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Das Buch Ruth ist ein Juwel des Alten Testaments. Seine Botschaft steckt voller Leidenschaft, Ermutigung und Hoffnung. In Niederlagen und Trauer nicht steckenzubleiben, neu aufzustehen, Visionen zu entwickeln und sie tatsächlich umzusetzen - das ist der Stoff, aus dem diese Erzählung geformt ist. Hunger, Flucht und dazu eine tragische Familiengeschichte werden zu einem biographischen »Flickenteppich«, in den Gott wunderbar leuchtende Fäden einwebt. Faszinierend still, von tiefem Vertrauen getragen, immerzu bewegend, selbst in Rückschlägen nach vorne blickend, - wer kann sich diesem Glauben entziehen? Von Menschen, die den Leser in ihre Geschichte einbeziehen und ihm intuitiv nahe kommen.
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Seitenzahl: 301
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Miriam und Max
zu ihrer Trauung am 4. August 2018
mit dem Trauspruch aus Ruth 1,16:
„Wo du hingehst, da will ich auch hingehen;
wo du bleibst, da bleibe ich auch.
Dein Volk ist mein Volk,
und dein Gott ist mein Gott.“
Gewidmet unseren familiären »Ruths«
Comtesse Terrage de Villeneuve
und
Anna Warkentin
im Glauben an den Erlöser Jesus Christus
Vorwort
Ruth
1. Vorbemerkungen
1.1 Ruth in der Bibel
1.2 Ruth und das Schawuot-Fest (Pfingsten)
1.3 Das Buch Ruth und der Buchstabe "Wav": w ℸ
1.4 Verschiedene Zeiten im Buch Ruth
2. Einleitungsfragen
3. Genre / Literaturgattung des Buches Ruth
4. Hebräische Erzählkunst
4.1 Wie liest man eine Erzählung?
4.2 Kennzeichen biblischer Erzählungen
4.3 Biblische Personen
4.4 Integration und Integrität des Erzählers
4.5 Erkennen von Auslassungen
4.6 Aufgabenvielfalt
4.7 Zeiträume unterscheiden
4.8 Einflüsse von Lebensbereichen
5. Das Buch Ruth als Erzählung
5.1 "Sitz im Leben"
5.2 Naomi und ihre Geschichte
5.2.1 Erste Szene: Tod und Leere
(1) Naomi verliert ihre Männer
(2) Naomi und Jahwe: Teschuva / Rückkehr
(3) Naomi und die Moabiterinnen
(4) Naomi steht auf19
5.2.2 Zweite Szene: Unser tägliches Brot
5.2.3 Dritte Szene: Eine Ruhestätte suchen
5.2.4 Vierte Szene: Ein Sohn für Naomi
5.3 BOAS
5.3.1 Boas wird vorgestellt
5.3.2. Warum heiratet Boas Ruth?
(1) Auf dem Erntefeld
(2) Auf der Tenne
5.3.3 Warum so zögerlich?
5.3.4 Warum die öffentliche Konfrontation?
(1) "Lösen" als ein »Heiratsgrund«
(2) Die Konfrontation im Tor
(3) Den Namen des Verstorbenen erhalten (4,5b.9-10)
5.3.5 Fazit: Boas, der Mann der Würde
5.4 RUTH
5.4.1 Ruth und Naomi
5.4.2 Ruth und Boas
(1) Auf dem Erntefeld
(2) Auf der Tenne
(3) Die Heirat
5.4.3 Ruth und Jahwe
(1) Welcher Art ist ihre Zuwendung zu Gott?
(2) Göttliche Beteiligung
(3) Die Treue der Ruth
6. Bedeutung Ruths - kleines Buch mit großen Themen
6.1 Eine Frauengeschichte
6.2 Eine Fremdengeschichte
6.3 Eine Hoffnungsgeschichte
6.4 Eine Geschichte der Erfordernisse
6.5 Eine prophetische Geschichte
6.5 Systematisch-theologische Aspekte
6.6 Beiträge des Buches Ruth zur biblischen Theologie
Ruth - Geschichte einer großen Liebe. Besonders wertvolle Dinge sind oft von kleinem Ausmaß: etwa Diamanten oder Perlen. Die Größe sagt nichts über den Wert aus. Eine solch kleine und doch ganz besondere Kostbarkeit der Bibel ist das Buch "Ruth". Sein »Mehrwert« ragt weit über seine Größe hinaus, ähnlich einem Brillanten, der als winziger Stein im Licht schillert und die meist weibliche Trägerin dezent erstrahlen lässt. Was ein unförmiger und trüber Rohdiamant war wird durch feinen Schliff zu einem leuchtenden Edelstein. So auch das Buch "Ruth". Es erzählt eine Geschichte von Leid und Treue, Schuld und Gnade, von einer alle Trauer überstrahlenden Liebe. Was im Leben unbedeutender Menschen im fernen Orient geschah, tritt aus der Vergangenheit hervor und hat Auswirkungen, von denen alle Menschen betroffen sind. Die Hauptfiguren sind die Vorfahren der königlichen Messiasdynastie, aus der schließlich der hervorgehen wird, dem "alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben ist" (Mt 28,18). Zu entdecken, dass die Bibel ein über Jahrhunderte reichendes Netzwerk von Generationen ausbreitet, die eine durchgängige Handschrift, die Signatur Gottes tragen, ist immer wieder aufs Neue faszinierend. Da werden Zusammenhänge und Übereinstimmungen erkennbar, geschrieben von Verfassern, die sich nicht kannten und die zu ganz unterschiedlichen Zeiten lebten. Bei allen Unterschieden zieht sich »ein roter Faden« durch die Bibel, der darauf hinaus läuft, dass Menschen aus allen Völkern und Zeiten mit Gott versöhnt werden.
Dass das, was Jesus Christus bewirkte und wer er war, bereits Jahrhunderte vorher im Alten Testament vorgezeichnet wurde, weist darauf hin, dass diese alten Schriften voller Zukunft sind. Teilweise umschreiben sie Ereignisse, die bis heute noch nicht eingetreten sind und sich erst beim zweiten Kommen von Christus erfüllen. Teilweise vor über 3000 Jahren geschrieben, ragen sie über die heutige Zeit hinaus und beschreiben das zukünftige Handeln Gottes.
Eine Perle von besonderer Strahlkraft ist die Geschichte von Ruth. Was bei Perlen besonders zählt, ist der Lüster, der den Glanz und die Ausstrahlung der Perle beschreibt. Hervorgerufen von einzelnen Schichten aus Perlmutt, die zwiebelartig übereinander liegen. Das Licht bahnt sich den Weg durch die verschiedenen Perlmuttschichten und wird aus dem Inneren der Perle wieder nach außen reflektiert. So ähnlich auch das Licht Gottes, das in der Ruth-Geschichte verschiedene Schichten durchdringt, auch solche voll Tränen und tiefem Schmerz, das aber am Ende doch voller Gnade erstrahlt.
Die Tragik der jungen Ruth und ihrer Schwiegermutter Naomi ist in aller Dunkelheit vom Licht Gottes durchdrungen. Was war geschehen? Naomi war die einzig Überlebende, die alles von Anfang an miterlebt hatte. Wie die Familie in Bethlehem Hunger litt, nicht mehr ein noch aus wusste und schließlich alles aufgab, um ihr Glück in Moab zu suchen. Der Umzug, die Suche einer Bleibe, die Mentalität der Leute, die fremde Kultur, die anderen Moralvorstellungen, das musste erst verkraftet werden. Naomi und ihr Mann Elimelech, die beiden Söhne Machlon und Kiljon, sie standen vor der größten Herausforderung ihres Lebens. Dazu kam ein Unterschied, der sie tief im Kern berührte: die Menschen ihrer neuen Umgebung kannten den Gott Israels nicht, wussten nicht, wie er Israel aus der Sklaverei befreit, wie er ihnen seine Gebote als tägliche Lebensregel gegeben hatte. Dennoch waren die Neueinwanderer zuversichtlich: tatkräftig stellten sie sich den Herausforderungen, passten sich den Gegebenheiten an, nahmen an der Arbeitswelt teil, schlossen neue Bekanntschaften. Die beiden Söhne kamen mit anderen Jugendlichen im Kontakt und lernten moabitische Mädchen kennen - und heirateten sie. Besser kann ein Neustart nicht gelingen. Jahre zwar mühevoller, aber erfolgreicher Aufbauarbeit folgten. Als Familie zusammen zu halten und füreinander da zu sein war ihnen besonders wichtig, auch in der erweiterten Familie, mit den moabitischen Schwiegereltern der Söhne pflegten sie gute Beziehungen.
Bis unerwartete Ereignisse den verheißungsvollen Fortgang unterbrachen und einen schicksalsschweren Verlauf nahmen: der erste schwere Einschnitt war der schmerzliche Verlust des Ehemanns und Vaters Elimelech. Doch dabei sollte es nicht bleiben: der tragische Tod machte auch vor den beiden Söhnen nicht Halt, kaum verheiratet starben auch sie. Welch unsagbares Leid war über Naomi, aber ebenso über ihre beiden Schwiegertöchter Ruth und Orpa hereingebrochen! Von Trauer überschattet, wie gelähmt saßen sie da, ohne Worte, ohne zu wissen, warum das alles geschehen ist, zumal in dieser Härte. Die unbarmherzige Hoffnungslosigkeit sollte zur Heimsuchung wurden. Die schrecklichen Ereignisse, die sich bei ihnen überlagerten waren wie die brennenden Schichten einer Zwiebel. Doch dabei blieb es nicht. Sie sollten zu den strahlenden Schichten einer Perle werden. Wo Gottes Licht ausstrahlt, wird aus den Tränen der Zwiebel der Lüster einer Perle. Aus dunkelsten Lebensphasen und schwersten Prüfungen erwächst eine zweite Lebensgeschichte, die von Gottes Gnade und Segen geprägt ist.
Dass Naomis Lebensweg über viele Jahre hinweg voller Rätsel steckte, war nicht zu leugnen: warum dieser Tiefschlag, mitten im hoffnungsvollen Aufbau den Mann zu verlieren, und dann auch noch die beiden Söhne? Warum eine solche Demütigung? War ihr keine Zukunft vergönnt? Sollte dieses Leben nichts Gutes für sie bereit halten?
Sie bemerkt es nicht, - doch mit der resignierten Warum-Frage ist sie nicht allein. Leise und unsichtbar, nach und nach deutlicher wird Gottes Hand erkennbar. Da war eine ganz untergründige Wärme, deren Reste sie irgendwie spürte. Bisweilen meldete sich sogar ein trotziges »Dennoch«: dennoch bleibe ich stets an dir. Auch wenn nichts von ihm zu spüren war: mit Gott zu hadern, sich von ihm abzuwenden und vom Glauben loszusagen, wie es andere taten, das war nicht Ihres. Warum? Eine zweite unergründliche Warum-Frage: Warum bleibe ich an ihm? Warum glaube ich, trotz der Beweise des Gegenteils? Warum kann ich nicht anders? Warum zieht es mich zu Gott? Selbst wenn er hart und ungerecht erscheint?
Naomi- welch ein Leben, armselig und bitter, von der Not immer unten gehalten, der Hoffnungen beraubt, - aber ein Leben, das den Funken des Glaubens nie hat erlöschen lassen. Ein Leben, das nicht das einzige ist, das Naomi lebt, das begleitet wird von einem verborgenen zweiten Leben. Die Tränen werden gesehen, gehalten, gefasst in Gottes Gefäß. Umschlossen ihr unruhiges Herz, ihre Sorgen und Zukunftsängste. In kleinen Spuren ist sie da, diese Ahnung, dass Gott nicht von ihr abgelassen hatte. Ist sie eine gebrochene Frau, ist ihre Beziehung zu ihm nicht gebrochen. Hat sie ihre Familie verloren, zu seiner Familie gehört sie.
Naomi bewegt sich auf einem Pfad, dessen steiniger Untergrund von Gottes Liebe befestigt ist. Sie lebt die Geschichte einer großen Liebe. Ein Pfad, der kein Ende hat, der sich durch große Zeitepochen hindurch fortsetzen sollte. Mit einer weiten Perspektive: Er verweist auf das kommende Reich Gottes, die wichtigste Phase der gesamten Weltgeschichte. Ihr Nachfahre, Jesus Christus, wird die Weltherrschaft einnehmen. Aus der Familienlinie von Naomis gewissermaßen adoptiertem, einzigem überlebenden Sohn kommt der Erlöser Jesus Christus. Seiner menschlichen Herkunft nach ist Naomi die "Mutter" dieses Stammbaums, unmittelbar leiblich gesehen sind es die Eltern Boas und Ruth. Seiner göttlichen Herkunft nach kommt er vom himmlischen Vater und ist dessen ebenfalls einziger Sohn. Eine bemerkenswerte Parallele: Naomi und Gott sind Begründer einer Geschlechterfolge, die weltgeschichtlich von höchster Bedeutung ist, die die Erlösung und Erneuerung des Menschen, die Überwindung aller lebensfeindlichen Mächte zum Ziel hat.
Werfen wir nochmals einen Blick auf die Ausgangssituation: War die Flucht aus Bethlehem nötig, oder war sie gar eine Ausflucht? Haben Elimelech und Naomi die dortige Familie, die Nachbarn und Freunde einfach im Stich gelassen, waren sie doch alle in der gleichen Notlage? Sind die beiden einer kurzsichtigen Einschätzung der Lage gefolgt, aus Angst ausgewandert? Oder aus Begeisterung für den Wohlstand in Moab? Unausgesprochen schwingt der Gedanke an eigene Schuld mit. Alles sollte recht werden, die Hoffnung auf bessere Zeiten trieb sie an und gab die Kraft zum Aufbruch. Aber hatten ihre Beweggründe nicht auch einen Gegenpol? Dachten sie nur an sich selbst, wichen vor Herausforderungen aus, hatten Scheu vor unbequemen Einbußen, vor harten Maßnahmen, die notwendig gewesen wären? Naomi konnte es nicht leugnen, ein dunkler Gedanke ging durch ihre Sinne: war das Sterben der Männer ein Gericht Gottes? Die Strafe für die Trennung vom Volk Israel? Hat ein Jude in der Diaspora auf Dauer doch keinen Segen? Haben sie das Land, die Gabe Gottes, im Stich gelassen? Fragen, die Naomi kaum zu denken geschweige auszusprechen wagte. Oder sind das Produkte einer ängstlichen Phantasie, gar Verschwörungstheorien? Sie ist nicht die einzige, die sich solche Fragen stellt. Sie Gott anstatt sich selbst zu stellen, wäre die Alternative. Gottes unergründliche Wege und das eigene Ergehen in einen erklärbaren Zusammenhang zu bringen, dazu sind menschliche Gedanken zu schwach, zu einseitig, zu beeinflusst, zu begrenzt. Gott ist anders und handelt anders als wir denken. Doch er handelt nicht für sich, nicht willkürlich, sondern für uns. Und das sieht oft anders aus, als wir es für richtig halten.
Naomi, allein übrig geblieben von der jüdischen Familie, fragt sich, wie es weitergehen soll. Sich hängen zu lassen, ihr Schicksal als gegeben hinzunehmen, irgendwie in den Tag hineinzuleben, das war ihr zu wenig. Sich als Selbsttherapie eine gewisse Dickfelligkeit zuzulegen, die Dinge nicht so an sich heran zu lassen war ihr zu oberflächlich. Vorwürfe da und dort: ist sie womöglich selbst schuld an ihrem Elend? Hatte sie es nicht besser verdient? Nein, sie will nicht Spielball dieser anklagenden Stimmen sein, wehrt sich gegen den Zugriff der Skrupel, ist nicht bereit, sich zu ihrem eigenen Opfer zu machen. Liegenbleiben ist keine Option. Sie steht auf, schaut nach vorne und unternimmt erste Schritte. "Lech lecha" - Gottes Befehl an Abram, die Heimat zu verlassen und sich nach Kanaan aufzumachen, dieser alte Ruf klingt in ihrem Herzen an. Zurück nach Bethlehem? Heim nach Israel? Was zunächst wie eine Verlegenheitslösung aussah, sollte zu einem aussichtsreichen Neuanfang werden.
Schritte aus der Verzweiflung in eine unbekannte, aber tragfähige und gute Zukunft - das ist der Stoff, aus dem dieses alttestamentliche Kleinod "Ruth" geformt ist. Der Name dieses Buches kommt nicht von der israelischen Naomi, sondern von ihrer moabitischen Schwiegertochter Ruth. Eine Geschichte voll wunderbarer Überraschungen, menschlichem Überwindermut und liebevollen Führungen Gottes. Sie spiegelt seine Kreativität und seinen Ideenreichtum. Erfahren von zwei Frauen, die in einer demütigen Haltung bereit waren, die Risiken des Glaubens mit allen Konsequenzen auf sich zu nehmen. Sie zählen zum Kreis jener Personen, die Geschichte geschrieben haben. Entsprungen einer Geschichte von Gottes stiller Fürsorge und Leitung, die keine Grenze kennt. Wie scheinbar zufällig sich die Lebenswege von Naomi und Ruth treffen, wie sie diese Wege miteinander teilen und schließlich gemeinsam gehen, wird zu einer von Gott gefüllten, unendlichen Geschichte. Zwei Witwen aus zwei Generationen, aus zwei Völkern, beide von Trauer überschattet, fassen neue Hoffnung und machen sich auf einen gemeinsamen Weg. Für Ruth eine Auswanderung, die für sie ebenso wie für Naomi zur Heimwanderung wird.
Verheißungsspuren, die über die Zeit der beiden Frauen hinausgehen und Jahrhunderte später zu einer umfassend neuen Ära führen, - für Israel und die Menschheit. Eine Geschichte der durchgängigen Liebe Gottes, auf allen Wegen, Umwegen und Abwegen. Eine Liebe, die auf die Antwort derer wartet, die diese Geschichte hören und lesen. Wird sie erkannt und erwidert? Werden Menschen zu Kindern Gottes? Sehen sie das Geschenk, das Gott ihnen mit seinem Sohn gemacht hat? Seine Liebe, die ihn alles gekostet hat? Auch für Naomi, Ruth und Boas war der Sohn das größte Geschenk.
Bemerkenswert die Anfänge: Erst nach dem Leiden der Frauen begann für sie ein neues Leben. Erst nach dem Tod des Gottessohnes, der für die Sünden der Menschen stellvertretend starb, begann eine neue Geschichtsschreibung, Anno Domini, im Jahr des Herrn, der beginnenden Epoche der Gnade. Aus dem Tod geboren, das ist die Zeit des Heils. Radikal, an die Wurzel gehend, und revolutionär, alles umdrehend, den Stein des Todes wegwälzend, eine Gegenbewegung zur Geschichte der Gewalt und ihrer Tode, eine immer neue Auferstehungsgeschichte.
Aller Anfang ist schwer. So auch bei Naomi und Ruth, die, in Bethlehem angekommen, Fuß zu fassen versuchten. Doch zunächst erregte ihr Erscheinen öffentliches Ärgernis, von Mitleid keine Spur, schon gar nicht von Hilfe. Naomi ließ das Geschimpfe über sich ergehen, wehrte sich nicht, machte vielmehr darauf aufmerksam, welches "Leid ihr der Allmächtige angetan hatte".
Gott reagierte, er sah die Armut und Not der beiden Frauen. Hilfe kam nicht aus dem Lärm der Stadt, sondern von einem stillen Mann, der draußen auf den Feldern zugange war. Ein Verwandter von Naomis Mann Elimelech, Boas hieß er, war Landwirt und steckte gerade mitten in der Gerstenernte. Er erlaubte Ruth, Ähren aufzulesen, die von der Ernte liegengeblieben waren, so konnten die Frauen wenigstens Brot backen. Ruths unermüdlicher Einsatz, nicht einmal eine Mittagspause hat sie sich gegönnt, war Boas aufgefallen. Und vielleicht hat sie ihm zu diesem Zeitpunkt auch bereits ein wenig gefallen. Denn er sollte im Fortgang der Ereignisse der Dritte im Bunde werden, der zu einer Stütze der kommenden Verheißungsgeschichte würde.
Boas steht mit beiden Frauen in einer je eigenen Verbindung, er wird von beiden »berufen«. Einmal, um ihnen als Verwandter beim Nötigsten und in rechtlichen Angelegenheiten beizustehen, und schließlich, um als Ehemann von Ruth ihrer Familie und auch Boas selbst eine Zukunft zu geben. Dadurch wird er, so sagt der Bibeltext, ein "Löser", ein Erlöser und Erhalter. Er hatte das Geld, die alten Familiengrundstücke auszulösen und zurückzukaufen, waren sie doch keine bloßen Objekte des Grundstücksmarktes, sondern vor Generationen von Gott zugeteilter Erbbesitz. Was seinen Familienstand angeht: er ist Single und kommt als Ehemann für die junge Ruth in Frage. Damit tritt er sowohl für Naomis Ehemann Elimelech als auch für ihre Söhne ein und setzt die Familientradition fort. Er wird zum Bindeglied zwischen der Bethlehemer Familie Elimelech und der noch kommenden königlich-messianischen Familienepoche. Aus der Ehe von Boas und Ruth wird in übernächster Generation König David und schließlich der messianische David, Jesus Christus, nach seiner menschlichen Abstammung hervorgehen.
Ruth ist es, die durch ihr beherztes Vorpreschen die Schlüsselrolle für die entscheidenden Schritte übernimmt. Mut und Demut verbinden sich bei ihr zu einem Charakter, der Gottvertrauen und praktisches Handeln eindrucksvoll zusammenbringt. Ohne Gefühlsduselei, ohne überzogene Erwartungen, ohne besserwisserische Meinungen. Als eine moabitische Frau, die nicht aus dem Volk Israel stammt, wird sie zu einer der Stammütter der wichtigsten Familie Israels. Sollte Jesus später seine »Jüngerfamilie« in alle Welt aussenden, ist ein Teil dieser Welt bereits in seinem Stammbaum vertreten. Wie auch bei seiner Geburt drei Weise ebenfalls aus Osten kamen und die Völkerwelt an der Krippe des Königs vertraten.
All die notvollen, ungewissen Zeiten, wie auch die ermutigenden Überraschungen sind weder Schicksalsschläge noch Glückstreffer. Die unsichtbare Hand Gottes ist die treibende Kraft hinter dieser Geschichte. Die Geschichte einer großen Liebe, die auch schwere Heimsuchungen einschließt, jedoch auf die Entfaltung von Gottes Herrlichkeit zielt. Was auch geschah, Gott verliert die Spur nicht und verfolgt die Linie einer gnädigen Liebe, die sich durch die Jahrhunderte zieht und Menschen an seine Seite ruft.
Auch sie hört den Ruf, die junge Moabiterin Ruth, die Naomi gegenüber bekennt: "Dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe auch ich, da will ich begraben sein. Der HERR soll mir dies und das antun – nur der Tod wird mich von dir scheiden. “ (Ruth 1,16–17) Ruth wagt den Schritt zu einem offenen Bekenntnis. Sie legt sich fest, lebenslang, gegenüber Naomi wie auch gegenüber deren Volk und dem rettenden Gott Israels. Nur zwei Sätze sagt Ruth, Sätze, die es in sich haben: menschliche Treue unter allen Umständen bis zum Tod; Liebe zu Israel, für Ruth ein zunächst fremdes, aber nun ein heimatliches Volk; und eine persönliche Liebe zu dem Gott, den sie durch Naomi kennengelernt hatte und mit dem die beiden Frauen durch’s Feuer gegangen sind. Welch ein tiefgreifender Wandel! Ruth hätte es einfacher haben können, wäre sie in Moab geblieben, bei ihrer Familie, ihren Freunden, ihrer Religion und Kultur. Aber sie ist das Risiko eingegangen, das Risiko einer großen Liebe. Mehr als ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang, vielmehr ein Glaube, der auf das sieht, was er nicht sieht, als wäre es schon da. Ein Glaube, der erlebt, dass Gott sein Wort wahr macht.
Ihre moabitischen Wurzeln hat Ruth verlassen, nicht allein um in Israel neue Wurzeln zu schlagen, sondern um schließlich die königliche Würde als Ahnmutter der davidischen Dynastie zu empfangen. Noch Jahrtausende später sollten Menschen, die sich von ihrem heidnischen Leben abwenden und Ruths Nachfahre Jesus zuwenden, mit königlicher Ehre gewürdigt werden. Der Apostel Petrus nennt sie "ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, ein heiliges Volk", das die Wohltaten dessen verkünden soll, der sie "aus der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht berufen hat“ (1Petr 2,5-9). Johannes fährt fort: »Jesus wurde als Erster von den Toten zu einem unvergänglichen Leben auferweckt. Seine königliche Autorität geht so weit, dass er Herr über die Herrscher der Erde ist. Er liebt seine Gemeinde und hat sie durch sein Blut von ihren Sünden gereinigt.« (Offb 1,5). Die Geschichte einer großen Liebe.
Die nachfolgenden Ausführungen über das Buch Ruth folgen nicht einer einheitlichen und durchgängigen Lesart. Sie suchen statt dessen unterschiedliche Blickwinkel und betrachten die Ereignisse aus verschiedenen Perspektiven. Dazu gehört eine dem zeitlichen Verlauf der Ereignisse folgende erzählerische Darstellung (umrandete Textfelder), die den Leser so weit wie möglich in die Lage der beschriebenen Personen versetzen soll. Zweitens wird die weisheitliche Schicht des Ruth-Buches angesprochen, um auch für heute Hinweise und Hilfen zur praktischen Lebensführung zu finden. Drittens wird ein Augenmerk auf die Untersuchung sprachlicher Merkmale gelegt, um die Auslegung so dicht wie möglich am Bibeltext festzumachen. Viertens werden Querverbindungen zu anderen biblischen Texten und theologischen Perspektiven gezogen, die dem lutherischen Grundsatz entsprechen, dass die Bibel ihr eigener Ausleger ist. Fünftens können Beiträge aus Talmud und Judentum aufschlussreiche und erhellende Gesichtspunkte liefern.
Nicht zuletzt macht die gesamtbiblische Betrachtung das Buch Ruth zu einem Höhepunkt der Heilsgeschichte. Hier werden die Weichen gestellt für die zentrale Achse der Geschichte Israels und mithin der Geschichte der Welt. Die davidische Dynastie nimmt in diesem Buch ihren Anfang, aus der König David als Urenkel Ruths und der »zweite David«, der endzeitliche messianische König familiär abstammen. Ruth und Boas begründen die Familie von König David ebenso wie von Jesus Christus gemäß seiner leiblichen Herkunft. Diese Familie wächst und setzt sich über Jahrtausende und bis an die Enden der Erde fort: indem Menschen zum Glauben an den Messiaskönig Jesus finden und ihm nachfolgen werden sie zu seinen Brüdern und Schwestern und damit zu Mitgliedern seiner königlichen Familie. Sie wird diejenige Familie sein, der eine herrliche Zukunft gehört, wenn sie nach Gerichten und Katastrophen zusammen mit dem wiederkommenden Messias herrschen wird. Die Auferstehung Jesu Christi vom Tod ist Beginn und Gewähr dieser Zukunftsperspektive.
Die äußere Form, in der im Folgenden das Buch Ruth beschrieben und erläutert wird, entspricht nicht einem kontinuierlich fortlaufenden Text, sondern ist sentenzen- und stichwortartig gehalten. Bewusst wird »Luft« zwischen den Aussagen gelassen, ohne die Übergänge mit verbindenden Brückentexten zu moderieren. Der Leser soll »durchatmen«, sich Atempausen, Zäsuren, Entspannung zum eigenen gedanklichen Wandern gönnen können. Die Gedanken des Lesers sollen angeregt werden, eigene Einsichten zu gewinnen und eine biblische Entdeckerfreude zu entwickeln. Dazu möchte ich mit diesem Büchlein beitragen und wünsche allen Lesern Freude an der Bibel, die eine Liebesgabe Gottes ist.
Rainer Uhlmann
Der morgendliche Gang zum Brunnen, solange es noch kühl ist. Der Tonkrug drückt auf den Schultern. Aber sie lässt sich nichts anmerken, die anderen auch nicht. Nur flüchtig nimmt sie an der Unterhaltung teil. Sie ist freundlich, aber auch erleichtert, wenn die notwendigen Worte gewechselt sind. Dabei ist ihr unwohl. Was denken sie? Geschieht ihr recht, musste sie doch unbedingt diesen Ausländer heiraten? Kleine Verräterin? Oder auch: die arme Frau, so jung und schon Witwe? Was da in der Luft lag, ließ die Gefühle hin- und herpendeln. Ein Gemisch von Scheu, Angst, Unsicherheit - und dann wieder das Bedürfnis nach Abgewandtheit und Abstand. Aber was soll’s? Mit so etwas muss man leben, andere müssen’s auch. Gehen wir weiter, das Leben geht weiter. Den schweren Krug tragen lenkt ja auch etwas ab. Arbeiten beansprucht Kräfte, auch gedankliche. Gedanken können umherstreifen, schneller als die eigenen Schritte. Einen Gedankensprung machen und an was anderes denken, mit einem inneren Ruck geht das schon. Auch wenn die Erinnerungen immer wieder zurückkehren, scheinbar an dieser Tragik kleben, ihre lähmende Wirkung immer neu in die Seele injizieren. Aber gehen wir weiter. Einen Fuß vor den anderen zu setzen spricht seine eigene Sprache, Gehen enthält eine Botschaft. Schließlich trage ich schweres frisches Wasser, für Naomi und uns alle. Wie gut uns eine Abkühlung tut, eine Erfrischung im Tageslauf! Der Alltag nimmt uns in Beschlag und lenkt uns zugleich ab. Wir wären versunken in Trauer, versinken noch genug. Gott sei Dank haben wir Durst und kühles frisches Wasser. - Naomi atmet leise auf, als Ruth zurückkehrt. Jeder Gang aus dem Haus ist mit einer gewissen Unruhe verbunden. Man weiß ja nie. Wir müssen zusammenhalten, sie und die beiden Schwiegertöchter. Zusammen diesen dauernden Druck aushalten. Mitten im düsteren Schweigen, das so erbärmlich leer ist, aber voll von unausgesprochenen Fragen. Die drängen an den Rand, den Rand der menschlichen Gemeinschaft, den Rand des eigenen Lebens. Hinter diesem Rand macht sich kahle Ungewissheit breit, - das Leben wie ein abgebranntes Feld. Dann die leisen, aber schmerzenden Attacken der Schuldgefühle: was habe ich falsch gemacht? Sind meine Fehler zu einem Magneten geworden, gegen den ich nicht mehr ankomme, halten mich fest und lassen mich nicht mehr los? Ich elender Mensch, wer kann mich erlösen? - Schwäche schleicht durch Glieder und Geist, Müdigkeit. Wie soll ich mich noch tragen, ertragen können? Der Blick in die Zukunft - und das zunehmende Alter. Eine Witwe, die sich so dahinschleppt, zumal in dieser fremden Welt. Was soll aus ihr werden? Um sie herum keine Chancen, die sie ergreifen könnte, keine einzige offene Tür, nichts, auf das sie zugehen könnte. Wenn Gehen nicht mehr möglich ist, muss sie dann gehen?
Doch mitten in dieser Welt der Bitterkeit war noch eine andere Welt. Die war ihr wie zu einer zweiten Haut, einem zweiten Herzen geworden. Sie konnte nicht aufhören zu beten. Ohne Gebet hätte Naomi ihr Schicksal nicht ausgehalten. Ein innerer roten Faden, der niemals abriss. Sie hatte immer weiter gebetet, auch wenn sich ihre Lage nicht änderte, davon wollte sie unter keinen Umständen ablassen. Dieses stete stille Gebundensein an Gott war der Pulsschlag ihres Herzens. Ihrer Schwiegertochter entging diese Gottesliebe Naomis nicht. Noch nie war Ruth einem solchen Menschen begegnet, der sich mit innigem Gebet allen Widerständen und Widrigkeiten des Lebens stellte. Wo es nur Grund zur Verzweiflung gab, war Naomi ruhig und gefestigt, in einer Art »glücklichen Verzweiflung«.
Die Geschichte von Ruth, Boas und Naomi hat über Jahrhunderte hinweg Menschen beeindruckt. Sie waren bewegt von einem tragischen Schicksal, einer unglaublichen Liebe, vom treuen Zusammenhalt so unterschiedlicher Menschen. Ruth insbesondere war es, die die Aufmerksamkeit auf sich zog: aus Liebe und Glaube wagte sie Schritte in ein unbekanntes Land. Ein Weg in die Fremde, wie ihn zuvor schon Abraham riskiert hatte und den abschließend Jesus Christus gegangen ist. Ein Weg in ein fremdes, unwirtliches Land, im Fall Abrahams aus dem fruchtbaren Zweistromland ins karge Kanaan, im Fall Jesu Christi aus der heiligen und reinen Welt Gottes in die trostlose Welt der Sünde.
In verschiedenen Bibelausgaben finden wir das Buch Ruth an unterschiedlichen Stellen. In christlichen Bibeln ist es in die historischen Bücher zwischen Richter und Samuel eingefügt. In der hebräischen Bibel steht es an einem völlig anderen Ort, in der dritten Schriftgruppe, den Ketubim ("Schriften"), und zwar an fünfter Stelle. Diese Unsicherheit über die Zuordnung des Buches führt zu der Frage der Beziehung zu anderen alttestamentlichen Teilen (s.u. 5.5)? - In der Septuaginta (LXX), der griechischen Übersetzung des AT aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert, wurde das Buch Ruth als Appendix (Anhang) des Richterbuches behandelt und darum ohne eigenen Titel geführt. Diese unterschiedliche Stellung des Buches zeigt zwei grundsätzliche Betrachtungsweisen, die sich nicht widersprechen, sondern ergänzen: einmal ist Ruth ein Geschichts-, zum anderen ein Weisheitsbuch, - drittens ist Ruth jedoch eines der wichtigsten Bücher der biblischen Heilsgeschichte.
Das Buch Ruth hat seinen Sitz im Leben der jüdisch-synagogalen Gemeinde an Schawuot, das außer Erntefest im Frühling auch ein Torafest ist und an die Gabe der fünf Bücher Mose als »Erstlingsfrucht«, die Gott seinem Volk in einer frühen Phase schenkte, erinnert. Schawuot ist am sechsten Tag des hebräischen Monats Sivan und wird als der Tag begangen, an dem Mose auf dem Berg Sinai die Tora von Gott empfing. Da das Datum dieses Festtags nicht in der Tora genannt ist, wurde es nach seinem zeitlichen Abstand zum Passahfest festgelegt. Schawuot erinnert nicht nur an die Gabe, sondern zugleich an die »Empfangsbestätigung« der Tora: "Und alles Volk antwortete einmütig und sprach: Alles, was der HERR geredet hat, wollen wir tun. Und Mose sagte die Worte des Volks dem HERRN wieder" (Ex 19,8). Dieses kraftvolle Bekenntnis zum Gott Israels sollte einige Generationen später von einer ausländischen Frau aufgenommen werden. Das Buch Ruth ist auf mehrfache Weise mit dem Schawuotfest verbunden:
Die Ereignisse von Ruth finden in der Erntezeit statt, ebenso das Schawuotfest. Es war die Zeit, Gottes Segen zu empfangen und einzubringen.
Schawuot ist ein Zeichen der Freundlichkeit gegenüber den Armen.
An Schawout kommt die gegenseitige Fürsorge des Volkes zum Ausdruck. "Boas antwortete und sprach zu ihr: Man hat mir alles angesagt, was du getan hast an deiner Schwiegermutter nach deines Mannes Tod; dass du verlassen hast deinen Vater und deine Mutter und dein Vaterland und zu einem Volk gezogen bist, das du vorher nicht kann-test." (Ruth 2,11).
Schawuot wird als der Todestag Davids begangen. Er war der Urenkel von Boas und Ruth. Charakter und Geschichte Davids sind bereits im Buch Ruth vorbereitend angelegt.
Das Schawuotfest bringt die ständige, stets lebendige Offenbarung von Gottes Wort ins Bewusstsein. Wie auch Ruth sich auf den Glauben an die fortwährende Versorgung und Offenbarung des Gottes Israels verließ.
Ruth schließt das Wesentliche des Schawuotfestes ein. Der Entschluss, in den Bund Gottes und den Gehorsam gegenüber Gottes Weisung (Tora) einzutreten, hebt die Bedeutung dieses Festtages hervor und ist zugleich ein Markstein in Ruths Leben.
Ziehen wir die heilsgeschichtliche Linie aus, ist der Bezug zum neutestamentlichen Pfingstfest offenkundig:
Auch hier herrscht Erntezeit: Die Gabe des Hl. Geistes ist Frucht des Glaubens, die »Ernte« bilden 3000 Bekehrte.
Freundlichkeit gegenüber den Armen: alle sind angesprochen und eingeladen, sich zu bekehren und die Freundlichkeit Gottes zu empfangen.
Gegenseitige Fürsorge: die Verkündigung der Erlösung ist Ausdruck von Verantwortung und Fürsorge für das Volk., das Petrus in seiner Pfingstpredigt (Apg 2,22) anspricht.
Todestag Davids: der Tod und die Auferstehung des Davididen und Gottessohnes Jesus bildet Grundlage und Inhalt der Pfingstpredigt.
Lebendige Offenbarung: der Heilige Geist erinnert ständig an Christus, leitet, mahnt und tröstet die Gemeinde. Fortwährende geistliche Versorgung und Offenbarung des Wortes Gottes gehören zu seinen Aufgaben.
Dieses Thema scheint zunächst merkwürdig bzw. nebensächlich, doch hat das hebräische Präfix1 "wav" (= und) eine besondere Bedeutung für das Buch Ruth. Dieses "wav", der sechste Buchstabe des hebräischen Alphabets, ist der Anfangsbuchstabe der meisten Verse der fünf Bücher Mose. Als hebräisches "und" hat es eine verbindende Funktion und wird "wav hachibur" (wav copulativum) genannt. Weiter hat die jüdische Tradition dieses kleine "und" den "Ot Ha-Emet", den "Buchstaben der Wahrheit" genannt. Dahinter steht die Einsicht, dass nichts im Leben, insbesondere im geistlichen Leben, unabhängig von seiner Herkunft und seiner Zukunft geschieht2. Alles steht in einer zeitlichen Linie, einem geschichtlichen Prozess, schreitet ständig voran, hat sein Werden und seinen Werdegang.
Das heilige Zelt, die Stiftshütte (Mishkan) sollte einen mitwandernden »Berg Sinai« bilden, - eine Quelle und ein Leuchtfeuer geistlicher Realität in der trostlosen Wüste. Bei ihrem Bau verwendete Mose Haken (Ex 38,28), die "wavim" (Plural von "wav") genannt werden, also das gleiche Wort wie "und". Eine unerwartete Kombination: "und" sowie "Haken" werden mit dem gleichen hebräischen Wort bezeichnet. Die Haken hatten die Aufgabe, die einzelnen Teile der Zeltkonstruktion zusammenzuhalten. Die gleiche Rolle spielt der Buchstabe "wav", mit dem eine große Zahl von Versen des AT beginnen. Er ist der »Verbindungs- und Befestigungshaken« zwischen Worten, Versen, Aussagen und Botschaften. Er gibt den Gedanken einen zusammenhängenden, einheitlichen Fluss, so dass auch scheinbar zufällig nebeneinander Stehendes einen Sinn bekommt. Durch die Verknüpfung von Einzelereignissen wird etwas Durchgängiges erkannt.
Was immer wieder auftaucht, wiederkehrend zu beobachten ist, was sich immer neu bestätigt und bewährt, was Unterschiedliches verbindet und unter verschiedenen Umständen verbindlich ist, - das nennen wir Wahrheit. Deshalb ist der verbindende Buchstabe wav der Schlüssel zu dem, was verbindlich ist, der Buchstabe der Wahrheit. Wahrheit ist nicht zuerst ein Satz, eine überzeugende Aussage, sondern das, was aufrichtet, befestigt, verbindet, hält und bleibt. Erst durch einen solchen Wahrheitszusammenhang inmitten der erlebten Wirklichkeit »erheben« sich die Worte der Bibel und richten sich auf zu einem Gebäude, wie die Konstruktion der Stiftshütte, die von den wav-Verbindungen, den Haken an entscheidender Stelle, zusammengehalten wird.
Wie gesagt beginnen über die Hälfte der Verse der Tora mit "wav", und im Buch Ruth ist es beinahe jeder Vers. "Wav" ist quasi einer der wichtigsten Treffpunkte auf der »Schnellstraße« der Zeit. Das Ruthbuch arrangiert Ereignisse über eine weite räumliche, zeitliche und personelle Distanz, voneinander entfernte ethnische Ursprünge, Lebensräume und Personen rücken auf eine unvermutete Weise zusammen. Würde man von Ruth, Naomi und Boas nur ihre Ausgangslagen kennen und diese in die Zukunft verlängern, ergäbe sich ein Bild einzelner Personen, die im Bisherigen fortexistieren, ob sie nun das Beste daraus machen oder nicht: Boas als Single in Bethlehem, der ganz in seiner Landwirtschaft aufgeht; Naomi, eine verbitterte Witwe, die sich im fremden Land dahinschleppt und auf ihr Ende zulebt; Ruth, eine Moabiterin, die nach dem frühen Tod ihres Mannes sich neu orientiert und ihre Chancen auslotet. Doch keiner dieser angenommenen Lebensverläufe tritt tatsächlich ein. Das »Natürliche« und »Normale«, die Verlängerung des Ist-Zustandes in die Zukunft, findet nicht statt. Stattdessen bahnen sich unvorhersehbare Ereignisse ihren Weg, - entsprungen aus der unsagbaren Vorsehung Gottes, der seine »Fäden« in Richtungen ausspannt, die sich menschlicher Deutung entziehen. Weitreichende Querverbindungen, folgenreiche Zusammenhänge bringen Episoden und Personen in ein unerwartetes, aber gleichwohl stimmiges Miteinander. Gegenseitige Fürsorge schafft nicht nur Not lindernde und erlösende Verbindungen, sondern wirft erste Strahlen auf die Folgezeit des davidischen Königtums, das letztendlich in der Erlösung durch den Davididen und Messiaskönig Jesus gipfelt.
Ihren Ausgang nimmt diese dynastische israelische Linie in der Heirat von Ruth und Boas, wohlgemerkt einer jüdisch-heidnischen Beziehung. Israel wird mit einem "Und", einem familienbildenden "Wav-Haken", mit einem Mitglied der völkischen Welt verbunden; wie übrigens auch schon Mose, der Zippora, die Tochter des midianitischen Priesters Jethro heiratete. Ungeachtet dieses vorderhand fragwürdigen Schritts wird Naomi von den Frauen Bethlehems bescheinigt: "Deine Schwiegertochter, die dich geliebt hat, … ist dir mehr wert als sieben Söhne." (4,15). Die Verbindung zwischen zwei Ehegatten von solch unterschiedlicher Herkunft bedarf besonderer Bestätigung und wird vom häufigen Auftreten des "Wav copulativum" unterstützt. In den zehn Versen, die die Hochzeit und ihre Folgeereignisse schildern (Ruth 4,13-22) taucht das wav 20 mal auf! Diese Heirat ist nicht nur ein Einzelereignis, sondern setzt ein zukünftiges wav, eine Geschlechterfolge in Gang, die, sogar weltweit gesehen, die wichtigste Familie überhaupt bildet. "Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden" wird der bedeutendste Vertreter dieser Familie einst sagen. Die Linie von einer heidnisch-jüdischen Ehe, über die Geburt des späteren Königs David, bis hin zum Davididen und Messiaskönig Jesus - wird schon durch diese anfänglichen verknüpfenden "Unds" aufs Engste verbunden und als zusammenhängende Führung Gottes verstanden. Eine kleine »unmögliche« Geschichte, jedoch von Gott inszeniert, wird zum Samen der Heilsgeschichte, der größten Geschichte der Welt.
Die vier Kapitel des Buches Ruth zeigen unterschiedliche Zeiträume, die sich immer mehr verkürzen. Das erste Kapitel umfasst einen Zeitraum von zehn Jahren, die Erntezeit in Kapitel zwei dauert etwa sieben Wochen im späten Frühjahr; Kapitel drei spielt sich an einem Tag und einer Nacht ab; und das vierte Kapitel beschreibt eine Urteilsfindung der Ältesten im Tor. Erst im abschließenden Geschlechtsregister geht der zeitliche Korridor wieder auseinander. Von einer relativen Weite gelangt die Zeit zu einer Verdichtung, in der die Erlösungsvorgänge stattfinden, um sich anschließend wieder in die Heilsgeschichte hinein zu weiten. - Einen ähnlichen Verlauf der Zeiträume zeigen auch die geschichtlichen Entwicklungen rund um die Erlösung durch Jesus Christus.
Setzt man die zeitlichen Phasen der Ruth-Geschichte in Beziehung zueinander, zeigt sich eine gegliederte Struktur, die auf der Konzeption des Wav aufbaut:
a) Zeit des Hungers in Bethlehem. Elimelech ging davon aus, an diesem Zustand werde sich nichts ändern, er vertrat eine pessimistische Prognose der automatischen Verlängerung des IstZustandes. Die gegenwärtigen Lebensumstände bestimmten seine Wahrnehmung der Zeit mehr als alles andere. Er war konzentriert, wenn nicht gar fixiert auf das Äußere und Vorfindliche. Auch die religiösen Festzeiten und Rituale, die Gemeinde und Familie traten beim ihm in den Hintergrund. Für ihn war schlechte Zeit, Punkt. Eine solch unbewegliche und starre Haltung der Hoffnungslosigkeit ist nicht nur eine persönliche Befindlichkeit, sondern geht mit Unglaube einher. Der Glaubende indes hofft alles (vgl. 1Kor 13,7) und vertraut auf Gottes Möglichkeiten, der Dinge und Zeiten ändern kann.
b) Eine positive Prognose motivierte ihn jedoch im Blick auf die Auswanderung. Die Entscheidung zwischen Heimat und Fremdlingschaft fiel zugunsten letzterer aus. Mit Hoffnung auf eine bessere Zukunft flieht er mit seiner Familie nach Moab und setzt seine Hoffnung auf die dortigen Zukunftsentwürfe. Die moabitische Religion war für ihn wohlstands- und zukunftsorientiert, ihr gegenüber konnte er bejahenden Glauben aufbringen, gegenüber dem Gott Israels nicht. Als Angehöriger des Gottesbundes erliegt Elimelech den Versuchungen der verführerischen Welt. Auch die Schlange im Paradies suggerierte Eva und Adam, außerhalb des Glaubens würde das Leben entscheidend aufgewertet.
c) Das Experiment wurde von der Wirklichkeit eingeholt und war schließlich zum Scheitern verurteilt. Elimelech starb überraschend und konnte seine Pläne nicht weiterverfolgen. Die erhoffte Zukunft in Moab blieb ihm verwehrt. Ebenso seiner Frau Naomi, erst recht nachdem die beiden Söhne ebenfalls starben. Die Auswanderung endet in einer großen Tragik. Gott hatte der Familie in Moab die Zukunft verwehrt.
d) Die örtlichen Verhältnisse folgen im Buch Ruth ebenfalls einer Konzentrationslinie, die immer näher an Bethlehem heranrückt: Rückkehr aus Moab, Arbeit auf den Feldern Bethlehems, Annäherung an den persönlichen Bereich des Boas, Verhandlung im Tor, dem Zentrum der Stadt. Eine Bewegung vom »alten« zum »neuen« Bethlehem.