Samson und Nadjeschda - Andrej Kurkow - E-Book

Samson und Nadjeschda E-Book

Andrej Kurkow

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Beschreibung

Kiew, 1919: In den Wirren nach der Russischen Revolution stößt der junge Samson, gerade zur Vollwaise geworden, beinahe durch Zufall zur neuen sowjetischen Polizei. Sein erster Fall ist gleich äußerst mysteriös: Ein abgeschnittenes Ohr, ein Knochen aus reinem Silber und ein Anzug aus feinem englischem Tuch geben ihm Rätsel auf. Doch die Zeiten sind gefährlich und halten jeden Tag neue Überraschungen bereit. Zum Glück lernt Samson die patente Nadjeschda kennen, die ihm bei den Ermittlungen hilft und an die er schon bald sein Herz verliert.

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Andrej Kurkow

Samson und Nadjeschda

Roman

Aus dem Russischen von Johanna Marx und Sabine Grebing

Mit Illustrationen von Jurij Nikitin

Diogenes

Wsjewolod Jewgenjewitsch Dmitrijew gewidmet,

dem leidenschaftlichen Archivar und Idealisten,

der Gewalt verabscheute.

Kapitel 1

Das Geräusch des Säbels, der auf den Kopf seines Vaters krachte, betäubte Samson. Aus dem Augenwinkel sah er das Aufblitzen einer funkelnden Klinge und trat in eine Pfütze. Der linke Arm seines bereits toten Vaters stieß ihn zur Seite, und so traf der nächste Hieb nicht Samsons rothaarigen Kopf, aber auch nicht daneben – er schlug ihm das rechte Ohr ab, Samson sah es fallen, konnte noch die Hand ausstrecken, fing es auf und hielt es fest umschlossen in der Faust, während sein Vater mit gespaltenem Schädel direkt auf die Straße stürzte und das Pferd ihn mit einem beschlagenen Hinterhuf noch einmal niedertrat. Der Reiter gab dem Tier die Sporen und stürmte weiter die Straße herunter, wo sich ein Dutzend fliehender Kiewer schon in die Gräben warfen, weil sie begriffen, was sie erwartete. Dem ersten Reiter folgten noch fünf weitere.

Aber Samson sah sie schon nicht mehr. Er lag im Graben, die linke Hand in die nasse Erde gedrückt, den Kopf auf die rechte Faust gelegt. Die Wunde an seinem Kopf brannte, brannte laut und dröhnend, als würde über ihr jemand absichtlich auf eine Eisenbahnschiene hämmern. Heißes Blut floss ihm über den Kiefer zum Hals und in den Kragen.

Es begann wieder zu regnen. Samson hob den Kopf, blickte zur Straße und sah das verdrehte Bein seines Vaters, das ihm die Schuhsohle zukehrte. Die dunkelblauen englischen Knopfstiefel sahen sogar dreckverschmiert noch edel aus. Seit sechs Jahren hatte der Vater sie ständig getragen und sorgsam gepflegt, seit dem Jahr 1914, als der Schuhhändler auf dem Kreschtschatik, dem großen Boulevard in Kiews Zentrum, aufgeschreckt vom Kriegsausbruch, den Preis gesenkt hatte, weil er zu Recht annahm, dass Krieg nicht die beste Zeit für den Verkauf von Modeartikeln war.

Samson wollte seinen toten Vater nicht mit dem zerschlagenen Schädel sehen. Deshalb taumelte er rückwärts durch den Graben, das Ohr fest in der Hand. Irgendwann kletterte er wieder auf die Straße, er stand da, mager und gebeugt, und verbot es sich, zurückzuschauen. Er ging ein paar Schritte, stieß auf eine Leiche und lief um sie herum, da brach wieder das schreckliche Geräusch über ihn herein, strömte wie flüssiges Blei durch das abgeschlagene Ohr in seinen Kopf. Er presste die Faust auf die blutende Wunde, versuchte sie gleichsam zuzustopfen und das in den Kopf eindringende Getöse auszusperren. Und rannte los, einfach geradeaus und gleichzeitig dorthin, von wo er mit dem Vater hergekommen war: in Richtung der heimatlichen Schiljanskaja-Straße. Durch das Getöse in seinem Kopf hindurch hörte er vereinzelte Schüsse, aber das hielt ihn nicht auf. Er rannte an verstört sich umblickenden und ziellos umherhastenden Kiewern vorbei. Gerade als er fühlte, dass seine Kräfte ihn verließen und er nicht mehr weiterkonnte, blieb sein Blick an einem großen Schild über der Tür eines freistehenden, zweistöckigen Hauses hängen: »Behandlung von Augenkrankheiten. Doktor N.N. Watruchin«.

Er lief zu der Haustür und zog mit der linken Hand am Türgriff. Sie war verschlossen.

»Machen Sie auf!«, schrie er und begann mit den Fäusten an die Tür zu trommeln.

»Was wollen Sie?«, war eine verängstigte Frauenstimme zu hören.

»Ich brauche einen Arzt!«

»Nikolai Nikolajewitsch behandelt heute nicht!«

»Er muss! Er muss mich behandeln!«, flehte Samson.

»Wer ist da, Tonja?«, ertönte ein entfernter tiefer Bariton.

»Jemand von der Straße«, antwortete die Frauenstimme.

»Lass ihn rein.«

Die Tür öffnete sich ein wenig. Eine alte Frau sah den blutüberströmten Samson durch den Spalt an, ließ ihn im nächsten Augenblick herein und sperrte sofort mit einem Schlüssel und zwei großen Türriegeln hinter ihm zu.

»Ach Gott! Wer hat Ihnen das angetan?«

»Kosaken. Wo ist der Doktor?«

»Kommen Sie.«

Der glattrasierte, grauhaarige Arzt versorgte die Wunde schweigend, legte einen Wattebausch mit einer Creme auf und wickelte Samson eine Binde um den Kopf.

Von der Stille der Wohnung ein wenig beruhigt, sah Samson ihn mit stummer Dankbarkeit an und öffnete seine rechte Faust vor ihm.

»Kann man das Ohr irgendwie annähen?«, fragte er kaum hörbar.

»Das kann ich Ihnen nicht sagen«, der Arzt wiegte traurig den Kopf. »Mein Metier sind die Augenkrankheiten. Wer hat Sie so zugerichtet?«

»Ich weiß nicht.« Samson zuckte die Achseln. »Kosaken.«

»Die rote Gesetzlosigkeit«, sagte Watruchin und seufzte tief.

Er ging zu seinem Tisch, wühlte in der obersten Schublade, zog eine kleine Puderschachtel heraus und hielt sie Samson hin.

Samson nahm den Deckel ab, sie war leer. Der Arzt riss einen Fetzen Watte ab und bedeckte damit den Boden der Schachtel. Samson legte sein Ohr hinein, verschloss sie und steckte sie in die Seitentasche seiner Feldjacke.

Dann hob er den Blick zum Arzt.

»Mein Vater liegt noch dort.« Samson seufzte schwer. »Auf der Straße. Mit einem Säbel erschlagen.«

Der Arzt schnalzte kummervoll mit der Zunge und schüttelte den Kopf. »Läuft man denn etwa heutzutage auf den Straßen herum?« Er breitete die Arme aus. »Und was wollen Sie jetzt tun?«

»Ich weiß nicht, ich muss ihn dort wegholen …«

»Haben Sie Geld?«

»Er hatte welches, in seinem Portemonnaie. Wir wollten beim Schneider einen Anzug abholen.«

»Gehen wir.« Watruchin wies auf die Tür zum Flur.

 

Jetzt waren die Straßen menschenleer. Irgendwo in der Ferne wurde geschossen. Der Himmel beugte sich noch tiefer über die blutgetränkte Stadt, als wollte er sich für die Nacht auf ihre Dächer und Friedhöfe legen.

Als sie die Nemezkaja erreichten, in der die Kosaken Samson und seinen Vater erwischt hatten, sahen sie vor sich zwei Pferdefuhrwerke und ein Dutzend Männer. Auf den einen Wagen hatte man schon mehrere Tote gehoben, aber Samsons Vater lag noch wie zuvor am Straßenrand. Nur war er jetzt barfuß, jemand hatte sich die englischen Knopfstiefel genommen. Samson beugte sich über den Leichnam und versuchte dabei nicht auf den Kopf zu schauen. Er fuhr mit der Hand in den Mantel, ertastete in der Innentasche das Portemonnaie und zog es heraus. Dessen Dicke überraschte ihn und machte ihn verlegen. Er steckte es ein, stand auf und blickte zu den Fuhrwerken hinüber.

»Brauchen Sie einen Kutscher?«, fragte ein Mann, der das Pferd eines leeren Fuhrwerks beim Zaum hielt.

»Ja.« Samson nickte und sah sich nach dem Arzt um.

»Welcher Bestatter ist hier in der Nähe?«, fragte der Arzt den Mann.

»Zu Gladbach ist es am nächsten«, antwortete der. »Haben Sie Geld? Aber bloß keine Karbowanzen, die sind nichts wert!«

»Wir haben Kerenski-Rubel«, sagte der Arzt.

»Gut.« Der Mann nickte. »Ich helfe Ihnen, Sie machen sich schmutzig.«

Samson blickte auf seine eigenen befleckten Hosen und die schmutzige Jacke und bückte sich gleichzeitig mit dem Mann nach dem Leichnam seines Vaters.

Der 11. März 1919 war zu dem Tag geworden, der einen Strich unter sein vergangenes Leben zog.

Kapitel 2

»Den Mantel sollten Sie sich nehmen«, sagte mit polnischem Akzent der Chefgehilfe des Bestatters. »Man wird nicht im Mantel begraben, dort wärmt er nicht. Aber er muss etwas an den Füßen haben.«

Der Leichnam des Vaters lag in einem grob gezimmerten Sarg. Sein Kopf, von einem Quadrat lilafarbener chinesischer Seide bedeckt, erschien unversehrt. Ein Angestellter des Bestattungshauses hatte ihn mit einer Binde umwickelt, um die Schädelhälften zusammenzuhalten.

»Und dieses Brett hier?« Samson wies mit dem Blick auf eine Seitenwand des Sarges, die eindeutig zuvor schon anderswo Verwendung gefunden hatte.

»Wissen Sie, wir haben doch unsere Sägerei bei Fastow, aber da kommt man jetzt nicht hin, und falls doch, dann kommt man nicht mehr zurück«, sagte der Chefgehilfe. »Wo nicht genug gutes Holz vorhanden war, haben sie etwas von einem umgefallenen Zaun genommen … Es gibt zu viele Kunden, die Tischler kommen nicht nach … Vielleicht ist Ihr Vater an diesem Zaun ja auch öfter vorbeigegangen.«

 

Auf dem für gewöhnlich wenig besuchten Friedhof auf dem Schtschekawiza-Hügel über dem Dnjepr herrschte diesmal Lärm. Selbst das Krächzen einer Hundertschaft Krähen, die sich die Krone einer mächtigen Eiche bei den Gräbern der Altgläubigen ausgesucht hatten, konnte diesen Lärm nicht übertönen. Vom Rand des Friedhofs, vom Abhang her drangen Unruhe, Weinen, wütende und gleichzeitig traurige Stimmen herüber. Samson selbst befand sich irgendwo in der Mitte, er stand da und sah zu, wie die beiden Arbeiter, die der Chefgehilfe aufgetrieben hatte, eine schmale Grube zwischen alten Gräbern aushoben. Hin und wieder trat er ein paar Schritte zur Seite, damit ihm die aus der Grube herausgeworfene graubraune Erde nicht auf die Schuhe fiel.

»Tiefer gehts nicht«, rief der eine von unten. »Da sind schon Särge.«

Offenbar um seine Worte zu untermauern, schlug er mit der Schaufel auf Holz, das zur Antwort dumpf und kläglich tönte.

Samson spähte hinunter. »Passt der Sarg denn da rein?«

»Wenn wir schieben, passt er«, war die Antwort. »Vielleicht lässt er sich ein bisschen drücken.«

Von rechts schaute ein dunkel gewordenes Brett vom Sarg seiner Mutter heraus, die sie hier fünf Jahre zuvor begraben hatten. Sie war kurz nach seiner Schwester Verotschka gestorben, nachdem sie sich mit deren Lungenentzündung angesteckt hatte. Und jetzt legte sich also auch sein Vater als Dritter dazu und ließ ihm, Samson, im Familiengrab keinen Platz mehr übrig.

Er hob den Blick zum Grabmal, einem Baum aus Beton mit abgehackten Zweigen und der eingravierten Inschrift »Koletschko Verussja, Koletschko Sinaida Fjodorowna. Ruhet in Frieden. Von Vater, Mutter und Bruder«.

Die Inschrift verstörte Samson in Gedanken plötzlich.

 

An Seilen ließen die Männer den Sarg hinunter. Sein schmales Fußende fand mühelos Platz am Grund des Grabes, sein Kopf‌teil blieb zwei Fuß oberhalb stecken.

Die Männer schlugen an der engen Stelle mit ihren Schaufeln graubraune Erde weg, und der obere Sargteil sank zwei Handbreit tiefer.

»Weiter wirds jetzt nicht gehen«, bemerkte der eine Arbeiter kopfschüttelnd. »Aber später setzt es sich. So ist es immer. Es setzt sich immer.«

Samson nickte. Und spürte, wie sein Verband ins Rutschen kam. Er tastete nach dem Knoten über dem abgeschlagenen Ohr, löste ihn und band ihn neu fest.

»Tut es weh?«, fragte der Arbeiter teilnahmsvoll.

»Nein«, antwortete Samson. »Es zieht nur.«

»So ist es immer«, sagte der Mann und nickte mit der Miene eines Weisen, der alles verstand. Darauf zog er eine zerknautschte Schirmmütze aus der Tasche seiner Steppjacke und setzte sie auf.

Die Männer erhielten ihren Lohn und gingen zu ihrem Fuhrwerk. Samson blieb allein zurück. In diesem Augenblick schaute hinter den dunklen Wolken die Sonne hervor, und unter ihren Strahlen verstummte gleichsam alles auf dem Friedhof. Die Krähen waren still geworden. Auch vom Abhang her war kein Lärmen und Weinen mehr zu hören. Alles war in Deckung gegangen und hielt den Atem an. Alles außer dem kalten Märzwind.

Die graubraunen Flecken Erde auf dem alten, verkrusteten Schnee rings um das frische Grab kamen Samson wie Blutflecken vor.

 

Den beschmutzten guten Mantel des Vaters hängte Samson, nachdem er den Kragen und die wattegepolsterten Schultern abgewaschen hatte, in die linke Hälfte des Schranks, der im Wohnzimmer stand; in der rechten hingen noch die Kleider seiner Mutter und ihr geliebter grauer Fuchspelz.

Er betrat das Arbeitszimmer des Vaters. In dieses kleine, aber gemütliche Zimmer mit dem einen Fenster, das auf die Straße hinausging, hatte er selten hineingeschaut. Der Vater hatte auf seinem Schreibtisch deutsche Ordnung gehalten. Zur Rechten lag am Rand der Tischplatte ein Abakus, ein Geschenk vom Inhaber der Handelsfirma, in der sein Vater bis zum Tag ihrer Schließung vor einem Jahr die Bücher geführt hatte. Den Nussholzrahmen des Abakus zierten ringsum Einlegearbeiten aus Elfenbein. Die Zählkugeln selbst waren ebenfalls edel, aus Knochen »vom großen Meerestier«, wie der Vater immer gern gesagt hatte.

Zur Linken hatten gewöhnlich kartonierte, mit Bändern verschlossene Dokumentenmappen auf dem Tisch gelegen. Aber als die Handelsfirma zugemacht hatte, waren diese Papiere auf den Boden gewandert. Der Vater hatte es nicht eilig gehabt, sie wegzuwerfen, er sagte immer, ohne Luft, Wasser und Handel sei das Leben nicht möglich, deshalb dachte er auch, die Handelsfirma würde wieder aufmachen, »wenn die Unzufriedenen erst zufrieden sind«.

Rechts und links hingen noch drei Dutzend Abaki an den Wänden, eine ganze Sammlung. Früher waren diese Kugelrechner Samson alle gleich erschienen, aber jetzt, wo er allein in der Wohnung zurückgeblieben war und sie in Ruhe betrachten konnte, sah er sehr schnell, wie sich die Zählkugeln in Formen, Nuancen, Farben unterschieden. Ein paar Fotografien in hölzernen Rahmen wirkten seltsam und dumm an den mit Rechenrahmen geschmückten Wänden. Der Großvater mit der Großmutter, der Vater mit der Mutter, er, Samson, mit der Schwester Vera als Kinder in Matrosenanzügen.

Samson trat näher zu der Fotografie von sich und seiner Schwester. Gedankenverloren streckte er die Hand nach dem Abakus aus, der darunter hing.

Mit Mühe schob er eine Kugel nach links an das freie Ende des Eisenstabes.

»Vera!«, sagte er traurig. Dann schob er die nächste dorthin und sagte: »Mama!«, und, nachdem er ihnen eine dritte hinterhergeschickt hatte, mit schon ganz erstickter Stimme: »Papa!«

Danach löste er eine vierte Zählkugel ein wenig von den übriggebliebenen in der Reihe und schob sie mit dem Finger auf dem Stab hin und her.

Er grinste schief und trat zurück, setzte sich an den väterlichen Tisch, öffnete die obere linke Schublade und griff nach dem Pass seiner Familie. Auf der Fotografie waren sie zu viert, ausgestellt worden war er am 13. Februar 1913. Sein Vater hatte ihn machen lassen, als er von einer Familienreise nach Österreich-Ungarn geträumt hatte, zur Badekur. Mittlerweile gab es Österreich-Ungarn nicht mehr, auch das Russische Reich und den Vater nicht. Allein noch den Pass.

Samson klappte das graue Büchlein zu und legte es dorthin zurück, von wo er es genommen hatte. Daneben stellte er die Puderschachtel mit seinem Ohr, dann hob er die Hand zur rechten Kopfseite und tastete nach der Wunde unter dem Verband. Es zog darin tatsächlich dumpf, tat aber nicht weh.

Er schnipste mit den Fingern neben der Wunde, und das Schnipsen kam ihm laut und schallend vor.

›Nur gut, dass ich noch höre‹, dachte er.

Kapitel 3

Am neunten Tag nach der Ermordung seines Vaters betrachtete Samson sich im Spiegel, die eingesunkenen Augen, die eingefallenen Wangen, den zerfransten Verband.

Die Tage waren wie das Regenwasser am Wladimir-Hügel vorbeigeströmt, laut unter den Füßen fortgerauscht. Samson hatte das Haus dabei gar nicht verlassen, hatte nur im Arbeitszimmer des Vaters oder im Wohnzimmer aus den Fenstern geschaut. Die Fenster seines Schlafzimmers gingen, so wie die Fenster im Zimmer seiner Schwester Verotschka und dem der Eltern, zum Hof hinaus, auf die noch kahlen Äste des alten Ahorns. Verotschkas Zimmer gab es jetzt gleichsam nicht mehr. Seine Tür wurde vollständig vom Buffet versperrt. Die Tür zum Schlafzimmer der Eltern hatte Samson vor zwei Tagen versteckt, sie befand sich jetzt hinter dem Schrank, den er davorgeschoben hatte. In diesen vor der Außenwelt geschützten Zimmern verbarg sich der Schmerz seiner Verluste. Und so fiel es Samson ein wenig leichter, an seine Eltern und seine kleine Schwester zu denken, die nicht mehr da waren.

Nasser Schnee wechselte sich mit Regen ab, hin und wieder wurde das Schmatzen der Füße in den Pfützen vom Klappern der Hufeisen auf dem Pflaster übertönt, und manchmal erhob sich wie ein Wind das Geräusch eines Motors, in dem dann für kurze Zeit alles andere unterging.

Nachdem er einen Teller Haferschleim vom Vortag gegessen hatte, der ihm in den vergangenen Tagen schon über geworden war, bürstete Samson im Flur den Mantel seines Vaters ab und schlüpf‌te hinein. Wieder warf er einen Blick in den Spiegel. Nein, auch der Mantel machte ihn dem Vater nicht ähnlich, auf dessen Gesicht Weisheit und Selbstvertrauen geleuchtet hatten, zugleich mit der Gutmütigkeit, die immer im Blick seiner braunen Augen gelegen hatte. Der Mantel unterstrich mit seiner soliden Respektabilität nur den Gegensatz zwischen ihm und Samsons verschreckter, unrasierter Visage.

Er hängte den Mantel zurück in den Schrank, aber die Gedanken an den Vater, die ihn angemessenerweise am neunten Tag der Seelenreise des Toten überkamen, verlangten irgendein Handeln. Auf den Schtschekawiza-Friedhof zum Grab fahren? Nein, den Gedanken strich Samson sofort. Das war weit und gefährlich. Selbst wenn den ganzen Weg entlang Rotarmisten mit Gewehren postiert wären, war es noch gefährlich! Wer wusste, was ihnen durch den Kopf ging und in wem sie plötzlich einen Feind sahen? Sie konnten ja auch in ihm einen solchen erblicken und ihn erschießen! In eine Kirche gehen und eine Kerze aufstellen? Das konnte er natürlich tun, aber weder der Vater noch er selbst waren besonders fromm gewesen. Nur die Mutter war an den Feiertagen in die Gottesdienste gegangen und hatte sich selbst dann geniert, es anzukündigen oder davon zu erzählen.

Samson holte das Portemonnaie seines Vaters hervor, setzte sich an den Schreibtisch und lauschte den Klängen der Schiljanskaja, die durch die geschlossene Fensterscheibe hereindrangen. Er zog Kerenski- und Duma-Rubel heraus und zählte die Scheine. Drei Visitenkarten, ein Mitgliedsbüchlein der Kiewer Gesellschaft zur richtigen Jagd, die mehrfach gefaltete Quittung des Schneiders über den Erhalt der vollständigen Bezahlung für den Stoff und das Nähen eines Anzugs, mit einer Bestätigung aller dafür genommenen Maße, ein paar Stempelmarken für das Entrichten verschiedener Zölle und Gebühren, eine Fotografie seiner Mutter im Oval.

Am Vorabend hatte die Witwe des Hausmeisters bei ihm an der Tür geklopft und mitgeteilt, dass im Hinterhaus eine Bäuerin Milch und Butter verkauf‌te. Er hatte im Dunkeln noch hineilen und ein halbes Pfund Butter und einen Liter Milch kaufen können. Als anschließend unter seinem Fuß die unterste Stufe der Holztreppe quietschte, genau vor der Hausmeisterwohnung, lud ebendiese Witwe, eine etwa fünfundvierzigjährige Frau, die gern dezente, billige Kopftücher trug, ihn zu sich in ihre Küche ein. Dort hing ein schrecklicher, intensiver Geruch in der Luft, als hätte man stundenlang Zwiebeln gebraten. Aber klaglos nahm Samson die Einladung an, sich mit ihr an den Tisch zu setzen und einen Tee zu trinken.

»Du bist doch jetzt Waise«, sagte sie mitleidig und ein wenig fragend. »Lange darf das aber nicht so bleiben. Das ist schädlich.«

»Was soll ich denn machen?«, fragte Samson zurück, einfach, um ihre mitfühlende Erörterung seiner Lage, in die das Schicksal ihn gebracht hatte, in Gang zu halten.

»Heiraten«, riet sie entschieden. »Die Ehe macht dem Waisentum ein Ende. Auch mit der Ernährung kommt dann alles in Ordnung.« Sie blickte ihm kritisch ins Gesicht. Offenbar rief das Eingefallene und Unrasierte seiner Wangen diesen Blick hervor. »Wenn du Glück mit der Ehefrau hast, dann ist es mit deinen Leiden vorbei …«

»Ich bin noch jung«, sagte Samson nach kurzem Überlegen. »Es ist zu früh für mich.«

»Wieso zu früh?« Sie war nicht einverstanden. »Ich war vierzehn, als ich geheiratet habe!«

Er trank seinen Tee aus, nahm die Milchflasche und das Butterpaket von den Knien und bedankte sich bei der Witwe.

»Wenn mir eine unter die Augen kommt, sag ich es dir«, hatte sie zum Abschied versprochen und ihre Tür hinter ihm abgeschlossen.

Jetzt standen Milch und Butter im Doppelfenster, der Außenwelt um eine Glasscheibe näher. Die kalten Kachelöfen verlangten Brennholz. Aber Samson schien es, als hinge noch die Wärme vom letzten Einheizen in der Wohnung. Vor dem Schlafen hatte er gestern einen halben Armvoll Brennholz in dem Ofen verbrannt, der gleichzeitig das Wohnzimmer und sein Schlafzimmer heizte. Im Arbeitszimmer des Vaters herrschte natürlich beißende Kälte und dennoch nicht solche wie an jenen Wintertagen, an denen er und der Vater überhaupt ohne Holz gewesen waren. Irgendwie waren sie aber doch über den Winter gekommen. Und gegen Ende des Winters hatte sich plötzlich herausgestellt, dass jemand im Keller eine gewaltige Menge Brennholz versteckt hatte. Offenbar gestohlenes. Hatte es versteckt und war nicht wiedergekommen, daher hatte das Haus es jetzt schön warm. Aber die Sonne hatte sich schon zum Frühling gewendet. Bis zur natürlichen Wärme war es nicht mehr weit.

 

Als es draußen grau wurde und die frühe Dämmerung näher rückte, zog Samson seinen langen Gymnasiastenmantel an, steckte die Quittung des Schneiders mit dessen Adresse in der Nemezkaja in die Tasche und verließ das Haus.

Die Menschen auf der Straße gingen vorsichtig und vermieden es, nach rechts und links zu schauen. Als hätten sie Angst davor, etwas Unangenehmes zu erblicken. Im Gehen machte sich Samsons Wunde unter dem Verband wieder bemerkbar. Er richtete die Binde und wickelte sie neu um den Kopf, dann setzte er seinen Weg fort – ebenjenen, der für seinen Vater der letzte geworden war. An der Stelle, an der man seinen Vater getötet hatte, blieb er stehen, sah zum Graben, zum Straßenrand, dachte daran, wie er mit dem Arzt hierhergekommen war. In seinem Kopf rauschte es, als würde ihm das Blut in die Gedanken steigen.

Die Gedanken wurden schwer, unbeweglich, erhielten den Beigeschmack von Blut, als versuchten sie ihn gleichsam mit dieser Schwere und Unbeweglichkeit zu überwältigen. Deshalb ging er mit entschlossenen Schritten weiter, bog auf die Nemezkaja ein und blieb erst bei dem Haus des Schneiders stehen, vor dem Schild: »Schneider Siwokon. Anzüge. Jacketts. Fräcke«.

Im Fenster des Ateliers brannte ein schwaches Licht. Helleres Licht brannte in den zwei Fenstern im Obergeschoss des kleinen Hauses. Samson klopf‌te laut an die Haustür und begann zu warten.

Der Schneider, den Samson bisher nur wenige Male in seinem Leben gesehen hatte, öffnete die Tür ein klein wenig und fragte, ohne zu grüßen: »Sie sind nicht angemeldet, was wollen Sie?«

Samson nannte seinen Namen und schob die Quittung durch die Tür, die von einer Kette daran gehindert wurde, sich weiter als eine Faustbreit zu öffnen.

Der Schneider ließ Samson herein, hörte ihm zu, nickte teilnahmsvoll.

»Sie sind ja doch etwas zierlicher als Ihr lieber Vater«, sagte er seufzend. »Ich kann ihn natürlich für Sie umnähen … Aber jetzt ist nicht die rechte Zeit dafür. Meine Hände zittern neuerdings. Sie müssen ein wenig warten. Nehmen Sie ihn mit, wenn Sie wollen. Oder Sie können ihn solange hierlassen, falls Sie sich davor fürchten, jetzt abends damit auf die Straße zu gehen.«

»Ich nehme ihn mit«, sagte Samson.

So dunkel und furchterregend war es noch gar nicht, als er zurückwanderte. Es kamen ihm sogar zwei junge Mädchen entgegen, die sorgfältig, Ton in Ton dunkel gekleidet waren. Und er hörte überdeutlich, wie eine der anderen zuflüsterte: »Schau, der schöne Mann! Verwundet wie ein Held!« Er blieb stehen und sah ihnen hinterher. Dann zog er aufs Neue die Binde zurecht, damit sie nicht vom Kopf rutschte, und dachte dabei noch, dass ja in dieser Dunkelheit niemand sehen konnte, wie alt und schmutzig sein Verband war.

Das papierne Paket mit dem Anzug, mit Bindfaden verschnürt, trug er unter dem Arm und versuchte es möglichst fest an sich zu drücken, damit es nicht die Aufmerksamkeit Vorübergehender auf sich zog.

Zu Hause legte er das ungeöffnete Paket zum väterlichen Mantel in den Schrank.

Er breitete seinen Gymnasiastenmantel über die Bettdecke und legte sich im warmen Unterhemd und langen Unterhosen schlafen. Er lag da, wartete darauf, dass der Körper sich erwärmte, aber konnte einfach nicht einschlafen. Dann glaubte er auch noch ein Rascheln zu hören, als nagte eine Maus an Papier oder Karton. Er stand auf, zündete die Petroleumlampe an und spähte in alle Ecken seines Zimmers, ohne dabei die Quelle des aufdringlichen Geräuschs zu entdecken. Erstaunlicherweise begleitete dieser Laut ihn bei seiner Suche nach der unsichtbaren Maus weiter, obwohl die Mäuse gewöhnlich still wurden und verschwanden, sobald man anfing, nach ihnen zu suchen. Er hielt inne und erkannte, dass er das Geräusch immer noch hörte. Aber ihm war bereits klar geworden, dass der Laut nicht von hier, nicht aus seinem Zimmer kam. Er trat in den Flur hinaus und hörte das Rascheln lauter und deutlicher. Es schien aus dem Arbeitszimmer des Vaters zu kommen, obwohl die schwere Nussbaumtür alle Laute dieses Zimmers vor Außenstehenden verbergen musste.

Samson betrat das Zimmer und vernahm den lästigen Laut noch stärker. Vom Schreibtisch her. Er ging hin, riss die obere linke Schublade auf, und im selben Moment verschwand das Rascheln abrupt. Die Maus war tiefer ins Innere und irgendwohin weiter gehuscht. Im Licht der Petroleumlampe erblickte Samson die Puderschachtel. In eine obere Ecke war ein Loch hineingenagt, in das man schon einen Finger hätte stecken können.

Er nahm die Schachtel, hob den Deckel ab und sah sein Ohr mit dem geronnenen Blut am Rand der Schnittstelle. Das Ohr wirkte lebendig, überhaupt nicht verschrumpelt. Samson wunderte sich und berührte es mit dem Finger. Und es war, als spürte er diese Berührung mit dem Finger und dem Ohr gleichzeitig. Darauf fasste er sich an das heile linke Ohr und fühlte genau dasselbe.

Verwirrt und schläfrig schloss er die Schachtel, ging mit ihr und der Lampe hinüber in die Küche, fand eine leere, runde Bonbondose, packte die Schachtel mit dem Ohr hinein und nahm sie mit ins Schlafzimmer. Er spürte, wie der Wunsch zu schlafen die Kälte in seinem Körper besiegte.

Kapitel 4

Nikolai Nikolajewitsch Watruchin schien nicht im Geringsten erstaunt zu sein, als er Samson vor sich sah.

»Ja, kommen Sie, schauen wir uns Ihr Ohr an! Gleich ins Behandlungszimmer«, lud er ihn ein, nachdem er seiner Hausangestellten zugenickt hatte, die hinter dem Rücken des Besuchers hervorspähte.

Er nahm ihm den schmutzigen Verband vom Kopf und warf ihn angeekelt in den Abfallkorb, dann beugte er sich über die schutzlos entblößte Ohröffnung.

Samson bemerkte, dass der Arzt jetzt eine Lupe mit Perlmuttgriff in der Hand hielt.

»So, so, so«, Watruchin wiegte nachdenklich den Kopf. »Es verheilt wie eine Eins«, sagte er langsam, als wunderte er sich selbst über diese Entdeckung. »Jetzt geht es schon ohne Verband. Ich behandle es mit einer Creme, und dann …«

»Könnten Sie es vielleicht noch einmal verbinden?«, bat Samson.

»Warum nicht, natürlich kann ich das! Aber das ist ja nicht nötig, jetzt muss die Wunde atmen.«

»Draußen ist es doch feucht und kalt«, sagte Samson bestürzt. »Und um ehrlich zu sein, ich habe Angst, ohne Ohr auf die Straße zu gehen. Vor den Augen aller Leute.«

»Gut, gut.« Der Arzt winkte ab. »Denken Sie nicht, dass mir ein Verband für Sie zu schade wäre! Obwohl es jetzt keinen zu kaufen gibt. Ich lebe von den alten Vorräten. Wie ist es denn mit dem Hören? Lassen Sie mich mal hineinschauen, auch wenn ich kein Spezialist bin.«

Bevor er den Kopf aufs Neue verband, nahm der Arzt ihn entschieden mit beiden Händen und drehte ihn mit der nackten Ohröffnung zum Fenster.

»Sichtbare Beschädigungen gibt es keine. Sie hören doch gut?«

Samson seufzte. »Zu gut, denke ich manchmal. Sogar das Einschlafen fällt mir schwer.«

»Ja, mein Lieber, das kommt daher, weil das Hören mit dieser Öffnung jetzt in alle Richtungen geht, anders als mit dem linken Ohr. Die Ohren sind uns nicht nur zum Hören gegeben, sondern vor allem zum Hinhören. Gerichtetes Hören filtert aus den Geräuschen des Lebens das heraus, was wir brauchen, ungerichtetes Hören überfordert die Aufmerksamkeit. Begreifen Sie?«

Samson nickte.

»Gibt es zu Hause jemanden, der Sie neu verbinden kann?«

Samson schüttelte den Kopf.

»Sie können auf jeden Fall immer mit dem Verband zum Frisör gehen, die können das. Und ich würde Ihnen raten, diese Binde alle zwei Tage zu waschen, dann hält sie Ihnen ein paar Wochen lang.«

»Kann ich Sie auch etwas zu den Augen fragen?«, erkundigte sich Samson, mutig geworden.

»Aber ja doch, fragen Sie.«

»Ich sehe manches jetzt röter als sonst … Zum Beispiel habe ich in der Kirche in eine brennende Kerze geschaut. Ich weiß, dass ihre Flamme gelblich ist, aber ich sehe sie rot.«

In den Händen des Arztes tauchte wieder die Lupe auf.

»So, dann schauen Sie zum Fenster!«

Samson fixierte das ungeputzte Fenster, an das sich außen nasse Schneeflocken setzten, die sofort hinunterrannen und eine graue schmutzige Spur hinter sich herzogen.

»Brennen die Augen?«, erkundigte sich der Arzt.

»Ein bisschen.«

»Sie haben da irgendwelche Flecken auf der Netzhaut … rötlichen Schmutz … Wir werden das auswaschen.«

Er ging zu einem metallenen Medizinschrank mit weiß emaillierten Seiten. Die Tür klirrte.

»Jetzt schauen Sie an die Decke«, befahl er Samson.

Der legte den Kopf in den Nacken und öffnete weit die Augen.

»Ach, herrje«, sagte der Arzt unerwartet.

»Was ist da?«, fragte Samson erschrocken.

»Da ist vermutlich Blut Ihres Vaters ins Auge geraten, und ein Stückchen Hirn ist an der Hornhaut angetrocknet. Wir werden das einweichen.«

Der Arzt tröpfelte Samson etwas klare Flüssigkeit in die Augen.

»Bleiben Sie so sitzen, wir lassen die Augen ein Bad nehmen.«

 

Nach Hause zurück tappte Samson mit langsamen Schritten und sah dabei vor sich zu Boden. »Lassen Sie keinesfalls Schnee an die Augen kommen!«, hatte ihm der Arzt strengstens mit auf den Weg gegeben. »Spülen Sie sie mit warmem Wasser etwa fünfmal am Tag. Heute ist Dienstag, am Freitag kommen Sie wieder, dann säubern wir Ihre Hornhaut.«

Hinter ihm klapperten die Hufeisen eines galoppierenden Pferdes auf dem Pflaster. Samson erschrak und sprang an die nächste Hauswand. Dabei sah er sich um und erblickte den Reiter, einen Rotarmisten, der angespannt nach vorn starrte. Das Getrappel entfernte sich, und noch ein weiterer Mensch sprang von der Straße und überließ sie dem berittenen, bewaffneten Hüter der neuen Macht. Der Gedanke an die neue Macht rief bei Samson ein kummervolles Lächeln hervor. Als es eine einzige Macht gab, mochte es auch die alte gewesen sein, schien das Leben banal, verständlich und gewohnt. Und man war es gewohnt, darüber zu schimpfen, auch wenn selbst die Schwierigkeiten nach dem Beginn des Weltkrieges im Vergleich zu dem, was später kam, keine Schwierigkeiten, eher ein paar Unannehmlichkeiten waren. Dann brach die alte Zarenmacht zusammen, und an ihre Stelle traten viele kleine und wütende Mächte, die einander mit Schießereien und Hass ablösten. Nur zur Zeit der deutschen Militärverwaltung und des von ihr eingesetzten »unsichtbaren Hetmans« Skoropadski schien das Leben wieder ungefährlicher und ruhiger zu werden. Aber diese Ruhezeit endete mit den schrecklichen Explosionen und Bränden von Swerinez, die den Kiewer Bezirk verwüsteten und Hunderte Leichen und Tausende Krüppel und Obdachlose zurückließen.

Damals, im Juni 1918, setzte sich einem in Kiew die Luft mit dem Geruch verbrannten Pulvers in der Nase und auf der Zunge fest. Jetzt roch es von den vereisten Haufen aus Abfall und Schnee, die sich an den Ecken der Wohnhäuser auf‌türmten, bei jedem Hauch von Tauwetter nach warmem Dung, als würde der Pferdemist, den die Hausmeister mit ihren Holzschaufeln den Müllhaufen großzügig hinzufügten, das Näherkommen des Frühlings als Erster ahnen. Der Pferdemist wurde gleichsam auf die immer ausladenderen Schneeberge gepackt, deshalb war er nie wirklich weit weg und den Vorbeigehenden näher als der Abfall vom Anfang des Winters, der jetzt irgendwo in der kalten Tiefe dieser schwarzen, hartgefrorenen Kiewer Apalachen und Kordilleren lag.

 

Beim ersten Quietschen der unteren Stufe der Holztreppe ging die Tür zur kleinen Hausmeisterwohnung auf. Die Hausmeisterwitwe winkte Samson in ihr stickiges Reich intensiver, schwerer Gerüche hinein.

»Da sind Rotarmisten bei dir gewesen«, sagte sie. »Wollten Kontribution verlangen. Ich habe ihnen gesagt, dass du Waise bist! Das hat ihnen gefallen, aber sie wollen trotzdem wiederkommen. Sie haben jetzt eine Liste aller Bewohner … Sie wollen dich ausquartieren.«

»Was? Wieso das?«

»Sie sind doch für Gerechtigkeit! Jeder soll ein Eckchen für sich haben, keine ganze Wohnung! Dann haben sie noch nach Musikern in der Familie gefragt … Sie requirieren Musikinstrumente. Wollen selber Musik machen.«

»Wir hatten eine Geige«, erinnerte sich Samson. »Die kann ich ja hergeben, nur mein Vater konnte sie spielen.«

»Aber ich habe dich nicht deshalb gerufen, hast du über das Heiraten nachgedacht?«

Samson sah der Witwe verwundert ins Gesicht.

»Nein«, gestand er.

»Ich habe eine im Auge! Eine Gebildete, aber eine, die alles kann, die dir auch die Wohnung verteidigt, damit sie dich nicht ausquartieren.«

»Wie will sie das machen?«, fragte Samson zweifelnd.

»Die hat Haare auf den Zähnen, sie kann weich wie Butter sein und hart wie Gusseisen! Schau sie dir mal an, mit so einer Frau wärst du wie bewaffnet. Vor so einer haben sogar die Soldaten Angst! Weißt du was, komm heute Abend, wir essen Hering. Ich lade sie ein, und du schaust sie dir selber an.«

Ratlos stieg Samson hoch in seine Wohnung. Ohne sich Schuhe und Mantel auszuziehen, wanderte er durch die Wohnung, in der es jetzt wirklich kalt und einsam war. Er blieb vor den drei Birkenscheiten neben dem linken der beiden Öfen stehen und seufzte tief. Er musste in den Keller gehen und Holz holen, von drei Scheiten würde sich nur die gusseiserne Ofentür erwärmen, aber damit die Wand des Kachelofens selbst warm wurde, brauchte es etwa zehn davon!

Sein Blick blieb an der Bonbondose hängen, in der sich die Puderschachtel vor den Mäusezähnen verbarg. Er nahm sie, trug sie ins Arbeitszimmer des Vaters zurück und legte sie in die Tischschublade. Solche Mäuse gab es noch nicht, die eine Blechdose durchnagen konnten!

Er tauschte den Gymnasiastenmantel gegen eine alte Steppjacke seines Vaters und machte sich in den Keller auf, um Brennholz zu holen.

Kapitel 5

Es klopf‌te unsanft an der Tür, als schon die Birkenscheite im Ofen kräftig knackten, in jenem, der sowohl das Wohnzimmer als auch sein Schlafzimmer heizte. Und gleich nach dem groben Klopfen ertönte ein anderes, höf‌liches und fragendes.

Vor der Tür erblickte Samson zwei Rotarmisten von unterschiedlicher Größe, aber beide ungefähr in seinem Alter, in zerknitterten, anscheinend zu großen Militärmänteln. Seitlich daneben stand die Hausmeisterwitwe. Er begriff, dass das erste, unsanfte Klopfen von den beiden gekommen war und das zweite, höf‌liche von ihr. Offenbar hatte sie ihnen gezeigt, wie man auf städtische Art und Weise an Türen klopf‌te.

»Das sind jetzt andere«, erklärte sie Samson und wies mit dem Kinn auf die Rotarmisten, die ihn gleichzeitig feindselig und verlegen anstarrten. »Ich habe ihnen gesagt, dass Sie keine Nähmaschine haben, aber sie glauben es nicht! Zeigen Sie es ihnen!«

»Wozu brauchen Sie eine Nähmaschine?«, fragte Samson verwundert und sah für alle Fälle auf die Hände der beiden, die aus den weiten Mantelärmeln herausschauten. Sie hatten Bauernfinger, nicht die feinen von Musikern oder Schneidern.

»Wir haben den Befehl«, antwortete ihm der größere von beiden und versuchte dabei grob zu klingen.

»Kommen Sie rein, schauen Sie«, sagte Samson achselzuckend. »Bei uns hat niemand genäht.«

Die Rotarmisten betraten den Flur, das Wohnzimmer und sahen sich dabei vorsichtig nach allen Seiten um.

»Und da?«, fragte der Kleinere, der vor der Tür zum Arbeitszimmer des Vaters stehen geblieben war.

Und spähte, ohne auf Erlaubnis zu warten, hinein.

»Wieso hängt die ganze Wand voll mit denen?« Er drehte sich zu Samson um.

»Zur Zierde«, antwortete der einfach. »Mein Vater hat gern gerechnet …«

»Wo ist er?«

»Er wurde kürzlich erschlagen.«

»Auf der Straße?«

»Auf der Straße«, bestätigte Samson. Und merkte, dass jetzt beide Rotarmisten auf seinen verbundenen Kopf starrten.

»Und dich haben sie wohl verwundet?«, fragte der Kurze.

Samson nickte stumm.

»Ah, hier ist es warm, schau«, lenkte ihn der Längere ab, der die Hand an die Wand des Kachelofens gelegt hatte.

»Was wärmt ihr euch hier auf!«, rief ihnen die Hausmeisterwitwe zu, die im Flur vor der Wohnzimmertür stehen geblieben war. »Nähmaschine gibt es keine, ihr habts gesehen, also geht wieder!«

»Was bist du so böse?« Der Kurze nahm sein Gewehr von der Schulter. »Ich schieß dir zwischen die Augen, ich werds dir zeigen!«

In den Augen der Witwe blitzte Furcht auf, das bemerkte Samson. Aber kein Muskel zuckte in ihrem Gesicht.

»Ich werds dir auch zeigen, dein Politkommissar hat schon Kwass bei mir getrunken! Ich sag es ihm!«

Der Kurze hängte sich das Gewehr wieder über die Schulter. Der Lange streckte jetzt die Hand aus und fuhr mit den Fingern über den Ärmel der wattierten Steppjacke, die Samson, nachdem er Holz holen gegangen war, noch nicht wieder ausgezogen hatte.

»Unterwäsche ist vom Vater nicht geblieben? Vielleicht irgendwelche langen Unterhosen?«, fragte er. »Der Winter hier bei euch ist lang, nicht wie bei uns.«

»Woher seid ihr denn?«, erkundigte sich Samson.

»Aus dem Süden, Melitopol.«

Samson lief eilig in sein Schlafzimmer, öffnete die Truhe, die in der rechten Ecke stand, nahm ein Paar seiner eigenen Unterhosen und brachte sie dem Rotarmisten. Er bemerkte, wie der Kurze mit Neid auf den Langen sah und irgendwie ungut schluckte.

»Geht, jetzt geht schon«, begann die Hausmeisterwitwe sie zu drängen. »Notiert euch bloß, dass es in dieser Wohnung absolut nichts zum Nähen gibt …«

Die Rotarmisten gingen hinaus, ohne sich zu verabschieden, die Witwe aber blieb noch einen Augenblick. Sie erinnerte ihn an ihre Einladung zum abendlichen Fischessen.

 

Eine Stunde vor dem Fischessen kam in Samson romantische Stimmung auf. Er beschäftigte sich mit einer Frage, die ihn schon seit zwei Jahren nicht mehr gekümmert hatte: Wie würde er aussehen? Ein weißes Hemd fand er sofort. Doch seine Gymnasiastenhosen versetzten ihn in Aufregung. Früher hatte er die Hosen ohne Gürtel tragen können, aber jetzt rutschten sie. Auch ein Gürtel fand sich auf dem Grund der Kleidertruhe unter seinen Sachen, aber er war ohne Schnalle. Samson wühlte weiter und entdeckte auch die alte bronzene Gürtelschnalle seiner Schuluniform, mit den zwei auseinanderstrebenden Lorbeerzweigen und dem großen SCH auf dem Hintergrund ausgebreiteter Schreibfedern. Fertig angezogen, probierte er dazu die Feldjacke an und beruhigte sich endgültig, als er in den Spiegel sah und sich mit dem verbundenen Kopf wie ein Held anziehend fand.

Bevor er zur Witwe hinunterging, rasierte er sich mit der Klappklinge die Wangen, bis sie glänzten, besprühte sich mit Eau-de-Cologne »Blumenduft« von Brocard und bereute das gleich darauf ein wenig. Das übertrieben Glattrasierte verriet mehr das Opfer in ihm als den Helden. Und den Geruch des bourgeoisen Eau-de-Cologne fasste die junge Frau vielleicht noch als Schwäche oder, was sogar schlimmer wäre, als Protest gegen die Gerüche des neuen Lebens auf. Er wusch das Eau-de-Cologne mit Seifenwasser ab und rieb sich mit einem kalten, nach Feuchtigkeit riechenden Handtuch trocken.

Die Luft in der Küche bei der Witwe war an diesem Abend noch intensiver als gewöhnlich. Neben dem Tisch kochte auf dem Petroleumkocher etwas in einem Topf, in den man gar nicht erst hineinzuschauen brauchte, denn eben von ihm ging der warme Duft von Kartoffeln aus, der die ganze Küche erfüllte. Den runden, mit einem weißen Leinentuch bedeckten Tisch zierten drei unterschiedliche Teller aus einem Service: ein Dessertteller, ein Vorspeisenteller und ein normaler Essteller, neben jedem lag eine grobe, proletarisch aussehende Gabel. In der Mitte, genau gleich weit von allen Tellern entfernt, stand eine Porzellanterrine in der so beliebten Form eines Huhns.

»Nadjeschda ist noch nicht da, aber sie hat versprochen zu kommen«, verkündete die Witwe, während sie ihren Gast an den Tisch bat.

›Ein schöner Name‹, dachte Samson.

»Entschuldige, ich wollte die beiden vorhin nicht zu dir bringen. Sonst schimpfe ich immer, und dann gehen sie weg, aber die hier: ›Nein, wir müssen selber nachschauen!‹ ›Ihr und ich‹, sage ich zu ihnen, ›wir sind doch, wie es so heißt, Beeren vom selben Strauch, glaubt ihr mir etwa nicht?‹ Aber sie wollten trotzdem …«

»Ist schon gut«, versuchte Samson sie zu beruhigen.

»Und gib nächstes Mal nicht her, worum sie dich bitten, sonst kommen später die, denen man nichts verweigern kann, und du hast schon alles denen gegeben, bei denen man noch Nein sagen konnte. Ganz der Vater, möge der Himmel ihm gnädig sein.«

Ein Klopfen an der Wohnungstür lenkte die Witwe ab, sie wurde ganz leichtfüßig und flatterte direkt vom Tisch davon. Die Tür draußen knarrte.

»Ach, Nadjenka! Wunderbar, dass du gekommen bist! Geh schon vor.«

In die Küche kam zum Klappern von Holzschuhen eine junge Frau von fast schon zu athletischem Äußeren herein, hochgewachsen, mit rundem Gesicht, kräftigem Körperbau, aber nicht dick, im schwarzen kurzen Schafspelz, der von Knöpfen gerade so zusammengehalten wurde und dadurch aufgequollen wirkte, in einem strengen Rock, der über die Knie reichte. Bevor Nadjeschda sich auf den Stuhl setzte, den ihr die Witwe anbot, löste sie die Knöpfe ihres Pelzes und ähnelte nun dadurch, dass unter dem sich abrupt öffnenden Pelz eine hell-bordeauxfarbene, bis zum Hals zugeknöpf‌te Samtbluse zum Vorschein kam, einer Blume. Sie zog den grauen Orenburger Schal vom Kopf, knöpf‌te auch den obersten Knopf ihrer Bluse auf, erst dann setzte sie sich und sah den lächelnden Samson freundlich an.

»Nadja.« Sie streckte ihm über dem Tisch die Hand hin.

»Samson«, stellte er sich vor, spürte ihren festen Händedruck und sah ihr freundlich und ein wenig kläglich in die grünen Augen.

»Bei Ihnen riecht es so gut.« Nadjeschda wandte sich an die Gastgeberin, die am Petroleumkocher stand.

»Gleich, Nadjenka, gleich ist alles fertig. Gib mir einen Teller.«

Drei grob geschälte, dampfende Kartoffeln wurden auf den großen Teller gelegt, der Nadja zukam. Drei weitere landeten auf Samsons Vorspeisenteller. Sich selbst legte die Witwe auf den Dessertteller zwei und nahm, nachdem sie sich an den Tisch gesetzt hatte, den Deckel vom Porzellanhuhn und blickte stolz ihre Gäste an. In der Terrine lag ein in große Stücke geschnittener nicht geputzter Hering, mit ein paar grünen Blättern dekoriert.

»Oh, wo haben Sie Salat bekommen?«, fragte Nadja begeistert.

»Das ist kein Salat, das sind Geranienblätter. Zur Zierde.« Die Gastgeberin klang entschuldigend. »Die sind nicht zum Essen, sie sind bitter.«

Sie nahm selbst mit den Fingern die Blätter vom Hering, trug sie zum Fensterbrett und warf sie in einen Geranientopf.

»Jeder ein Gläschen?«, fragte sie zuvorkommend.

»Wenn es nichts Saures ist«, sagte Nadja und nickte.

»Nicht sauer«, erwiderte die Gastgeberin lächelnd. »Bitter.«

Die ersten fünf Minuten ihrer Tafelrunde verstrichen in Schweigen, aber dann kam das Gespräch von selbst in Gang, gewann über die Kälte draußen und den Hering an Schwung und erhob sich allmählich über Alltagsprobleme und Essen hinaus.

»Es ist sehr schwer mit den neuen Angestellten«, klagte Nadjeschda. »Sie kommen zu uns, sagen, dass sie alles können, und dann zeigt sich, dass sie nur gekommen sind, um es warm zu haben. Sie können nicht mal richtig schreiben.«

»Bei Ihnen auf der Arbeit wird also gut geheizt?«, fragte Samson lebhaft.

»Ziemlich gut, aber der Heizer beklagt sich, dass fast jeder versucht Brennholz zu stehlen, und sei es auch nur ein Holzscheit, unter dem Mantel versteckt. Manchmal kontrolliere ich schon selber alle am Ausgang und sage ihnen: ›Schämt euch, bei euch selber zu stehlen!‹«

»Wir haben noch Glück gehabt«, bemerkte Samson. »Bei uns im Keller ist ein Vorrat an Birkenholz aus den Monaten des Direktoriums liegen geblieben. Anscheinend haben die es selber irgendwo gestohlen und für ihr Holz unseren Keller requiriert, aber der Keller sitzt doch fest unter unserem Haus. Das Direktorium ist weg, das Brennholz ist geblieben.«

Die Witwe warf Samson einen durchdringenden, unzufriedenen Blick zu, und er erkannte, dass er unnötig viel geplaudert hatte.

»Trotzdem geht es natürlich bald zu Ende«, schloss er das Thema ab. »Und wo wir dann Brennholz hernehmen sollen – keine Ahnung.«

»Brennholz ist ehemaliger Wald, im Wald muss man es also holen«, sagte Nadja achselzuckend. »Und was machen Sie, Samson?«

»Ich ertrage all das Unglück, das über uns hereingebrochen ist«, begann er zu antworten und fing sofort noch einen durchdringenden Blick der Witwe auf. »Sie haben meinen Vater umgebracht, und mich hat es auch erwischt.«

»Banditen?«, fragte Nadja.

»Kosaken auf Pferden … auf offener Straße! Haben mit ihren Säbeln grundlos gemetzelt!«

»Schlecht sieht es bei uns mit der Ordnung aus«, stimmte die Witwe zu.

Nadja nickte. »Ja, das kommt von der vorigen Anarchie, das Volk ist verroht … Wenn die Macht sich erst festigt und ihre Zähne zeigt, wird es das nicht mehr geben. Und was sind Sie von Beruf, Samson?«

»Ich habe auf der Universität Elektromaschinenbau studiert. Und Sie, Nadjeschda?«

»Pharmazie, aber jetzt stelle ich im Gouvernementsbüro Statistik zusammen.«

»Ist das interessant?«

»Die Arbeit muss nicht interessant sein.« Nadjas Stimme wurde plötzlich kühl. »Die Arbeit muss wichtig und nützlich für die Gesellschaft sein.«

»Mir gefällt Ihre Entschiedenheit«, erkühnte Samson sich zu einem Kompliment und fing sofort einen beifälligen Blick der Witwe auf.

Nadjeschda war, schien es, errötet. Sie fasste sich mit der Hand an ihr kurz geschnittenes kastanienbraunes Haar, prüf‌te mit dem Finger die Gleichmäßigkeit ihres Ponys, von dessen Rand etwa ein Zentimeter bis zu den dichten Brauen blieb.

»Ich versuche ein Beispiel des künftigen Menschen zu geben«, sagte sie weich. »Der künftige Mensch soll entschieden, fleißig und gutherzig sein. Meine Eltern sehen das auch so, auch wenn sie aus dem vergangenen Leben stammen.«

»Und wo wohnen Sie in Kiew?«, fragte Samson.

»In Podol, aber meine Arbeit ist hier ganz in der Nähe, ein paar Häuser weiter.«

»Und da gehen Sie jeden Tag zu Fuß zur Arbeit und zurück?«

»Manchmal zu Fuß, manchmal mit der Straßenbahn.«

»Nadjenka, Sie müssten in unser Haus übersiedeln«, bemerkte die Witwe. »Hier, Samson ist jetzt allein. Er überlässt Ihnen gern ein Zimmer.«

»Ich verdiene nicht genug Geld, um ein Zimmer zu mieten.« In Nadjas Stimme war Bedauern zu hören.

»Ziehen Sie doch kostenlos ein«, bot Samson an. »Sagen wir, Sie requirieren dieses Zimmer aus Arbeitsgründen.«

»Für die Requisition müssen meine Vorgesetzten ein Dokument vorbereiten«, erklärte Nadja vollkommen ernst.

»Ich habe Spaß gemacht, eine Art Requisition zum Spaß.«

»Wissen Sie, Samson«, sie seufzte. »Von der Arbeit im Dunkeln nach Hause gehen, das ist kein Spaß.«

Samson bat um Entschuldigung und wiederholte sein Angebot, das ja, zugegebenermaßen, zuerst von der Witwe gekommen war.

Während sie Tee tranken, fielen vor dem Fenster Schüsse, und Unbekannte rannten schreiend irgendwohin.

»Ich muss dann gehen«, sagte Nadja auf den Lärm hin nervös.

»Bleiben Sie«, bat Samson sie.

»Nein, ich gehe, sonst schläft meine Mutter die ganze Nacht nicht.«

Sie erhob sich, knöpf‌te ihren kurzen Pelz zu und band sich den warmen Schal um den Kopf.

Die Witwe fixierte Samson mit einem fragenden Blick. Er sprang auf.

»Ich begleite Sie«, sagte er fest, militärisch.

»Danke«, stimmte Nadja zu.

»Warten Sie nur eine Minute, ich ziehe etwas Warmes an«, bat er.

Kapitel 6

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