Sacre Coeur - Heinz Kischkel - E-Book

Sacre Coeur E-Book

Heinz Kischkel

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Beschreibung

Für alle Fans von Georg Klein! Als Verbeugung vor dem großen deutschen, mehrfach preisgekrönten Schriftsteller Georg Klein erscheinen zu dessen siebzigstem Geburtstag diese stilistisch brillanten Miniaturen. Für alle, die ihren kritischen Blick auf unsere Gesellschaft vertiefen wollen! Aus einer reichen Kenntnis philosophischer, psychologischer und soziologischer Literatur wird ein ebenso kritischer wie ironischer Blick auf die Lage der Gesellschaft und deren Zeitgeist geworfen. Der Autor ist ein präziser Beobachter unscheinbarer aber folgenreicher Veränderungen. Er schaut etwa in die Möbelkataloge, wo keine Bücher mehr in den Regalen, dafür aber Fahrräder in der Küche stehen, oder auf die Verdrängung der Fußgängerinnen und Fußgänger aus den gentrifizierten Quartieren, die zum Laufen ein Fitnessstudio aufsuchen müssen. Und was hat es zu bedeuten, dass die Scheinwerfer der Autos von einst runden offenen Augen zu paranoiden Sehschlitzen verengt sind? Für alle, die eine nicht-konfessionelle Spiritualität suchen! Schließlich wird die inzwischen wohl von den meisten geteilte Erkenntnis, dass die Menschheit heute an einem existentiellen Scheidewege steht, auf die historischen Ursachen befragt. Dabei geht es nicht nur um die brutale Ungerechtigkeit der Gesellschaften im Ganzen, sondern ebenso um den Verlust der Spiritualität und die emotionalen und seelischen Folgen, die jede und jeden von uns betreffen.

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Seitenzahl: 245

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Sacré-Cœur

Le cœur a ses raisons que

la raison ne connaît point.

Blaise Pascal

So auch wird das ewige Wort innerlich

in dem Herzen der Seele gesprochen,

im Innersten, im Lautersten,

im Haupte der Seele:

in der Vernunft.

Meister Eckhart

Unser

Kopfrechnen ist den

Chinesen Herzrechnen, und

wo uns ein Licht aufgeht, hat sich bei

ihnen ein Fensterchen im Herzen geöffnet.

Gudula Linck

von

einer Hoffnung, heute,

auf eines Denkenden

kommendes Wort

im Herzen

Paul Celan

Inhalt

Vorbilder

Miakro

Seinsverlassenheit

Gretchenfrage

Einbahnstraße

Iva Bittová

Tat tvam asi

Das Spiel ist aus

Genitiv des Todes

Rosinenbrötchen

Brummkreisel

Fünfzehn Minuten länger

Attrappen

Intermezzo I

Spuren

Weltmissverhältnis

Frankophile Automobile

Der Blaue Dom zu Libidissi

Die Sonne

Blechtrommel

Riesenschultern

Phaeton-Inszenierung

Augenschein

Achtmänner

Leidensgeschichte

Du sollst nicht lärmen!

Música callada

Pausenzeichen & Sendeschluss

Sacré-Cœur

Zu schön

Paint it Black

Ortlos wortlos

Unabschaltbar

Wer da?

Museum des Wundervollen

Weiterreichen

Ubu Punk

Allzuschön

Lachen in der Sackgasse

Kaddisch

Vertrag mit den Dingen

Einzug nach Salem

Lob der Disziplin

Carlo & Laure

Heimat

Gnothi seauton

Riesenverzwergung

Mozartkühe

Türenschlagen

Entfremdet verloren

Dämonotheismus

Lob des mittelmäßigen Autors

Konnakol

Schneekanone

Totholz

Flucht aus dem Mittleren Büro

Miscella

Philosophie der Bipedie

Gehen

Intermezzo II

Mythos & Logos bei Wittgenstein

Überlicht

Laufen

Oh, schon Mitternacht?

Wandern

Wütendes Wissen und seliges Sehnen

Klettern

Um alles zu genießen

Pilgern

Lebensmüdigkeit

Totaliter aliter

Quellennachweise

Georg Klein - Werkverzeichnis

Über den Autor

Vorbilder

Klein wird unsere Sonne immer bleiben.

Die Zukunft des Mars, S. 14

Ikone, fernes Vorbild, für dieses Büchlein ist Walter Benjamins Einbahnstraße. Wie durch eine schrille, jedoch still gestellte Gasse möge die Leserin, der Leser durch den Text flanieren und die diskrete Abfolge unterschiedlichster, auch widersprüchlicher, hoffentlich überraschender Eindrücke aufnehmen und bei empfundener Resonanz aufsammeln, ansonsten verlustlos ignorieren.

Hätte ich Benjamins Titel treu übertragen wollen, hätte Straße gesperrt auf dem Umschlag gestanden, jene Rubrizierung, die für die Einbahnstraße ursprünglich vorgesehen war. Eine allegorische Sackgasse, die man menschheitsgeschichtlich deuten mag, an deren Ende indes ein geheimnisvolles mystisches Tor das Weitergehen zugleich verspricht und versperrt.

Es ist auch erlaubt und erwünscht, sich assoziativ den eigenen Weg durch die Texte zu bahnen. Denn nur wer seinem Herzen folgt, wird das Tor zum Geheimnis finden.

Die Einladung von Sacré-Cœur gilt den Bilderfronten der Straße, den Reklametafeln der Traumwäscherei, die auf dem Weg zu ihm gefunden und hier abgelichtet wurden. Einige treten kontradiktorisch in Erscheinung, diese Spannung ist gewollt.

Um es in Oscar Wildes Bescheidenheit zu sagen:

›The well-bred contradict other people. The wise contradict themselves.‹

Auf den folgenden Seiten wird zu bemerken sein, dass es dem Autor gefallen hat, wie undogmatisch Rebecca Solnit in ihren Büchern mit dem grammatischen Genus verfährt. In lockerem Wechsel folgen männliche und weibliche Formen und bedeuten stets, wo der Kontext nichts anderes nahelegt, alle geschlechtlichen Orientierungen, einschließlich der orientierungslosen. Ein gelegentliches ›man‹ ist dabei ebenfalls nicht kategorisch ausgeschlossen.

Während die nachstehenden Reflexionen wesentlich Walter Benjamin sich verdanken, ist das Werk Georg Kleins, des Autors von Libidissi und nachfolgenden irritierend hellsichtigen Romanen und Erzählungen 1 , unabdingbares stilistisches Fundament vorliegender Miniaturen. Mit der kühnen Entzauberung seiner ebenso beschädigten wie sympathischen, gleichermaßen entwurzelten wie mutig bleibenden Helden schafft Klein vor allem einen zweiten Linguistic Turn: die Wiederverzauberung der Sprache.

Nur ihm allein kann das vorliegende Sacré-Cœur gewidmet sein. Wenn es etwas Gelungenes gibt in den folgenden Zeilen, so verdankt dies sich wesentlich Kleins Spracherziehung.

1 Siehe das Werkverzeichnis am Ende dieses Buches (S. 213ff.).

1 | Miakro

Oben wallt, waltet und wütet das, was wir einst als ›das System‹ zu diffamieren wussten. Doch wie ein Springkraut explodierte im März 1973 die längst übers Maß aufgeblähte Blase und entließ autonome Metastasen, die seither in einem bombastischen autopoietischen Brei blubbern und schäumen.

Während die Yin-Energien ausdifferenzieren und implodieren, kalibrieren und diffundieren, vibrieren und visualisieren, kanalisieren und koalieren - akzelerieren und eskalieren die Yang-Energien, diskriminieren und dissipieren, multiplizieren und monopolisieren, virtualisieren und invisibilisieren.

Diesen exorbitanten, jeglicher Kontrollmöglichkeit längst entglittenen Brei durchmessen disruptive schwarze Schwäne, ihre Flügel schlagen Dunkel, unheilvolles Heil verkündend. Aus dem verhassten System wurde das ungreifbare Rhizom, wurde mysteriöses Miakro.

So schaut es aus da oben in der ehemaligen Wirklichkeit, so muss es gewiss sein, so oder so ähnlich stellen wir es uns jedenfalls vor, hier in unserer Krypta unter dem System.

In der sanften Stille des Sacré-Cœur, fern dem frenetischen Gebräu, archivieren wir unsere überscharfen, fürs Erkennen freilich allzu kurz aufleuchtenden Bilder, welche die Geistesblitze aus der Schwärze des Inkommensurablen uns ins Gemüt blenden.

***

2 | Seinsverlassenheit

Die Blitze schießen nur ein, wo sie nicht erwartet werden. So hat, als erstaunliches Beispiel, metaphysische Botschaften in den Fußnoten seiner skrupellosen Analysen der Sozialtechnologe Niklas Luhmann herübergeschmuggelt.

Eine findet sich paradigmatisch in seinem Opus Ökologische Kommunikation, als er den für jedes soziale System separat zu bestimmenden zweiwertigen ›Code‹ für das Wissenschaftssystem als wahr/falsch ausgibt. In der zugehörigen Anmerkung befremdet er die Leserin mit der in seinem leider stets depravierten Deutsch formulierten Erklärung:

›Wir lassen hier, um die Darstellung zu vereinfachen, die vor allem von Heidegger herausgestellte These beiseite, dass die ursprüngliche Differenz von wahr und unwahr schon in der klassischen griechischen Philosophie durch die Differenz von richtig / falsch in bezug auf Vorstellungen ersetzt, also recodiert worden ist, und dass damit eine bis heute nicht behobene Seinsverlassenheit des Denkens in Gang gebracht ist. Soziologisch läge, wenn die Rekonstruktion der philosophischen Semantik zutrifft, darin ein Korrelat der beginnenden und zunehmenden gesellschaftlichen Ausdifferenzierung von Wissenschaft.‹

Wir wiederum lassen hier, um die Darstellung zu ›recodieren‹, die Sozialtechnologie beiseite und identifizieren die Seinsverlassenheit des Denkens als jene Entfremdung, die erst in unserem Miakro-Zeitalter dadurch sich vollendet, dass sie nicht mehr gesehen und begriffen werden kann.

Wir, die wir nicht mehr begreifen können, wollen wandern, auf absichtsloser Spurensuche, wie weiland jener mittelalterliche Mystiker, der als Reaktion auf die aus den religiösen Institutionen ausgezogene Spiritualität von Ort zu Ort pilgerte, um von jedem heiligen Objekt zu verkünden: ›Das ist es nicht!‹

Vielleicht reicht die von Heidegger konstatierte Seinsverlassenheit noch über die Logik der Griechen, die das Werden und Vergehen im ›tertium non datur‹ verdrängen wollte, hinaus.

Der amerikanische Intellektuelle Paul Goodman, Träger aller Stigmata seiner Zeit, Anarchist, Homosexueller, Jude, mit Fritz Perls Begründer der verrufenen Gestalttherapie, erwiderte einmal auf die Frage, wann für ihn die Entfremdung des Menschen begonnen habe:

›In der Steinzeit. In der Steinzeit wäre ich konservativ gewesen.‹

***

3 | Gretchenfrage

Rätselfrage in der Illustrierten Frau mit Herz.

Im Kreuzworträtsel der Gazette wird ein Synonym für GESPENST gesucht, als Lösungswort mit fünf Buchstaben. Der Frau mit Herz helfen die waagerechten Begriffe Sissi, Torte und Grabmal, wonach unschwer die

Lösung

G

E

I

S

T

senkrecht sich erschließt.

***

4 | Einbahnstraße

Nr. 0. Totenmaske

Als Walter Benjamins Einbahnstraße 1928 erschien, umfasste das Buch achtzig Seiten und war kein Buch, war nicht gebunden.

Nachdem die Broschüre, die mit einem von dem russischen Fotografen Sasha Stone künstlerisch gestalteten Umschlag geschützt wurde, in die Hände der Philologen gefallen und von diesen wieder herausgegeben worden war, war daraus der völlig schmucklos kuhkotfarbene Band 8 der Kritischen Gesamtausgabe geworden. Nach Herkulesarbeit ediert von Detlev Schöttker unter Mitarbeit von Steffen Haug, erschienen am 16. 11. 2009 im Suhrkamp Verlag zu Frankfurt/M., Halbleinen: 610 Seiten, mit Dokumenten, Entwürfen, Erläuterungen, Fassungen, Lesarten, Varianten, Nachträgen, Nachweisen und Nachworten.

Die schmale Einbahnstraße war zu einer gigantischen Sackgasse mutiert, die einst lebensgroßen Denkbilder zu penibel nachgestellten Häuschen in einer endlos verzweigten Modelleisenbahnlandschaft verschrumpft. Die in Benjamins träumenden Miniaturen schlafenden Lieder wurden nicht mit dem Zauberwort zum Singen gebracht, sondern mit dem Skalpell der germanistischen Vernunft seziert und zur Totenmaske des Werks präpariert.

Die im Folgenden zitierten Kapitelbezeichnungen entstammen der Einbahnstraße, die sechzig Hausnummern jedoch habe ich nach eigenhändiger Zählung hinzugefügt.

Zur Einbahnstraße wird Benjamin die Menschheitsgeschichte, weil ein Sturm vom Paradies her weht, welcher den Engel der Geschichte, der die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen möchte, unaufhaltsam in die Zukunft treibt.

›Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.‹

Nr. 4. Für Männer

Ein verehrter Freund überzeugte mich von der Lektüre, indem er mir aus seinem phänomenalen Gedächtnis einige prägnante Passagen der Einbahnstraße vortrug. Darunter die schöne Sentenz:

›Überzeugen ist unfruchtbar.‹

Ein staunendes Stutzen setzte ein, dann begriff ich die Pointe.

Der Satz wird fruchtbar, wenn er nicht überzeugt.

Nr. 30. Vergrößerungen, Abs. 1. Lesendes Kind

›Stille des Buches, die weiter und weiter lockte! Dessen Inhalt war gar nicht so wichtig. Denn die Lektüre fiel noch in die Zeit, da man selber Geschichten im Bett sich ausdachte.‹ Das lesende Kind gerät mitten unter die Helden, ›und wenn es aufsteht, ist es über und über beschneit vom Gelesenen.‹

Könnte je ein Autor glücklicher sich schätzen, als so gelesen zu werden, dass seine Geschichte vergessen wird über dem von ihr entfachten Abenteuer?

Nr. 10. Mexikanische Botschaft

Auffällig, wie viele Träume Benjamin in der Einbahnstraße offeriert. Ebenso häufig gewinnt er seine Erkenntnisse der Kinderklugheit ab. Im Kleinen und Geheimen warten sie still: Goldgräbers Fundstücke.

Hier, in Nr. 10, träumt ihm, als Expeditionsmitglied einem archaischen Gottesdienst beizuwohnen.

›Gegen ein hölzernes Brustbild Gottvaters … wurde von einem Priester ein mexikanischer Fetisch erhoben. Da bewegte das Gotteshaupt dreimal verneinend sich von rechts nach links.‹

Noch der ehrgeizigste labyrinthische Weg führt zum verneinenden Gott. Die Negation der Negation treibt den Mystiker aus sich heraus.

›Mystiker ist, wer nicht aufhören kann zu wandern und wer in der Gewissheit dessen, was ihm fehlt, von jedem Ort und von jedem Objekt weiß: Das ist es nicht.‹

Nr. 30. Vergrößerungen, Abs. 5. Unordentliches Kind

Abermals wird der Traum, wird das Kind, nun mit seiner Sammelleidenschaft, zum Vorbild des Autors, der bekanntlich eine große Kollektion von Kinderbüchern hortete.

Das Kind tritt in den Text seines Lebens ein als Jäger, der im Traumwald die Geister jagt. Deren Spur wittert er in unterschiedlichsten eigensinnigen Dingen, die er schließlich als Beute nach Hause trägt.

›Seine Schubladen müssen Zeughaus und Zoo, Kriminalmuseum und Krypta werden.‹

Im gleichen Verfahren füllen sich auch die Einbahnstraße und das Sacré-Cœur.

Die mütterliche Aufforderung zum Aufräumen kommt einem Befehl zur Vernichtung gleich. An anderer Stelle hat Benjamin das Aufräumen dem destruktiven Charakter zugewiesen.

›Der destruktive Charakter kennt nur eine Parole: Platz schaffen; nur eine Tätigkeit: räumen. Sein Bedürfnis nach frischer Luft und freiem Raum ist stärker als jeder Hass. … Zu solchem apollinischen Zerstörerbilde führt erst recht die Einsicht, wie ungeheuer sich die Welt vereinfacht, wenn sie auf ihre Zerstörungswürdigkeit geprüft wird.‹

Nur die unordentlichen Kinder, wäre daraus zu schließen, können uns noch retten.

Nr. 8. Chinawaren

›In diesen Tagen darf sich niemand auf das versteifen, was er ‚kann‘.‹

Einmal mehr erweist Benjamin sich als hellsichtiger Seher dessen, was unser Leben erst heute streng in den Griff nimmt.

Das gilt in besonderem Maße für das Bildungskapital. Wichtiger als die Wahrheit einer Erkenntnis ist deren Wahrnehmung in der Wissenschaftswelt. Der nach einem J. E. Hirsch benannte H-Index erfasst die Zitationshäufigkeit in wissenschaftlichen Publikationen. Dabei bleibt es belanglos, ob die Erkenntnis am zitierten Ort bestätigt oder widerlegt wird. Die Globalisierung der Diskurse gebietet universell kommensurable Reputationsindizes. Mit Hilfe des normierenden H-Indexes lässt sich nun jede Wissenschaftlerin mit jedem Wissenschaftler sämtlicher Fakultäten weltweit vergleichen und feststellen, wer der Platzhirsch ist und damit die lebenswichtigen Drittmittel abgreifen kann.

An die Stelle von Forschungsarbeit, deren Klugheit Reputation schafft, tritt ein Reputationsmanagement, dessen Klugheit Forschungsarbeit lediglich simuliert.

›Betrügen war schon immer eine Kunst. Seit einiger Zeit ist es auch eine Wissenschaft.‹

Nr. 50. Technische Nothilfe

›Es gibt nichts Ärmeres als eine Wahrheit, ausgedrückt, wie sie gedacht ward.‹

Daher pflegt sie sich an dem zu rächen, der sie mit seiner Tinte aufs Papier oder, kaum anders, mit der Tastatur in die Datei bannen wollte. Über Nacht verbiegt sie ihre Metaphern, gibt den Begriffen einen Doppelsinn, der sie wie Lüge aussehen lässt. Alles Eindeutige löst im Äquivoken sich auf, das Absolute verschwindet im Relativsatz. Den zitierten Beleg hat die Wahrheit, nicht der Schriftsteller, seinem Innern suggeriert und entnommen, und sie lässt sich von ihm nicht offenbaren, sondern persifliert vielmehr den, der sie auf kurzem Wege konstruieren will.

Ungläubig reibt anderntags beim Wiederlesen seiner zusammengeklaubten Formulierungen der Schriftsteller sich die Augen.

***

5 | Iva Bittová

Die für das Jazz-Festival in Moers 1999 provisorisch errichtete Halle ist noch übervoll von den Echos der vielstimmigen Bigband, die sich mit Saxophonen, Klarinetten, Hörnern und Posaunen auf den Bohlen der Bühne zusammengeballt hatte. Angetrieben von der dynamischen Rhythmusgruppe aus Schlagzeug, Bass und Congas inszeniert sie eine frenetische Lebensfeiermusik. Jedes Ich vergisst sich im Blitzgewitter der Regenbogen-Scheinwerfer. Die holländische Gruppe führt ein programmatisches ›Kollektief‹ im Namen.

Unvermittelt, die Schlussfanfare klingt und blinkt noch nach, ist die Bühne geräumt. Eine rauschende Leere bebt in den Bohlen. Da hinein schwebt minutenspäter an den Bühnenrand eine zarte Luftgestalt. Was will dieser wohlgestalte, doch schmächtige Leib, umhüllt von einer unscheinbare Bluse, einem schmucklosen Rock, was will die mit winzigen Leuchtdioden schrullig flackernde Haarspange über dem enigmatischen, vom Publikumsplatz nicht zu identifizierenden Augenpaar gegen die tanzenden Tausendechos ausrichten?

Sie steht aufrecht, Sein, reines Sein, ohne alle weitere Bestimmung, begnügt sich mit einem von der Ohrhalterung vors Kinn geführten Mikrophon und einer gewöhnlichen Hausgeige, Tschechisch housle. Zärtlich führt Iva Bittová ihren Bogen auf die empfindsamen Saiten der Violine. Diese vollführt alsbald heiter tastende Tonsprünge. Dazu werden, kunstvoll versetzt, Vokalisen in typisch osteuropäischen Harmonien ins Mikrophon tiriliert.

Im selben Moment gehört der Schwebefee die Bühne, die Halle, das All. Hier hat es nie eine Bigband gegeben. Niemand vermöchte zu sagen, wie sie das macht. Jedes Ich verliert sich in einer schönst möglichen musikalischen Melancholie der Erlösung. Nada Brahma, die Welt ist Klang.

Als das britische Multitalent des Jazz, Fred Frith, ihr Spiel hört, komponiert er alsbald sein String Quartet No. 1, ihr gewidmet. Lelekovice, nach Bittovás südmährischem Geburtsort. So verfallen ihr viele, die sie hören oder sehen. Höchst eigenwillige Kompositionen und Kooperationen entstehen. Ihr Stil, eine raffinierte Naivität zwischen Jazz, Pop, Klassik, Volks- und Weltmusik, ist ihr ureigener, kaum zu verorten. Gelegentlich ist ein ungarischer Einfluss von Béla Bartók erkennbar, das Geheimnis ihres wundersamen Wirkens jedoch bleibt unhörbar. Scheinbar mühelos spielt sie zweistimmig auf der Violine und singt zugleich die dritte Stimme darüber.

Avantgardistische Kinderlieder, das trifft es noch am schönsten. So wie in dem von einem Kinderchor begleiteten Lied Uspávanka. Die folgenden Verse, im Original entnommen dem Begleitheft zum Album Bíle inferno, habe ich mit künstlicher Unterstützung einer freundlichen Intelligenz übertragen.

Uspávanka

Wiegenlied (Nachdichtung)

Jsem důlek čisté

Seichter Brunnen bin ich,

svěží vody a postýlka

aus reinem süßen Wasser,

hvězd stříbrná,

ein Bett aus Sternensilber.

napít se plaché

Ich trinke scheu, die Seile laufen

laně chodí za mého dna.

hinter meinem Hintern.

A studánka, ta nikdy nelže,

Und der Brunnen, er lügt nie,

protože každá lidská lež

denn jedes Menschen Lüg‘

v studánce malé

ertrinkt im kleinen Brünnlein,

utopí se i když je velká jako věž.

auch wenn sie groß ist wie ein Turm.

Unsere Herzen, 1999 in Moers von ihrer Zaubergeige gebannt, gehören ihr, wir sind seither Iva Bittovás, der saitenzarten unbezwingbaren Luftgestalt, Jüngerinnen und Jünger.

***

6 | Tat tvam asi

Aus den Upanishaden, in denen sowieso alles steht, soll der Satz stammen:

Tat tvam asi. Das bist du.

›Das ist der dümmste Satz, den ich je gehört habe.‹

Mit dieser Entgegnung brachte Professor ***, einer der zahlreichen namhaften Marburger Kantspezialisten, den jungen Studenten, der ihm im Proseminar mit seiner frisch erworbenen Sanskrit-Sentenz hatte imponieren wollen, nachhaltig zum Schweigen.

Erst Jahre später wurde dem Studenten deutlich, dass dies die dümmste Antwort war, die er je erhalten hatte. Was über die Erkenntnis aus den Upanishaden gesagt wird, spiegelt rein das wider, was der Erkennende in sie hineinlegt. Tat tvam asi, der Spruch selbst schweigt, verfügt lediglich über zahllose Anschlussmöglichkeiten für seinen Sinn. Er bedeutet exakt das, was man ihn bedeuten lässt. Wer nichts als Dummheit darin sehen will, spricht sich selbst das Verdikt.

Das bist Du! Das Absolute ist wesensgleich mit dir - diese Aussage gehörte für den klarsichtigen Kantkritiker Schopenhauer zu den tiefsten Weisheiten der Upanishaden. In ihnen sah der zu Unrecht meist auf seinen Pessimismus reduzierte Denker eine verblüffende Bestätigung seiner Philosophie, die in ihrem Kern die Erkenntnis ausdrückt, dass sich in allen Erscheinungen dieser Welt ein einheitlicher metaphysischer Wille manifestiert und folglich alles Leben wesensgleich ist.

In dem Roman seines Vaters, Ordnung ist das ganze Leben, erzählt Ludwig Harig eine dramatische Szene, in der sein Vater für die Zubereitung des weihnachtlichen Festessens einen Hahn schlachten soll.

Weil der Hahn sich nicht anstandslos töten lässt, sondern seine Lebendigkeit durch Widerstand, Krähen und Fluchtversuche artikuliert, beginnt der Vater das Tier zu hassen. Vielleicht, mutmaßt sein schreibender Sohn, erinnert der Vogel den Vater daran, dass dieser seinerzeit ohne vergleichbaren Widerstand sang- und klanglos in den Schützengraben marschiert ist.

Denn es fehlt im Charakter dieses empfindsamen Menschen ein zentraler ethischer Ort, der sicher leitende Anhalt, der etwa Zivilcourage und Befehlsverweigerung eingefordert hätte. Indem aber der Hahn seinen designierten Schlächter an dessen Kriegserlebnisse gemahnt, gibt er zu erkennen, dass er nicht nur anders, sondern in anderer Hinsicht ihm gleich ist: als Opfer, das durch das schnelle Einziehen des Kopfes sein Leben zu retten versucht.

Nun als potentiellem Täter sticht dem Vater die ganze jämmerliche Aussichtslosigkeit seines Opfers ins Auge und deshalb hasst er in ihm den, der er selbst einst war.

Der Vater ist indes nicht nur ob seiner Servilität und Feigheit in den Schützengraben gestiefelt, sondern auch weil in ihm das, was man ein weiches Herz nennt, schlug. Diese menschliche Weichheit und im Kern als Humanität erkennbare ›ihm eigentümliche Scheu‹, der allein wir den Roman des Sohnes wohl verdanken, hält sich durch alle Verletzungen und lässt den Vater unfähig erscheinen, den Hahn entschlossen auf den Schlachtblock zu legen und bündig zu enthaupten.

Darin hasst er nicht mehr das Opfer, sondern den Schlächter, zu dem er sich in seiner Rolle als Familienoberhaupt dingen lässt.

Indem die Familie lautstark wiederholend von ihm und er daraufhin von sich selbst erwartet, dass er gegen seine sämtlichen inneren Impulse den ersehnten Weihnachtsbraten endlich herbeirichtet, wird er im Schlächter zum Opfer.

Ehe der Hahn dreimal kräht, verstehen wir: Tat tvam asi.

***

7 | Das Spiel ist aus

Der bekannte Schriftsteller und bekennende Fußballfan Nick Hornby wunderte sich einmal: Ein Tor gegen sein favorisiertes Team‚

›war der Kopfball eines hünenhaften Serben, ein Holländer glich für Arsenal aus, und ein von einem russischen Club ausgeliehener Nigerianer erzielte den Siegtreffer nach einem lachhaften Defensivmissverständnis zwischen einem Franzosen und einem Polen. Wer waren diese Leute? Wieso spielten sie in Wembley bei einem englischen Pokalfinale, und wieso hatte ich 90 Pfund fürs Zuschauen bezahlt?‹

Auf dem Weg in die Krypta ist die Kultur längst beim Sport angelangt. Es ist keine Schande mehr, sich intellektuell mit dem Fußball auseinanderzusetzen, die Tiefe des Raumes, aus dem Günter Netzer kam, gibt das allemal her.

In der Vorbereitung auf das Endspiel am 7. 7. 1974 spielte Günter Netzer, da er selbst nicht im Aufgebot stand, gegen Berti Vogts den holländischen Stürmerstar Johan Cruyff. Als Cruyff agierte Netzer im Training derart brillant, dass das Original im Finale von Vogts zum Schatten seines Imitators degradiert werden konnte.

Dennoch stellte Holland die dominante Elf, die bereits in der zweiten Spielminute, Deutschland hatte noch keinen einzigen Ballkontakt gehabt, in Führung ging. Vor allem aber waren sie die Ästheten eines schönen, wilden, freien, idealistischen Spiels. Die Deutschen hingegen kickten weithin effektiv, diszipliniert, martialisch, unbarmherzig. Aber eben effektiv. Sie glichen aus und zwei Minuten vor der Halbzeitpause schoss Gerd Müller zur Führung ins holländische Herz.

›Zijn we er toch ingetuind!‹ - ›Sie haben uns wieder reingelegt!‹, kommentierte Herman Kuiphof ins Mikrophon des niederländischen Fernsehens. Dies war eine Anspielung, die jeder im Lande verstand: 1940 hatten die verschlafenen Holländer geglaubt, Deutschland würde sie nicht angreifen, weil Hitler es versprochen hatte. Da bestätigte sich nun Marx‘ Bonmot, dass alle großen geschichtlichen Vorgänge zweimal sich ereignen, das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce.

Es war das letzte Mal, dass ich mit hemmungslosem Enthusiasmus einem Fußballspiel zugeschaut habe. Jegliche Schönheit war durch den deutschen Kampfsport vom Platz gefegt worden.

›Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist aus!‹, hatte Herbert Zimmermann ins Jahr meiner Geburt gerufen. Zwanzig Jahre später hallte der unvergessene Ruf mit einer neu wahr gewordenen Bedeutung wider.

Längst ist Fußball eine Fälschung, bei der Intellektuelle und andere Geringverdiener auf den Tribünen Millionären bei ihrer Geldvermehrung zuschauen. Der Schlachtruf: ›Kämpfen und Siegen!‹, dessen Echo auf die rufenden Verlierer selbst trifft, verhallt allenthalben ungehört.

Seither habe ich mit der typisch zynischen Ergebenheit gegen die Kommerzherrschaft vielen vermutlich gedopten Markenkickern bei der Verrichtung ihrer Beinarbeit zugeschaut. Je korrupter dieser Sport wird, je vermögender die listenreichen Raiolas durch den postmodernen Sklavenhandel werden, je mehr Scheichs und Ölbarone mit geschichtslosen Dorfclubs sich in die Bundesliga oder mit Handgeld die exotischen Austragungsorte der Weltmeisterschaften einkaufen, desto genauer spiegelt der Sport den Stand der neoliberalen Gesellschaft, ihre Konvergenz von Kreativität und Kriminalität, wider.

Jedes Siegtor auf dem Spielfeld ist ein Eigentor der Verlierer auf der Tribüne. Der soziale Sinn des Profitfußballs ist die Einübung der kognitiven Dissonanz. Links die Erkenntnis, rechts der Wille. Die linke Hand weiß sehr wohl, was die rechte tut, doch sie vermag sie nicht zu hindern. Wir wollen wissen, wissen aber nicht zu wollen. Vor dem Interesse blamiert sich jede Idee. So marschiert der Fan ins Stadion, der Grüne in den Balkan ein und seine Wählerin kurvt im Volvo SUV um eine Stange Lauch zum Bio-Supermarkt.

Auch der Fußballsport transportierte einst eine Utopie. Doch der Kapitalismus ist utophag, er frisst jede Utopie und stellt ihre Kopie als Tütensuppe ins Regal.

***

8 | Genitiv des Todes

Einbahnstraße Nr. 37. Kriegerdenkmal

Nennt man den Müllhaufen Entsorgungspark, wertet man nicht den Haufen auf, sondern die Sprache ab. Das geschieht heute allenthalben. Aus geistloser Denksportmode wird der Zeitgeist und aus der geschwätzigen Verschleierung der Profitgier eine Firmenphilosophie.

Auf der Website eines Sanitärunternehmens liest die interessierte Frau unter dem Reiter ›Firmenphilosophie‹ eine pragmatische Ode an die Weisheit, in der es heißt:

›Für uns ist ‚Kundenservice‘ kein Begriff, sondern eine Tätigkeit und eine Herzensangelegenheit.‹

Ein derart elaborierter epistemologischer Anti-Hegelianismus vermag wohl neue Impulse in eine postmoderne Philosophie zu geben, in der Sloterdijks allzu begriffsverliebte Blasen & Schäume, einst Gipfel einer zynischen Sanitärvernunft, alterslahm zu werden drohen.

Längst hat der Grabwächter Karl Kraus seinen von Walter Benjamin goutierten ›Kriegstanz vor dem Grabgewölbe der deutschen Sprache‹ aufgeben müssen. Niemand vermochte das Erbe anzutreten. Leidlich dudenkundige Hausmeister wie Bastian Sick betätigen sich nun als seine albernen Karikaturen, machen sich, indem sie sich über unschuldige, meist migrationshintergründige Leichenschänder der deutschen Sprache lustig machen, mit ihren eigenen läppischen Lapsus Linguae lächerlich.

Der Gebrauch des Genitivs freilich bereitete den Deutschen wohl schon immer Kummer.

Bereits im Jahr 1930 bemerkte Kurt Tucholsky:

›… unsre Sprachen werden ja allesamt immer mehr abgeschliffen, der Genetiv [!] verschwindet, die Auswahl an Tempora wird immer kleiner, der Konjunktiv fängt leider an, leicht komisch zu werden‹.

Gern büke ich mir ein besseres Deutsch.

***

9 | Rosinenbrötchen

Gemäß neuester Verordnung dokumentiert der biologisch abbaubare Kassenbon penibel sämtliche Daten meines Broterwerbs. So stehen auch, verbraucherfreundlich, Tätigkeit und Name der Bäckereifachverkäuferin auf dem blassblauen Streifen.

Es bediente Sie Frau von der Thann. Soeben hat sie ihre blaublütige Abkunft mit Bravour verteidigt.

Kunde: Einen schönen guten Tag! Ich hätte gern ein Milchbrötchen.

Frau von der Thann: Guten Tag! Bitte schön: Mit Rosinen?

Kunde (empört): Um Himmels willen! Die Rosine ist eine widerwärtige gustatorische Sackgasse!

Frau von der Thann (gelassen): Wenn Sie sich da mal nicht irren!

Beschämt begebe ich mich mit meiner kleinen Brötchentüte, in der sich neben dem Milchbrötchen nur noch ein vom geschmacklosen Schweineohr in ein fantasieloses Blätterteigherz politisch korrekt umbenanntes Gebäckstück befindet, auf den Heimweg. Unterwegs kriechen mich wider Willen rächende Satisfaktionsgedanken an gegen die besserwisserische Bäckereifachverkäuferin von der Thann. Ha, in der Demokratie muss auch der Adel kleine Brötchen backen, darf sich nicht mehr nur die Rosinen herauspicken!

Doch der Stachel sitzt: Wenn Sie sich da mal nicht irren!

***

10 | Brummkreisel

Einbahnstraße Nr. 41, Abs. 1. Modellierbilderbogen

›Sogar die Eisenbahn ist ein für allemal hier eingebracht und fährt auf ihrem Kreislauf immer wieder durch einen Tunnel.‹

Als Vorschulkind besaß ich einen Blechbrummkreisel, der seine auflackierte Eisenbahn umso schneller in die Kurve schickte, je häufiger ich den senkrecht aus der Mitte herausragenden Griff herunterpresste. Wie jedes Kind begriff ich rasch, dass der Kreisel in der Rotation sich stabilisierte.

Mit kleinmännlichem Eifer und klopfendem Herzen strebte ich stets eine Rekordgeschwindigkeit an, bei der die rote Lok mit ihren beiden gelben Waggons unter einem nunmehr durchgängig gellenden Dampflokpfeifton in einem abstrakten Gelb-Rot-Muster verschwand. Das Überwältigende war der rasende Stillstand sowohl des Tons wie auch des Farbenspiels und des Kreisels insgesamt, den ich durch meine Beschleunigungen erreicht hatte.

Es war das Erlebnis einer Transzendenz. Wie durch einen unsichtbaren Vorhang fuhr die Kreiselbahn aus dem Raum in eine andere Existenzform und glitt, kurz, nachdem ich mich vom Mittelgriff in eine kniende Lauerstellung zurückgezogen hatte, durch den gleichen Vorhang zurück, wurde wieder Eisenbahn, abklingender Pfeifton, Kreisel, der schwankte und endlich fiel.

Sein finales, schon über den Boden schleifende Auskreiseln erinnerte mich gelegentlich an den Schmerz des Hautabschürfens, wenn ich nach einem Stolpern über den Asphalt rutschte. In Wahrheit galt der imaginäre Schmerz jedoch dem Verlust der soeben erfahrenen, aber unbegreifbaren Transzendenz, der Rückkehr ins Gewöhnliche des Kinderzimmers, wo nicht allein die Demütigungen eines Hinstürzens lauerten.

Der rasende Stillstand ist zu einem Signum unserer Epoche geworden. Dadurch haben Vergangenheit und Zukunft ihre Charaktere getauscht. War dereinst die Vergangenheit eine stillgelegte Gegenwart, das Museum, in dem wir unsere Geschichte bewahren und besichtigen konnten, während Gegenwart und Zukunft voller Ankunft und Bewegung waren, kommt nun die Vergangenheit nicht mehr zur Ruhe. Computer, Smartphone, Internet, Social Media, E-Mobilität, alles ist derart akzeleriert, dass wir nicht einmal mehr eine chronologische Folge der Objekte nachhalten können. Bevor eine Technik auch nur halbwegs ausgereift ist, wird sie von ihrer provisorischen Nachfolgerin überformt.

Jede Gegenwart kippt bereits als solche unmittelbar in eine undeutlich vibrierende Vergangenheit, Generationswechsel fallen heute wöchentlich an, und die Zukunft, die bereits seit Valentin nicht mehr das ist, was sie einmal war, bleibt in sich bewegungslos, kommt als ungreifbarer Block, als abstraktes Gelb-Rot-Muster auf uns zu. Mit männlichem Eifer presst der Fortschritt den Hebel unaufhörlich herunter zur Rekordgeschwindigkeit. Und wir können uns nicht mehr in eine Beobachterposition zurückziehen, denn wir sind die Fahrgäste im pfeifenden Kreiselzug.

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11 | Fünfzehn Minuten länger

›Stau auf der Autobahn Acht zwischen Adelsried und Augsburg-West. Sie brauchen fünfzehn Minuten länger.‹ Neuerdings wird Raum in Zeit umgerechnet, aus drei Kilometern werden fünfzehn Minuten. Der Raum, die Strecke, scheint entwertet. Wer den Raum rascher durcheilt, erhält als Lohn einen Zeitgewinn.

Als 1843 die Eisenbahnlinie von Paris nach Rouen eröffnet wurde, hielt Heinrich Heine seine Erschütterung in dem berühmt gewordenen Satz fest:

›Durch die Eisenbahn wird der Raum getötet, und es bleibt nur noch die Zeit übrig.‹

Eine derartige Fortbewegung mit dreißig Stundenkilometern entlockt uns heute ein entzücktes Mundaufklappen. Aus dem mit kräftigem Händeruck heruntergeschobenen Abteilfenster der Museumsbahn blicken wir mit romantischem Herzweh durch die weiß wallenden Wolken der Dampflokomotive auf gemächlich vorüberziehende Wiesen, Weiden und Windräder. Wir verstehen Heine, zweifelsohne, aber wurde es nicht erst viel später wahr?

Jede Beschleunigung scheint uns nervöser zu machen, jeder Zeitgewinn ungeduldiger. Schon um 1900 hatte das Henrik Pontoppidan gespürt, weshalb er einen Pfarrer in seinem Roman Lykke-Per sagen ließ:

›Wenn ich früher in der Stadt zu tun hatte, nahm ich so manches liebe Mal die Pferde der Apostel, um die meines Pächters zu schonen - zwei Meilen Fußmarsch hin und zwei Meilen zurück, an einem Tag! Und trotzdem wurde mir die Zeit niemals lang. Wenn ich jetzt mit dem Zug in einer knappen halben Stunde zur Stadt rolle, bin ich außer mir vor Ungeduld, wenn sich der Zug auch bloß um fünf Minuten verspätet.‹

Mit der Beschleunigung der Fortbewegung durch Schnellzug und Auto reißt dem Reisenden schließlich der Kontakt zum natürlichen Raum gänzlich ab. Während die für die Überwindung der Distanzen benötigte Zeitspanne sich weiter verringert, nimmt die Langeweile zu.

Die Menschen haben längst begonnen, im Zug zu lesen, zu stricken, zu surfen, zu schlafen. Die Frau telefoniert bereits mit ihrem Partner, der sie am Zielbahnhof erwartet, sein Antlitz lächelt aus dem Display ihres Smartphones. Der Zug beschleunigt noch, doch sie ist längst da.

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