Samson und das Galizische Bad - Andrej Kurkow - E-Book

Samson und das Galizische Bad E-Book

Andrej Kurkow

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Beschreibung

Kiew, 1919: Ein Trupp Rotarmisten ist spurlos verschwunden, mitten in der Stadt, während eines Banjabesuchs. Als Samson im Heizofen des Badehauses Knochenreste findet, kommt er einem finsteren Komplott auf die Spur. Auch im dritten Band um den herzensguten Samson und die kluge Nadjeschda lässt der ukrainische Meister absurder Erzählkunst das Kiew der frühen Zwanzigerjahre lebendig werden. Voller politischer Turbulenzen und schräger Charaktere und spielerischer Parallelen zum Heute.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Andrej Kurkow

Samson und das Galizische Bad

roman

Aus dem Russischen von Johanna Marx und Claudia Zecher

Mit Illustrationen von Juri Nikitin

Diogenes

Der Autor dankt Wadym Petrowytsch Schypulin, Doktor der Medizin, und Danyl Janewskyj, Doktor der Geschichte, für ihre Hilfe und Ratschläge und widmet ihnen dieses Buch.

Kapitel 1

Samson konnte nicht schlafen, also schlich er mitten in der Nacht aus dem Schlafzimmer – auf Zehenspitzen, denn er wollte Nadjeschda nicht wecken. Erst ging er ins Wohnzimmer, dann in die Küche. In der Dunkelheit spürte er plötzlich etwas Kaltes an der Hand – er hatte Doktor Watruchins kupfernen Messeimer gestreift. Samson griff hinein und fischte den letzten in Salzlake eingelegten Apfel heraus. Er knirschte laut zwischen den Zähnen, und seine Säure wirkte erfrischend.

Samson blickte durch das einzige Küchenfenster – die von Erschütterungen erschöpf‌te Stadt schlief eingehüllt in dichte, undurchdringliche Finsternis. Die Straßenlaternen brannten nicht. In den Häusern gegenüber war in keinem einzigen Fenster auch nur die geringste Spur von Licht zu sehen! Die Häuser und Fenster ließen sich nur erahnen. Alles wirkte wie mit dicker chinesischer Tusche übermalt. Und deshalb fühlte sich nicht einmal der Boden unter den Füßen fest an, sondern schien nachzugeben, sich wie ein Abgrund im nächsten Augenblick aufzutun und ihn, Samson, zu verschlingen. Beim Gedanken daran hatte er das Gefühl zu wanken, vielleicht lag es auch an der Müdigkeit. Seine Hand tastete nach dem Fensterhaken. Feuchtkühler Wind blies ihm ins Gesicht.

Samson schaute hinaus. Die unsichtbare Stadt ließ ihn den Atem anhalten und aufmerksam lauschen.

Die Stadt schwieg und gab nicht das geringste Geräusch von sich, das ihre Existenz verraten hätte. Als Samson noch angestrengter lauschte, hörte er lediglich sein eigenes Herz schlagen – pochend und schnell. Und noch ein Knistern, ähnlich dem Kratzen auf Holz. Er sah zum Küchentisch, denn ihm schien eine Maus darüberzuhuschen.

In der Küche aber herrschte nach wie vor Stille, und Samson begriff, dass die Maus über einen anderen Tisch getrippelt war – über den seines verstorbenen Vaters. Die Rotarmisten hatten ihn im März fälschlicherweise requiriert und auf die Lybedsker Wache der Arbeiter- und Bauernmiliz gebracht. Daraufhin war er, Samson, dem väterlichen Tisch gefolgt, in der Hoffnung auf Rückgabe, war aber letztlich unter seltsamen Umständen dort »gestrandet« und Ermittler der sowjetischen Arbeiter- und Bauernmiliz geworden, auch wenn es in seiner Familie niemals Bauern oder Arbeiter gegeben hatte.

 

Er dachte an das Gespräch der beiden Tschekisten, das er gerade dank seines abgeschlagenen Ohrs mitangehört hatte. War vielleicht dieses kurze Gespräch der Grund für seine Schlaf‌losigkeit? Was hatten die beiden in seinem Dienstzimmer gesucht? Was in seinem Schreibtisch? Warum waren sie so von seiner Blutrünstigkeit überzeugt? Weshalb waren sie der Meinung, er sei fähig, einen Menschen zu erschießen, aus dem noch nicht einmal erkalteten Körper die Kugeln herauszuholen und dem Ermordeten zum Andenken auch noch ein Ohr abzuschneiden? Wie bestialisch! Ihre Spekulationen schienen pure Begeisterung in ihnen zu wecken, ja geradezu Neid, gepaart mit Angst!

Natürlich hatte das so frisch wirkende Ohr die beiden in die Irre geführt! Es versetzte ja Samson selbst in Erstaunen! Nicht nur, dass er mit ihm Geräusche und Unterhaltungen in weiter Entfernung hören konnte, verblüffte ihn, sondern auch diese unvorstellbare, geradezu göttliche Gabe, der Vergänglichkeit zu trotzen. Wie konnte ein im März von einem Kosakensäbel abgeschlagenes Ohr Ende April immer noch lebendig, warm und makellos sein?! Sollte es sich wirklich um ein göttliches Wunder handeln? Sollte Gott auf diese Weise reine Seelen vor brutalen Kosaken und marodierenden Rotarmisten schützen? Oder war die Zeit stehengeblieben und hatte aufgrund der allgegenwärtigen Grausamkeit der letzten Jahre ihre eigenen Gesetze von Vergänglichkeit und Alterung aufgehoben? Glücklich und zufrieden alt werden und friedlich im Kreis der Familie sterben – das war doch wirklich niemandem mehr beschieden. Der Tod lag jetzt nicht mehr in den Händen Gottes, sondern in den Händen der Antichristen. Ebendiese Worte wiederholte die Hausmeisterwitwe immer, wenn sie unzufrieden war. Nein, es war etwas anderes, das sie vor sich hin brummte: »Die Macht liegt in den Händen des Antichristen!«, das war es, genau! Und der gleiche widersinnige, zufällige, unvorhersehbare Tod erwartete eben auch diese »Antichristen«. Zuweilen kam es sogar noch schlimmer: ein unerklärlicher Tod, der keine Körper hinterließ.

Samsons Gedanken schweif‌ten zu den in der Galizischen Banja verschwundenen Rotarmisten ab. Sie waren zusammengetrommelt, ausstaffiert und bewaffnet worden, um unter den Klassenfeinden den Tod zu säen, waren aber unter ungeklärten Umständen verschwunden, hatten sich beim Besuch des Badehauses aufgelöst wie Seife im Wasser. Ihre Waffen hatten sie in der Kaserne gelassen, ihre Stiefel, Feldblusen und Hosen in der Garderobe der Banja. Samson schien es unangebracht, sie Antichristen zu nennen. Die Hausmeisterwitwe konnte wen auch immer als was auch immer bezeichnen, aber für ihn, Samson, gehörte sich das schon von Amts wegen nicht. In seinem Fall galten diese achtundzwanzig Verschwundenen als Opfer; und ihr rechtlicher Status würde sich nur aus einem einzigen Grund ändern – wenn sie lebend gefunden wurden.

 

Die kühle Feuchtigkeit der Nacht strömte in die Küche, deshalb schloss Samson das Fenster. Die Küchengerüche kehrten zurück und breiteten sich wieder im geschlossenen Raum aus. Der intensivste Geruch kam von dem Stoffsack mit den getrockneten Schweineohren, den Samson von Li Jun, seinem chinesischen Freund, aus Dankbarkeit für dessen Befreiung aus den Fängen der Tscheka geschenkt bekommen hatte.

›Vielleicht sollte ich der Hausmeisterwitwe die Hälfte davon abgeben?‹ Nachdenklich schloss Samson die Tür hinter sich, damit der Geruch der getrockneten Schweineohren in der Küche blieb.

Auf seinem Weg ins Schlafzimmer hielt Samson kurz inne. In diesem Augenblick kam aus dem Arbeitszimmer seines Vaters ein einzelner Schnarcher von Doktor Watruchin, und hinter Samson schien ein Dielenbrett zu ächzen, aber gleich kehrte wieder Stille in die Wohnung ein.

Manchmal wanderte der Doktor mitten in der Nacht mit Bettlaken, Decke und Kissen ins Arbeitszimmer von Samsons Vater aus, obwohl Samson ihm sein Schlafzimmer überlassen hatte. Er ließ sich dort auf der Liege nieder, auch wenn Samsons Bett ungleich bequemer war. Ganz offensichtlich waren seine Schlafstörungen die Ursache dafür, ebenso wie der nervöse Drang, sich in einem kleinen Raum zu verstecken. Es schien, dass ihm die Angst davor, in die Armee einberufen und nach Moskau geschickt zu werden, keine Ruhe ließ, weshalb er unlängst bei Samson und Nadjeschda Unterschlupf gesucht hatte.

Der Doktor legte zwar gutmütige Beharrlichkeit und vorbildlichen Eifer an den Tag, um fast schon als Verwandter durchzugehen, für Samson aber blieb er dennoch ein kleines bisschen überflüssig und fremd. Und das, obwohl es ihn beruhigte zu wissen, dass der Doktor Nadjeschda abends Gesellschaft leistete, wenn er selbst erst spät nach Hause kam.

Bis zum Anbruch der Dämmerung gelang es Samson, an Nadjeschdas warmer, weicher Seite dahinzudösen. Kurz vor Sonnenaufgang jedoch störten die in der Banja spurlos verschwundenen Rotarmisten wieder seinen Schlaf. Die vielen Fragen ließen Samson die Augen öffnen und trieben ihn aus dem Bett.

 

Eine halbe Stunde später knarzte die Holztreppe der Lybedsker Wache unter seinen Füßen.

Zuerst stattete Samson seinem Schreibtisch einen Besuch ab und überzeugte sich davon, dass die Bonbondose nach dem nächtlichen Besuch der Tschekisten noch an ihrem Platz war, dann ging er wieder in den Flur.

In der Asservatenkammer türmte sich ein Berg prall gefüllter Jutesäcke auf den Dielen, zugebunden mit Schnüren, an denen Holztäfelchen in der Größe einer Kinderhand baumelten, alle mit einer violetten Nummer versehen. Wassyl saß mit saurer Miene über dem Asservatenverwahrungsheft.

Als die Tür knarrte, drehte er sich um.

»Guten Morgen!« Samson nickte dem Herrscher über die Asservatenkammer zu, dann starrte er auf die Jutesäcke und fragte: »Das sind ihre Sachen, stimmt’s?«

»Ja«, antwortete Wassyl und nickte. »Aber ich weiß nicht, wohin damit!«

»Ich hole sie mir später«, sagte Samson ruhig. »Achtundzwanzig Schneiderpuppen bräuchte ich jetzt noch dafür …«

»Was?«, fragte Wassyl verwundert. »Wo soll ich die denn hernehmen?« Er schüttelte verzweifelt den Kopf. »Soll ich bei den Schneidern schon wieder eine Requisition durchführen lassen?«

Samson gefiel die Idee sofort.

»Es müssen nicht unbedingt achtundzwanzig sein!«, sagte er und gestikulierte mit der Hand. »Siebenundzwanzig würden schon reichen. Ich habe ja bereits die eine von Jakobsons Anzug!«

Samsons plötzliche Begeisterung sprang nicht auf Wassyl über, der nur unzufrieden den Kopf schüttelte und in die Tiefen seiner im Gerümpel untergehenden Kammer starrte.

Samsons Blick versank nun ebenfalls in den Tiefen dieser eklektischen Sammlung von Gegenständen und Objekten: Aktentaschen, Stiefel, ein hölzernes Butterfass, Schachteln aus Pappkarton. Es flimmerte regelrecht vor seinen Augen.

 

»Geht es denn nicht ohne die Schneiderpuppen?« Wassyl dachte laut nach und schielte zu den Jutesäcken hinüber. Sein Gesichtsausdruck verriet Samson, dass er sich einer Lösung des Problems näherte. »Wie wäre es, wenn wir achtundzwanzig Kleiderhaken an der Wand befestigen? So wie in der Banja? Dann hätten wir die Kleider in einer Reihe. Die Stiefel stellen wir unter die Feldblusen, und die Hosenbeine stecken wir bis zum Geldsäckchen hinein, damit sie drinnen bleiben. Unterwäsche und Fußlappen tun wir auch in die Stiefel, hinten bei den Fersen. Wir können noch eine Schnur durch die Hosenbeine und Ärmel fädeln, damit nichts durcheinanderkommt. Schnüre haben wir in rauen Mengen!«

»Aber das sieht doch dann wie eine Garderobe aus und nicht wie die persönlichen Sachen von Vermissten!«, antwortete Samson aufgebracht. »Wenn wir Schneiderpuppen anziehen würden, könnten wir alles viel leichter nachvollziehen und beinahe schon mit ihnen reden!«

Wassyl verzog kaum merkbar die Lippen und blickte Samson misstrauisch in die Augen.

»Wie viel muss man eigentlich intus haben, um sich mit einer Schneiderpuppe zu unterhalten? Um ihr quasi die Hand zu schütteln?«, platzte er heraus, klang aber nicht beleidigend, darauf achtete er. »Außerdem, wenn wir so viele Schneiderpuppen ins Dienstzimmer stellen, dann müssen wir die Tische hinaustragen!«

Samson zuckte unsicher mit den Schultern.

»Ja, es sind viele«, stimmte er Wassyl widerwillig zu. »Aber sie alle haben doch Briefe, Passierscheine, Fotografien ihrer Frauen in den Taschen … Es sind ganz normale Menschen. Sollte man nicht versuchen, jeden Einzelnen von ihnen kennenzulernen und zu verstehen?«, fragte er nachdenklich.

Wassyl nuschelte vor sich hin und schüttelte enttäuscht den Kopf.

Für einen Augenblick stellte sich Samson die als Rotarmisten verkleideten Schneiderpuppen in Reih und Glied vor – an den Schultern mit Sicherheitsnadeln befestigte Papiernummern.

»Und wenn sie am Leben sind?«, gab er unvermittelt zu bedenken.

»Ein nackter Mensch überlebt nicht lange!«, antwortete Wassyl. »Und ihre Taschen kann man auch ohne Schneiderpuppen durchsuchen.«

Samson war in Gedanken und überhörte Wassyls Worte geflissentlich.

»Was, wenn sie desertiert sind?«, dachte er laut. »Vielleicht hat jemand mit anderer Kleidung hinter der Banja auf sie gewartet?«

»Und wie kommt eine nackte Meute unbemerkt aus der Banja?«, hielt Wassyl dagegen.

Samson dachte nach.

»Keine Frage«, sagte er nach einer Pause, »eine nackte Meute kommt nicht unbemerkt aus der Banja. Was, wenn sie sich in der Banja umgezogen haben? Wir müssen noch einmal alles rundherum absuchen!«

Vor der Tür waren schwere Schritte zu hören.

»Hier seid ihr also!« Najden, in zerknitterter Bluse, sah zur Tür herein. Sein Gesicht war aufgequollen, und seine geröteten Augen verrieten große Sorgen. »Wenn man mich morgen in die Sadowaja auf die Tscheka bringt und wegen Schlamperei erschießt, dann bist du schuld!« Er pikte Samson mit dem Zeigefinger schmerzlich in die Brust. »Obwohl man dich wahrscheinlich als Ersten verhaften und erschießen wird!«, ergänzte er.

»Wieso denn das? Was ist passiert?« Samson machte einen kleinen Schritt zurück – im Nu waren Schneiderpuppen und Rotarmisten vergessen.

»Die Soldaten, die Schpakjewitsch hätten holen sollen, sind unverrichteter Dinge zurückgekommen. Er ist mit seiner Frau geflüchtet. Das Haus ist verschlossen, den Hund haben sie gestern in der Früh zu den Nachbarn gegeben. Die Rotarmisten haben die ganze Nacht vor seinem Haus Wache geschoben, weil sie geglaubt haben, dass er zurückkommt. Und jetzt können wir das Urteil nicht vollstrecken! Ergo können wir das Erschießungs- und Leichenbestattungsprotokoll nicht schreiben. Das heißt, es ist unmöglich, den Fall abzuschließen! Wenn Abjasow das erfährt, müssen wir uns auf etwas gefasst machen!«

Samson wurde nervös, doch insgeheim stieg in ihm auch Freude über die Nachricht auf, dass Schpakjewitsch geflüchtet war und deshalb nicht erschossen werden würde.

Wassyl stand schweigend, wie ein Unbeteiligter, mit versteinerter Miene da. Plötzlich erwachten seine Lebensgeister wieder, er wiegte den Kopf hin und her, griff sich an den kurzen Schnauzbart, als wollte er nachsehen, ob er noch da war. Dann drehte er sich zu Samson.

»Wir können ihn ja vorab erschießen!«, schlug er vor.

»Was meinst du damit?« Najden verstand nicht, war aber neugierig.

»Na, sozusagen im Voraus. Wir schreiben im Protokoll, dass wir ihn schon erschossen haben, er wird aber erst erschossen, wenn man ihn gefunden hat.«

Najden dachte nach.

»Eine Erschießung besteht aus einem Schuss und einem Papier, und nicht ausschließlich aus einem Papier!«, stellte er missmutig fest.

»Wir geben einen Schuss ab, schreiben und unterschreiben das Protokoll, an unsere Agenten verteilen wir Schpakjewitschs Fotografie – die sollen ihn suchen!« Wassyl klang immer überzeugender. »Haben wir eine Fotografie von ihm?«, fragte er und drehte sich zu Samson um.

Samson schüttelte den Kopf.

»Egal«, stimmte Najden Wassyls Plan zu. »Wir machen es so. Um Punkt zwölf Uhr Mitternacht wird Samson im Kutschenschuppen im Hof einen Schuss abgeben. Dann gehen wir zu mir herauf, verfassen ein Protokoll, in dem festgehalten wird, dass der verantwortliche Ermittler Samson Koletschko in Anwesenheit meiner Person, der von Wassyl und des Genossen Cholodny die Erschießung durchgeführt hat.«

»Ich? Warum denn ich?«

»Um deinen Fehltritt auszubügeln, weil du das gefällte Urteil nicht unterschreiben wolltest«, erklärte Najden, dann wanderte sein Blick zurück zu Wassyl, und er sprach weiter: »Die Kopie des Protokolls schicken wir an Abjasow und schließen den Fall ab. Wo ist Cholodny?«

»Ich glaube, ich habe ihn im Erdgeschoss gesehen.«

»Geh, und schick ihn zu mir, und mach uns einen Tee!« Aus Najdens Gesicht war die große Sorge nun gewichen. Er warf Samson einen ironischen, unbarmherzigen Blick zu und ließ beim Hinausgehen die Tür knallen.

Kapitel 2

Kaum hatte Samson an seinem Schreibtisch Platz genommen, sah er unwillkürlich an die Wand zwischen den Fenstern, an der noch vor ein paar Tagen das Schema für den richtigen Fleischschnitt beim Schwein gehangen hatte. Jetzt lag es auf dem Boden.

In Gedanken hörte er wieder die Stimmen der Tschekisten, die in der vergangenen Nacht die Schubladen seines Schreibtischs durchwühlt hatten. Waren sie es vielleicht gewesen, die das Schema von der Wand genommen hatten, um es genauer betrachten zu können? Sie hatten ja darüber gesprochen und waren dann zu absolut unlogischen Rückschlüssen über seinen, Samsons, Charakter sowie seine vermeintlich sadistischen Neigungen gekommen.

Samson zwang sich, über die verschwundenen Rotarmisten nachzudenken, um sich abzulenken. Es wäre jetzt genau der richtige Zeitpunkt gewesen, der Galizischen Banja einen Besuch abzustatten. Allerdings sollte er das besser zusammen mit Cholodny tun. Er hatte sich schon gestern Abend dort alles angesehen, einen Blick unter die Bänke geworfen und alle Ecken und Enden der großen Räume im Erdgeschoss abgesucht. Aber es gab keinerlei Hinweise, nicht die geringste Spur. Wenn er mit Cholodny zusammen hinginge, dann würden sie vielleicht etwas Neues entdecken. Vier Augen sehen schließlich mehr als zwei. Außerdem hat jeder seinen eigenen Blick auf die Dinge. Cholodny würde durch die große allgemeine Dampfkammer, den Waschraum und die Gänge der Banja gehen und vermutlich etwas entdecken, was Samson aus Müdigkeit oder Unerfahrenheit nicht bemerkt hatte! Aber wo nur hatte Najden Cholodny hingeschickt?

Samson wartete ungeduldig auf die Rückkehr seines Kollegen und erfuhr eine Viertelstunde später von Wassyl, dass Cholodny mit einem Kutscher zu den Lagern am Flusshafen unterwegs war, um die Lebensmittelzuteilung zu holen. Es hatte keinen Sinn, länger auf ihn zu warten, daher beschloss Samson, wieder allein in die Banja zu gehen und den Ort dieses seltsamen Verbrechens noch einmal unter die Lupe zu nehmen.

Nach dem rätselhaften Verschwinden der Rotarmisten hatte das Badehaus vorübergehend geschlossen, weshalb sich dort keine Außenstehenden aufhalten durf‌ten. Die Mitarbeiter hatte Samson selbst befragt und dann aus dem Gedächtnis ihre Zeugenaussagen zu Papier gebracht. Diese drei Blätter bildeten den Anfang der Akte zum Fall, den Samson sofort »Banja-Fall« getauft hatte. Jetzt, da er seine Aufzeichnungen durchgesehen und sie wieder in die Mappe zurückgelegt hatte, begriff er, dass er nochmals mit dem Heizer sprechen musste. Und wenn er sich selbst gegenüber absolut ehrlich war, dann sollte er das auch mit allen anderen Banja-Mitarbeitern tun, einschließlich dem Garderobenmeister, denn die drei Blätter mit den aus dem Gedächtnis niedergeschriebenen Gesprächen vermittelten kein klares Bild von dem Tag, an dem sich alles zugetragen hatte – ganz im Gegenteil, das Bild verschwamm durch unnötige und zusammenhanglose Details. Die Gespräche hatte Samson ja nicht wie für die Akten üblich mit im Voraus vorbereiteten Fragen geführt, sondern ganz zwanglos wie bei einer Tasse Tee. Was nutzte die Erzählung des Hühneraugenbehandlers darüber, dass er auf dem Jüdischen Markt gewesen war, um seine Schere schleifen zu lassen, und dann vom Schleifer aufgehalten worden war, mit dem er über die Vorteile von Hufeisen mit Stollen im Winter diskutiert hatte? Was konnte diese Geschichte mit dem Schleifer beitragen? Nichts! Außer dass der Hühneraugenbehandler sich etwa eine Stunde aus der Banja entfernt hatte, nachdem die verschwundenen Rotarmisten gekommen waren, um sich zu waschen.

 

Die Unzufriedenheit mit seiner eigenen offensichtlichen professionellen Unzulänglichkeit legte sich, kaum hatte Samson das Gebäude der Lybedsker Wache verlassen. Er hielt den abgenutzten Griff seiner Aktentasche noch fester. Die robuste braune Aktentasche, die ihm Wassyl vorübergehend überlassen hatte, sah wichtig aus und verlieh Samson ein Gefühl der eigenen Bedeutsamkeit. Eine Person in Uniform, mit einer solchen Aktentasche in der Hand, musste bei Passanten Respekt oder zumindest besondere Aufmerksamkeit hervorrufen.

In der Karawajewskaja wehte ihm aus Richtung des Botanischen Gartens der Universität der Geruch von Gräsern und Blumen ins Gesicht. Die Brise drang in Samsons Nase und wirbelte warm um seine nackte rechte Ohröffnung herum, weshalb er diese sofort mit seiner Ledermütze bedeckte und damit seine »Achillesferse« vor der aufdringlichen Natur schützte.

 

Vor der Galizischen Banja herrschte nicht das übliche Treiben. Samson musste dreimal an die Tür hämmern, bis jemand den eisernen Türriegel zurückschob.

»Wann wird uns endlich der Betrieb der Banja wieder erlaubt?«, fragte grußlos ein bärtiger Mann in einem grauen Baumwollhemd und einer Militärreithose. »Die Leute haben sich scharenweise angemeldet, sie werden bei lebendigem Leib von den Läusen aufgefressen. Sollen sie vielleicht in weit entfernte Banjas fahren? Die sind teurer, und der Dampf ist nicht so gut!«

»Es dauert nicht mehr lange«, antwortete Samson. »Sobald wir das Verschwinden der Soldaten aufgeklärt haben, könnt ihr wieder öffnen!«

»Und wie wollt ihr das Verschwinden denn aufklären?!« Der Mann zuckte mit den Schultern und trat zur Seite, um den Ermittler hereinzulassen. »Bei uns sind schon so oft Leute verschwunden. Und wurde das je aufgeklärt? Von wegen!«

»Sie arbeiten in der Garderobe, oder?«, fragte Samson, während er den ihm bekannten Bart betrachtete. Das Gesicht des Mannes zeichnete sich auf gewisse Weise durch seine besondere Unscheinbarkeit aus: kleine Augen und eine große Nase, die wie zufällig nebeneinander gelandet zu sein schienen, von der Natur ursprünglich aber für verschiedene Personen vorgesehen gewesen waren. Dafür hatte er einen dichten Vollbart.

»Ja, in der Garderobe.« Der Mann nickte.

»Wo können wir uns denn hinsetzen? Ich würde Ihnen gerne noch ein paar Fragen stellen.«

»Das ist das Einzige, was ihr könnt – Fragen stellen!«, brummte der Mann und führte Samson zur Garderobe. Er ging hinter die Theke, reichte Samson von dort einen Hocker und setzte sich selbst auf einen Stuhl.

Samson nahm Papier und einen Bleistift aus der Aktentasche und bemerkte, wie das Gesicht des Mannes beim Anblick dieser einfachen Gegenstände für Gesprächsnotizen ernst wurde.

»Also, fragen Sie schon!«, sagte er bereits freundlicher.

Samson notierte nochmals den Namen des Garderobenmeisters, dann machte er sich daran, ihm die richtigen präzisierenden Fragen zu stellen, konzentriert auf das Wesentliche und zugespitzt wie ein Bleistift. Sofort war ihm klar, dass er nicht umsonst gekommen war. Der Mann mit dem etwas sonderbar angeordneten Gesicht erzählte, dass im letzten Jahr etwa dreimal Frauen gekommen waren, die alle versichert hätten, dass ihre Männer nach der Banja nicht nach Hause zurückgekehrt seien. Einmal hätten sie sogar die Kleidung eines Mannes in der Garderobe gefunden und der Frau gegeben. In der Kleidung sei ein Abschiedsbrief gewesen. Der Mann habe der Frau geschrieben, dass er beschlossen habe, in der Banja seinem Leben ein Ende zu setzen. Er habe darum gebeten, ihm zu verzeihen und nicht nach seinem Leichnam zu suchen. Aber wie hätte man ihn nicht suchen sollen? Natürlich hätten sie den Leichnam in der ganzen Banja gesucht und alles auf den Kopf gestellt. Gefunden hätten sie allerdings nichts, aber begriffen, dass der Mann seiner Frau davongelaufen war. Außerdem sei später bekannt geworden, dass auch die Wertgegenstände der Familie verschwunden seien. Zusammen mit dem Mann. Und Wertgegenstände hätten ja bekanntermaßen keine eigenen Beine!

Das Gespräch mit dem Garderobenmeister füllte vier ganze Blätter.

Müde vom Schreiben begann Samson, seine Finger zu dehnen, als würde er mit ihnen auf der Garderobentheke Klavier spielen. Dann fragte er nach dem Heizer.

»Was soll er denn hier tun, wenn die Banja geschlossen ist?«, antwortete der Garderobenmeister. »Er wird wahrscheinlich bei sich zu Hause sein.«

»Und wie holen Sie ihn, wenn eingeheizt werden muss?«

»Wie schon? Ich schicke einen Burschen vom Markt, der holt ihn. Warum wollen Sie eigentlich mit ihm sprechen? Er legt nur das Holz in den Ofen, die Räume betritt er nicht!«

»Die Öfen wollte ich mir auch anschauen. Da habe ich gestern Abend nicht dran gedacht. Ich war müde. Wie viele Öfen haben Sie hier?«, wollte Samson wissen.

»Einen großen, für die allgemeine Dampfkammer, und fünf kleine«, erklärte der Bärtige und bot an, Samson selbst den großen Ofen zu zeigen.

Er brachte Samson in einen schmalen Gang, in dem der noch nicht gewesen war. Nach etwa zwanzig Schritten blieben sie vor einer unansehnlichen Holztür stehen. Samson blickte zur Wand gegenüber, an der ein pechschwarzes Holzquadrat zu erkennen war.

»Wo geht es da hin?«, fragte Samson.

»Nach draußen, dort wird das Holz entladen.«

»Machen Sie auf!«

Der Garderobenmeister zog an einem unscheinbaren Griff, und die Luke in der Wand öffnete sich mit quietschenden Scharnieren und versperrte den schmalen Gang. Die Außenwand war besonders dick, daher schien es Samson, als blickte er in einen Schrank. In diesem »Schrank« sah er eine Axt und ein Stück entfernt eine weitere pechschwarze quadratische Luke, die mit einem Eisenhaken verschlossen war, der in einer Halterung im Mauerwerk steckte.

»Durch diese Luke kann man von hier flüchten«, sagte Samson laut.

»Das kann man«, pflichtete ihm der Garderobenmeister bei. »Bis zur Straße hinunter sind es etwa zwei Meter. Vielleicht ein bisschen mehr. Eine angenehme Höhe, um von einem Fuhrwerk Holz anzureichen.«

Der Heizraum hinter der Tür gegenüber der pechschwarzen Luke war schmal und hoch. Links lehnte ein Schürhaken an einem Holzstoß. Direkt vor sich erblickte Samson auf Höhe seines Bauchs die große gusseiserne Tür der Brennkammer und darunter die kleinere Tür des Aschefachs. Samsons Hand griff wie von selbst nach der großen Tür. Der kalte, beißende Geruch von Holzrauch wehte ihm ins Gesicht. Das Innere des Ofens verblüffte Samson aufgrund seiner Dimensionen. Wahrscheinlich war diese Brennkammer so groß wie die einer Dampf‌lok. Es war natürlich nicht möglich, aufrecht darin zu stehen, aber darin sitzen konnten zwei oder sogar drei Personen!

Samson versuchte, die andere Seite der Brennkammer genauer in Augenschein zu nehmen. Er griff nach dem Schürhaken, steckte ihn ins Innere des Ofens und begann, Asche und nicht verbranntes Holz zu sich zu ziehen.

»Was suchen Sie denn da?«, wunderte sich der Garderobenmeister. »Sie werden sich nur mit Ruß vollschmieren!«

Samson drehte sich unzufrieden zum Banja-Mitarbeiter um, dennoch stocherte er mit dem Schürhaken so weit hinten wie möglich in der Brennkammer herum. Aber die hintere Wand des Ofens erreichte er einfach nicht. Er dachte schon darüber nach, seine Bemühungen mit dem Schürhaken einzustellen, als er diesen noch einmal zu sich zog und bemerkte, dass etwas daran hängen geblieben war. Er nahm einen verkohlten Streifen vom Haken, der einem verbrannten Ledergürtel glich, drehte ihn in den Händen hin und her und blickte sich wieder zum Garderobenmeister um.

»Was könnte das sein?«, fragte er.

»Alles Mögliche. Wir verbrennen hier auch Müll. Warum sollte der auch verschwendet werden! Als Häftlinge aus dem Lukjanowskaja-Gefängnis zum Waschen hergebracht worden sind, da haben sie fünf Säcke verlauste Kleidung mitgeschickt. Die haben wir auch hier verbrannt.«

Rechts neben dem Ofen stand ein Hocker, auf dem sich der Heizer offenbar während seiner Arbeit ausruhte. Samson stellte ihn unter die Tür der Brennkammer und stieg hinauf. Er beugte sich vor, steckte seinen Oberkörper bis zur Taille in die Brennkammer und konnte so mit dem Schürhaken die gegenüberliegende Wand des Ofens erreichen. Er zog Asche und Kohlenstücke zu sich, und wieder hatte er den Eindruck, dass etwas am Haken hängen geblieben war. Er zog alles zu sich und betrachtete seinen Fang näher. Er griff nach dem schwarzen Haufen, wühlte mit der Hand darin herum in der Annahme, dass er zerbröckeln und als Asche durch den Gitterrost fallen würde. Aber dem war nicht so, ein schwarzer Stock erzeugte beim Auf‌treffen auf dem Rost einen seltsam hellen Ton. Samson nahm ihn in die Hand, kam wieder aus dem Ofen, betrachtete seine Beute, und mit einem Mal lief es ihm kalt über den Rücken.

»Ein Os femoris!«, sagte er erschrocken.

»Was?«, fragte der Garderobenmeister laut zurück, wobei seine Stimme zitterte.

»Das ist ein Knochen«, seufzte Samson. »Ein menschlicher Knochen. Von einem Bein. Wie heißt der Heizer?«

»Ignat Mratschkowski.«

»Und wo wohnt er?«

»In der Kostopawlowka, am Ende der Skobelewskaja. Ich habe ihn dort schon einmal besucht!«

»Ist das da, wo die Rinderknochen verbrannt werden?«

»Genau, in der Gegend stellen drei Fabriken Tierkohle her.«

Samson betrachtete erneut den verkohlten Oberschenkelknochen.

›Nein‹, dachte er. ›Der ist von einem Menschen. Von einem der Soldaten vielleicht?‹

Er drehte sich zum Garderobenmeister um.

»Können Sie da hineinkriechen und alles, was nicht verbrannt ist, durchsehen?« Er deutete mit dem Kopf in die Brennkammer.

»Neeeein«, antwortete dieser langsam. »Da krieche ich nicht hinein. Ich habe Angst! Ignat kann da drin herumwühlen, der ist das eher gewohnt.«

Kapitel 3

Samson platzte ohne Klopfen in Najdens Dienstzimmer – erst als er bereits drinnen stand, bemerkte er den überraschten Blick seines Vorgesetzten und begriff, dass er wie ein kleiner Junge hereingeschneit war.

»Was ist passiert?«, fragte Najden streng und hielt den Beglaubigungsstempel immer noch über dem gerade ausgefertigten Dokument.

»Ich habe sie gefunden!«, platzte Samson heraus und konnte ein siegessicheres Lächeln nicht unterdrücken. Er streckte Najden demonstrativ die braune Aktentasche entgegen, woraufhin dieser ihn verständnislos anblickte.

»Alle?«, fragte der Vorgesetzte und beäugte die Aktentasche misstrauisch.

»Einstweilen wahrscheinlich nur einen. Er wurde im Banja-Ofen verbrannt. Der Heizer muss schnellstmöglich verhaftet werden! Ich weiß, wo er wohnt!«

»Schon gut.« Najden nickte. »Respekt, reife Leistung! So schnell habe ich das nicht erwartet! Geh, und schick die Rotarmisten los, sie sollen ihn holen. Sag ihnen, dass ich es befohlen habe!«

Auf dem Weg nach unten ins Erdgeschoss übersprang Samson jede zweite Stufe. Der diensthabende Rotarmist, dem er Najdens Befehl überbrachte, erkundigte sich nach der Adresse, dann forderte er umgehend telefonisch einen Lastkraftwagen an.

 

Samson hatte das Gefühl, seine Pflicht erfüllt zu haben, und kehrte ins Dienstzimmer zurück, breitete das Plakat für den richtigen Fleischschnitt auf dem Tisch aus, nahm den verkohlten Knochen aus der Aktentasche und legte ihn darauf. Er sah natürlich schrecklich, ja sogar schaurig aus, aber die ursprüngliche Abscheu, den Knochen zu berühren, war verflogen. Samson wischte sich die Asche von den Fingern, und sein Blick wanderte wie von selbst zu den Jutesäcken mit der Kleidung und den Stiefeln der Rotarmisten. Unweigerlich schoss ihm der Gedanke an die fast dreißig Schneiderpuppen durch den Kopf, aber er verwarf ihn gleich wieder. Wassyl hatte recht, sie hatten hier keinen Platz! Samson sah sich um. Er konnte ja nicht das Dienstzimmer in eine Banja-Garderobe verwandeln!

Jeder Vermisste musste also auf eine Schachtel oder ein Kuvert reduziert werden, wo der Inhalt seiner Taschen aufbewahrt wurde. Der Tascheninhalt würde für seinen Besitzer sprechen. Besser gesagt, das Wichtigste über ihn erzählen! Die Feldblusen und Stiefel waren Staatseigentum, kein Privatbesitz. Beides konnte über die Kleider- und Schuhgröße ungefähr Auskunft geben, nicht aber über jemandes Gedanken und Zukunftspläne. Gut möglich, dass man die Kleidung Toten abgenommen und dann Lebenden vorübergehend zum Tragen gegeben hatte. Genauso war ja auch Samson ausstaffiert worden, als er seinen Dienst bei der Miliz angetreten hatte. Als ihm im Armeekleidungsdepot von Kurenjowka Stiefel ausgehändigt worden waren, hatte er keinen Gedanken daran verschwendet, wer sie vor ihm getragen hatte. Sie hatten gepasst, und gut war es! Die neue Uniform hatte nichts an den Gefühlen tief in seinem Inneren geändert und beeinflusste sie nach wie vor nicht.

 

Vom Flur her waren schwere Schritte zu hören. Die Tür ging auf, und Sergi Cholodny polterte ins Dienstzimmer. Er stürzte herein und blieb beim Anblick des schwarzen, durch die Hitze des Ofens verkohlten Knochens auf Samsons Tisch wie angewurzelt stehen.

»Was ist das?«, fragte er nach einer Pause.

»Ein Os femoris, der Oberschenkelknochen eines verschwundenen Rotarmisten«, erklärte Samson ruhig. »Ich habe ihn in der Banja entdeckt.«

»O Gott!«, seufzte Cholodny. »Wer hat sie denn dort ermordet und verbrannt?«

Samson wollte schon darauf antworten, geriet jedoch ins Grübeln.

»Mir scheint, ich beginne zu verstehen«, sagte er schließlich. »Wahrscheinlich ist das«, er schielte auf den Knochen, »ihr Kommandant! Möglicherweise haben sie ihn in der großen Dampfkammer erdrosselt, im Ofen verbrannt und sind dann desertiert!«

Nun wiederum kam Cholodny ins Grübeln. Er setzte sich an seinen Tisch und ließ erschöpft seine schweren Hände darauf sinken. Dann knöpf‌te er die Feldbluse oben auf, damit der Kragen seinen dicken Hals nicht länger einschnürte.

»Vernünftig argumentiert!«, sagte er anerkennend.

Seit der Kollege ins Dienstzimmer gekommen war, schien irgendetwas in der Luft zu liegen. Es roch nach Eingelegtem. Samson blickte zur Tür und schnupperte.

»Hast du nicht bald Geburtstag?«, setzte Cholodny das Gespräch fort.

»Woher weißt du das?«, wunderte sich Samson.

»Wassyl hat es erwähnt. Offenbar hat er in deiner Akte das Geburtsdatum gesehen.«

»Dieses Jahr lädt nicht zum Feiern ein«, sagte Samson beinahe schon traurig. »Mir ist gerade überhaupt nicht danach. Meinen Vater habe ich vor Kurzem begraben. Ich bin der Letzte aus unserer Familie.«

»Wo kommen wir denn da hin, nicht feiern, wo du doch direkt vor dem 1. Mai geboren worden bist.« Cholodny sah seinen Kollegen kritisch an. »Das ist praktisch ein Gebot Gottes!«

»Dir kann doch Gott nichts gebieten!«, erinnerte Samson den ehemaligen Priester mit einem spöttischen Lächeln an seine atheistischen Monologe.

»Natürlich nicht!«, pflichtete ihm Sergi bei. »Allerdings ist dein Geburtstag nicht allein für dich zum Feiern da! Das ist auch ein Festtag für deine Eltern – sie haben ihn schon gefeiert, als du noch kein vernünftiges Wort über die Lippen gebracht hast! Zu ihrem Gedenken solltest du feiern!«

Die Erwähnung seiner Eltern traf Samson ins Herz. Seine Gedanken schweif‌ten kurz in die Vergangenheit ab, seine Eltern und seine Schwester gingen ihm durch den Kopf. Dann nickte er.

»Gut, ich werde mir vielleicht etwas überlegen.«

»Was ist eigentlich in den Säcken?« Cholodny wechselte das Thema.

»Die Kleider der Vermissten aus der Banja«, erklärte Samson.

 

Plötzlich ging die Tür auf, und ganz unerwartet stand Abjasow mit einer Aktenmappe in der Hand da.

»Ein Gestank ist das hier bei euch!« Er schüttelte mürrisch den Kopf und hielt Samson die Mappe hin. »Najden hat gesagt, dass dir der Fall mit den Rotarmisten übertragen wurde. Hier eine Namensliste und die Personalkarten. Solltest du herausfinden, dass es sich um ein Verbrechen aus Klassenhass handelt, dann übergibst du den Fall sofort uns!«

Samson nickte.

»Und was ist das?« Der Blick des Tschekisten blieb an dem verkohlten Knochen haften. »Ein Überbleibsel vom Fleischfall?« Er betrachtete das unter dem Knochen liegende Schema für den richtigen Fleischschnitt beim Schwein näher. »Das ist es also – der Gestank von solchen Asservaten hat sich wahrscheinlich schon auf der ganzen Wache ausgebreitet!« Er deutete mit dem Kopf zur Tür.

Mit diesen Worten ging Abjasow wieder. Samson war der Geruch auch schon aufgefallen, doch er schien ihm nicht ganz so unangenehm.

Vom Hof war das Motorengeräusch eines abfahrenden Automobils zu hören.

»Magst du einen Hering?«, fragte Cholodny.

»Sehr gerne!«, antwortete Samson. »Kommt der Geruch daher?«

»Ja, am Flusshafen haben sie einen Lastkahn mit Heringsfässern gefunden. Der Laderaum war noch mit Siegeln von den Deutschen verschlossen! Die Matrosen haben die Heringe in aller Seelenruhe auf dem Roggenmarkt verkauft, so lange, bis die Agenten von der OprodgubKom die Männer genauer unter die Lupe genommen haben. Sie haben beobachtet, woher die Matrosen die Fässer angeschleppt haben, und dann mit der Sauerei Schluss gemacht. Jetzt werden die Heringe als Lebensmittelrationen verteilt. Dir stehen drei Heringe zu, weil du verheiratet bist. Du bekommst sie von Wassyl. Und meine beiden können wir jetzt zum Mittagessen verspeisen und ein wenig feiern!«

»Was denn feiern?«, fragte Samson vorsichtig, denn er vermutete, dass bestimmt wieder von seinem baldigen Geburtstag die Rede sein würde.

»Na ja, zumindest deinen ersten Erfolg!« Cholodny deutete auf den Knochen. »Aber räum ihn einstweilen weg, und das Schweineplakat dreh um, wir können es ja als Tischtuch verwenden.«

 

Während Cholodny den Hering holte, wickelte Samson den Oberschenkelknochen in eine Zeitung und packte ihn in die Aktentasche. Er ging mit dem Plakat zum Fenster, schüttelte die Kohlekrümel hinaus, dann legte er es mit der Illustration nach unten auf den Tisch, doch selbst jetzt, da das Schema für den richtigen Fleischschnitt aus den Augen war – aus dem Sinn war es nicht. Ganz besonders schmerzhaft erinnerte es ihn in diesem Augenblick daran, dass gerade er, Samson, heute um Mitternacht unter den Fall einen dicken Schlussstrich ziehen sollte, besser gesagt einen falschen Schlussstrich. Und so rief Schpakjewitschs Flucht noch vor der Erschießung in ihm nun auch keine heimliche Freude mehr hervor.

 

Das Mahl aus zerteilten Heringen begann dank Sergi enthusiastisch und freudig, die beiden bekamen aber solches Sodbrennen und derartigen Durst, dass es bald beendet war. Die Fische waren zwar nicht groß, aber umso stärker von Salzlake durchtränkt, und sie rochen auch irgendwie seltsam, als wäre etwas Chemisches untergemischt worden. Wahrscheinlich hatten sie zu lange in den Fässern gelegen. Geschmacklich unterschieden sie sich aber kaum von dem Hering, den Samsons Vater manchmal vor der Revolution im Gemischtwarenladen auf dem Kreschtschatik gekauft hatte, um ihn zum freitäglichen Gläschen Wodka zu verspeisen.

»Pass ein wenig mit dem Wasser auf«, sagte Wassyl, als er im Erdgeschoss am Trinkwassereimer mit Becher vorbeiging und Samson gierig trinken sah. »Das Wasser ist ein klein bisschen rostig. Für den Tee ist es noch gut genug, solange wir Zucker haben, aber so kann man Koliken bekommen!«

Samson hatte genug Wasser getrunken, rostigen Beigeschmack bemerkte er aber keinen, als er ins Dienstzimmer zurückkam. Das zum Tischtuch umfunktionierte Schema sah nicht einfach unansehnlich, sondern angesichts der momentan herrschenden Hungerzeit geradezu kriminell aus. Die Schwänze, Köpfe und Gräten zweier verspeister Heringe lagen in einer kleinen trüb-rosafarbenen Salzlakenpfütze. Um das alles verschwinden zu lassen, knüllte Samson das Plakat unter lautem Knistern zu einem Knäuel zusammen und stopf‌te es in den Mülleimer. Zum Glück war das Papier so dick, dass die Salzlake keine Flecken auf der Tischplatte hinterlassen hatte.

Samson setzte sich und öffnete die Mappe mit der Liste sowie den Personalkarten der verschwundenen Rotarmisten. In der Spalte der Familiennamen war an erster Stelle ihr Kommandant angeführt: Spektor, Iwan Jewgrafowitsch, geboren 1888, aus Odessa.

Samson stellte sich Spektor als Odessiter Juden vor, mit ruckartigen Bewegungen, wie es sich für einen Kommandanten gehört, mit heiserer Stimme, die davon herrührte, dass er Grobheiten durch die Gegend brüllte. Wie sollte man auch sonst mit gemeinen Soldaten umgehen, die nur allzu gern ein Auge auf fremdes Eigentum warfen, keine Disziplin kannten, aber ständig hungrige Mägen und Blicke hatten?

Kaum hatte Samson die Liste beiseitegelegt, schon erblickte er Spektors Personalkarte. Es herrschte Ordnung in der Mappe – zweifellos würde unter der Personalkarte des Kommandanten die jenes Rotarmisten zum Vorschein kommen, der als Nächster auf der Liste stand. Das brachte Samson auf den Gedanken, dass jemand mit Erfahrung die Dokumente geordnet hatte und nicht irgendein ehemaliger Bauer oder Arbeiter.

»Was ist?«, fragte Cholodny neugierig.

»Ich gehe davon aus, dass der Kommandant, der Genosse Spektor, im Ofen verbrannt worden ist«, erklärte Samson.

»Und wie sollen wir das beweisen?«

»Das weiß ich noch nicht.«

»Schädel hast du keinen gefunden?«

»Nein, die Schädelknochen sind offenbar dünner und sind im Feuer zu Asche zerfallen.«

»Das kommt hin«, pflichtete Cholodny ihm bei. »Asche zu Asche, Staub zu Staub. Aber mit dem Knochen kommen wir vielleicht weiter. Wenn wir Spektors Größe herausfinden, dann können wir vergleichen, ob sie zur Länge dieses Knochens passt.«

Samson warf seinem Kollegen einen zustimmenden Blick zu. ›Weshalb bin ich nicht selbst draufgekommen, einen Arzt zu fragen?‹ Er wunderte sich über sich. Er erinnerte sich gleich an Doktor Tretner, der zwar bestritten hatte, kranke Knochen durch silberne ersetzt zu haben, aber sehr wohl Aufsätze in deutschen medizinischen Zeitschriften darüber veröffentlicht hatte! Wie gerne hätte Samson ihn über den Knochen und seine Aufsätze befragt.

Plötzlich kam Samson auch Jakobson in den Sinn, und das verdarb ihm ein wenig die Laune. Wie sich herausgestellt hatte, war der belgische Narr gar nicht so närrisch gewesen: Immerhin war es ihm gelungen, die Rotarmisten zum Diebstahl des Anzugs und des silbernen Oberschenkelknochens aus dem Dienstzimmer des Ermittlers anzustiften! Samson verscheuchte die Gedanken an den Belgier, was ihm nur bedingt gelang – sie blieben in seinem Hinterkopf und schienen zu beobachten, was das für Gedanken waren, denen Samson stattdessen lieber nachhing.

»Ich weiß ganz genau, wen ich zu dem Knochen befragen kann!«, erklärte Samson lebhaft.

In diesem Augenblick tauchte in seinen Gedanken Fürstin Wera Ignatjewna Gedroitz, die Chirurgin, auf. Auch sie konnte helfen! Das würde sie bestimmt tun, war sie doch eine gute Bekannte von Doktor Watruchin. Im Gegensatz zu ihr war Doktor Tretner ein Schlitzohr und würde ihn vielleicht hinters Licht führen.

Samson blickte zur ledernen Aktentasche mit dem im Banja-Ofen gefundenen Oberschenkelknochen.

»Du hast vollkommen recht! Ich mache mich sofort auf den Weg und zeige den Knochen einer Chirurgin, die sich damit auskennt. Und du könntest in der Zwischenzeit die Taschen der Feldblusen und die Hosentaschen von den Rotarmisten inspizieren. Leg alles, was du findest, jeweils auf einen Stapel. Und noch etwas: Geh zu Wassyl, und bitte ihn, dass er hinter deinem Tisch achtundzwanzig Nägel in die Wand einschlägt. An die hängst du dann ihre Kleider, genau der Liste nach!« Er deutete mit dem Kopf auf die geöffnete Mappe auf dem Tisch, und Cholodny nickte zustimmend.

Kapitel 4

Von den Bäumen rund um das Alexander-Krankenhaus ertönte das grantige Krächzen der Kiewer Krähen. Aus der Krankenhauskirche zum heiligen Michael wurde der Leichnam eines Mannes getragen, dessen Totenmesse gerade zu Ende gegangen war. Die Sonne schien.

Samson hatte Glück und Pech in einem – er traf Wera Ignatjewna Gedroitz zwar in der chirurgischen Abteilung des Krankenhauses an, musste aber über eine Stunde auf einem Stuhl vor dem Operationssaal sitzen, bis er mit ihr sprechen konnte. Schlussendlich kam sie erschöpft in einem weißen Kittel mit Blutflecken heraus. Sie schüttelte traurig den Kopf, den Besucher, der auf sie wartete, hatte sie noch nicht bemerkt und wollte schon davongehen.

»Wera Ignatjewna, verzeihen Sie die Störung!« Samson stand auf, die Aktentasche ließ er auf dem Boden stehen.

Er hatte nicht gegenüber der Tür gesessen, daher war er der Fürstin nach getaner Arbeit im Operationssaal nicht sofort aufgefallen.

»Ja?« Sie blickte zu ihm auf.

»Ich bin Samson Koletschko von der Miliz. Kürzlich haben Sie ein paar Kugeln aus mir herausoperiert.«

»Junger Mann, ich operiere jeden Tag Kugeln aus jemandem heraus!«, sagte sie mit einem milden Lächeln.

»Selbstverständlich«, antwortete Samson sofort. »Aber ich benötige unbedingt Ihren Rat, wirklich nur ganz kurz!«

»Kommen Sie mit«, seufzte Wera Ignatjewna.

In ihrem Behandlungszimmer zog sie gleich den Kittel aus, warf ihn in einen Korb, der an der Wand stand, und nahm einen anderen, sauberen, von der Garderobe.

»Machen Sie sich frei, zeigen Sie her!«, befahl sie Samson, während sie an ihrem Schreibtisch Platz nahm.

»Nein, die Wunde tut nicht weh. Damit ist alles in Ordnung.« Samson setzte sich ihr gegenüber und zog den in das Papier eingewickelten Knochen aus der Aktentasche. »Den habe ich in der Banja beim Jüdischen Markt gefunden, im Ofen. Dort sind Rotarmisten verschwunden. Könnten Sie feststellen, von wem der war?«

Wera Ignatjewna nahm den Knochen in die Hand und betrachtete ihn eingehend.

»Zumindest war das kein Rotarmist«, sagte sie überzeugt. »Möglicherweise eine Rotarmistin, aber sicher kein Rotarmist!«

»Eine Frau?«

Die Chirurgin nickte.

»Da war keine Frau.« Samson schüttelte nachdenklich den Kopf.

»Woher wissen Sie das?« Wera Ignatjewna lächelte. »Haben Sie sich mit ihnen zusammen in der Banja gewaschen?«

»Ich habe eine Liste der gesamten Einheit …«, sagte Samson und begriff im selben Moment, dass dieses Argument nicht sehr überzeugend war. Aber da fiel ihm ein anderes Argument ein. »Wenn unter ihnen eine als Mann verkleidete Frau gewesen wäre, wäre sie nicht mit den Männern in die Banja gegangen!«

»Da haben Sie recht«, stimmte ihm Wera Ignatjewna zu. »In diesem Fall hat der Knochen keinerlei Bezug zur Roten Armee.«

Samson wollte zum Abschied nichts Dienstliches, sondern etwas Persönliches erzählen, also berichtete er der adeligen Chirurgin davon, dass Doktor Watruchin immer noch bei ihnen wohnte, dass er gesund und munter war. Samson hatte den Eindruck, dass sie diese Neuigkeit interessierte.

»Richten Sie ihm einen Gruß aus. Er soll doch einmal vorbeikommen«, sagte sie. »Oder kommen Sie gemeinsam. Sie waren doch schon einmal bei mir, erinnere ich mich!«

»Ja, zusammen mit ihm.«

»Na also, dann finden Sie ja zu mir! Ich würde mich freuen.«

 

Auf dem Weg in die Tarassowskaja schwirrte Samson eine Unmenge an Gedanken durch den Kopf, einer setzte ihm mehr zu als der andere, und alle verstärkten sie seine derzeitige Verunsicherung. Er war schon versucht, den verkohlten Knochen in einen Mülleimer zu werfen, und dachte über eine überzeugende Erklärung für Najden nach, fand aber keine. Als er sich der Lybedsker Wache näherte, genauer gesagt, als auf der rechten Seite die Sternwarte der Universität auf‌tauchte, gelang es Samson endlich, sich wieder zusammenzunehmen. Dafür musste er allerdings stehen bleiben, sich in dieser fast völligen Reglosigkeit ein Herz fassen und all seine Willenskraft aufwenden, um Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Erst da ging ihm plötzlich ein Licht auf: Menschliche Knochen konnten nicht einfach so in einen Banja-Ofen gelangen. Das bedeutete, dass er bei der Aufklärung eines Verbrechens zufällig auf ein anderes gestoßen war, und zum Opfer des anderen Verbrechens, einer Frau, gehörte dieser Oberschenkelknochen. Der Täter oder Komplize des Verbrechens konnte in diesem Fall nur der Heizer sein!

Der verhaftete Heizer Ignat war eine halbe Stunde vor Samsons Eintreffen auf die Wache gebracht worden. Kaum dass Samson das Dienstzimmer betrat, berichtete ihm Cholodny schon davon.

»Befrag ihn gleich, solange er noch von der Fahrt durchgeschüttelt ist«, riet er ihm.

Samson hängte seine Jacke über den Stuhl, legte die Ledermütze auf den Tisch und nahm nur die Aktentasche mit.

 

Im Verhörzimmer roch es nach saurer Milch. Samson hätte gerne frische Luft hereingelassen, allerdings gab es weder ein Fenster noch ein Oberlicht. Der am Boden angekettete Hocker stand schief. Aber Samson hatte sich bereits an den Tisch gesetzt, Papier, Tinte sowie Federhalter vor sich hingestellt und wollte nicht mehr aufstehen. Wenn er etwas gewollt hätte, dann seinen Gürtel lockern oder ihn sogar zusammen mit dem schweren hölzernen Holster abnehmen.

Der wachhabende Rotarmist, der den Verhafteten holen sollte, war nicht gerade schnell. Das gab Samson ein wenig Zeit, über die Fragen nachzudenken.

Er ertappte sich bei dem Gedanken, dass er jetzt eigentlich nicht den Heizer aus der Banja erwartete, sondern Briskin, der illegal mit Fleisch gehandelt hatte. Briskins Gesicht tauchte in seinem Kopf auf, vom Heizer hatte er gar kein Bild, obwohl er schon mit ihm gesprochen hatte.

Die Tür sprang auf, und der Rotarmist stieß den Verhafteten mit vorne gefesselten Händen in den Raum.

»Setzen Sie sich!«, befahl ihm Samson. »Du wartest draußen vor der Tür!«, sagte er zum Rotarmisten.

Jetzt erkannte Samson den Heizer, auch wenn das Licht der Lampe nicht sehr hell war. Seine großen Ohren riefen bei Samson einen Augenblick lang einen gewissen Neid hervor. Zu diesen Ohren hätte ein dichter Vollbart gepasst, aber an Ignats schmalem Kinn war nur ein fein säuberlich gestutztes Spitzbärtchen zu sehen, das man eher bei einem Universitätsprofessor erwartet hätte.

»Fangen wir beim Anfang an!« Samson verschaffte sich die Aufmerksamkeit des Verhafteten. »Ich bitte Sie, auf Fragen zu Ihrer Person kurz und präzise zu antworten. Familienname, Vorname und Vatersname.«

»Mratschkowski Ignat Ustimowitsch«, antwortete der Heizer mit zitternder Stimme.

»Geburtsjahr?«

»1877.«

Die darauf folgenden Standardfragen schienen den Heizer einzulullen. Seine Stimme zitterte nicht mehr, war aber weiterhin leise und angsterfüllt.

»Wie viele Menschen hast du im Ofen verbrannt?«, fragte Samson plötzlich nach den harmlosen biografischen Angaben.

Das Gesicht des Heizers erstarrte. In seinem Blick lag Panik.

»Ich habe nicht, ich …« Seine Stimme zitterte wieder. »Ich habe niemanden … Warum sollte ich? Ich bin überhaupt … Ich bin erst eine Woche dort, davor war ich Heizer in der Karawajewski-Banja … Sie haben mich abgeworben, weil ihr alter Heizer nicht mehr zur Arbeit gekommen ist … Sonst wäre ich in der anderen Banja geblieben.«

»Womit haben sie dich abgeworben?«, wollte Samson wissen und riss seinen Blick von dem Blatt Papier los, auf dem er schnell mit Abkürzungen die Antworten des Verhafteten notierte.

»Mit Bakschisch aus der schwarzen Kasse und allem Möglichen sonst noch.«

»Bakschisch?« Samson verstand nicht.

»Na ja, mit Schmiergeld«, erklärte Ignat.

Samson beugte sich zur Aktentasche und zog langsam den in Papier eingewickelten Knochen heraus. Er packte ihn direkt auf dem Tisch aus und streckte ihn dem Heizer entgegen, dass der ihn besser sehen konnte.

»Wer ist das?«, fragte Samson.

Der Heizer schluckte immer wieder nervös und starrte den verkohlten Knochen an.

»Weiß der Himmel!«, murmelte er.

»Du weißt es nicht?«

»Nein …«

»Den habe ich aus deinem Banja-Ofen geholt. Ist da vielleicht noch etwas drin?«

»Bei Gott, ich habe keine Ahnung!«, stotterte der Heizer. »Ich habe niemanden verbrannt! Nur Holz! Und wenn ich am Morgen die Asche zusammengefegt habe, waren da keine Knochen!«

»Was heißt, da waren keine? Und was ist das?« Samson hielt den Knochen höher.

»Vielleicht hat der schon lange da gelegen?«, fragte Ignat. »Ganz hinten? Da bin ich ja nicht hingekommen!«

»Du bist nicht hingekommen, aber ich schon?« Samson grinste höhnisch und tauchte die Feder ins Tintenfass. »Ich habe einfach den Schürhaken genommen und bin hingekommen, aber du hast das nicht geschafft!«

»Aber wieso denn mit dem Schürhaken?«, fragte der Heizer erstaunt. »Dafür ist der Schürhaken nicht da. Den verwendet man, um die Glut im Ofen zu verteilen. Der Ascheschieber hat nur einen kurzen Stiel, mit dem wäre ich nie hingekommen!«

»Was für ein Ascheschieber?«

»Na der, mit dem man die alte Glut zusammenkratzt. So eine Art Schaufel zum Schaben«, erklärte Ignat.

Samson schüttelte misstrauisch den Kopf.

»Was weißt du über den alten Heizer?«

»Nichts weiß ich! Er wohnt auf der Truchanow-Insel. Vielleicht hatte er es einfach satt, jeden Tag zweimal den Dnjepr mit dem Boot zu überqueren. Und wenn einer kein eigenes Boot hat, dann muss er auch noch den Fährmann bezahlen. Er war überhaupt seltsam, haben sie erzählt. Er hat immer gern ins Feuer geschaut.«

»Und da sagst du, dass du nichts weißt. Wie heißt er denn?«

»Schora Protalin, glaube ich. Er hat wenig mit den Leuten in der Banja zu tun gehabt, war schweigsam, und getrunken hat er auch nicht.«

»Und mit wem hast du in der Banja zu tun?«

»Mit dem Hühneraugenbehandler trinke ich hin und wieder etwas und mit dem Garderobenmeister. Sonst mit niemandem!«

Im Laufe des Gesprächs gelang es Samson nicht nur, alles zu notieren, sondern auch dort und da Anmerkungen für die Zukunft zu machen, mit wem er reden und welche Fragen er stellen sollte.

Nach zwei langen Stunden war Samson erschöpft und beschloss, das Verhör zu unterbrechen.

Als er ins Dienstzimmer zurückkehrte, sah er zu seiner Verwunderung, dass Cholodny auf beiden Tischen Stapel aus Papieren und anderen Kleinigkeiten aus den Taschen der Rotarmisten aufgetürmt hatte.

»Nicht anfassen!«, warnte er Samson. »Sonst komme ich durcheinander. Ich habe mich so schon genug herumgeplagt mit diesem Zeug.«

»Wo sind die Sachen von Kommandant Spektor?«, fragte Samson.

Cholodny schaute sich auf Samsons Tisch um und zeigte dann auf den richtigen Stapel.

Samson nahm den kleinen Stoß Papiere und Ausweise in die Hand und ging damit zum Fenster. Die Ausweise und gestempelten Passierscheine blätterte er durch, aber ein Brief mit einem Absender aus Odessa erweckte seine Aufmerksamkeit.

»Mein geliebter Josja! Wir warten schon so lange vergebens auf Dich. Es wird jetzt weniger geschossen in Odessa, mehr in der Nacht als untertags. Danke für das Päckchen mit Zucker! Salz haben wir noch, aber Deine Geige haben wir bei den Nachbarn gegen einen Sack Mehl eingetauscht. Wenn alles vorbei ist, tauschen wir sie wieder zurück! …«

»Hast du kein Sodbrennen?«, fragte Cholodny unvermittelt.

»Doch, hatte ich«, gestand Samson. »Vom Hering.«

»Ich werde es schon seit mehreren Tagen nicht los. Das hat bereits vor dem Hering begonnen.«

»Nimmst du Soda?«

»Ja, aber es hilft nicht.«

»Ich werde den Doktor fragen«, versprach Samson.

Da fiel ihm ein, dass er gleich auf ein Stündchen zu Hause vorbeischauen könnte, um Nadjeschda zu sehen, zu Abend zu essen und Doktor Watruchin für Cholodny um Rat zu fragen.

Das sagte er Cholodny, woraufhin dieser einen Essenscoupon aus der Brusttasche seiner Feldbluse zog und ihn angestrengt betrachtete.

»Ich gehe auch. In die Kantine! Ich habe heute ja gar nicht zu Mittag gegessen«, erwiderte er.

Kapitel 5

»Nikolai Nikolajewitsch, das haben Sie wirklich wunderbar gemacht!«, platzte Nadjeschda überschwänglich heraus, wobei ihr Blick nicht auf den Doktor gerichtet war, der ihr gegenübersaß, sondern auf den Teller mit Borschtsch. »Haben Sie das Kochen von Ihrer Mutter gelernt?«

»Ach, woher denn, Nadjenka, natürlich nicht! Meine Mutter war vom alten Schlag! Für sie waren alle Männer per se in der Küche nicht zu gebrauchen!«, antwortete Watruchin. »Und wie schmeckt Ihnen unser Borschtsch?« Der Doktor wandte sich unvermittelt an Samson.

»Sehr!«, antwortete dieser und kaute auf einem im Borschtsch weich gekochten Schweineohr herum, das erstaunlich zart war. »Ich wäre nicht draufgekommen, dass man damit das Fleisch im Borschtsch ersetzen kann!«

»Wer sagt Ihnen denn, dass Ohren kein Fleisch sind?« Watruchin schmunzelte. »Es muss also in Zukunft nur dafür gesorgt werden, dass immer Rote Bete, Kraut und Kartoffeln im Haus sind! Möchten Sie einen Nachschlag?« Der Doktor sah wieder zu Samson hinüber, der seinen Suppenteller bereits geleert hatte.

»Nein, danke.« Samson lächelte gequält. »Wenn ich zu viel esse, dann werde ich schläfrig. Ich muss aber heute noch zum Dienst, so gegen Mitternacht.«

»Was wird heute bei Ihnen auf der Wache um Mitternacht veranstaltet?«, erkundigte sich Doktor Watruchin ein wenig beunruhigt. »Eine Milizandachtnacht?«

»So etwas Ähnliches«, antwortete Samson angespannt. »Nur darf ich nicht darüber reden!«

»Natürlich, das versteht sich! Junger Mann, Sie sind recht schnell den Kinderschuhen entwachsen. Mehr oder weniger in zwei Monaten.« Watruchin schüttelte den Kopf – seine Worte klangen weder begeistert noch verwundert, sondern lediglich nach der Feststellung einer Tatsache. »Ich erinnere mich, Sie waren praktisch noch ein Halbwüchsiger, als Sie nach der Ermordung Ihres Vaters zu mir gekommen sind! Und nun sehe ich einen ernsten und selbstständigen Mann in der Blüte seiner Jahre vor mir. Nur dass die Zeit Ihrer Blüte wirklich eine unglückliche ist. Eine Zeit der Wirren.«

Es herrschte angespannte, drückende Stille, als hinge eine Gewitterwolke über dem Tisch. Nadjeschda versuchte, sie mit ihren hastigen Bewegungen zu verjagen, indem sie gekochte Perlgraupen in die bereits verwendeten Suppenteller schöpf‌te. Samsons Frau trug noch immer ihre Dienstkleidung: eine strenge hellblaue Bluse und einen langen schwarzen Rock. Aus diesem Grund sah sie auch bei Tisch wie eine verantwortungsvolle Beamtin aus.

»Butter würde gut dazu passen, aber wir haben keine mehr«, flüsterte sie beinahe schon. »Esst nur, esst! Für mich wird es Zeit zum Schlafengehen! Ich habe morgen einen langen und wichtigen Tag! Um sieben Uhr müssen wir alle am Sammelplatz sein!«

»So früh?«, fragte Watruchin verwundert. »Und was werden Sie da machen? Oder ist das auch ein Dienstgeheimnis?« Er schielte zu Samson hinüber.

»Aber warum denn ein Geheimnis?« Nadjeschda winkte ab. »Wir führen eine dringliche Inventarisierung der Flusstransportmittel durch und zählen Dampfschiffe, Boote und Lastkähne. Wohl wegen dem Beginn der Schifffahrtssaison!«

»Die Schifffahrt auf dem Dnjepr hat schon vor einem Monat begonnen. Doch wohl eher zum Beginn der Nationalisierungssaison«, berichtigte Watruchin sie scherzhaft. »Üblicherweise wird bei uns alles erst gezählt, bevor man so frei ist, sich zu bedienen.«

»Nationalisierung ist kein Diebstahl! Das passiert nach dem Gesetz«, erklärte Nadjeschda. »Essen Sie, bevor es noch kalt wird«, fügte sie in ziemlich kühlem Ton hinzu, womit sie zu verstehen gab, dass sie dieses Gespräch nicht fortsetzen wollte.

Beim Tee jedoch besserte sich die Laune aller drei wieder. Auch Nikolai Nikolajewitsch Watruchin erschien Samson nun umgänglicher und seine Frau Nadjeschda weniger streng. Was von diesem Essen in Erinnerung blieb, war letztlich der Geschmack von Aprikosen, denn der Doktor stellte ein Glas Aprikosenkompott auf den Tisch, das er, wie sich herausstellte, an diesem Morgen von einem Stammpatienten als Honorar bekommen hatte.

Samson pustete auf den heißen Tee und betrachtete die ganzen orangefarbenen Früchte hinter dem grünen Glas. Die essbaren Honorare des Doktors bereicherten immer wieder ihre nicht sonderlich abwechslungsreichen Mahlzeiten. Freilich waren sie meist süß – entweder Honig oder Marmelade, nur in ganz seltenen Fällen gab es auch in Salzlake eingelegte Äpfel oder Salzgurken. Nicht dass jemand geräucherten Schweineschinken oder getrocknetes Rindfleisch hätte springen lassen. Dennoch wäre es eine Sünde gewesen, sich zu beklagen. Der Doktor besaß einen liebenswürdigen und freundlichen Charakter, vielleicht brachten die Patienten ihm deshalb süße Geschenke und nichts Salziges! Fürstin Wera Gedroitz, die Chirurgin, hingegen war ein trockener Mensch und zuweilen scharfzüngig im Umgang. Wahrscheinlich bekam sie aus diesem Grund nichts Süßes, sondern Schinken geschenkt!

Bei diesen Gedanken musste Samson lächeln und warf einen wohlwollenden Blick auf den Doktor.

»Nikolai Nikolajewitsch, ich soll Ihnen einen Gruß ausrichten!«

»Von wem?« Watruchins Neugier war geweckt.

»Von Frau Gedroitz. Ich war aus dienstlichen Gründen bei ihr. Sie hat uns zu sich nach Hause eingeladen!«

»Dieser Einladung müssen wir unbedingt folgen – sie ist eine wunderbare Gastgeberin. Erinnern Sie sich?«

Samson nickte, Nadjeschdas eindringlichen Blick bemerkte er aber nicht.

»Ihr könnt noch sitzen bleiben, ich gehe jetzt schlafen«, sagte sie und erhob sich. »Draußen ist es schon richtig dunkel, beinahe wie um Mitternacht.«

Das Wort »Mitternacht« traf Samson mitten ins Herz, und es lief ihm kalt den Rücken hinunter. Er stand ebenfalls auf, stapelte die Teller aufeinander und trug sie in die Küche.

Überrascht vom jähen Ende des Gesprächs, zuckte Watruchin mit den Schultern, machte aber trotz der schummrigen Beleuchtung, die dem schwachen Strom geschuldet war, keine Anstalten, sich vom Tisch zu erheben. Erst als er das Klappern des Geschirrs aus der Küche hörte, stand er auf und trug die Tassen und Untertassen dorthin, wo das Plätschern herkam.

 

Es war kurz vor elf Uhr abends, und der beinahe volle Mond beleuchtete die menschenleere Schiljanskaja. Die Luft erschien trotz des relativ warmen Tages nasskalt und zäh, als wäre sie mit Kleister vermischt worden. Der böige Wind verirrte sich in den Kiewer Straßen und Höfen, weshalb er nicht nach Nord oder Süd wehte, sondern einem ins Gesicht oder in den Rücken blies, und die nasskalte Luft kroch einem unter den Kragen oder sogar unter die Mütze.