinie von Naomis quasi adoptiertem, einzigem überlebenden Sohn kommt der Erlöser Jesus Christus. Seiner menschlichen Herkunft nach ist Naomi die "Mutter" dieses Stammbaums. Seiner göttlichen Herkunft nach kommt er vom himmlischen Vater und ist dessen ebenfalls einziger Sohn. Eine bemerkenswerte Parallele: Naomi und Gott selbst sind Begründer einer Genealogie, einer fortwährenden Heilsgeschichte, die durch die Weltgeschichte hindurch eine Spur der Erlösung und Erneuerung legt.

Zurück zur Ausgangssituation: War die Flucht aus Bethlehem nötig, oder war sie gar eine Ausflucht? Haben sie die dortige Familie und die Mitbürger einfach im Stich gelassen? Sind sie einer kurzsichtigen Einschätzung der Lage gefolgt? Unausgesprochen schwingt der Gedanke an eigene Schuld mit. Es sollte alles recht werden, davon waren sie überzeugt, die Hoffnung auf bessere Zeiten gab ihnen die Kraft zum Aufbruch. Aber stand da nicht auch das andere Argument im Raum: war selbstbezogenes Denken eingemischt, ein Zurückweichen vor gegenwärtigen Herausforderungen, eine Scheu vor unbequemen Einbußen, vor harten Maßnahmen, die doch so notwendig gewesen wären? Und dann huscht immer wieder dieser dunkle Gedanke durch die Sinne: war das Sterben der Männer ein Gericht Gottes? Die Strafe für die Trennung vom Volk Israel? Hat ein Jude in der Diaspora auf Dauer doch keinen Segen? Haben sie das Land, ihre Traditionen und Angehörigen, die Gottes Gabe im Stich gelassen? Fragen, die unausgesprochen im Raum stehen, jedoch in der Erzählung keinen Widerhall finden. Gott ist anders und handelt anders als wir denken.

Naomi sucht in ihrer Not nach Auswegen, - die schlußendlich zu Verheißungswegen werden. Sie hätte allen Grund, sich hängen zu lassen, ihr Schicksal als unausweichlich hinzunehmen und in den Tag hineinzuleben. Aber dann wird die versuchte Lethargie von der unbarmherzigen Schwerkraft der Trauer überlagert. Vorwürfe besetzen ihre Gedanken: ist sie womöglich selbst der Grund für das Elend? Hatte sie es nicht besser verdient? Manchmal und immer häufiger schiebt sie diese dunklen Gedanken zur Seite. Spielball dieser finsteren Schwaden klagender Stimmen will sie nicht sein. Naomi wehrt sich gegen den Zugriff der Skrupel, stellt sich dagegen, Opfer ihrer selbst zu sein. Trotz aller Schwäche ist Liegenbleiben keine Option. Sie erhebt den Blick, richtet sich auf und beginnt erste Schritte zu gehen. "Lech lecha" - Gottes Befehl an Abram, die Heimat zu verlassen, klingt leise, aber unüberhörbar in ihrem Herzen an.

Schritte aus dem Verzagen in eine ungeahnte Zukunft - das ist der Stoff, aus dem dieses alttestamentliche Kleinod "Ruth" geformt ist. Hauptakteurinnen sind zwei Frauen: Naomi und Ruth. Wie sich ihre Lebenswege schneiden, wie sie diese Wege miteinander teilen und gemeinsam gehen, lässt Spuren zutage treten, die weit über sie hinausweisen. Im Dahingegebensein an den Schmerz der Welt schimmern Hoffnungsfunken auf. Verheißungsspuren, die weit über das Leben der beiden Frauen hinausführen und Jahrhunderte später zu einer neuen Lebenschance werden, - für Israel und die Menschheit. Dass Gott nicht der ferne und absolute ist, sondern wie in einer Familie mit seinem Sohn und dem Heiligen Geist lebt, dass er Menschen als Kinder, die ihn lieben, gewinnen möchte und dafür seinen Sohn hergibt, - all das leuchtet durch die Geschichte von Ruth hindurch. Erst nach dem Leiden Naomis, ihren Mann und die beiden Söhne hergeben zu müssen, begann die neue Verheißungsgeschichte. Sie ist aus dem Tod geboren, ist auf ihre Art radikal und revolutionär, eine Antithese zur Weltgeschichte, eine Auferstehungsgeschichte.

Mit dem Hinzukommen der dritten Gestalt, Boas, entsteht eine Trias an Akteuren, die die weiteren Ereignisse in der alten Heimat Bethlehem voranbringen. Boas steht mit beiden Frauen in einer je eigenen Verbindung, er wird von beiden »berufen«, um ihnen als Verwandter und Ehemann zu helfen und ihrem Leben eine Zukunft zu geben. Und eben dadurch wird er "Löser", Erlöser und Retter der Familie. Er stellt die Rahmenbedingungen für die Umsetzung von Naomis Plänen zur Verfügung und ermöglicht dadurch, selbst zu einer zentralen Figur dieser Familiengeschichte zu werden. Dabei ist es Ruth, die durch ihr mutiges Vorpreschen die Schlüsselrolle für die entscheidenden Fortschritte übernimmt. Unübersehbar bleibt jedoch, dass all die notvollen, überraschenden und ermutigenden Geschehnisse reine Zufälle sind: wo etwas zufällt, muss einer da sein, der wirft. Die unsichtbare Hand Gottes ist die stärkste Komponente dieser Geschichte. Er scheint einen Entwurf zu haben, der sich in großer Liebe und Fürsorge bei Menschen realisiert, die mit ihm gehen, und der weitere Menschen einbezieht, selbst solche, die erst tausend und mehr Jahre später leben.

Die nachfolgenden Ausführungen über das Buch Ruth folgen nicht einer einheitlichen und durchgängigen Lesart. Sie suchen statt dessen unterschiedliche Blickwinkel und betrachten die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven. Dazu gehört eine dem zeitlichen Verlauf der Ereignisse folgende erzählerische Darstellung (umrandete Textfelder), die den Leser in die Lage der Betroffenen versetzen will. Zweitens wird die weisheitliche Schicht des Ruth-Buches befragt, um über die Zeiten hinweg Hilfen zur praktischen Lebensführung zu gewinnen. Drittens unterstützt die Beachtung interessanter sprachlicher Merkmale seine Auslegung und sein weitergehendes Verständnis. Viertens werden Querverbindungen zu anderen biblischen Texten und theologischen Linien gezogen, die dem Grundsatz entsprechen, dass die Bibel ihr eigener Ausleger ist. Fünftens können auch Beiträge aus Talmud und Judentum aufschlussreiche und erhellende Ergänzungen beisteuern. Nicht zuletzt macht die gesamtbiblische Betrachtung das Buch Ruth zu einem Höhepunkt der Heilsgeschichte. Denn hier werden die Weichen gestellt für die zentrale Achse der Geschichte Israels und mithin der Geschichte der Welt. Die davidische Dynastie nimmt in diesem Buch ihren Anfang, aus der König David als Urenkel Ruths und der »zweite David«, der endzeitliche messianische König kommen. Ruth und Boas begründen die Familie von Jesus Christus gemäß seiner leiblichen Abstammung. Diese Familie setzt sich über Jahrtausende und bis an die Enden der Erde fort: indem Menschen zum Glauben an den Messiaskönig Jesus finden und ihm nachfolgen werden sie zu seinen Brüdern und Schwestern und damit zu Mitgliedern seiner Familie. Und es wird diejenige Familie sein, der eine herrliche Zukunft gehört, sie wird alle Gerichte und Katastrophen, die sich in der Welt anbahnen, überleben und mit dem wiederkommenden Messias herrschen. Die Auferstehung des Königs vom Tod ist Beginn und Unterpfand dieser Zukunftsperspektive.

Die äußere Form, in der hier das Buch Ruth beschrieben und erläutert wird, entspricht nicht einem zusammenhängenden Text, ist vielmehr sentenzen- und stichwortartig gehalten. Bewusst wird »Luft« zwischen den Aussagen gelassen, ohne verbindende Brückentexte hineinzuformulieren. Der Leser soll »durchatmen«, sich Atempausen, Zäsuren, Entspannung zum eigenen gedanklichen Wandern gönnen können. Er soll nicht gelenkt, sondern angeregt werden. Ein solchermaßen offener Stil bietet zugleich eine - hoffentlich - inspirierende Plattform für weitere Erhellungen und Erkenntnisse und will die biblische Entdeckerfreude nähren. Dazu möchte ich mit diesem Büchlein beitragen und wünsche allen Lesern Segen und Gewinn an der Bibel, die eine Liebesgabe Gottes ist.

Rainer Uhlmann

Ruth

Der morgendliche Gang zum Brunnen, solange es noch kühl ist. Der Tonkrug drückt auf den Schultern. Aber sie lässt sich nichts anmerken, die anderen auch nicht. Nur flüchtig nimmt sie an der Unterhaltung teil. Sie ist freundlich, aber auch erleichtert, wenn die notwendigen Worte gewechselt sind. Dabei ist ihr unwohl. Was denken sie? Geschieht ihr recht, musste sie doch unbedingt diesen Ausländer heiraten? Kleine Verräterin? Oder auch: die arme Frau, so jung und schon Witwe? Was da in der Luft lag, ließ die Gefühle hin- und herpendeln. Ein Gemisch von Scheu, Angst, Unsicherheit - und dann wieder das Bedürfnis nach Abgewandtheit und Abstand. Aber was soll’s? Mit so etwas muss man leben, andere müssen’s auch. Gehen wir weiter, das Leben geht weiter. Den schweren Krug tragen lenkt ja auch etwas ab. Arbeiten beansprucht Kräfte, auch gedankliche. Gedanken können umherstreifen, schneller als die eigenen Schritte. Einen Gedankensprung machen und an was anderes denken, mit einem inneren Ruck geht das schon. Auch wenn die Erinnerungen immer wieder zurückkehren, scheinbar an dieser Tragik kleben, ihre lähmende Wirkung immer neu in die Seele injizieren. Aber gehen wir weiter. Einen Fuß vor den anderen zu setzen spricht seine eigene Sprache, Gehen enthält eine Botschaft. Schließlich trage ich schweres frisches Wasser, für Naomi und uns alle. Wie gut uns eine Abkühlung tut, eine Erfrischung im Tageslauf! Der Alltag nimmt uns in Beschlag und lenkt uns zugleich ab. Wir wären versunken in Trauer, versinken noch genug. Gott sei Dank haben wir Durst und kühles frisches Wasser. - Naomi atmet leise auf, als Ruth zurückkehrt. Jeder Gang aus dem Haus ist mit einer gewissen Unruhe verbunden. Man weiß ja nie. Wir müssen zusammenhalten, sie und die beiden Schwiegertöchter. Zusammen diesen dauernden Druck aushalten. Mitten im düsteren Schweigen, das so erbärmlich leer ist, aber voll von unausgesprochenen Fragen. Die drängen an den Rand, den Rand der menschlichen Gemeinschaft, den Rand des eigenen Lebens. Hinter diesem Rand macht sich kahle Ungewissheit breit, - das Leben wie ein abgebranntes Feld. Dann die leisen, aber schmerzenden Attacken der Schuldgefühle: was habe ich falsch gemacht? Sind meine Fehler zu einem Magneten geworden, gegen den ich nicht mehr ankomme, halten mich fest und lassen mich nicht mehr los? Ich elender Mensch, wer kann mich erlösen? - Schwäche schleicht durch Glieder und Geist, Müdigkeit. Wie soll ich mich noch tragen, ertragen können? Der Blick in die Zukunft - und das zunehmende Alter. Eine Witwe, die sich so dahinschleppt, zumal in dieser fremden Welt. Was soll aus ihr werden? Um sie herum keine Chancen, die sie ergreifen könnte, keine einzige offene Tür, nichts, auf das sie zugehen könnte. Wenn Gehen nicht mehr möglich ist, muss sie dann gehen?

Doch mitten in dieser Welt der Bitterkeit war noch eine andere Welt. Die war ihr wie zu einer zweiten Haut, einem zweiten Herzen geworden. Sie konnte nicht aufhören zu beten. Ohne Gebet hätte Naomi ihr Schicksal nicht ausgehalten. Ein innerer roten Faden, der niemals abriss. Sie hatte immer weiter gebetet, auch wenn sich ihre Lage nicht änderte, davon wollte sie unter keinen Umständen ablassen. Dieses stete stille Gebundensein an Gott war der Pulsschlag ihres Herzens. Ihrer Schwiegertochter entging diese Gottesliebe Naomis nicht. Noch nie war Ruth einem solchen Menschen begegnet, der sich mit innigem Gebet allen Widerständen und Widrigkeiten des Lebens stellte. Wo es nur Grund zur Verzweiflung gab, war Naomi ruhig und gefestigt, in einer Art »glücklichen Verzweiflung«.

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkungen

1.1 Ruth in der Bibel

1.2 Ruth und das Schawuot-Fest (Pfingsten)

1.3 Das Buch Ruth und der Buchstabe "Wav"

1.4 Verschiedene Zeiten im Buch Ruth

Einleitungsfragen

Genre / Literaturgattung des Buches Ruth

Hebräische Erzählkunst

4.1 Wie liest man eine Erzählung?

4.2 Kennzeichen biblischer Erzählungen

4.3 Biblische Personen

4.4 Integration und Integrität des Erzählers

4.5 Erkennen von Auslassungen

4.6 Aufgabenvielfalt

4.7 Zeiträume unterscheiden

4.8 Einflüsse von Lebensbereichen

Das Buch Ruth als Erzählung

5.1 "Sitz im Leben"

5.2 Naomi und ihre Geschichte

5.2.1 Erste Szene: Tod und Leere

5.2.2 Zweite Szene: Unser tägliches Brot

5.2.3 Dritte Szene: Eine Ruhestätte suchen

5.2.4 Vierte Szene: Ein Sohn für Naomi

5.3 Boas

5.3.1 Boas wird vorgestellt

5.3.2. Warum heiratet Boas Ruth?

5.3.3 Warum so zögerlich?

5.3.4 Warum die öffentliche Konfrontation?

5.3.5 Fazit: Boas, der Mann der Würde

5.4 Ruth

5.4.1 Ruth und Naomi

5.4.2 Ruth und Boas

5.4.3 Ruth und Jahwe

Bedeutung Ruths - kleines Buch mit großen Themen

6.1 Eine Frauengeschichte

6.2 Eine Fremdengeschichte

6.3 Eine Hoffnungsgeschichte

6.4 Eine Geschichte der Erfordernisse

6.5 Eine prophetische Geschichte

6.5 Systematisch-theologische Aspekte

6.6 Beiträge des Buches Ruth zur biblischen

1. Vorbemerkungen

Die Geschichte von Ruth, Boas und Naomi hat über Jahrhunderte hinweg Menschen beeindruckt. Sie waren bewegt von einem tragischen Schicksal, einer unglaublichen Liebe, vom treuen Zusammenhalt so unterschiedlicher Menschen. Ruth insbesondere war es, die die Aufmerksamkeit auf sich zog: aus Liebe und Glaube wagte sie Schritte in ein unbekanntes Land. Ein Weg in die Fremde, wie ihn zuvor schon Abraham riskiert hatte und den abschließend Jesus Christus gegangen ist. Ein Weg in ein fremdes, unwirtliches Land, im Fall Abrahams aus dem fruchtbaren Zweistromland ins karge Kanaan, im Fall Jesu Christi aus der heiligen und reinen Welt Gottes in die trostlose Welt der Sünde.

1.1 Ruth in der Bibel

In verschiedenen Bibelausgaben finden wir das Buch Ruth an unterschiedlichen Stellen. In christlichen Bibeln ist es in die historischen Bücher zwischen Richter und Samuel eingefügt. In der hebräischen Bibel steht es an einem völlig anderen Ort, in der dritten Schriftgruppe, den Ketubim ("Schriften"), und zwar an fünfter Stelle. Diese Unsicherheit über die Zuordnung des Buches führt zu der Frage der Beziehung zu anderen alttestamentlichen Teilen (s.u. 5.5)? - In der Septuaginta (LXX), der griechischen Übersetzung des AT aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert, wurde das Buch Ruth als Appendix (Anhang) des Richterbuches behandelt und darum ohne eigenen Titel geführt. Diese unterschiedliche Stellung des Buches zeigt zwei grundsätzliche Betrachtungsweisen, die sich nicht widersprechen, sondern ergänzen: einmal ist Ruth ein Geschichts-, zum anderen ein Weisheitsbuch, - drittens ist Ruth jedoch eines der wichtigsten Bücher der biblischen Heilsgeschichte.

1.2 Ruth und das Schawuot-Fest (Pfingsten)

Das Buch Ruth hat seinen Sitz im Leben der jüdisch-synagogalen Gemeinde an Schawuot, das außer Erntefest im Frühling auch ein Torafest ist und an die Gabe der fünf Bücher Mose als »Erstlingsfrucht«, die Gott seinem Volk in einer frühen Phase schenkte, erinnert. Schawuot ist am sechsten Tag des hebräischen Monats Sivan und wird als der Tag begangen, an dem Mose auf dem Berg Sinai die Tora von Gott empfing. Da das Datum dieses Festtags nicht in der Tora genannt ist, wurde es nach seinem zeitlichen Abstand zum Passahfest festgelegt. Schawuot erinnert nicht nur an die Gabe, sondern zugleich an die »Empfangsbestätigung« der Tora: "Und alles Volk antwortete einmütig und sprach: Alles, was der HERR geredet hat, wollen wir tun. Und Mose sagte die Worte des Volks dem HERRN wieder" (Ex 19,8). Dieses kraftvolle Bekenntnis zum Gott Israels sollte einige Generationen später von einer ausländischen Frau aufgenommen werden. Das Buch Ruth ist auf mehrfache Weise mit dem Schawuotfest verbunden:

Die Ereignisse von Ruth finden in der Erntezeit statt, ebenso das Schawuotfest. Es war die Zeit, Gottes Segen zu empfangen und einzubringen.

Schawuot ist ein Zeichen der Freundlichkeit gegenüber den Armen.

An Schawout kommt die gegenseitige Fürsorge des Volkes zum Ausdruck. "Boas antwortete und sprach zu ihr: Man hat mir alles angesagt, was du getan hast an deiner Schwiegermutter nach deines Mannes Tod; dass du verlassen hast deinen Vater und deine Mutter und dein Vaterland und zu einem Volk gezogen bist, das du vorher nicht kanntest." (Ruth 2,11).

Schawuot wird als der Todestag Davids begangen. Er war der Urenkel von Boas und Ruth. Charakter und Geschichte Davids sind bereits im Buch Ruth vorbereitend angelegt.

Das Schawuotfest bringt die ständige, stets lebendige Offenbarung von Gottes Wort ins Bewusstsein. Wie auch Ruth sich auf den Glauben an die fortwährende Versorgung und Offenbarung des Gottes Israels verließ.

Ruth schließt das Wesentliche des Schawuotfestes ein. Der Entschluss, in den Bund Gottes und den Gehorsam gegenüber Gottes Weisung (Tora) einzutreten, hebt die Bedeutung dieses Festtages hervor und ist zugleich ein Markstein in Ruths Leben.

Ziehen wir die heilsgeschichtliche Linie aus, ist der Bezug zum neutestamentlichen Pfingstfest offenkundig:

Auch hier herrscht Erntezeit: Die Gabe des Hl. Geistes ist Frucht des Glaubens, die »Ernte« bilden 3000 Bekehrte.

Freundlichkeit gegenüber den Armen: alle sind angesprochen und eingeladen, sich zu bekehren und die Freundlichkeit Gottes zu empfangen.

Gegenseitige Fürsorge: die Verkündigung der Erlösung ist Ausdruck von Verantwortung und Fürsorge für das Volk., das Petrus in seiner Pfingstpredigt (Apg 2,22) anspricht.

Todestag Davids: der Tod und die Auferstehung des Davididen und Gottessohnes Jesus bildet Grundlage und Inhalt der Pfingstpredigt.

Lebendige Offenbarung: der Heilige Geist erinnert ständig an Christus, leitet, mahnt und tröstet die Gemeinde. Fortwährende geistliche Versorgung und Offenbarung des Wortes Gottes gehören zu seinen Aufgaben.

1.3 Das Buch Ruth und der Buchstabe "Wav":

Dieses Thema scheint zunächst merkwürdig bzw. nebensächlich, doch hat das hebräische Präfix1 "wav" (= und) eine besondere Bedeutung für das Buch Ruth. Dieses "wav", der sechste Buchstabe des hebräischen Alphabets, ist der Anfangsbuchstabe der meisten Verse der fünf Bücher Mose. Als hebräisches "und" hat es eine verbindende Funktion und wird "wav hachibur" (wav copulativum) genannt. Weiter hat die jüdische Tradition dieses kleine "und" den "Ot Ha-Emet", den "Buchstaben der Wahrheit" genannt. Dahinter steht die Einsicht, dass nichts im Leben, insbesondere im geistlichen Leben, unabhängig von seiner Herkunft und seiner Zukunft geschieht2. Alles steht in einer zeitlichen Linie, einem geschichtlichen Prozess, schreitet ständig voran, hat sein Werden und seinen Werdegang.

Das heilige Zelt, die Stiftshütte (Mishkan) sollte einen mitwandernden »Berg Sinai« bilden, - eine Quelle und ein Leuchtfeuer geistlicher Realität in der trostlosen Wüste. Bei ihrem Bau verwendete Mose Haken (Ex 38,28), die "wavim" (Plural von "wav") genannt werden, also das gleiche Wort wie "und". Eine unerwartete Kombination: "und" sowie "Haken" werden mit dem gleichen hebräischen Wort bezeichnet. Die Haken hatten die Aufgabe, die einzelnen Teile der Zeltkonstruktion zusammenzuhalten. Die gleiche Rolle spielt der Buchstabe "wav", mit dem eine große Zahl von Versen des AT beginnen. Er ist der »Verbindungs- und Befestigungshaken« zwischen Worten, Versen, Aussagen und Botschaften. Er gibt den Gedanken einen zusammenhängenden, einheitlichen Fluss, so dass auch scheinbar zufällig nebeneinander Stehendes einen Sinn bekommt. Durch die Verknüpfung von Einzelereignissen wird etwas Durchgängiges erkannt.

Was immer wieder auftaucht, wiederkehrend zu beobachten ist, was sich immer neu bestätigt und bewährt, was Unterschiedliches verbindet und unter verschiedenen Umständen verbindlich ist, - das nennen wir Wahrheit. Deshalb ist der verbindende Buchstabe wav der Schlüssel zu dem, was verbindlich ist, der Buchstabe der Wahrheit. Wahrheit ist nicht zuerst ein Satz, eine überzeugende Aussage, sondern das, was aufrichtet, befestigt, verbindet, hält und bleibt. Erst durch einen solchen Wahrheitszusammenhang inmitten der erlebten Wirklichkeit »erheben« sich die Worte der Bibel und richten sich auf zu einem Gebäude, wie die Konstruktion der Stiftshütte, die von den wav-Verbindungen, den Haken an entscheidender Stelle, zusammengehalten wird.

Wie gesagt beginnen über die Hälfte der Verse der Tora mit "wav", und im Buch Ruth ist es beinahe jeder Vers. "Wav" ist quasi einer der wichtigsten Treffpunkte auf der »Schnellstraße« der Zeit. Das Ruthbuch arrangiert Ereignisse über eine weite räumliche, zeitliche und personelle Distanz, voneinander entfernte ethnische Ursprünge, Lebensräume und Personen rücken auf eine unvermutete Weise zusammen. Würde man von Ruth, Naomi und Boas nur ihre Ausgangslagen kennen und diese in die Zukunft verlängern, ergäbe sich ein Bild einzelner Personen, die im Bisherigen fortexistieren, ob sie nun das Beste daraus machen oder nicht: Boas als Single in Bethlehem, der ganz in seiner Landwirtschaft aufgeht; Naomi, eine verbitterte Witwe, die sich im fremden Land dahinschleppt und auf ihr Ende zulebt; Ruth, eine Moabiterin, die nach dem frühen Tod ihres Mannes sich neu orientiert und ihre Chancen auslotet. Doch keiner dieser angenommenen Lebensverläufe tritt tatsächlich ein. Das »Natürliche« und »Normale«, die Verlängerung des Ist-Zustandes in die Zukunft, findet nicht statt. Stattdessen bahnen sich unvorhersehbare Ereignisse ihren Weg, - entsprungen aus der unsagbaren Vorsehung Gottes, der seine »Fäden« in Richtungen ausspannt, die sich menschlicher Deutung entziehen. Weitreichende Querverbindungen, folgenreiche Zusammenhänge bringen Episoden und Personen in ein unerwartetes, aber gleichwohl stimmiges Miteinander. Gegenseitige Fürsorge schafft nicht nur Not lindernde und erlösende Verbindungen, sondern wirft erste Strahlen auf die Folgezeit des davidischen Königtums, das letztendlich in der Erlösung durch den Davididen und Messiaskönig Jesus gipfelt.

Ihren Ausgang nimmt diese dynastische israelische Linie in der Heirat von Ruth und Boas, wohlgemerkt einer jüdisch-heidnischen Beziehung. Israel wird mit einem "Und", einem familienbildenden "Wav-Haken", mit einem Mitglied der völkischen Welt verbunden; wie übrigens auch schon Mose, der Zippora, die Tochter des midianitischen Priesters Jethro heiratete. Ungeachtet dieses vorderhand fragwürdigen Schritts wird Naomi von den Frauen Bethlehems bescheinigt: "Deine Schwiegertochter, die dich geliebt hat, … ist dir mehr wert als sieben Söhne." (4,15). Die Verbindung zwischen zwei Ehegatten von solch unterschiedlicher Herkunft bedarf besonderer Bestätigung und wird vom häufigen Auftreten des "Wav copulativum" unterstützt. In den zehn Versen, die die Hochzeit und ihre Folgeereignisse schildern (Ruth 4,13-22) taucht das wav 20 mal auf! Diese Heirat ist nicht nur ein Einzelereignis, sondern setzt ein zukünftiges wav, eine Geschlechterfolge in Gang, die, sogar weltweit gesehen, die wichtigste Familie überhaupt bildet. "Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden" wird der bedeutendste Vertreter dieser Familie einst sagen. Die Linie von einer heidnisch-jüdischen Ehe, über die Geburt des späteren Königs David, bis hin zum Davididen und Messiaskönig Jesus - wird schon durch diese anfänglichen verknüpfenden "Unds" aufs Engste verbunden und als zusammenhängende Führung Gottes verstanden. Eine kleine »unmögliche« Geschichte, jedoch von Gott inszeniert, wird zum Samen der Heilsgeschichte, der größten Geschichte der Welt.

1.4 Verschiedene Zeiten im Buch Ruth

Die vier Kapitel des Buches Ruth zeigen unterschiedliche Zeiträume, die sich immer mehr verkürzen. Das erste Kapitel umfasst einen Zeitraum von zehn Jahren, die Erntezeit in Kapitel zwei dauert etwa sieben Wochen im späten Frühjahr; Kapitel drei spielt sich an einem Tag und einer Nacht ab; und das vierte Kapitel beschreibt eine Urteilsfindung der Ältesten im Tor. Erst im abschließenden Geschlechtsregister geht der zeitliche Korridor wieder auseinander. Von einer relativen Weite gelangt die Zeit zu einer Verdichtung, in der die Erlösungsvorgänge stattfinden, um sich anschließend wieder in die Heilsgeschichte hinein zu weiten. - Einen ähnlichen Verlauf der Zeiträume zeigen auch die geschichtlichen Entwicklungen rund um die Erlösung durch Jesus Christus.

Setzt man die zeitlichen Phasen der Ruth-Geschichte in Beziehung zueinander, zeigt sich eine gegliederte Struktur, die auf der Konzeption des Wav aufbaut:

Zeit des Hungers in Bethlehem. Elimelech ging davon aus, an diesem Zustand werde sich nichts ändern, er vertrat eine pessimistische Prognose der automatischen Verlängerung des Ist-Zustandes. Die gegenwärtigen Lebensumstände bestimmten seine Wahrnehmung der Zeit mehr als alles andere. Er war konzentriert, wenn nicht gar fixiert auf das Äußere und Vorfindliche. Auch die religiösen Festzeiten und Rituale, die Gemeinde und Familie traten beim ihm in den Hintergrund. Für ihn war schlechte Zeit, Punkt. Eine solch unbewegliche und starre Haltung der Hoffnungslosigkeit ist nicht nur eine persönliche Befindlichkeit, sondern geht mit Unglaube einher. Der Glaubende indes hofft alles (vgl. 1Kor 13,7) und vertraut auf Gottes Möglichkeiten, der Dinge und Zeiten ändern kann.

Eine positive Prognose motivierte ihn jedoch im Blick auf die Auswanderung. Die Entscheidung zwischen Heimat und Fremdlingschaft fiel zugunsten letzterer aus. Mit Hoffnung auf eine bessere Zukunft flieht er mit seiner Familie nach Moab und setzt seine Hoffnung auf die dortigen Zukunftsentwürfe. Die moabitische Religion war für ihn wohlstands- und zukunftsorientiert, ihr gegenüber konnte er bejahenden Glauben aufbringen, gegenüber dem Gott Israels nicht. Als Angehöriger des Gottesbundes erliegt Elimelech den Versuchungen der verführerischen Welt. Auch die Schlange im Paradies suggerierte Eva und Adam, außerhalb des Glaubens würde das Leben entscheidend aufgewertet.

Das Experiment wurde von der Wirklichkeit eingeholt und war schließlich zum Scheitern verurteilt. Elimelech starb überraschend und konnte seine Pläne nicht weiterverfolgen. Die erhoffte Zukunft in Moab blieb ihm verwehrt. Ebenso seiner Frau Naomi, erst recht nachdem die beiden Söhne ebenfalls starben. Die Auswanderung endet in einer großen Tragik. Gott hatte der Familie in Moab die Zukunft verwehrt.

Die örtlichen Verhältnisse folgen im Buch Ruth ebenfalls einer Konzentrationslinie, die immer näher an Bethlehem heranrückt: Rückkehr aus Moab, Arbeit auf den Feldern Bethlehems, Annäherung an den persönlichen Bereich des Boas, Verhandlung im Tor, dem Zentrum der Stadt. Eine Bewegung vom »alten« zum »neuen« Bethlehem.

Durch die Rückkehr nach Bethlehem wird zwar ein Zyklus geschlossen, doch sind die Bedingungen des Neuanfangs völlig andere. Die Zeit verändert sich wenig und viel zugleich. Um es bildlich zu sagen: die Zeit fährt nicht geradlinig wie auf Schienen, sondern dreht sich mit kreisförmigen Bewegungen wie eine

Schraube

oder Spirale in die Zukunft hinein. Beim Drehen erreicht ein bestimmter Punkt auf der Schraube immer wieder die gleiche Stelle, jedoch nicht dieselbe, sondern um ein Stück in die Zukunft verschoben, - gleich und doch anders.

So kehren gleichartige Zusammenhänge unter anderen Bedingungen wieder, eine Art »vorwärts geschobene Parallelität«, bzw. »um 360 Grad gedrehte Zeit-Schraube«. Die Ereignisse verlaufen in einem Mit- und Nebeneinander, sind ebenso gleich und ungleich, kehren wieder und sind doch anders. Der zweite Aufenthalt in Bethlehem ist aus der Not des ersten geboren und stellt, wenn auch unter erschwerten Umständen, eine Weiterführung und sogar Steigerung des ersten dar: Familiengründung von Elimelech und Naomi in Bethlehem - Hungersnot und Auswanderung - Notlage durch den Tod aller männlichen Familienmitglieder - Rückkehr und Neustart in Bethlehem - Neugründung einer Familie durch Erlösung3 - nun sogar mit königlicher Verheißung im Gegensatz zur vorausgehenden tragischen Blockade in Moab. Krasser könnte der Gegensatz nicht sein: zuerst die Ablehnung Bethlehems im Unglauben, dann die auf Gott vertrauende Rückkehr mit der Folge der Verheißung einer Heilsdynastie von globaler Bedeutung. Wir sehen zwei parallele Anläufe: der erste beginnt mit dem Versuch, das Leben selbst in die Hand zu nehmen und seine Zukunft zu sichern. Der zweite setzt auf einen Löser und hat Zukunft. Zwei Ehen, Elimelech/Naomi und Boas/Ruth, mit unterschiedlichen Ansätzen und zweierlei Ausgang. Dabei wird die an dem Drama unschuldige Naomi als Witwe in die zweite Ehe fürsorglich einbezogen.

Das erinnert an die zwei biblischen Bünde: alter und neuer Bund, Gesetz/Tora und Evangelium. Erst der zweite Bund, der auf die Erlösung durch den Gottessohn Jesus Christus setzt, hat eine Zukunft, kann aber ohne den ersten nicht existieren und baut auf ihn auf. Um die Ziele des ersten zu erreichen, nämlich eine Familie mit Zukunft zu gründen, bedarf es des zweiten Bundes. Die beiden Anläufe liegen in einem zeitlichen Nacheinander, ihre Absichten jedoch bilden ein Miteinander, ihre Ergebnisse sind unterschiedlich voneinander.

Neben der Parallelität der zwei Familiengründungen mit jeweils unterschiedlichem Ausgang zeigt das Buch Ruth eine dritte zeitliche Perspektive. Die Levirats- und Löserbeziehungen haben über ihre damalige Funktion in Bethlehem hinaus eine eschatologische Zukunftsperspektive und verweisen auf die kommende davidische Königsdynastie. Von Ruth und Boas stammt der Urenkel David ab wie auch - der menschlichen Herkunft nach - der schlussendliche David, Jesus Christus. Die kreisförmig angelegten zeitlichen Schrittfolgen des Ruthbuches setzen sich langfristig in der messianischen Ära fort. So muss Jesus mit seiner Familie von Bethlehem ins heidnische Ägypten fliehen, um nach Ende der Bedrohung wieder nach Israel zurückzukehren - ähnlich den Wanderungen im Ruthbuch, jedoch auch wieder ganz anders. Die Gemeinde Jesu geht von Israel aus, erreicht die heidnischen Regionen der Welt (vgl. Moab), um sich am Ende wieder in Jerusalem zu sammeln - auch hier eine kreisförmige Schrittfolge. In dieser Phase erkennen die Israeliten den Löser und seine Erlösung, womit die geistliche »Hungersnot« Israels zu Ende kommt (vgl. Ährenauflesen). Die spiralförmige Bewegung der Heilsgeschichte kommt wieder an die gleichen Punkte, jedoch unter neuen Bedingungen und mit neuen Verheißungen Gottes. Vergleichbares und Unvergleichliches, Bekanntes und Neues stoßen aufeinander und kommen auf paradoxe Weise zusammen. Indem alte Zeit als neue Zeit zurückkehrt bzw. etwas völlig Neues wirkt, identifiziert sich Gott mit der von ihm geschaffenen Zeit, ihre Wiederkehr wird zu ihrer Erlösung. Vergangene Zeit wird nicht abgetan als vergessene und verlorene, vielmehr wird sie gewürdigt, gerettet und neu geboren. Wo Gnade am Wirken ist, wird nicht allein die Gegenwart bewältigt, vielmehr trägt sie den Keim der Verheißung in sich, ein ausgestreuter Same, der früher oder später aufgeht. Die gnädige Führung und Fügung Gottes, die hinter dem spiralförmigen Zeitkonzept stehen, hat die Wiedergewinnung der Zeit auf der Agenda. Oberste Priorität genießt der Zeitgewinn, der »ewigkeitsorientiert« durchorganisiert wird. Die neue Zeit ist die erlöste alte Zeit. Die befreite Zeit ist ohne Zeitdruck, sie hat Zeit.

Das wirft ein Licht auf die gesamte Schöpfung, bildet doch die Erschaffung der Zeit in Form von Schöpfungstagen den Beginn des Sechs-Tage-Werks. Der Tag-Nacht-Rhythmus bietet die einfachste Wahrnehmung von Zeit, Uhr und Kalender sind Teiler und Multiplikatoren von Tagen. Dass Gott für die Erschaffung der Welt zeitliche Einheiten zugrunde legt, weist auf eine fundamentale Wichtigkeit der Zeit hin. Wäre doch auch ein anderes Schöpfungsmodell denkbar gewesen, z.B. eine aus der Allmacht Gottes entspringende Spontanschöpfung, die keines zeitlichen Prozesses bedarf. Jedoch nicht ohne Absicht hat Gott eine zeitliche Schrittfolge gewählt. Warum? Zeit schafft Lebensraum. Zeit gehört ebenso zur Räumlichkeit wie das Land. Die (relativitätstheoretische) Zuordnung "Raum und Zeit" muss also abgeändert werden in "Land und Zeit", beide zusammen erst bilden den Raum.

Damit sich Leben entfalten kann, braucht es Zeit. Sie ist nicht Teil des Lebens, sondern dessen Voraussetzung. Leben geschieht in der Zeit, die ihm vorgegeben ist. Sie ist dennoch keine vom Leben losgelöste Größe, vielmehr gehen Leben und Zeit eine bestimmte Form der Symbiose ein: Im Auftrag Gottes, die Erde zu bebauen, bekommt der Mensch die Verantwortung für etwas, das ihm vorausgeht, seinen Lebensraum: Land und Zeit. In der zeitlichen Abfolge wird der Verantwortungsträger zuletzt geschaffen. Zuvor hatte Gott selbst die Leitung der Schöpfung inne und übergibt sie am sechsten Tag dem Menschen als seinem Repräsentanten. Er wird von Gott so sehr geehrt, dass er wie Gott wird und an dessen Stelle tritt. Das "Wie-Gott-Sein", das später die satanische Schlange als Lockmittel ansetzt, ist dem Menschen also bereits gegeben, von Gott selbst. Was die Schlange anbietet, ist lediglich ein miserabler »fake« dessen, was der Mensch bereits vollständig empfangen hatte. Der angebliche Mehrwert, das Erkennen von Gut und Böse, führte eben nicht zu einer souveränen Erkenntnis, sondern erniedrigte den Menschen zum Opfer und Objekt des Bösen. In der Annahme, über Gut und Böse, Gott und den Bösen entscheiden zu können, unterwirft sich der Mensch de facto dem Urteil des Bösen. Hätte er die vorhandene Würdegabe in Betracht gezogen und Gott dafür gedankt, hätte er der Verführung der Sünde widerstanden. Danken schützt vor Wanken.

Indem er jedoch der Sünde die Tür öffnete, hat er eine Diebin ins Haus gelassen, - die ihn zwar freundlich begrüßt, aber in allen Räumen zu stehlen beginnt. Auch im Raum der Zeit. Der Mensch hatte seinen Lebensraum einer Betrügerin überlassen, die ihm die Zeit stiehlt. Eine neue Erfahrung: zum erstenmal fehlt Zeit. Eine sich fortsetzende und durchgängige Erfahrung: immer mehr Gegenstände des Hauses fehlen. Der Lebensraum wird zu einem Ort des Verlustes, der Knappheit und Armseligkeit.

Sie ist nicht mehr frei verfügbar und wird zur Mangelware. Rasch entbrennt ein Kampf um die Restbestände an Zeit: Wer kann am meisten davon bekommen, wer kann sie am besten ausnützen, wer kann sich in einer kleinen Zeit am größten herausbringen? Die Ermordung Abels ist ein früher Beweis für die gewalttätige menschliche Besetzung der Zeit und das Hinausdrängen des anderen aus der Zeit. Das Habenwollen von Zeit führt zum Raub der Zeit des anderen, bis hin zum Raub seiner Lebenszeit. Im Aneignen fremder Zeit verspricht sich der Mensch einen Zugewinn an Raum, der ihm zur Verfügung steht und den er mit seiner Selbstvergrößerung ausfüllt. Würde dieses System des Zeitraubs und der Raumgewinnung nicht von Gott, letztlich durch den Tod, begrenzt, könnte es sich solchermaßen fortsetzen, dass die Zeiträuber zu Zeitdiktatoren werden. Immer wieder ist das auch geschehen: Diktatoren binden Menschen möglichst umfassend in ihr System ein und rauben ihnen damit ihre persönliche Freiheit und Zeit.

Die nach dem Sündenfall von Gott initiierte Heilsgeschichte hat die Wiedergewinnung der gefallenen Zeit zum Ziel. Die Zeit soll aus ihrem Mangel erlöst und aus der Enge ihres Gefängnisses befreit werden. Der Übergang von Moab nach Bethlehem signalisiert den Wechsel der Zeiten, von der beengt aussichtslosen zur befreiten und zukunftsoffenen. Das Gleiche gilt für den Vergleich der ersten mit der zweiten Phase in Bethlehem. Zweimal derselbe Ort, aber völlig andere Zeiten, darum auch unterschiedliche Lebensräume. Die Zeiten im alten Bethlehem und in Moab waren von Not und Tod gezeichnet, die neue Zeit in Bethlehem öffnet sich in eine ausgedehnte Zukunft, die über David und Jesus bis in die Ewigkeit reicht, - von der Leere der Zeit zu ihrer Fülle.

Diese Kombination wie auch Konfrontation von alter und neuer Zeit, das Neue als Altbekanntes und das Alte als unversehens Neues, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen macht Gottes Zeit aus. Als derjenige, der die Zeit geschaffen hat, sie erhält, durchdringt und formt, ist er die kritische Instanz und entscheidende Autorität der Zeit. Jede Zeit ist ihm gegenüber verantwortlich, hat sich an ihm zu messen und von ihm beurteilen zu lassen. Er wird sie letztendlich nicht denjenigen überlassen, die die Zeit rauben und sich untertan machen wollen, sondern hält sie schützend und lenkend in seinen Händen (Ps 31,16). "Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen aber: wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist." (1Joh 3,2). Die Geschichtserzählung des Buches Ruth verbindet die Gegenwart sowohl mit der Vergangenheit als auch mit der Zukunft. Wobei die Beweggründe für das laufende Geschehen ebenfalls doppelt verortet sind: sie liegen in dem, was war, und in dem, was kommt.

An diesem Punkt widerspricht die Bibel dem gängigen Kausalitätsprinzip, demgemäß eine Wirkung nicht früher als ihre Ursache eintreten kann. Die Bibel beinhaltet einen Geschichtsentwurf, der nicht nur Geschehenes berichtet, sondern auf Zukunft hin orientiert ist. Ihre prophetischen Perspektiven haben dabei ebenso Kausalitätsgehalt wie vergangene Ereignisse. Alle erfüllten Prophetien belegen diesen Tatbestand und verlängern ihn in die Zukunft.